ZETT4
Die neue Ausgabe des Zett. Magazins ist auf dem Markt - mit meinen beiden Beiträgen a) über den Freiburger Künstler und langjährigen Salsa-Freund Celso Martinez-Naves (S. 52) und b) das Tanzen im Mensabrunnen (S. 59) - wie man sieht, entstanden die Beiträge und Fotos noch vor Corona, sind aber gerade rechtzeitig wieder aktuell - viel Freude beim Schmökern und bei Gefallen gerne weiter empfehlen: https://zett-magazin.de/leben-in-freiburg sowie zum Download unter: https://zett-magazin.de/wp-content/uploads/2020/06/ZETT4.pdf
Die neue Ausgabe des Zett. Magazins ist auf dem Markt - mit meinen beiden Beiträgen a) über den Freiburger Künstler und langjährigen Salsa-Freund Celso Martinez-Naves (S. 52) und b) das Tanzen im Mensabrunnen (S. 59) - wie man sieht, entstanden die Beiträge und Fotos noch vor Corona, sind aber gerade rechtzeitig wieder aktuell - viel Freude beim Schmökern und bei Gefallen gerne weiter empfehlen:
https://zett-magazin.de/leben-in-freiburg
sowie zum Download unter:
https://zett-magazin.de/wp-content/uploads/2020/06/ZETT4.pdf
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#4 ∙ JUNI 2020
SCHUTZGEBÜHR 5 E
Das Kulturmagazin für Freiburg
FREIBURG 2030
Wie wir leben werden
Aus dem ZYPRESSE VERLAG
www.zett-magazin.de
Home-ZMF
Tanzszene Freiburg
Kunst & Verbrechen
Der Weißblechkönig
Im Interview:
Vivian Perkovic // Peter Carp
Bücher // Kunst // Mediatheken // Musik
EDITORIAL
Phuturistisches
DIE KULTUR LEBT!
Was macht
ein Kulturmagazin
in
der Corona-Zeit? Diese
Frage wurde mir oft
gestellt in den letzten
Wochen, meist mit
dem Zusatz „Da habt
ihr doch gar nichts zu
berichten, oder?“
Na, unser Kulturmagazin
ZETT. trotzt
der Corona-Krise und
es trotzt ihr die Gewissheit ab, dass Kunst und
Kultur das Menschbleiben verbriefen: Jedes Bild
an der Wand, jedes Buch im Regal, jede CD im
Schrank ist ein Meisterbrief des Seins, des Fühlens,
des Liebens und Lebens und der Fantasie.
Es fällt mir schon schwer, mich daran zu
gewöhnen, Fantasie mit „F“ zu schreiben; dabei
nicht an Limonade zu denken ist mir unmöglich.
An einen Wegfall von Kunst und Kultur muss ich
mich zum Glück nicht und hoffentlich niemals
gewöhnen.
Die inhaltlichen Planungen für dieses Heft
entstanden schon vor der Corona-Krise, und als
Redaktionsleiter musste ich genau zwei Seiten
streichen: Unsere handverlesenen Konzerttipps
und ebensolche Hinweise auf Lesungen, die
in diesem Magazin üblicherweise je eine Seite
ausmachen. Dafür gewann unsere Titelstory
„Freiburg 2030 – Wie wir leben werden“ mit
zwölf Freiburger Visionären auf geradezu unheimliche
Weise an Brisanz, hat doch der Kampf
gegen die Pandemie gerade
Fragen, wie jene nach
unser aller Zukunft, massiv
ins kollektive Bewusstsein
gerückt.
Und natürlich heben
wir wie immer Kunst und
Künstlerinnen und Künstler
auf den Schild des Majestix,
tragen sie durch‘s
Dorf und machen unser
Magazin so ganz einfach zu einer Ausstellung
zum Mitnehmen. Dazu gibt es besonders viele
Bücher- und Mediatheken-Tipps quer durch
unsere Themen für ruhige Stunden daheim und
Geleitworte einer kulturbeflissenen Mainzelfrau.
Wie alles, was unser Mensch sein ausmacht,
hat natürlich auch das Virale schon wieder neue
Kunst hervorgebracht wie die papierlastigen
Quarantäne-Bilder unserer Fotografin Janine
Machiedo. Und wer sagt denn, dass man nicht
sein eigenes ZMF im Garten, auf dem Balkon
oder im Wohnzimmer veranstalten kann? Ist
doch Alles nur eine Frage der PHantasie.
Bleiben Sie neugierig...
Herzlichst
Arne Bicker
Redaktionsleiter Zett.
Bild: Lilli (9 Jahre)
Harry der Zeichner
Impressum
„ZETT. – Das Kulturmagazin für
Freiburg“ ist eine Magazinpublikation
der Zypresse Verlags GmbH,
Brunnenstraße 6, 79098 Freiburg.
redaktion@zett-magazin.de
www.zett-magazin.de
www.zypresse.com
Geschäftsführung:
Caroline Kross
Gestaltung: Schleiner & Partner
Grafik, Layout: Frank Reder
Redaktionelle Leitung:
Arne Bicker
Redaktionelle Mitarbeit: Jennifer
Reyes, Reinhold Wagner, Astrid
Ogbeiwi, Anna Henschel, Mareike
Kaiser, Tom Teuffel.
Titelfoto: Martin Koswig
Fotografie: Janine Machiedo, Klaus
Polkowski, Arne Bicker.
Für Druckfehler keine Haftung.
Das Copyright für Texte und Fotos
liegt beim Verlag und den Autoren
/ Fotografen. Nachdruck, Vervielfältigungen
und elektronische
Speicherung nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlages.
ZETT. JUNI 2020
3
INHALT
2030
TANZ
Kleines Rund, großer Zuspruch
59
BÜCHER
Lesefreude pur
39
Foto: Klaus Polkowski
FREIBURG 2030
ab Seite 8
Foto: M. Koswig
EDITORIAL
Phuturistisches – Die Kultur lebt! 3
LEIDKULTUR
Die Stunde der Vernunft – Krisenperiode 2020 6
Janine Machiedo – Papierstau im Homeoffice 7
FREIBURG 2030 – WIE WIR LEBEN WERDEN
Freiburg 2030 – Wie wir leben werden 8
Stadtverkehr – E-Volution 10
Kunstbetrieb – In der Ahnungsgalerie 11
Architektur & Stadtplanung – Verdichter und Lenker 12
Jobs & Wirtschaft – Klüger arbeiten 13
Künstliche Intelligenz – Whatsapp von Cleopatra 14
Medien – Ethos statt Clickbait 15
Urbanes Klima – Siesta in Freiburg 16
Erneuerbare Energien – Freie Dauer-Power 17
Musik – Das Ende der Vinylisation 18
Energieversorgung – Hitziges Rheintal 19
Polizei – Von wegen Hoverboard 20
Gesellschaft & Politik – Die neue Vernunft 21
900 JAHRE STADTJUBILÄUM
Ausgebremst – Was wird aus dem Stadtjubiläum? 22
60 Jahre Kunstpreis – Phalanx der Preisträger 23
Weltenfrauen – Im Gewand der Vielfalt 24
Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs – Digital unperfekt 25
MEDIATHEKEN
3sat-Kulturzeit – Geschmeidigst produziert 26
Moderne Heldinnen – Fünf starke Frauen 27
FOTOGRAFIE
Fotografie – Kleine Brötchen 28
• Jutta Panke 29
• Michaela Kindle 29
• Yasemin Aus dem Kahmen 30
• Dorothee Himpele 30
• Janine Machiedo 31
• Horst Sobotta 32
• Piotr Iwicki 32
• Jan Deichner 33
• Arne Bicker 33
37
PRIMA PRISMA
Dr. Peter Gerdes
40
WEISSE RIESEN
Helen Duppé
900 JAHRE STADTJUBILÄUM
ab Seite 22
4 ZETT. JUNI 2020
IMPULSIV
Anke Augspach
MUSIK
Zeltbau im Garten
54 56
Foto: Klaus Polkowski
KUNST
ab Seite 49
Thomas Temmer – Regentanz 34
Dr. Peter Gerdes – Prima Prisma 37
BÜCHER
Schöne Geschichten – Buchtipps der Stadtbibliothek 39
Helen Duppé – Weiße Riesen 40
Philipp Multhaupt – Der Seiltänzer 42
Anne Grießer – Wein-Crime 44
Annette Pehnt – Tempelgänger 44
Julia Heinecke – Widerstand 44
Ulrike Halbe-Bauer – Im Zwiespalt 45
Marc Buhl – Nah am Vulkan 45
Manuela Fuelle – Doppelagenten 45
SATIRE
Lebenshilfe? Guter Rat für 19,90 46
Klaus Karlitzky – Frei und amtlich 47
KUNST
Heinz Soucek – Der Weißblechkönig 49
Peter Carp – Mr. Hoffentlich 50
Harry der Zeichner – Sommer in Freiburg 51
Celso Martínez Naves – Im Zwielicht 52
Verbrechen in der Kunst – Artnapping & Goldpfunde 53
Anke Augspach – Impulsiv 54
Roland Hölderle – Der Chiffreur 55
Martin Hunke – Feuer & Stahl 55
MUSIK
Zeltbau im Garten – Home-ZMF 56
Die bessere Biographie – Wie Musik wirkt 57
Lauschangriff – CD-Tipps 58
TANZ
Mensabrunnen – Kleines Rund, großer Zuspruch 59
Tanzen im Biotop – Wenn Körper sprechen 60
Lebensgefühl der 20er – Provokation & Popkultur 62
GESELLSCHAFT
Kunst für den guten Zweck – „1000 Drawings“ 64
Fitness – Körper und Geist im ruhigen Fluss 66
Tom Brane – DANKE 67
55 26
Foto: ZDF / Jana Kay
FEUER & STAHL
Martin Hunke
3SAT-KULTURZEIT
Vivian Perkovic
Fotografie
KLEINE BRÖTCHEN
28
ZETT. JUNI 2020
5
LEIDKULTUR
Foto: Paul Maurer
Bild: Anaïs (9 Jahre)
Die Stunde der Vernunft
KRISENPERIODE 2020
von Arne Bicker
Michael Kraske untersucht
sehr klug und differenziert den
Rechtsruck in Ostdeutschland und
beschreibt einen der vielen Risse,
die sich durch unsere Gesellschaft
ziehen.
Michael Kraske // Der Riss.
Ullstein • 352 S. • 19.99 Euro
Die Corona-Krise hat uns eine schallende
Ohrfeige verpasst, und die Menschheit
steht auf ihrem Weg durch die Galaxis an
einem Scheidepunkt. Schon vor Covid-19 lebten
wir in einer tiefen Menschheitskrise: Weltweit
gab und gibt es eine Friedenskrise, Migrationskrisen,
die Klimakrise, eine politische Rechtsruckkrise,
eine grassierende Ressourcenkrise
durch Raubbau an der Natur, weit verbreitet
Autokratien, Kriege, Überbevölkerung, Armut,
Tod, Hunger, Folter, Tierqual, Artensterben.
All dies hat Jahr für Jahr weit mehr Todesopfer
gefordert als es Covid 19 je gelingen
könnte. Hier in Deutschland hatten und haben
wir eine Bildungskrise (Lehrermangel, PISA,
unzureichende Digitalisierung), einen erdrückenden
Wohnungsnotstand, eine Sozialkrise
mit zu viel Reichtum auf der einen und zu viel
Armut auf der anderen Seite, zunehmend Rassismus,
Hasspolitik und verrohte Schmähungen,
eine Krise der Volksparteien, eine Europa-Krise,
Konsumirrsinn, Desinformation und Steuerbetrüge
in großem Stil, eine Rentenkrise, eine
Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus. Alles
schicksalsfrei selbst verursacht.
Die Corona-Krise wird voraussichtlich beendet
durch entweder 1.) ein Medikament, 2.)
einen Impfstoff, 3.) eine Durchseuchung. Wir
können dann versuchen zu dem oben geschilderten
Ist-Zustand zurückzukehren.
Aber es wird sich ohnehin manches ändern:
Uns werden viele Menschenleben, Unternehmen,
Arbeitsplätze und Geldreserven
verlorengegangen sein. Wir werden uns auf die
nächste Pandemie vorbereiten, indem wir das
Gesundheitssystem umbauen, eine Fertigung
überlebenswichtiger Gesundheitsprodukte
im Inland einrichten, Test-, Erfassungs- und
6 ZETT. JUNI 2020
Notfallsysteme etablieren. Aber welch eine
Gelegenheit ist das, endlich auch an anderen
Stellschrauben zu drehen? Unsere weltweiten
Wirtschaftssysteme sind auf nie endendes
Wachstum ausgelegt. Sie fördern Raubbau
an Natur und Klima, Gewinner und Verlierer,
Demütigende und Gedemütigte. Was für ein
Irrsinn!
Hat uns die Politik nicht gesagt, eine Bekämpfung
des Klimawandels sei zu teuer und
deshalb nicht zeitnah machbar? Und jetzt in
der Corona-Krise ist das Mehrfache an Geld
plötzlich da? Und haben wir nicht zu 80 Prozent
gesagt, wir wollen zwar den Klimawandel
nicht, uns aber stillheimlich doch gefreut, dass
unsere politischen Vertreter uns den Ausweg
servierten, weiterhin großmotorige Automobile
zu kaufen und zigmal im Jahr in Urlaub und zu
vorgeblich unersetzlichen Auslandsmeetings
zu fliegen?
In der riesengroßen Menschheits- und
Menschlichkeitskrise vor Corona galt Vernunft
vielfach als „naiv“. Sollten wir, einzelne Menschen,
Unternehmen, Regierungen, Staaten,
Staatengemeinschaften, die Weltgemeinschaft
überhaupt dahin zurück wollen?
Wie wäre es stattdessen mit einem würdevollen
Leben für ausnahmslos alle Menschen?
Dazu eine schnelle Energiewende, Ressourcenschonung,
nachhaltiges Wirtschaften, entschleunigter
Konsum, regionale Versorgung und
Geburtenbegrenzung soweit möglich. Das alles
auf der Basis eines regulierten Kapitalsystems
und friedlicher, demokratischer Prozesse.
Wir könnten zumindest eine andere Richtung
einschlagen. Der Beginn einer neuen Welt
ist überfällig; die Chance war nie so groß wie
jetzt.
Das National Geographic Magazin
„Wir retten die Welt“ geht der
Frage nach, in was für einer Welt
wir zum 100. Earth Day in 50 Jahren
leben werden und verweist auf die
Vorteile hybrider Denkweisen.
National Geographic // Wir retten
die Welt. Verlagshaus GeraNova
Bruckmann • 6,50 Euro.
Foto: Blühdorn
Ingolfur Blühdorn vom Institut
für Gesellschaftswandel und
Nachhaltigkeit (IGN) und seine
Mitherausgeber beleuchten eine
Gesellschaft, die Wohlstand und
Lebensstil unter der Obhut einer
Politik der Nicht-Nachhaltigkeit
beharrlich verteidigt.
Ingolfur Blühdorn // Nachhaltige
Nicht-Nachhaltigkeit.
Transcript Verlag, 334 S. • 19.99 Euro
LEIDKULTUR
PAPIERSTAU
im Homeoffice
Foto: Janine Machiedo.
Die Fine-Arts-Fotografin Janine
Machiedo verbrachte
wie so viele zwei Wochen in
Quarantäne. Bei zunehmendem
Lagerkoller erreichte sie
die Bitte des Kulturmagazins
ZETT., die Gemeinheiten der
Corona-Krise aus Ihrem Blickwinkel
häuslich-künstlerisch
in zwei Bildern in Szene zu
setzen. Hier ihre Arbeit „Waiting
for better times“. Ihr
zweites Bild „How to act like
this was Plan A“ finden Sie
auf Seite 38 im Bücher-Teil
unseres Magazins.
ZETT. JUNI 2020
7
FREIBURG 2030
Bild: Stadtplanungsamt
Sehr zu empfehlen ist der Besuch im Berliner „Futurium“. Das am 5. September
2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eröffnete Haus
des Wissens um Möglichkeiten unweit des Berliner Hauptbahnhofs beschäftigt
sich auf 3.000 Quadratmetern detailreich, auf der Höhe der Zeit und
häufig interaktiv mit Zukunftsfragen zu den Themen Mensch, Natur, Technik,
Energie, Bauen, Transport, Ernährung. Der Eintritt ist frei.
Freiburg 2030
WIE WIR LEBEN WERDEN
von Arne Bicker
Screenshot: arte.tv
Screenshot: ardmediathek.de
Screenshot: 3sat.de
Visionäre TV-Dokus
Die arte-Mediathek hält online
die Dokumentationen „Mobile
Zukunft - Die Stadt von morgen“,
„iHuman“ und „Das Echo der
Zukunft - Kunst mit Genen und
künstlicher Intelligenz“ bereit.
// arte.tv/de
Die Mediathek der ARD zeigt
„Flugtaxis für die Welt - Die
Firma Volocopter aus Bruchsal“
und „Xenius - Stromspeicher der
Zukunft: Größenwahnsinnig oder
genial?“
// ardmediathek.de
In „Die Roboter kommen!“ geht die
3sat-Sendung „Kulturzeit Extra“
der Frage nach, was Robotern und
Künstlicher Intelligenz zuzutrauen
ist. Und die Sendung „nano“ befasst
sich mit dem „Ringen um die
Mobilität von morgen“.
// 3sat.de
2030
Künstliche Intelligenz, Klimawandel,
Schutz vor Pandemien
– war die Zukunft eigentlich zu allen Zeiten so spannend
wie jetzt? Es ist zu vermuten. Erwiesen ist, dass bahnbrechende
Erfindungen wie die Dampfmaschine, das Telefon oder das Internet
die menschliche Lebenswelt in rasantem Tempo verändert
haben. Und vorhergesehen hat diese Dinge niemand, noch nicht
einmal Jules Verne. Ist also die Zukunft eine Gleichung, die nur
aus lauter Unbekannten besteht?
Nein, keineswegs. Natürlich können Dinge geschehen,
Erfindungen aufploppen, die uns alle aus den Socken hauen.
Aber der Bereich zwischen Schicksalsergebenheit, visionärem
Entdeckertum und weisem Gestaltungswillen lässt uns allen
einen immensen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Wer
sich indes darauf beschränkt, Geschehnisse und Entwicklungen
passiv hinzunehmen oder anonym mit abfälligen Kommentaren
zu begleiten, ist nicht mehr als ein Fussel auf dem Mantel der
Geschichte.
Nur konstruktiv entwickeln wir uns weiter, lösen wir gesellschaftliche
und ethische Konflikte, bringen wir unsere Lebenswelten
voran und schaffen Chancen für die uns nachfolgenden
Generationen. Aber ebenso gilt: Schwülstige Worte wie diese
gibt es schon mehr als genug. Wie also, unter Einbeziehung aller
bislang bekannten Faktoren, kann sie aussehen, unsere Zukunft?
Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hat das
Kulturmagazin ZETT. die Fragestellung heruntergebrochen auf
das südbadische Etwas namens Freiburg und auf einen gerade
noch greifbar wirkenden Zeitpunkt in zehn Jahren - bis dahin
werden auch der neue Stadtteil Dietenbach und die Umgestaltung
Stühlinger West fertig sein. Wie also werden wir hier in
Freiburg im Jahr 2030 leben?
Rundes Foto: Zett. / M. Koswig
8 ZETT. JUNI 2020
Diese Frage habe ich in zwölf verschiedene Lebensbereiche
unterteilt und zu jedem eine Expertin, einen Experten hier in
Freiburg befragt. Auf diese Weise soll auf gerade mal zwölf
Magazinseiten ein möglichst umfassendes Bild entstehen, was
uns erwartet, wie unser Leben im Jahr 2030 ganz praktisch, ganz
konkret aussehen könnte, worauf wir uns einrichten, woran wir
mitgestalten können.
Natürlich gehören die ureigenen ZETT.-Themen dazu: Medien,
Kunst, aber auch Bereiche wie Architektur, Energieversorgung,
Stadtverkehrsplanung oder Politik. Jedem dieser Dutzend
Bereiche haben wir eine Seite gewidmet; zwölf Expertinnen
und Experten kommen zu Wort, in unserem ‚Club der
Visionäre‘.
Wie immer im ZETT. gibt es auch diesmal Querverweise
zu unserer Titelstory: So empfehle ich zur
Lektüre den herausragenden Bestseller der Ökonomin
Maja Göpel „Unsere Welt neu denken“.
Sie schreibt: „Unsere Zukunft ist nichts, was
bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur
so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis
unserer Entscheidungen.“
Und wir Einzelne haben sehr viel zu entscheiden:
Wie sehr wir unsere Umwelt schonen,
welche Medien wir als solche wahrnehmen und
konsumieren, worauf wir unsere Meinungen
aufbauen, wie konsequent wir handeln und wo
wir unser Kreuz bei Wahlen machen. Die Frage
„Was wird sein?“ könnte deshalb auch lauten:
„Was wollen wir?“.
Wer zum Beispiel in der immensen Diskrepanz zwischen
individuellem Reichtum und Armut ein Weltübel
sieht, der findet in dem Buch „Kapital und Ideologie“ des
französischen Autors Thomas Piketty Studienfutter. Piketty
fordert einen regulierten Kapitalismus und progressive Reichensteuern.
Und Horst Opaschowski nimmt uns mit in seine schriftliche
Vorlesung „Wissen, was wird“, in der er uns Trends und
Thesen serviert und, ähnlich
wie Maja Göpel, zum aktiven
Mitgestalten auffordert.
In dem Buch „3TH1CS –
Die Ethik der digitalen Zeit“
betrachten die Herausgeber
Philipp Otto und Eike Gräf heikle
Themen wie Kriegsroboter,
Ballerspiele und Algorithmen
vor dem Hintergrund der Moral:
In 20 Texten stellen sich
Expertinnen und Experten aus
Europa, Amerika und Asien der
Herausforderung, neue Perspektiven
zu Pflegerobotern,
autonomen Fahrzeugen, persönlichen
Drohnen, Sexrobotern,
Fake News, Deep Learning
oder Datenethik aufzuklappen.
Stecken wir also wirklich
schon mitten drin, in einer
dritten industriellen Revolution,
wie es Jeremy Rifkin in
seinem Buch „Der Globale
Green New Deal“ (siehe ZETT. /
Ausgabe 3) postuliert? Werden
wir Menschen unsere globale
Wirtschaft umkrempeln, hin
Maja Göpel - Unsere Welt neu
denken. Ullstein-Verlag, 208 Seiten,
17,99 Euro.
Thomas Piketty - Kapital und Ideologie.
Verlag C.H. Beck, 1312 Seiten,
39,95 Euro.
FREIBURG 2030
Horst Opaschowski - Wissen was
wird. Patmos-Verlag, 280 Seiten,
24 Euro.
3TH1CS - Die Ethik der digitalen
Zeit. iRIGHTS media, 264 Seiten,
29,99 Euro (als E-Book 9,99 Euro).
2030
zu ausschließlich regenerativen Energien und einer solidarisch
gerechteren Einkommens- und Besitzverteilung? Schnallen Sie
sich an, rufen Sie sich Christian Bruhns Captain-Future-Soundtrack
in Erinnerung und blättern Sie um.
Los geht‘s!
So soll es 2030 aussehen: Der neu gestaltete Freiburger Stadtteil Stühlinger-West im Windschatten des neuen
Rathauses (großes Oval) wird grün sein, verkehrsarm und mehrstöckig bebaut.
Foto: Futurium / David von Becker
ZETT. JUNI 2020
9
FREIBURG 2030
Deutschlands jüngster Oberbürgermeister besitzt mit seiner
Familie kein Privatauto. Zwar wird Martin Horn von
einem Fahrer im Dienstwagen zu Terminen chauffiert,
aber privat düst das 35 Jahre junge Stadtoberhaupt auf einem
geleasten E-Bike durch die City. Auf die Frage, wie der Freiburger
Stadtverkehr im Jahr 2030 aussehen wird, hält Horn gleich einen
ganzen Korb voller Antworten parat.
Stadtverkehr
E-VOLUTION
„Beispielgebend bis in zehn Jahren werden unsere Neubaugebiete
Dietenbach, Stühlinger-West, Metzgergrün und
Schildacker sein. Da sehe ich für 2030 eine dichtere, urbane
Bebauung, dafür mehr grüne Flächen und neue Mobilkonzepte
mit Car-Sharing, Quartiersgaragen, Lastenrädern und insgesamt
viel mehr Lebensraum für Menschen als für Autos“, erklärt Horn.
Auch in Freiburg werde es dann mietbare E-Scooter geben, jedoch
nur als „kleiner Baustein“ in einem Konzept, das vor allem auf
Fahrräder und Nahverkehr plus Elektromobilität mit möglichst
wenig privaten Autos setzen wird.
Bis zu 40 Prozent schätzt Martin Horn den Anteil an Elektro-Fahrzeugen
in Freiburg in seiner Vision für das Jahr 2030.
Einige Tausend Mietfahrräder, die in Freiburg ‚Frelo‘ heißen,
werde es in zehn Jahren geben und dazu deutlich über hundert
‚Lasten-Frelos‘. Zudem sieht der parteilose OB vor seinem inneren
Auge ein dichteres Radwegenetz mit breiten, attraktiven
Radwegen, „die schnell und direkt in die Innenstadt führen.“
Der öffentliche Nahverkehr solle zudem „sicher, zuverlässig
und in kurzer Taktung fahren“. Außerdem sollten neue
Finanzierungskonzepte des Landes das fahrscheinlose Fahren
ermöglichen“.
Man kann Freiburgs Verwaltungschef also keineswegs
vorwerfen, er blicke nicht nach vorn. Am Besprechungstisch
im OB-Büro malt Martin Horn mit Händen und Worten auch
„drei bis vier neue Stadtbahnlinien“ in die Luft: „Die Linie 1 wird
etwa bis zum Kappler Knoten verlängert, die Linie 3 bis nach
Merzhausen, die Linie 4 bis zur Messe und zum Fußballstadion,
die Linie 5 wird nach Dietenbach fahren, und eine neue
Linie könnte St. Georgen anbinden.“
In der ganzen Stadt werde, bis auf den Autobahnzubringer,
maximal Tempo 30 gelten, in vielen Spielstraßen Schrittgeschwindigkeit.
„Das gilt dann hoffentlich pauschal, ohne Schilderchaos.“
Und „in allen Himmelsrichtungen“ hofft Horn an den Stadtgrenzen
auf Park & Ride Plätze und dadurch möglichst wenige Autos
in der Stadt. Stattdessen sieht er „urbane Lebensquartiere mit
lebendig nutzbarem öffentlichen Raum.“
Dazu komme eine intelligente, elektronische Verkehrsbeschilderung
und ein Elektro-Lieferservice in der Innenstadt:
„Einkäufe kann man sich umweltfreundlich nach Hause liefern
lassen, das wird dann zum Serviceangebot gehören.“
Die vielbefahrene Ost-West-Achse, die zwischen Stadtzentrum
und Wiehre verläuft, sieht Martin Horn in einem unterirdischen
Stadttunnel verschwinden, ersetzt durch einen
renaturierten Dreisamboulevard auf der Innenstadtseite „mit
viel Grünflächen, dazu Rad- und Fußwege und beispielsweise
ein Spielplatz zwischen dem Café Extrablatt und der Innenstadt.
Und ähnlich dem Rotteckring wird auch der Schlossbergring
verkehrsreduziert sein.“
Städtische Müllautos und Busse könnten 2030 vollständig
mit Elektro- und Wasserstoffantrieben ausgestattet sein, denkt
Martin Horn; bei privatwirtschaftlichem Schwerlastverkehr
rechnet er mit einem rund 50-prozentigen Wasserstoffanteil.
Durch solche Quoten werde sich die CO2-Bilanz zum Positiven
verändern.
„Wenn ich 2030 durch die Stadt spaziere, dann sehe ich
Ladestationen für Elektromobile aller Art, angefangen von E-Tretrollern,
E-Scootern, Pedelecs sowie E-Autos und E-Lieferwagen
und rund 100 Mietstationen für Fahr- und Lastenräder. Auch eine
zweite Schienenquerung für Straßenbahnen in Bahnhofsnähe
kommt in meiner Vorstellung vor“ so Horn.
Sein Fazit: „Ich erwarte keine Revolution,
sondern eine E-Volution. Unsere
Stadt wird nicht autofrei sein, aber
autoreduziert, zugunsten einer
deutlich höheren Lebensqualität
ihrer Bewohner. Dies wird
nicht durch das Ausspielen vom
Auto- gegen den Fahrradverkehr
gelingen, sondern durch
ein stetig besseres, bequemeres
und umweltfreundlicheres Stadtverkehrskonzept.“
Martin Horn
Foto: Adobe Stock
10 ZETT. JUNI 2020
Der Begriff der Kunst ist schwer zu fassen. Und dann auch
noch eine Projektion in die Zukunft, ins Jahr 2030? Der
renommierte Freiburger Galerist Albert Baumgarten empfängt
mich in seinen heiligen Hallen in der Kartäuserstraße. Auf
dem Weg zum Besprechungszimmer passieren wir ein Bild des
Malers Volker Blumkowski; es zeigt Männer, Klone, die gleichzeitig
in mehrere kleine Raketen hineinkriechen. Ist das ein Zeichen?
Ich schaffe es nicht, meine Kamera wirklich sachte auf dem
Glastisch abzusetzen, durch den wir unsere Schuhspitzen von
oben sehen können. Albert Baumgarten beugt sich vor und schaut
mir durch seine Brille fest in die Augen: „Also, ich halte nichts von
Algorithmen.“ Na das geht ja gut los. „Wenn da irgendwelche
Holländer sogenannte neue Rembrandts von Computern malen
lassen, dann ist das doch nur eine neue Form der Reproduktion. So
ein wissenschaftlicher Stolz
kann auch etwas Lächerliches
haben.“
Werden also im Jahr
2030 keine von künstlichen
Intelligenzen erschaffenen
Kunstwerke unsere Wohnzimmer
fluten? „Doch“, sagt
Baumgarten, „denn der breite
Geschmack wird sich 2030
mal wieder geändert haben. Aber vor allem wird es andere
Präsentationsformen geben: Die Wohnzimmerwand wird als
Kunstwand aus sich heraus so etwas wie ein riesiger E-Book-Reader
sein. Da wird der Besitzer seine Kunst zeigen können, ohne
dass es aussieht wie auf einem Flatscreen.“
Heute Baselitz, morgen Polke, und zwischendurch mal eben
die Bilder per Laserstrahl neu anordnen? „Etwa so. Und Galerien
wie meine wird es 2030 nicht mehr geben, oder nur noch sehr
wenige. Das verlagert sich in Online-Agenturen, in virtuelle
Ausstellungsräume und in globale Kunstkaufhäuser, die Original-Kunst
auch vermieten werden.“
Langsam kommt Baumgarten in Fahrt: „Künstler werden in
Zukunft auch Ingenieure und Programmierer sein, Wissenschaftler
werden Kunst machen und Künstler Wissenschaftler sein.“ Also
zurück in die Zukunft da Vincis? „Warum nicht? Viel mehr Künstler
werden Zukunftsforscher sein und ihre Vorahnungen präsentieren.
Und, ach ja, Kunstfreunde können sich ihren Lieblingskünstler
als Smalltalk-Hologramm zum Hausbesuch bestellen.“
Welche Stilrichtung wird 2030 vorherrschen? „Sie stellen
Fragen! Aber gut, ich denke, das ‚Anything Goes‘ wird förmlich
FREIBURG 2030
explodieren. Neue Urbanitäten werden neue Stile schaffen,
Topp-Kuratoren werden von Computerprogrammen abgelöst
und die Kontraste zwischen erster, zweiter, dritter und dann
auch vierter und fünfter Welt werden sich verschärfen.“
Und was macht die Kunst 2030 in Freiburg? „Museen wird
es in der heutigen Form nicht mehr geben, das werden nur noch
Kunstdepots sein. Die Ausstellungen finden woanders statt,
überall, in der virtuellen Welt oder unter freiem Himmel, zum
Beispiel auf dem Platz der alten Synagoge. Da können Passanten
Kunst über ihren Köpfen im Schwebezustand betrachten.“
Die visionäre Seite des Albert Baumgarten tickt weiter:
„Künstler werden Schwerelosigkeit sichtbar machen. Interaktive
Kunst wird den Künstler als Gott der Kreation ablösen, Besucher
und ihre Gedanken werden die Kunsterscheinung beeinflussen.“
Kunstbetrieb
IN DER AHNUNGSGALERIE
Wie bitte soll das aussehen? „Stellen Sie sich eine Polarmeer-Performance
vor, in der Sie als Besucher das Gefühl haben, selbst
auf einer Eisscholle durch eine gewaltige Ausstellung zu treiben.“
Und wird die Kunst irgendwann mal verschwinden? „Nein,
niemals. Die Kunst wird sich weiterentwickeln, weil der denkende
Mensch sie nach wie vor dringend braucht. Da geht es auch
um Neugier und Toleranz. Fast die Hälfte aller Kunststudenten
werden sich zuhause ausbilden lassen, Kunstakademien werden
digitale Techniken lehren, wie zum Beispiel 3D-Skulpturen-Prints.
Und 2030 werden sich auch neue Cross-Over-Stile herausbilden,
Verschmelzungen mit Musik, Performance, Literatur.“
OK, jetzt weiß ich, dass Albert Baumgarten alles andere ist als
der Gralshüter eines in Beton gegossenen Kunstbegriffs. Vorbei an
den fleißigen Raketenmännern trete ich
hinaus in den Freiburger Nieselregen
und schaue nach oben: kein menschen-
oder maschinengemachtes
Kunstwerk weit und breit.
Ob ich mal kurz am Platz der
Alten Synagoge vorbeischaue?
Albert Baumgarten
Foto: Adobe Stock
Kunst wird technikaffin und der Blick ändert sich.
ZETT. JUNI 2020
11
FREIBURG 2030
Foto: Adobe Stock
Architektur & Stadplanung
VERDICHTER UND LENKER
Die Frage, wie Freiburg im Jahr 2030 aussehen könnte, stelle
ich Matthias Hotz vom dreißigköpfigen Architekturbüro
hotz + architekten in Freiburg. Wir sitzen in einem lichtdurchfluteten
Besprechungsraum an einem riesigen Holztisch.
An den Wänden hängen Bilder vollendeter Bauprojekte wie die
Fahrradstation am Hauptbahnhof, die Solarfabrik auf der Haid,
das Bürogebäude Schnewlinstraße 12 mit seiner kippenden Fassade,
das United World College in der Kartäuserstraße, Forum
Merzhausen, Theodor-Heuss-Gymnasium oder die abgerundete
Druckerei Simon am Güterbahnhof.
Ganz Deutschland und Freiburg speziell leiden am Fehlen
bezahlbarer Wohnungen. Im Jahr 2030 wird dieses Problem noch
lange nicht gelöst sein, meint Matthias Hotz, aber man werde
schon sehen können, in welche Richtung es gehen wird: „Sehr in
die Höhe zu bauen, wie das zum Beispiel in Basel geplant ist, löst
das Problem nicht, weil es zu teuer ist. Wir werden klüger nachverdichten
durch Aufstockungen und Neubauten. Die Wiehre ist
schon jetzt der am dichtesten bebaute Stadtteil Freiburgs, und der
ist hoch attraktiv. Der Bau von Einfamilien- und Reihenhäusern
in der Stadt wird aber ein Ende haben.“
Durch Geschosswohnungsbau mit fünf bis sechs Stockwerken
wird künftig der Wohnraumbedarf abgedeckt. Wichtig sein wird
es auch günstig zu bauen. Hotz: „Die Systematik mit Bauvorschriften,
Gutachten, Genehmigungen und Sonderfachleuten müssen
entschlackt und vereinfacht werden. Aber daran, dass unsere
Politik das bis 2030 schafft, glaube ich nicht.
Es wird im Gegenteil immer
umfang-
Sieht so das künftige Green City Haus in Freiburg aus?
reicher und schwerfälliger. Was wir tun können: Es wird mehr
Modulbauweise und Vorfertigung geben, um schnell und günstig
zu sein.“
Wer neu bauen will, muss häufig abreißen. Und nicht nur Oldtimer-Autos
werden 2030 recycelt, sondern auch Oldtimer-Häuser.
„Nicht allein aus Kostengründen wird die Recycling-Fähigkeit von
Häusern eine wesentliche Rolle spielen. Bereits verwendete Baustoffe
werden aufbereitet und dem Baukreislauf wieder zugeführt.
„Die Konstruktionen und Materialzusammenfügungen werden
durchdachter sein. Es wird geschraubte, gefügte Bauteile geben“,
sagt Matthias Hotz. „Und Holz wird einen immensen Aufschwung
erleben. Die Anzahl an Holzbauten wird extrem ansteigen.“
Und was ist mit dem heutigen Trend der ‚Tiny Houses‘, kleine,
containerartige Wohneinheiten, die wenig Platz bieten, dafür
aber günstig und mobil sind? Matthias Hotz tut das als Spielerei
ab: „Da ist überhaupt nichts dran. Ich habe mal mit meiner Frau
ein Fünfzig-Quadratmeter-Häuschen bewohnt – das war als
Erfahrung ganz lustig, löst aber keine Probleme, weil es doch zu
viel Grundfläche braucht. Sinn würde es nur machen, wenn man
die stapelt, aber dann schwindet die Attraktivität.“
Dafür lassen sich 2030 Heizkosten sparen. „Es wird Verwaltungs-
und Bürogebäude geben, die so gut gedämmt sind, dass
sie nicht mehr beheizt werden müssen“, erklärt Hotz. „Neue
Wohnhäuser werden so viel Energie, wie sie selbst verbrauchen,
auch liefern, über ihre Dach- und Fassadenflächen, durch Wärmepumpen.
Das ist natürlich standortabhängig. Der Freiburger Rolf
Disch hat schon vor vielen Jahren gezeigt, wie’s geht. Aber 2030
wird externe Energie so teuer sein und selbst produzierte deutlich
günstiger, so dass neben Energieeinsparverordnungen auch die
Wirtschaftlichkeit für dezentrale Einheiten spricht.“
Bliebe die Frage der Stadtplanung: Das Motiv ‚Individualverkehr
raus, Wohn- und Lebensqualität rein‘ wird von Städten
wie Barcelona oder Kopenhagen schon beispielhaft vorgelebt.
Da müsste doch die Öko-Stadt Freiburg mit ihrer weitgehend
autofreien Innenstadt der perfekte Ort für die Zukunft sein –
Green City = Future City? „Bis 2030 passiert das nicht“, winkt
Hotz ab, „aber der Trend, Straßen und Parkraum zurückzubauen
und Öffentlichen Nahverkehr und Fahrräder zu priorisieren wird
zumindest erkennbar sein.“
Hotz weiter: „Die Stadtplanung durchläuft zu viele Gremien
und Institutionen. Und wenn das Parken am Rande der Innenstadt
zum Beispiel einfach nur verteuert wird,
dann werden die Leute eben mehr
bezahlen. Aber es wäre fatal, wenn
2030 noch mehr einkommensschwache
Familien ins Umland
flüchten müssten. Da wird der
neue Stadtteil Dietenbach allein
nicht ausreichen, das zu
verhindern.“
Matthias Hotz
12 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030 ????
Foto: Adobe Stock
Roboter, Künstliche Intelligenz, Entkarbonisierung, Selbstfahrlogistik,
Home-Office, Mechatronisierung – unserer
Wirtschafts- und Arbeitswelt stehen große Umbrüche
bevor, auch in der Dienstleistungsstadt Freiburg. Was wird davon
2030 zu spüren sein, welchen Wandel zwischen Worthülse
und faktischer Neuausrichtung werden wir erleben? Mit diesen
Fragen habe ich Dr. Steffen Auer besucht, den Präsidenten der
Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein.
Seit 2011 ist Auer IHK-Präsident, spricht für 63.000 vor allem
kleinere und mittlere Mitgliedsbetriebe. Gleichzeitig führt er
sein eigenes Unternehmen, die Schwarzwald-Gruppe in Lahr
mit 350 Mitarbeitern, der Zukunft entgegen. Hier hat Steffen
Auer selbst neue Strukturen, regenerative Energien, mehr
Eigenverantwortung und digitale Steuerelemente umgesetzt.
Man kann sagen, er tut, was er predigt.
Auf dem Schreibtisch in Auers Büro im dritten Stock
des IHK-Gebäudes in der Schnewlinstraße liegt eine
Studie mit dem Titel „Zukunftsstrategie Südlicher Oberrhein“.
Steffen Auer holt aus: „Ich glaube, wir stehen am
Beginn einer vierten industriellen Revolution. Und fast alle
wirtschaftlichen Umbrüche in der Vergangenheit haben
gezeigt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze insgesamt
danach zugenommen hat. Das wird auch diesmal so sein. Aber
Denken und Handeln werden sich ändern, weil viele Menschen
in zehn Jahren etwas ganz anderes tun werden als heute.“
Denn, so Auer: „Die Art der Arbeit wird sich dramatisch
verändern. Bislang wurden zum Beispiel Arbeiter an Fertigungsstraßen
in der Automobilindustrie durch Roboter ersetzt. Schon
2030 werden auch viele Buchhaltungs-, Management- und
Personalarbeiten von vollautomatischer Software abgelöst sein.“
Die Weiterentwicklung der Arbeitswelt beginnt nicht jetzt.
Sie setzt sich einfach nur fort, mit den Mitteln der Zeit. Die Jobs
ändern sich, nicht ihre Zahl. Die Frage ist vor allem: Sind die
Menschen bereit dazu? Kann und wird der Kohlekumpel in der
Lausitz künftig Solardachziegel in Reihe schalten? Eine Neuausrichtung
ist gefordert, bei uns allen, in Fragen der Weiterbildung,
der Umschulung und nicht zuletzt in der Basisausbildung des
modernen Menschen: Im Schulunterricht.
Das Problem: Bleibt es bei Lippenbekenntnissen, wird vieles
den Bach runtergehen. „Ich sehe das aber positiv als Herausforderung“,
sagt Steffen Auer, „denn nur, wenn wir nichts tun,
fallen hier Arbeitsplätze weg, die woanders wieder aufgebaut
werden. Es liegt also an uns selbst. Und an der Politik. Ein Beispiel:
2030 werden wir BIM haben.“
BIM ist die Abkürzung für „Building Information Modeling“,
eine Bauwerksdatenmodellierung, die als Oberbegriff
KI-gestütztes
Prozessmanagement
- unsere Arbeitswelten
werden sich drastisch
verändern.
für vernetzte Planung, Bau und Betrieb von Gebäuden und
Bauwerken mittels modernster Software steht. Auer erläutert:
„Der Zimmermann wird nicht mehr irgendwelche Bretter sägen,
sondern wird ein Prozessmanager sein. Das heißt also, wir
müssen es schaffen, unsere Jugendlichen in eine ganz andere
Liga zu bringen als die, in der sie heute sind.“
Und Auer weiß, wie das gehen könnte: „Wirtschaft und
Politik müssen ehrlicher werden, denn schon 2030 haben wir
eine komplexere, neue Arbeitswelt. Unsere Schulen brauchen
mehr modern ausgebildete Lehrer, mehr externe Referenten,
mehr Ausstattung - da muss signifikant Geld reinfließen.“
Und die Zukunft ist Steffen Auer schon selbst erschienen,
in Form einer Smart Factory von SICK Optoelektronik in Freiburg-Hochdorf:
„Da gibt es jetzt schon eine vollautomatisierte
Jobs & Wirtschaft
KLÜGER ARBEITEN
Fabrik - so etwas habe ich noch nicht gesehen. Da werden
Produktionsaufträge von einem übergeordneten System an
Fertigungsstationen vergeben, mit Zwischentransporten und
Produktion bei fortwährender Kontrolle. Da muss kein Mensch
mehr etwas von Hand tun.“ Auers Erkenntnis: „Das System trifft
in manchen Bereichen die besseren Entscheidungen, bis hin zur
Unternehmensausrichtung.“
Auer weiter: „Der Dieselpreis könnte sich verdoppeln, Energie-,
Ressourcen- und Transportpreise werden steigen, Recyclingvorschriften
und -notwendigkeiten werden sich verschärfen,
so dass Unternehmen ganz anders denken werden als sie das
heute tun. Unternehmen werden zum Beispiel dezentral ihren
eigenen Strom erzeugen, Überkapazitäten an den Markt abgeben,
Transportlogistik, Ressourcenschonung und Abfallverwertung
systemgestützt steuern.“
Und die soziale Komponente wird 2030 eine größere Rolle
spielen: „Wir müssen unsere Mitarbeiter besser unterstützen,
denn wir haben einen gewissen Wahnsinn erreicht, der nicht
mehr steigerbar ist. Wenn man heute eine E-Mail nicht innerhalb
von 30 Minuten beantwortet, wird schon gefragt, ob man
tot sei. Die Digitalisierung hat uns diese Beschleunigung bis an
die Grenze beschert. Sie wird uns nun auch helfen, da wieder
rauszukommen.“
Auers Fazit: „Wir haben irre Chancen, den notwendigen
Innovationssprung zu packen, weil unsere Ausgangslage mit die
beste in der Welt ist. Ich glaube nicht an das Szenario der Arbeitsplätzevernichtung.
Wir werden im Gegenteil zusätzliche, aber
hochqualifizierte Arbeitskräfte von außen brauchen, weil uns
die Demografie am Wickel packen wird. Gleichzeitig
wird der Arbeitsmarkt 2030 flexibler sein und sich
auch an den Bedürfnissen der
neuen Menschen ausrichten,
von der 20 bis
40-Stunden-Woche
über Selbstverantwortung
und
Home-Office mit
Online-Live-Besprechungen
bis
hin zu neuen Sozialberufen
zum Wohle der
Gesellschaft.“
Dr. Stefan Auer
ZETT. JUNI 2020
13
FREIBURG 2030
Der Weg zur Studiendekanin Professor Hannah Bast führt in
eines der wie von göttlicher Hand ausgestreuten Gebäude
der 15. Fakultät am Freiburger Flugplatz. „051 - Informatik“,
Eingang hinten rum, durch eine Metalltür, und dort geht es
alternativlos hinein in einen Aufzug. Wäre der nicht innen mit
Sperrholz verkleidet, man könnte denken, es ginge hier direkt
hoch auf die Brücke eines Raumschiffes.
Eine vertikale Einbahnstraße bei Stromausfall, denke ich, als
ich in einen Flur trete, von dem wechselweise große, freundliche
Büros und ebensolche Besprechungsräume abgehen. Plötzlich
biegt Frau Bast um eine Ecke: Wie lange wir wohl brauchen
„Durch Massen an subtilen Daten aus dem menschlichen Körper
und die Echtzeitanalyse von Blut- und Speichelwerten wird der
Erkenntnisgewinn zu Krankheitsverläufen explodieren“. Und:
„Bei der Hautkrebserkennung ist die KI heute schon extrem
zuverlässig.“ Denn: „Der Arzt kennt vielleicht tausend Fälle, die
KI Millionen.“
Auch autonome Waffen werde es 2030 geben, nicht nur
Drohnen, sagt Bast, das sei leider eine verhältnismäßig einfache
Technik. „Aber von einem Roboter, der zum Beispiel die
Spülmaschine ausräumt oder das Dach deckt, werden wir noch
meilenweit entfernt sein. Dass wir in absehbarer Zeit eine echte,
Foto: Adobe Stock
Künstliche Intelligenz
WHATSAPP VON CLEOPATRA
werden für das Interview? Und ob ich Fragen stellen wolle oder
sie einfach ein bisschen referieren solle? „Beides.“ Dann los.
„Die kurzfristigen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz
werden maßlos überschätzt und die langfristigen Folgen maßlos
unterschätzt“, legt sie los. Ein dialektischer Beginn: Erst die
These, dann der Roboter als synthetischer Antichrist? „Diskurs
und Medienberichterstattung geben oft nicht den wahren Stand
der Forschung wieder“, so die Professorin für Algorithmen und
Datenstrukturen. Im Moment steckt also die Künstliche Intelligenz
noch in den Babyschuhen? Oder sie liegt sogar noch im
Himmelbett?
„Was wir im Moment haben, ist eine noch relativ schematische
Null-Acht-Fuffzehn-Intelligenz“, so Bast. „Damit sind
nur sehr spezifische Einzelaufgaben wie Gesichtserkennung
oder autonomes Fahren möglich. Die
Revolution kam und kommt meist eher durch
Low-Tech und kritische Masse zustande.“ Die
kritische Masse im Fall des Internets waren
Rechner und Telefonleitungen. Im Fall der
KI sind das Daten, Speicherkapazitäten
und Verarbeitungsgeschwindigkeiten.
Damit werde schon 2030
die Medizin revolutioniert
sein, meint
Hannah
Bast:
Da soll es irgendwann
mal alles rein.
künstliche Superintelligenz haben werden, das ist noch so weit
weg wie die altägyptischen Pharaonen vom Handy.“ In meinem
Kopfkino sehe ich, wie Cleopatra Caesar eine Whatsapp schreibt:
„Hey Alter, Bock auf Chillen am Nil?“
Überhaupt: Kommunikation, Journalismus - gilt da bald:
KI, übernehmen Sie? „Nein“, sagt die KI-Professorin Bast mit
Bestimmtheit, „es wird zwar neue Methoden zum Fälschen
von Fotos und Videos geben, aber KI wird so bald keinen guten
Journalismus ersetzen. Höchstens Kurzmeldungen und so standardisierte
Texte wie Sportmeldungen und Promi-News können
2030 von Fabrikjournalismus geschrieben werden, mehr nicht.“
Was wir aber 2030 haben werden, sei vollautonomes Fahren:
„Das ist letztendlich auch nur ein Zusammenwachsen
ständig besser werdender Assistenzsysteme. Speziell
bei Lkws, Bussen, Straßenbahnen und
Taxis wird das zum Einsatz kommen. Neue
Städte werden darauf ausgerichtet sein. Im
Privatbereich wird das aber noch nicht flächendeckend
stattfinden.“ Warum nicht?
„Das dauert, bis das im Massenmarkt
ankommt und es gibt ja auch erstmal
Wichtigeres.“
Noch ein bohrender Professorinnenblick
und ich verlasse das Büro, in
dem Hannah Bast sofort ihr Notebook
aufklappt und sich tiefschürfenderen
Dingen zuwendet. Ich aber denke an
Cleopatra im
Raumanzug
und trotte
zum
Aufzug:
„Beam me
down, Scotty.“
Prof. Hannah Bast
14 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030
Foto: Adobe Stock
Dr. Franz Leithold war schwer zu fassen für das Kulturmagazin
ZETT.: Zum Zeitpunkt des vereinbarten Interviews
musste die Freiburger Uni-Bibliothek gerade Corona-bedingt
schließen; Leithold hatte als Leiter des Medienzentrums
und stellvertretender Direktor der UB alle Hände voll zu tun. Am
Ende klappte es eine knappe Woche später dann doch noch –
am Telefon.
„Das Zeitungssterben wird weitergehen“,
meint Leithold. „Im Jahr
2030 werden wir nur, oder immerhin,
halb so viele Zeitungen haben wie
heute. Und diese Zeitungen werden
leider alle als bezahlte Online-Ausgaben
auftreten, wobei die Printausgabe
nur noch ein Beiwerk hierzu sein
wird. Es wird nach individuellen Prioritäten zusammenstellbare
Online-Ausgaben geben, die man dann zum Beispiel auf großen
Readern lesen kann, ähnlich den E-Book-Readern der ersten
Generation.“
2030 werde das Fach ‚Medien‘ fest im deutschen Schulsystem
verankert sein, prophezeit Franz Leithold: „Uns wird spätestens
in zehn Jahren absolut klar sein, dass wir junge Menschen dazu
ausbilden müssen, kritisch, verantwortungsvoll und selbstbewusst
mit Medien umzugehen und seriöse von unseriösen unterscheiden
zu können. Umgekehrt werden die Medien Leser einbinden als
eine Art Mitredakteure; unser gesamtes Bildungssystem wird
endlich wieder ein humanistisches Menschenbild allen Lehr- und
Ausbildungsplänen zu Grunde legen und sich weniger an den
Anforderungen des freien Marktes ausrichten.“
Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem sagt Leithold
ein neues Erstrahlen voraus: „Mit einer neuen Ausrichtung
hin zu besserem, kritischem und investigativem Journalismus
und qualitativ hochwertiger Unterhaltung werden die Öffentlich-Rechtlichen
2030 auch einzelne Printmedien betreiben.“
Lineares Fernsehen mit festen Einschaltzeiten werde es zwar
noch geben, aber deutlich reduziert: „Streamingsdienste mit
massenkonformen Inhalten und nicht-lineare Mediathek-Angebote
mit einer zentralen, europaweiten Mediathekplattform als
Anlaufstelle werden im Vordergrund stehen“, so Franz Leithold.
Das gelte 2030 weiterhin auch für die weniger seriösen
Mail-Medien wie „t-online“, „gmx“ oder „web.de“, die laut
Leithold dann noch stärker
danach trachten würden,
mit manipulativen
Mitteln in gesellschaftliche
Prozesse
einzugreifen und so Marktmacht zu erlangen. Gleiches gelte
für neuartige Konzern-TV-Sender; neben „Red-Bull-TV“ oder
„Bayern-München-TV“ hält Leithold auch einen „Nestlé-Sender“
oder einen „Mercedes-Benz-Kanal“ für möglich – wie immer sie
dann auch heißen mögen.
Immerhin werde das Fixiertsein auf Einschaltquoten teilweise
verschwunden sein, „weil 2030 die Ansprüche der dann auch viel
Medien
ETHOS STATT CLICKBAIT
politischer denkenden Menschen deutlich höher sein werden.
Seriöse Medien wie Spiegel, ZEIT, taz, FAZ, Süddeutsche oder
correctiv.org sowie die öffentlich-rechtlichen Formate werden
hochqualifizierte und verantwortungsbewusste Journalisten
aufbieten im Einsatz gegen eine perfide Verblödung, wie sie
einigen politisch agierenden Gruppierungen nur allzu recht wäre.“
Diese seriösen Medien würden sich auch durch einen umfassenden
Verzicht auf anonyme Hasskommentare auszeichnen,
meint Franz Leithold. „Radioprogramme wird es 2030 immer noch
geben, meist in digitaler Form. Sie werden parallel existieren und
sich vermischen mit Musik- und Informationsstreamingdiensten.
All das wird auch jederzeit mobil empfangbar sein, auf dem
Handy oder im selbstfahrenden Elektro-Auto.“ Der User wird
2030 sein eigener Programmchef sein.
Und dann schließt sich ein Kreis, weil Leithold zum Ende des
Gesprächs wieder zur Corona-Krise des Jahres 2020 zurückfindet:
„In zehn Jahren werden die Menschen aus dieser weltweiten Krise
gelernt haben, wie elementar wichtig seriöse Medien sind, die auf
der Grundlage eines ethischen Konzepts
nach journalistischen Kriterien verantwortungsbewusst
Informationen
recherchieren, aufbereiten
und darstellen. Ohne die geht
es einfach nicht. Ein unabhängiger
Journalismus ist eine der
Säulen unserer Demokratie“
Dr. Franz Leithold
Auf den Durchblick
kommt es an.
ZETT. JUNI 2020
15
FREIBURG 2030
Professor Dr. Andreas Matzarakis trägt den Titel „Außerplanmäßiger
Professor“, der ihm in meinen Augen gleich eine
sehr besondere Aura verleiht. Nur wenige Tage vor seinem
sechzigsten Geburtstag klettert der Spezialist für Human-Biometeorologie,
Stadtklimatologie, Tourismusklimatologie und
Klimafolgenforschung mit mir auf das Dach des Gebäudes an der
Stefan-Meier-Straße in Freiburg, in dem neben dem Rheinschifffahrtsmuseum
auch die Freiburger Dependance des Deutschen
Wetterdienstes (DWD) zu finden ist.
Der gebürtige Grieche Matzarakis studierte in München und
habilitierte in Freiburg über die „thermische Komponente des
Stadtklimas“. Auf dem Dach seines Arbeitsplatzes hat er nicht nur
eine meterologische Glaskugel - hier ist er auch ganz nah dran
„Eine Stadt wie Freiburg ist grundsätzlich etwa drei Grad
wärmer als das Umland“, erklärt Matzarakis. „Wir nennen das
eine Wärmeinsel. Der Temperaturunterschied zwischen Innenstadt
und Flugplatz kann zum Beispiel nachts bis zu sieben Grad
betragen. Die Menschen in den Städten erleben jetzt schon den
Klimawandel: Wenn Sie sich heute vom Waldrand auf der Haid
in die Innenstadt bewegen, dann merken Sie bereits, was uns
der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten bringen wird.“
2030 werden wir in Freiburg eine deutlich größere Hitze
und mehr Hitzewellen haben, das stehe fest, erläutert Andreas
Matzarakis. Die Menschen würden mehr schattenspendende
Bäume pflanzen, Sonnensegel zum Beispiel auf dem Platz der
alten Synagoge aufspannen und ihre mit reflektierenden Farben
Urbanes Klima
SIESTA IN FREIBURG
am Wetter, wenn auch nicht nahe genug, als dass mit Wachs
verklebte Flügel Gefahr liefen zu schmelzen. Wer Matzarakis
zuhört, könnte indes auf die Idee kommen, dass derartiges sogar
bald am Boden in Freiburg möglich ist.
„Es wird heiß, soviel steht fest“, sagt der Professor, ohne
seine Rooftop-Glaskugel auch nur eines Blickes zu würdigen.
Wir steigen wieder hinab in sein Büro, auf dessen Schreibtisch
ein Daumenkino liegt mit dem Titel „Baden-Württemberg wird
wärmer“. Matzarakis folgt meinem Blick: „Sie können gern eins
mitnehmen.“
Um das Jahr 2030 werde es in und um Freiburg über zehn
Prozent weniger Schnee geben und es werde in der Stadt 0,5
bis 1 Grad wärmer sein als heute, sagt Matzarakis. „Das ist eine
ganze Menge. Die Winter werden insgesamt milder und mehr
regenbehaftet sein und die Sommer heißer und mit weniger
Niederschlägen. Und diese wenigen Regenfälle werden dafür
oftmals intensiver ausfallen.“
In Freiburg bin ich es gewohnt im Januar schon mal vor einem
Café im Freien zu sitzen. Der Sommer ist hier gefühlt acht Monate
lang. Wird aus diesem südbadischen Standortvorteil künftig
ein Standortnachteil nach dem Glutofen-Prinzip? Matzarakis
schwankt: „Das hängt davon ab, wie man Hitze betrachtet. Da
geht es nicht nur um die Lufttemperatur, sondern auch um
Feuchte, Wind, Bestrahlung und schließlich um den Menschen
selbst und seine Aktivitäten.“
versehenen Häuserfassaden begrünen, um durch Verdunstung
ein besseres Mikroklima zu schaffen.
„Aber wohin reflektieren weiße Häuserfassaden?“, fragt
Matzarakis. „Natürlich auf den Menschen. Das ist eine Intensivierung
der thermischen Bedingungen, sprich des Hitzestresses
für den Stadtmenschen.“ Also machen es die Griechen seit Jahrhunderten
falsch? „Nein, durch weiße Fassaden bleiben Häuser
innen kühl. Und haben Sie schon mal einen Griechen gesehen,
der mittags draußen in der Sonne steht?“
Jetzt hat er mich. Der Grieche in mir weiß, dass schon die
letzten beiden Sommer an meinem Schreibtisch in Freiburg
heißer waren als die zuvor. Matzarakis: „Nicht nur Stadtplanung
und Bauwesen in Freiburg müssen sich auf die neuen Bedingungen
einstellen, sondern vor allem der Kopf der Menschen. Wir
neigen dazu bei Hitze Klimaanlagen einzuschalten. Die blasen
dann zusätzliche Wärme nach draußen und erwärmen die Stadt
noch mehr.“
Und was macht der Grieche? Siesta und Stromsparen. Genau
so sollten es auch die Freiburger in künftigen Hitzesommern
halten, empfiehlt Matzarakis. Schon bald will der DWD eine
eigene App mit Gesundheits- und Wetterhinweisen herausbringen,
die 2030 zum sommerlichen Alltag
gehören werden wie Schlangen vor
den Eisdielen. Und für die Verwaltungen
werden professionelle
Hitzeaktionspläne entwickelt.
Neben dem Hitzewarnsystem
des Deutschen Wetterdienstes
gibt es schon heute ein europäisches
Hitzeinformationssystem
mit dem denkwürdigen Namen
„EuroHEAT“.
Prof. Andreas Matzarakis
Foto: Adobe Stock
16 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030
Foto: Adobe Stock
Erneuerbare Energien sind – neben künstlicher Intelligenz –
gerade DAS Zukunftsthema schlechthin. Vorhersage-Studien
gibt es reichlich, so der „Energiewendeatlas 2030“ (Agentur
für Erneuerbare Energien), der „Europäische Energieatlas“ (Heinrich-Böll-Stiftung)
oder die „EWI-Analyse“ des Energiewirtschaftlichen
Instituts der Uni Köln.
Auch in Freiburg gibt es ausgewiesene Experten und Forscher
zum Thema. Professor Dr. Bruno Burger empfängt mich in der
Abteilung für „Neue Bauelemente und
Technologien für die Leistungselektronik“
am Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare
Energiesysteme (ISE). Er ist zuständig für
Energie-Elektronik, -Netze und -Systeme.
Genau der richtige Mann für eine Prognose,
was uns im Jahr 2030 erwartet. Im Verlauf
des Gesprächs wird mir klar, dass Professor
Burger ein forscher Optimist ist, der meine Fragen gern aufgreift,
um zu plakatieren, was heute und morgen schon getan werden
kann, um die Dinge übermorgen in den Griff zu bekommen.
Burger blättert sein Bilderbuch der Zukunft Freiburgs im
Jahr 2030 auf: „Wir werden große Batteriespeicher
haben, aber auch dezentrale Speicher in
Kellern von Privathäusern, die vor allem
Sonnenstrom für sonnenscheinarme
Stunden vorhalten und zentral
gesteuert werden. Wir werden
alte und neue Dächer und
vor allem auch Fassaden
als Produktionsorte für
photovoltaischen Strom
erschließen.“
Und dann lässt
Burger gleich seinen
ersten Ballon platzen:
„Ein Netzknoten mit
einem großvolumigen
Batteriestromspeicher
wird in Fessenheim
stehen, am
Standort des früheren
Atomkraftwerks, und
hier wird in Kombination
mit dem Pumpspeicherwerk
am Schluchsee
grenzüberschreitend Strom
zwischengespeichert und
ausgetauscht. Weitere, kleinere
Fünf-Megawatt-Stromspeichereinheiten
werden in Containerbauweise
feuersicher in der Region verteilt sein.“
Das geht ja gut los – ist das schon Science
Fiction? Nein, Bruno Burger weiß genau, wovon er spricht.
Er beugt sich vor: „Es wird insgesamt mehr Güterverkehr auf
Schienen und weniger in der Schifffahrt geben. Hier am Rhein
wird es Wasserstofftankstellen für die Rheinschifffahrt geben.“
Und das alles schon 2030? „Wir werden zumindest auf einem
sichtbaren Weg dorthin sein“, prognostiziert Burger. Seine Kollegen
haben die vollständige Energiewende hin zu ausschließlich
erneuerbarem Strom bis 2050 mit einem Simulationsprogramm
durchgerechnet, sogar „im Stundentakt“.
Die Windenergie werde in und um Freiburg nicht maßgeblich
wachsen, meint Burger: „Viel Wind haben wir nicht. Dafür
wird es Gleichstromtrassen von den Offshore-Anlagen aus dem
Norden geben. Jetzt, im Jahr 2020, versucht die Politik zwar noch,
den Energiewende-Ball flach zu halten, aber 2030 wird das Geschichte
sein, weil sich bis dahin Bevölkerung und Wissenschaft
mit iher breiten Forderung der Energiewende gegen altbackene
Industrieinteressen durchgesetzt haben werden.“
So, Burger hat also auch die Rahmenbedingungen im Blick.
„Wir müssen bedenken, dass wir bei einer vollelektrischen Energieversorgung
für Strom, Wärme, Verkehr und Industrie den
zweieinhalb- bis dreifachen Strombedarf haben werden, weil
Erneuerbare Energien
FREIE DAUER-POWER
Kohle und Öl als Energieträger durch Strom ersetzt werden. Um
den zu decken, müssen wir aber nicht Wasserstoff aus Saudi-Arabien
importieren oder Stromtrassen bis in die Sahara verlegen.
Wir haben hier genug Sonne und Wind für unser Land.“
Und wie sieht es 2030 in Freiburg aus? „Vom
Flugplatz werden erste Elektrohubschrauber
starten. Das Ladesäulennetz für
Elektroautos wird sich in einem
rasanten Ausbau befinden, allein
in der Schlossberg-Garage
werden 100 Ladesäulen
installiert sein. Durch die
Elektroautos wird die
Luft sauberer und der
Verkehr wird leiser.
Es wird Batteriespeicher
geben für den
täglichen Stromlastenausgleich
und
ein großflächiges
Wachstum an Photovoltaikanlagen.
Neue Häuser
werden oftmals in
Holzbauweise erstellt,
um CO2 langfristig
zu binden. Und
das sind in meinen Augen
nur die Low Hanging Fruits
– die ersten wirtschaftlich
Sinn machenden Schritte auf
dem Weg zu einer 100-prozentigen
Versorgung mit erneuerbaren
Energien und erneuerbarem Wasserstoff
als saisonalem Speicher. “
Und was ist mit der Kernfusion, dem menschengemachten
Sonnenfeuer, an dem in Frankreich
und den USA mit Hochdruck
geforscht wird? „Auf die Kernfusion
können wir nicht warten. Sie ist
vor 2050 nicht einsatzbereit,
und bis dahin müssen wir die
Energiewende schon komplett
abgeschlossen haben. Das Klima
ändert sich rasend schnell.
Wir müssen heute reagieren
und dürfen nichts auf morgen
vertagen.“
Prof. Dr. Bruno Burger
ZETT. JUNI 2020
17
FREIBURG 2030
Es ist menschheitsgeschichtlich noch gar nicht so
lange her, da dudelten Musiker auf Instrumenten
wie der Rauschpfeife, dem Rankett, dem Cembalo
oder einem Violoncello herum. Und wer Musik
hören wollte, musste dorthin gehen, wo sie
gespielt wurde - es sei denn, ein Minnesänger
beschallte die eigene Kemenate mit
seinem analogen Schmachtstream.
Heute verfolgt uns die Musik in
der zivilisierten Welt bis in die letzten
Winkel, ob wir das wollen oder
nicht. Wobei: Meistens wollen wir.
Die mehr oder weniger melodischen
Tonfolgen quellen aus Handys, TV-
Screens und Bluetooth-Ohrstöpseln.
2030 wird alles Gewummere dieser
Welt überall und jederzeit verfügbar
sein. Und wer jemals wutschnaubend
in ein rhythmisch donnerschallendes
Kinderzimmer geeilt ist, mag vielleicht
kaum glauben, dass bereits die barocke
Ensemblemusik des siebzehnten
Jahrhunderts als ‚Generalbasszeitalter‘
bezeichnet wird - mein lieber
Herr Gesangsverein.
Wohin all das noch führen
könnte, darüber sprach das Kulturmagazin
ZETT. mit Tilo Buchholz (51),
Musiker in der Freiburger Band „the brothers“
einerseits – Pop-Beauftragter der Stadt
Freiburg per Halbtagsdeputat andererseits.
„Klar, CDs wird es auch 2030 noch geben“,
Allzeit bereit: Der
Hologramm-Gitarrist
aus der Dose beim
Wohnzimmerkonzert
anno 2030.
Leider werde der Musikunterricht an Schulen noch
mehr ins Hintertreffen geraten, mutmaßt Buchholz,
„am G8-Gymnasium allein schon aus Zeitgründen, aber
auch an Grundschulen“. Dafür werde Freiburg schon
vor 2030 einen Förderort für Popbands bekommen:
„Im Moment ist die Musikzentrale noch umstritten,
aber das Grundstück am Güterbahnhof ist da, und ein
Haus wird kommen.“
Denn die Not sei groß: „Es gibt heute schon einen
findigen Unternehmer, Michael Simon, der fünf verschiedene
Bandproberäume in Freiburg sowie weitere
in Konstanz, Karlsruhe und Basel wie in einer Art
Stundenhotel für
Musikmachende
vermietet.“ Und die
Klassik? Werde so schnell
nicht aussterben, meint Buchholz:
„Es gibt kein Land auf der Welt,
dass so viele Orchester, Opernhäuser und Theater
betreibt wie Deutschland. Das wird weniger, wenn
die alten Generationen aussterben, denn junge
Leute, die heute nicht in klassische Konzerte
gehen, gehen auch in zehn Jahren nicht. Aber
ganz so schnell stirbt unser kulturelles Erbe nicht
aus, dagegen spricht allein die Demographie.“
Dafür geht die Inflation der Musikstile
weiter. Dabei geht es weniger um Substanz
als um Namen. Tilo Buchholz: „1962 haben
die Decca Records die Beatles abgelehnt mit
Foto: Adobe Stock
Musik
DAS ENDE DER VINYLISATION
sagt Buchholz im Gespräch, „aber vielleicht eher
in der Art wie heute die alten Vinylplatten wieder
boomen – als Liebhaberstücke für Retrofans.“ Eine
neue Generation physischer Mobiltonträger wird es
nicht mehr geben. Unsere Standardquelle werden
Streamingdienste sein wie Spotify, Amazon Unlimited,
Apple Music, Google Play, Qobuz, Tidal, Deezer,
Napster, Youtube und Soundcloud, die uns eine hochqualitative
Beschallung jederzeit und überall anbieten werden, auch ortsungebunden
in Autos und G5-Kopfhörern.
Und wer wird die Musik verlegen? Buchholz: „Ich glaube,
dass es so kommen wird, dass Musikverlage und Marketingapparate
überflüssig sein werden. Die Mehrzahl der Bands
wird mit technisch hypermodernem, eigenen Studioequipment
selbst produzieren und sich selbst vermarkten, vor allem durch
Videostreams.“
Live-Musik auf Bühnen wird es auch in zehn Jahren noch
geben, prognostiziert Tilo Buchholz, „aber die Schere wird weiter
auseinander gehen: Wir werden mehr große Produktionen haben
und mehr Wohnzimmerkonzerte als Gegengewicht. Schon jetzt
teilt sich der Markt auf; Live Nation und Eventim kaufen alles
auf, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist“.
der Begründung, die Zeit der Gitarrenbands sei
vorbei. Da konnte auch kein Mensch Techno
vorhersehen. 2030 werden wir vor allem eine
tiefere Verästelung der Stile haben. Aber
viele echte, neue Musikstile wird es nicht
geben. Da kommen eher neu verquirlte
Retrowellen auf uns zu.“
Buchholz‘ Ausblick: „2030 wird die Zeit der musikproduzierenden
Gitarrenbands im Studio wirklich vorbei sein. Elektronische
Musik wird dominieren, die Gitarren kommen aus dem
Computer, und künstliche Intelligenzen
werden nach einprogrammierten
Erfolgsmustern Hits produzieren.
Aber es gibt eben nur zwölf Töne,
und die kann man nicht endlos
variieren. Neue Stile entstehen
mehr durch Ausdünnung und
Weglassen. Die minimalistische
Art, wie schon heute viele
Songs gemacht werden, kann
nicht mehr reduziert werden. Da
ist nicht mehr viel Luft nach unten.“
Tilo Buchholz
18 ZETT. APRIL 2020
FREIBURG 2030
Foto: Adobe Stock
Jetzt geht’s ans Eingemachte, ich treffe Mr. Energy persönlich:
Dr. Thorsten Radensleben, Chef des Energieversorgers
badenova. Wenn einer weiß, wie realistisch eine Energiewende
sein kann, dann er. Auf dem Weg in sein Büro zapft sich
Radensleben einen kohleschwarzen Espresso; wir sprechen
zunächst über die Energien menschlicher Körper und tauschen
uns über die Saisonleistungen des SC und EHC Freiburg aus.
Dann geht’s zu Sache.
Dass uns allen eine bedeutsame Energiewende bevorsteht,
ist für Thorsten Radensleben ausgemachte Sache – auch das
schon 2030 die Stärken einer dezentralen Energieversorgung
vermehrt genutzt werden. 2030 werden wir eine Gesetzgebung
haben, so Radensleben, die Photovoltaik auf neuen Hausdächern
dort, wo es sinnvoll sei, verbindlich zur Pflicht mache. Und dann
werde auch eine regenerative Nah- und Fernwärmeversorgung,
zum Beispiel durch Geothermie
und grünes, also umweltverträgliches Biogas, in
Freiburg eine Rolle spielen.
„Im Jahr 2030 werden wir speziell hier am
Oberrheingraben geothermische Kraftwerke haben,
die in weiterer Zukunft ein grünes Fernwärmenetz
möglich machen werden“, so der Experte.
„Und wir werden zentrale Energiespeicher in Form
von Großbatterieanlagen haben, in denen kleinere Solaranlagen
und Mini-Blockheizkraftwerke ihren überschüssigen Strom für
Zeiten des Bedarfs gegen Miete zwischenspeichern können.
Das wird viel günstiger sein als kleinere Batterieeinheiten in
einzelnen Gebäuden.“
Und es werde in zehn Jahren „keine Diskussionen mehr um
Windkraftanlagen im Schwarzwald“ geben – diese Anlagen
seien schlicht unabdingbar und würden 2030 in großer Zahl
umweltfreundlichen Strom liefern. Für viele Wirtschaftsfachleute
ist der entscheidende Faktor zugunsten einer Energiewende
ohnehin der, dass die ‚Grenzkosten‘ für die Ressourcen
Sonnen- und Windkraft bei null liegen, sprich: Sonne und Wind
scheinen beziehungsweise wehen kostenlos. Da geht es ‚nur‘
noch um Investitionen in Anlagen- und Netzausbau – allerdings
sind diese gewaltig.
Radensleben: „Es wird einen großangelegten Umbau der
Energiewirtschaft geben; auch die Nord-Süd-Trassen von den
Offshore-Windanlagen werden kommen. All das wird 2030 voll
im Gange sein.“ Hochintelligente Stromnetze, sogenannte ‚Smart
Grids‘, werden 2030 der neue Standard sein, „mit deutlich mehr
Kuppelpunkten für einen gesamteuropäischen Netzverbund.“
Tatsächlich dezentral werde die Stromerzeugung funktionieren,
aber „Algorithmen werden anstelle des Verbrauchers entscheiden,
wann am besten die Waschmaschine laufen oder die
Tiefkühltruhe mal für zwei Stunden abgeschaltet
wird. Der letztlich benötigte Strom
wird vom Netzbetreiber dann clever ausbalanciert gleich passgenau
mitgeliefert.“
Wow, das sind Aussichten. Im großen Ganzen stellt sich
Thorsten Radensleben derweil hinter eine Analyse des Energiewirtschaftlichen
Instituts (EWI) der Uni Köln. Der zufolge wird
Deutschland sein selbstgestecktes Ziel, bis 2030 insgesamt 65
Prozent des Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien abzudecken,
um 19 Prozentpunkte verfehlen – prognostiziert werden
46 Prozentpunkte. Grund ist unter anderem ein gesteigerter
Stromverbrauch durch Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen.
Auch einen starken Rückgang des Individualverkehrs in
Städten wie Freiburg sieht Radensleben 2030 noch nicht. „In
den urbanen Strukturen wird es 2030 nur einen kleinen Rückgang
geben. Das individuelle Verkehrsaufkommen wird hier in
Energieversorgung
HITZIGES RHEINTAL
Freiburg gleich bleiben, bei einer auf etwa 260.000 Menschen
angewachsenen Bevölkerung. Das ist dann nur ein relativer
Rückgang.“ Auf „zehn Prozent“ schätzt Radensleben den Anteil
elektromobiler Autos in Freiburg 2030.
Dafür werde Freiburg als grüne Stadt ganz Grundsätzliches
umsetzen: „Wir werden bis 2030 erkannt haben, dass jeder Euro
für den Klimaschutz zum Beispiel in Indien besser investiert sein
wird als hier bei uns. Das CO2-Problem macht nicht an einer
Gemarkungsgrenze halt. Es betrifft den gesamten Planeten,
und da gibt es auf dem Weg zur weltweiten Abkehr von fossilen
Brennstoffen weitaus größere Baustellen als hier bei uns.
Es wird uns rein gar nichts nützen, nur selber gut dazustehen.“
In Deutschland und Freiburg werde es „2030 eine CO2-Steuer
auf alles geben“, so Radensleben, „da bin ich mir sicher.“ Die
Industrien würden bis dahin noch lange nicht soweit umgebaut
sein, wie es eine entkarbonisierte, also nicht-fossile Energieerzeugung
erfordere: „Aber der Weg wird erkennbar sein.“
Eine intelligente Menschengesellschaft in einer nachhaltigen
Welt mit einem fusionierten Internet der Dinge, einem durch
künstliche Intelligenz gesteuerten Kommunikations-,
Energie- und Logistiknetz,
wird also 2030 noch lange
nicht umgesetzt, aber immerhin
im Aufbau begriffen sein und
somit wesentlich greifbarer als
2020.
Dr. Thorsten Radensleben
Produziert das Eugen-Keidel-Bad 2030 auch Strom aus Tiefenwärme -
wie hier das Geothermie-Kraftwerk im italienischen Bagnore?
ZETT. JUNI 2020
19
FREIBURG 2030
Darf man einen in strenge Hierarchien eingebundenen,
deutschen Beamten nach seinen berufsinhaltlichen Zukunftsvisionen
für das Jahr 2030 befragen und das dann
auch noch abdrucken? Freiburgs Leitender Polizeidirektor Uwe
Oldenburg, Sportler durch und durch, holt mich als ZETT.-Reporter
persönlich vier Treppen runter und rauf an der Pforte
des Polizeipräsidiums in der Bissierstraße ab. Und ja, man darf.
Polizei 2030
VON WEGEN HOVERBOARD
Oldenburg stammt aus dem südbadischen Schwörstadt bei
Rheinfelden und ist seit Anfang dieses Jahres Chef der Freiburger
Schutzpolizei. Davor leitete er die Verkehrspolizei, nachdem
ihm 20 Berufsjahre in der Landeshauptstadt Stuttgart vergönnt
waren. Der 56-jährige hat sich mit Notizen gut auf den Termin
vorbereitet – und ist dann doch überrascht. Scoring-Systeme
wie in China? Gated Communities wie in den USA? Und was
ist mit Predictive Policing?
Zugegeben, die Kino-unterfütterte Fantasie ist mit mir
durchgegangen. Immerhin, Hoverboards und Laserschwerter
lasse ich vorsorglich unerwähnt. Oldenburg bemüht sich derweil,
die restlichen Fesselballone an ihren lose hängenden Seilen auf
den Boden der Tatsachen zurückzukurbeln. Aber er bleibt keine
Antwort schuldig: „Ein Punkte-System für Wohlverhalten der
Bürger, wie das in China wohl geplant ist, wird es bei uns 2030
nicht geben. Unsere Werte wie Freiheit und Eigenverantwortung
werden dann sogar noch tragfähiger sein. Bestrafung für
mangelnde Systemkonformität wird es nicht geben.“
Oldenburg beißt sich weiter durch den Fragenkatalog:
„Privat bewachte Wohnhäuserviertel? Nein, das sehe ich nicht.
Das passt nicht zu uns hier in Deutschland. Und das zeitliche
und räumliche Vorhersagen künftiger Kriminalitätsdelikte
mithilfe künstlicher Intelligenz wird auch 2030 nicht in Gänze
tragfähig sein, weil sich Kriminelle eben auch in Zukunft trotz
Digitalisierung nicht logisch verhalten werden.“
Kameraüberwachung, Drogen, Identitätsdiebstahl, Biometrie?
„Na ja“, holt Uwe Oldenburg aus, „ich denke, dass wir
2030 nicht mehr Kameraüberwachung im öffentlichen Raum
haben werden, dafür aber technisch deutlich verbessert. Die
Bilder werden besser werden und Algorithmen werden helfen,
Verdachtsfälle zu erkennen. Ich denke,
Marihuana
wird auch 2030 nicht legalisiert sein. Aber es wird keine offene
Drogenszene bei uns in Freiburg geben. Online-Identitätsdiebstahl
und -betrug werden leider ein großes Thema sein, weil
sich sehr vieles, eben auch die Kriminalität, ins Netz verlagert.“
Der Polizeichef fährt fort: „Die vielen falschen Telefonpolizisten
werden bis 2030 ausgemerzt sein, weil bis dahin alle
potenziellen Opfer restlos aufgeklärt sind. Und Polizeistreifen
werden endlich
Ausweisdokumente,
sei es mit oder ohne
biometrische Daten,
mit portablen Geräten
checken können.“
Der Trend scheint
klar: Das Wettrüsten
zwischen Polizei und
Kriminellen hat sich
2030 endgültig ins
Internet verlagert. Aus Banküberfällen mit Geiselnahme sind
Online-Betrügereien mit Pizza und Cola vorm sirenenfernen PC
geworden. In Uwe Oldenburgs Worten: „Gewöhnliche Hauseinbrüche
werden zurückgehen. Und auch wenn wir nicht
wesentlich mehr Beamte haben werden, so wird es deutlich
mehr Fachspezialisten bei der Polizei geben, die häufig den
typischen Generalisten in Uniform ablösen werden. Denn die
Polizei wird mithalten und als Seismograph der Gesellschaft
2030 noch schneller, flexibler, länderübergreifender und spezialisierter
sein.“
Das ist mal ein Wort. Und im Straßenverkehr? „Wir werden
2030 Tempo 130 auf Autobahnen und 30 in zumeist verkehrsberuhigten
Innenstädten haben, weil sich die Erkenntnis
der Folgenschwere hoher Geschwindigkeiten in Gesellschaft
und Politik durchgesetzt haben wird. Telemetrie-Technik wird
beim Einhalten von Höchstgeschwindigkeiten und Sicherheitsabständen
assistieren.“
Was noch? Medien, DNA, Streifenwagen? Auch vor diesen
Themen drückt sich Oldenburg nicht: „Unsere Polizeipressestellen
werden 2030 noch sehr viel schneller arbeiten und zum
Beispiel eine Polizei-App bedienen, mit der Bürger auf Wunsch
wichtige Infos zeitnah aufs Handy bekommen und umgekert
Notrufe absetzen können. Eine umfassendere DNA-Analyse als
heute wird bei Schwerstdelikten im Einzelfall mit richterlicher
Bewilligung möglich sein.“
Wir sind fast durch mit den Fragen, und im Verlauf des Gesprächs
hat sich deutlich gezeigt: Uwe Oldenburg glaubt felsenfest
an die Vernunft des Menschens, an die der Gesellschaft und
der Politik. Wenn nicht heute, dann in zehn Jahren. Er glaubt zum
Beispiel daran, dass Alkoholkonsum im Jahr 2030 „wesentlich
selbstkontrollierter“ sein wird als 2020.
Nur bei den Streifenwagen ist zumindest
eines im Jahr 2030 noch
ganz beim Alten: „Die werden
nach wie vor vier Räder haben“,
grinst Oldenburg, „dafür aber
vollgestopft sein mit Hi-Tech.“
Schade – das mit dem Hoverboard
wäre einfach
zu schön gewesen.
Uwe Oldenburg
Foto: Adobe Stock
Cybercrime - Spion und Gegenspion auf der dunklen Seite des Internets
20 ZETT. JUNI 2020
FREIBURG 2030
Foto: Adobe Stock
Dr. Carsten Hutt ist studierter Politikwissenschaftler, Mitglied
im „Microeconomics of Competitiveness Affiliate
Network“ der Harvard Business School und Gründer mehrerer
Unternehmen. Als wacher Beobachter des Zeitgeschehens
hat er eine klare Vision von bundesdeutscher Politik im Jahr
2030: „Politik wird härter und bunter sein und sich verstärkt um
Grundsatzfragen drehen.“
In zehn Jahren würden sehr große ideologische Gegensätze
aufeinanderprallen, meint Hutt, und „die zunehmende Ausdifferenzierung
der Gesellschaft“ werde zu „einem größeren
Spektrum politischer Partikularinteressen“ führen: „Da werden
neue Strömungen auf der Bühne stehen, die wir heute noch gar
nicht auf dem Schirm haben.“ Und in den Grundsatzfragen der
2030er Jahre sieht Carsten Hutt vier große, politikbeherrschende
Themen: „Das werden der Klimawandel, die demographische
Entwicklung der Bevölkerung, Migration und der Innovationsdruck
auf Wirtschaft und Gesellschaft sein.“
Wir würden 2030 nicht mehr „von den Innovationen
unserer Mütter und Väter leben“ können,
wie dies noch im Jahr 2020 weitgehend der Fall
sei, meint Hutt. Daneben würden sich internetbasierte
Communities zu neuen Lebens- und
Arbeitsformen im realen Leben manifestieren,
sichtbar in einer deutlichen Zunahme von
Co-Working- und Co-Living-Spaces, die dann
starke Einflüsse auf die gesellschaftliche
Entwicklung haben „und auch in die
Politik reinschwappen werden“.
Wird es denn 2030 noch große
Volksparteien geben? „Die Frage
nach einer Volkspartei entscheidet
sich daran, ob es beherrschende
Themen gibt, die einer
Partei als Lösungsbringer
klar zugeordnet werden. Im
Moment sehe ich am ehesten,
dass die Grünen zu einer Volkspartei
werden, weil sie die Themen
Ökologie und Klimawandel am glaubhaftesten
vertreten und alle anderen
Themen darum herum mitorganisieren
können.“
Zudem sieht Hutt eine klare Trennung der
Gesellschaft in zwei unterschiedlich große und sich
jeweils ausdifferenzierte Blöcke voraus: „Die kleinere
Gruppe wird sich als Nationalstaatsbewahrer am Wertesystem
des vergangenen Jahrhunderts orientieren. Der größere Teil der
Gesellschaft wird jedoch vorwärtsgerichtet die großen Herausforderungen
mit neuen Lösungsansätzen angehen.“
Und die soziale Lage? „Die Ungleichheit in den Einkommen
wird bestehen bleiben, aber an Bedeutung verlieren“, so Hutt.
„Für die neuen Generationen geht es nicht mehr primär um den
Führerschein und ein hohes Einkommen, sondern um die Frage:
Welchen Sinn stifte ich mit meiner Tätigkeit?“ Hutt weiter: „Die
neuen Herausforderungen der Gesellschaft werden so viel Geld
brauchen, dass wir zwangsläufig unser Steuersystem anpassen
werden. Die großen Privat- und Unternehmensvermögen des
sehr reichen Teils unserer Gesellschaft werden mit einbezogen.
Entweder man findet einen solidarischeren Ansatz, oder wir
gehen unter. Da ist die Corona-Krise schon ein Anfang.“
Wie selbstverständlich sieht Carsten Hutt für das Jahr 2030
Online-Wahlen und eine deutliche Ausweitung digitaler Verwaltungsdienste
voraus – auch hier werde die Corona-Krise
„zusammen mit dem zuvor bereits bestehenden Innovationsdruck
einen Riesen-Schub geben“. Im politischen Personal verortet
Hutt für 2030 eine wachsende Anzahl parteiloser Akteure, „die
ihre Aufgaben wegarbeiten, ohne das große Rampenlicht zu
suchen.“ Daneben rückt, wie bereits in der Corona-Krise, die
Wissenschaft stärker in den politischen Fokus: „Probleme wie
Meeresspiegelanstieg, Wetterextreme, aber auch Migration
und Integration werden so grundlegend und drastisch sein,
dass wir beratenden wissenschaftlichen Sachverstand dringend
benötigen. Die Bürger werden das einfordern.“
Und was wird aus der Demokratie? Hutt: „Wenn Regierungsmodelle
drängende Probleme nicht lösen, werden sie unter Druck
geraten. Das demokratische System wird zwar Deutschland auch
2030 bestimmen. Aber die Tendenz der demokratisch legitimierten
Einschränkung persönlicher Freiheiten im vermeintlichen
Interesse aller wird sich fortsetzen. Der Staat wird sich noch
stärker einmischen zum Beispiel beim Erhalt strategisch wichtiger
Gesellschaft & Politik
DIE NEUE VERNUNFT
Wirtschaftszweige und
auf der individuellen Ebene beim Reisen, bei
Gesundheitsdaten, beim Rauchen oder beim Alkoholkonsum.“
Zum Thema Europa meint Carsten Hutt: „Der Brexit wird sich
als Nachteil für Großbritannien erweisen, ist aber gleichzeitig auch
ein heftiger Warnschuss, dass die EU als Bürokratiemonster wahrgenommen
wird. Die EU wird daraus lernen und sich 2030 erstarkt
um ihre Kernaufgaben Binnenmarkt,
Grenzsicherung, geregelte Migration,
gesamteuropäische Streitkräfte
und internationale Friedenssicherung
kümmern und sich aus
den unteren Ebenen zurückziehen,
weil sie das nicht kann und
weil es auch nicht akzeptiert
wird. Die EU wird dann sowohl
innerhalb Europas als auch international
als kompetenter Problemlöser
wahrgenommen werden.“
Dr. Carsten Hutt
ZETT. JUNI 2020
21
900 JAHRE STADTJUBILÄUM
Was wird aus dem Stadtjubiläum?
AUSGEBREMST
Abgesagt. Verschoben. Ausgebremst. Die Corona-Krise
hat das 900-jährige Stadtjubiläum aus dem Sattel geworfen
wie ein scheuendes Pferd. „Wir waren auf einem
Super-Weg“ erzählt Zeremonienmeister Holger Thiemann am
Telefon, „und dann das“. Von Mitte März bis Anfang September
wurden alle geplanten Veranstaltungen abgesagt; der Gemeinderat
soll am 30. Juni entscheiden, ob die Feierlichkeiten bis in
den Sommer 2021 verlängert und nachgeholt werden.
Not amused: Holger Thiemann
Die Münsterillumination, eine 900 Meter lange Mittsommernachtstafel,
das große Sommerfest vom 10. bis 14. Juli?
Alles Pustekuchen. Dennoch sagt Thiemann: „Wir langweilen
uns nicht.“ Als Chef des Planungskomitees hält er die Stellung
im Stadtjubiläumsbüro an der Günterstalstraße, beantwortet
Fragen, stimmt sich mit der Stadtverwaltung ab, improvisiert,
so gut es eben geht, während der Rest seines Teams zumeist
aus dem Homeoffice telefoniert und online arbeitet.
Das Freiburger Stadtjubiläum
wanderte vorerst in die Cloud ab.
Fotos: Arne Bicker
Vorerst haben eine Übersicht über Hilfs- und Liefermöglichkeiten
in Freiburg sowie digitale Kulturangebote auf der
Homepage „www.2020.freiburg.de“ das abgesagte Jubiläumsprogramm
abgelöst. Online-Lesungen und Kulturwettbewerbe
finden sich hier nun statt dessen, eine Videoführung durch die
Ausstellung „Gottlieb Theodor Hase – Freiburgs erster Fotograf“
oder Wohnzimmer-Video-Tanzkurse, in denen Fitness-Tanzlehrer
Ivam auffordert: „Zuhause kannst du richtig übertreiben!“.
Neuestes Projekt auf der Online-Seite des Stadtjubiläums
ist das „Stadtnetz Freiburg“, ein, so die Macher „digitaler Raum,
ein digitales Freiburg für Begegnung, Anregung, Kultur, Hilfe
und Kommunikation.“ Die Macher machen weiter.
Während die einen also in den eigenen vier Wänden mit artistischen
Rock-‘n‘-Roll-Figuren die Deckenbeleuchtung schreddern,
peilt Holger Thiemann vorsichtig die Erste Hälfte des Jahres 2021
als Nachholzeitraum an: „Ich denke, dass es die vielen Projekte
wert wären, gezeigt zu werden.“ Noch ist unsicher, ob, wie und
wann es mit dem Freiburger Stadtjubiläum weitergeht. Fest
steht wohl nur: Bei 900 Jahren kommt es auf ein paar Monate
mehr nicht an.
22 ZETT. JUNI 2020
900 JAHRE STADTJUBILÄUM
Rudolf Dischinger - Sitzende und liegende Puppen
Foto Bernhard Strauss
Ausste lung I Ausste lung I
2.04.2020–21.08.2020 8.10.2020– 29.01.2021
RUDOLF RIESTER PETER STAECHELIN
WALTER SCHELENZ VIOLA KEISER
JÜRGEN BRODWOLF HANS RATH
CHRISTOPH MECKEL PETER VOGEL
PETER DREHER FREYA RICHTER
RUDOLF DISCHINGER SABINE WANNENMACHER
KARL-HEINZ SCHERER THOMAS KITZINGER
BERND VÖLKLE BEATRICE ADLER
SUSI JUVAN STEFANIE GERHARDT
ARTUR STOLL SUSI JUVAN
CHRISTINE GERSTL-NAUBEREIT ANDREAS VON OW
HELGA MARTEN
60 JAHRE KUNSTPREIS
Phalanx der Preisträger
Kunstfreunde in Freiburg dürfen sich auf zwei aussergewöhnliche
Ausstellungsreihen im Rahmen des 900-Jahre-Stadtjubiläums
freuen: Die Reinhold-Schneider-Preisträger aus
der Sparte Bildende Kunst im sechzigjährigen Bestehen dieser
Auszeichnung sollen in den Räumen von Kunst-Koch (Hanferstraße
26 in Freiburg ) präsentiert werden.
Seit 1960 gibt es den „Reinhold-Schneider-Preis“ als offiziellen
Kulturpreis der Stadt Freiburg. Verliehen wird er in zweijährigem
Rhythmus abwechselnd in den Sparten Musik, Kunst und
Literatur. Daneben existieren Förderpreise und Stipendien. Der
1958 in Freiburg verstorbene Namensgeber Reinhold Schneider
war Schriftsteller und Gegner des Nationalsozialismus.
Nun werden von den Gewinnerinnen und Gewinnern aus
all den Jahren ausgewählte frühe Werke, insbesondere aus der
Zeit, als ihnen der Preis zugesprochen wurde, im Kontrast zu
aktuellen Arbeiten zeigen.
In der ersten Ausstellungsreihe, die vor der Corona-Krise bis
zum 21. August 2020 geplant war und sich nun verschieben wird,
finden sich Rudolf Riester, Walter Schelenz, Jürgen Brodwolf,
Christoph Meckel, Peter Dreher, Rudolf Dischinger, Karl-Heinz
Scherer, Bernd Völkle, Susi Juvan, Artur Stoll, Christine Gerstel-Naubereit
und Lotte Paepcke wieder.
Die zweite Ausstellungsreihe war zunächst vom 8. Oktober
2020 bis zum 29. Januar 2021 vorgesehen, mit Peter Staechelin,
Viola Kaiser, Hans Rath, Peter Vogel, Freya Richter, Sabine Wannenmacher,
Thomas Kitzinger, Beatrice Adler, Stefanie Gerhardt,
Susi Juvan, Andreas von Ow und Helga Marten.
Rudolf Riester - Fensterbild
Foto Nachlaß Rudolf Riester
Peter Vogel - Holzklang
Foto Nachlaß P. Vogel
ZETT. JUNI 2020
23
Chile
Bolivien
Indien
Mexiko
Im Gewand der Vielfalt
WELTENFRAUEN
Alles fing bei einem Freiburger Rahmentrommelfestival
vor elf Jahren an. Damals freundete
sich die Musikerfotografin Ellen Schmauss mit
einer Dame aus Indien an; deren Gewandwechsel
von der deutschen Alltagsgarderobe zur
leuchtend-blauen Heimatkleidung faszinierte
sie. Die Idee zur Fotoserie „Weltenfrauen“
entstand genau hier.
Seitdem lichtete die aus Biberach stammende
Berufsfotografin insgesamt 98 Frauen in
Freiburg, Köln, Mannheim und Ulm ab. „Ich
möchte damit die Vielfalt zeigen, die es in
Deutschland gibt“, so Schmauss. „Das sind
keineswegs Trachten, sondern vor allem heimatliche
Gewänder in Deutschland lebender
Frauen aus aller Welt.“ Ihre Wanderausstellung
„Weltenfrauen“ zeigte Ellen Schmauss unter
anderem im Rahmen des Freiburger Stadtjubiläums
in der Meckel-Halle.
www.ellenschmauss.de
24 ZETT. JUNI 2020
900 JAHRE STADTJUBILÄUM
Aus Geschichten, die das Leben
schreibt, kann manchmal wundervolle
Kunst entstehen. So
auch im Falle der Evelyn Höfs:
2012 war die Berliner Gymnasiallehrerin
ihrem Mann nach
Freiburg gefolgt. Beim Umzug
erlitt die Malerin eine Armverletzung,
von der sie sich jedoch
um keinen Preis der Welt von
der kunstsinnigen Erkundung
ihrer neuen Umgebung abhalten
lassen wollte. So begann
Höfs Szenen und Menschen in
Freiburger Cafés einhändig auf
ihre digitale und stets wiederverwertbare
Tablet-PC-Leinwand
zu bannen.
Die Methode war geboren.
In einer gezielten Aktion mit
Flyer-basierter Suche entstanden
in der Folge 51 Porträts von
Freiburger Studierenden, die
sie in einer Ausstellung unter
dem Titel „Gegenüber“ im Rahmen
des Stadtjubiläums zeigte.
Als Lohn für das Modelsitzen
gab es übrigens jeweils „ein
Frühstück und ein Gespräch
über Gott und die Welt“, so
Evelyn Höfs. Das kam an.
Auch wenn in den digital gemalten
Bildern manches Auge
ein wenig windschief aus der
Wäsche schaut, kippende Perspektiven
auf skizzenhaft-unperfekte
Beinpartien treffen,
meint Höfs: „Das sind für mich
keine Fehler. Ich will moderne
Menschen zeigen. Da gehören
Brüche einfach zum Leben
dazu.“
www.evelynhoefs.com
Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs
DIGITAL UNPERFEKT
ZETT. JUNI 2020
25
MEDIATHEKEN
3sat-Kulturzeit
GESCHMEIDIGST PRODUZIERT
Unsere tägliche Dosis
Kultur gebe uns heute,
oh Herr des Bewegtbildes,
und kredenze uns diese
bei Salzgestänge und kühlem
Trunke zur Tageszeit unserer
Wahl.
Wunsch? Gebet? Jedenfalls
ist nichts einfacher als das.
Denn in einem niemals vergriffenen
Nudelregal des Internets
wartet, wochentäglich frisch
befüllt, die „Kulturzeit“ – ein
40-minütiges TV-Magazin bei
„3sat“.
Täglich von Montag bis Freitag
nehmen sich die regen Macher
in Mainz kulturelle und
kulturpolitische Themen zur
Brust, mit einem meist ganz
schön schrägen Musikclip im
Abgang.
Davor: Kluge Interviews mit
Nele Pollatschek, Mourad Merzouki
oder Daniel Hope und das
Neueste von Handke bis Berlinale.
Reinklicken lohnt sich.
Eine von vier wöchentlich
wechselnden Moderatorinnen
und Moderatoren ist Vivian
Perkovic (Frontfrau seit 2017).
Als Moderatorin sei es doch
eigentlich ihr Job, Fragen zu
stellen, wandte Sie zunächst im
Telefonat mit dem ZETT.-Magazin
ein.
3sat.de/kultur/kulturzeit
26 ZETT. JUNI 2020
Anders als ARD und ZDF im Wochenrhythmus
produziert 3sat mit der „Kulturzeit“ eine
tägliche Kultursendung von Montag bis Freitag.
Ist das nicht ungemein stressig in einem Sujet,
das oft Entspanntheit, Zeit und ein Sich-Einlassen
einfordert?
Nicht die ganze Redaktion und alle Moderatorinnen
arbeiten von Montag bis Freitag jede
Woche an der Sendung. Wir Moderatorinnen
und Moderatoren wechseln uns wöchentlich
ab. Und die Redakteure und Reporterinnen
haben auch Zeit zu recherchieren, rauszugehen,
zu drehen und zu schneiden. Ein wundersames
Ding namens „Dienstplan“ regelt
das. Und dann spielen wir ja auch die besten
Beiträge, die ARD, ZDF, ORF und SRF aus Kultur
und Gesellschaftsdiskurs zu bieten haben. Die
suchen die Planer aus, aber machen sie nicht
selbst. Insofern bleibt genug Ruhe für fundierte
Kontemplation. Der tägliche Rhythmus ist aber
sogar gut, er hilft, an den Entwicklungen und
Themen dranzubleiben, selbst wenn man die
Sendung nur zu Hause guckt.
Auf welche Themen fährt Ihre Redaktion
ab – was lässt sie eher kalt?
Es gibt für jede Kultursparte glühende Verfechter:
Der Literatur-Papst, die Kino-Königin,
der Diskurs-Deuter. Und generell geht es ja eher
darum, wie man über ein Thema berichtet, als ob.
Warum berichten so viele seriöse Medien
zum Beispiel über das quotenheischende Dschungelcamp,
in dem es vor allem darum zu gehen
scheint, Aufmerksamkeit, Scham und Ekel zunächst
zu produzieren und dann Geld damit zu
verdienen?
Das müssen Sie diese Medien fragen. Aber
zu analysieren, warum das Dschungelcamp ja
offensichtlich Menschen in seinen Bann zieht,
was das über Medien und Menschen verrät – das
könnte ich mir auch in der Kulturzeit vorstellen.
In Freiburg feiern wir gerade – mehr oder
minder kulturbeseelt – eine 900-Jahre-Geburtstagsparty
an 365 Tagen für 230.000 Menschen
– hätte das Potenzial für ein Kulturzeit-Thema?
Wenn es darum ginge, wie die Geschichte
der Stadt heute erzählt wird, wo Menschen sie
bemerken, und was nicht so gern rausgestellt
wird – also wenn es um die allgemeinere Frage
ginge: Was macht Geschichte und auch die Ge-
MEDIATHEKEN
Taktgeberin in Kulturfragen:
Vivian Perkovic.
Foto: ZDF / Jana Kay
schichte einer Stadt mit denen, die dort wohnen,
oder zu Besuch kommen – wieso nicht?
Welchen Sinn haben kleine und kleinste
Kulturveranstaltungen, und was hat der sogenannte
Kulturbetrieb überhaupt mit dem
täglichen Leben zu tun – wo hört das eine auf
und fängt das andere an?
Kultur macht immer Sinn. Egal wie groß
oder klein. Bestenfalls gehört das, was im Buch,
auf Bildschirm und Bühne passiert zum Alltag
dazu. Ist doch schön, wenn man eine Figur in
sein eigenes Leben mitnimmt. Und sich beim
Busfahren ausdenkt, wie es mit ihr wohl weitergeht.
Und was das Verhalten dieser Figur
über uns alle verrät.
Wir blicken in diesem ZETT.-Printmagazin
auch in die Zukunft, ins Jahr 2030 – wie wird
es dem Kulturbetrieb dann gehen? Drohen uns
Einschränkungen und Ausgrenzungen durch eine
rechtslastigere Politik?
Da geht es nicht um Kultur, sondern um
alles. Wir müssen aufpassen und rechte Ideologien
bloßstellen, uns vielleicht auch eigenen
Vorurteilen stellen. Nach dem Terroranschlag in
Hanau hätte ich mir zum Beispiel gewünscht,
dass nicht von „Fremdenfeindlichkeit“ die Rede
ist, sondern von Terrorismus. Denn die meisten
Opfer lebten schon lange in Deutschland und
einige hatten auch einen deutschen Pass. Die
schweigende Mehrheit positioniert sich onund
offline zu wenig gegen Rechts. Ich hätte
mir gewünscht, dass mehr Menschen auf die
Straße gehen, sich mit den Familien der Opfer
solidarisieren. Es gab zwar am Tag nach dem
Anschlag einige Mahnwachen, das Echo insgesamt
auf die Tat hätte aber lauter und schärfer
sein müssen. Kultur kann helfen, zu vermitteln,
zusammenzubringen, Vorurteile abzubauen
oder zu reflektieren – aber an Rechts muss die
ganze Gesellschaft ran. Vom Kultur-Onkel bis
zur KfZ-Mechatronikerin.
Welches Buch hat sie zuletzt schwer beeindruckt,
welches Bild hängt in Ihrem Büro über
dem Schreibtisch, und welche CD hören Sie gerade
am liebsten?
Buch - Primo Levi, das ist gerade als Hörbuch
erschienen, sehr gut gelesen von Alexander
Fehling. In der Woche als ich es gehört habe,
war gerade der 75. Jahrestag der Befreiung von
Auschwitz. Primo Levi beschreibt das Grauen,
das Menschliche, das Erbärmliche so, dass es
sich in Leib und Seele einprägt. Mehr verstanden,
was Auschwitz war, habe ich nie. Im Büro habe
ich an vier Wänden Glasscheiben. Ich bemühe
mich für die anderen Kollegen, in den Bürostuhl
versunken, ein möglichst gutes Bild abzugeben.
CD: Little Simz, eine Spitzen-Rapperin aus London;
introspektiver Rap in geschmeidigster Produktion.
Julia Jentsch als Astrid in
„24 Wochen“
Foto: ZDF / Friede Clausz
Fünf starke Frauen
MODERNE HELDINNEN
Alissa Jung als Judith in
„Das Menschenmögliche“
Foto: ZDF / Daniel Schmid
Maryam Zaree als Pelin in
„Abgebrannt“
Foto: ZDF / Jens Mackeldey
Idil Üner als Saniye in
„Saniyes Lust“
Foto: ZDF / Richard Hübner
Jella Haase als Leila in
„Looping“
Foto: ZDF / Jieun Yi
Mit der Reihe „Moderne Heldinnen“ zeigt das ZDF in seiner
Mediathek (zdf.de) im Rahmen des ‚Kleinen Fernsehspiels‘ fünf
Filme von Frauen über Frauen: „24 WOCHEN“ von Anne Zohra
Berrached, „Das Menschenmögliche“ von Eva Wolf, „Abgebrannt“
von Verena S. Freytag, „Saniyes Lust“ von Sülbiye Güna sowie
„Looping“ von Leonie Krippendorff.
Im Mittelpunkt stehen eine Kabarettistin, die ein zweites Kind
mit Trisomie 21 erwartet, eine Assistenzärztin, die einen Fehler
macht, eine Hartz-IV-Empfängerin, die schwarz als Tätowiererin
arbeitet, eine junge, emanzipierte Frau mit türkischen Wurzeln
zwischen Familie und Karriere und eine 19-Jährige, die in der Psychiatrie
landet und dort ungewöhnliche Freundschaften knüpft.
ZETT. JUNI 2020
27
FOTOGRAFIE
Fotografie
KLEINE BRÖTCHEN
Caroline Kross
Ulrich von Kirchbach
Abgesagt, verlegt, verschoben, neuer Zeitpunkt ungewiss – der Sprachduktus der Corona-Krise
ist uns inzwischen vertraut. Eigentlich, tja, eigentlich wollten wir an dieser Stelle über
eine Fotoausstellung berichten, die in Freiburg vom 2. Bis 10. Mai stattfinden sollte. Einführende
Worte wollten Freiburgs Erster Bürgermeister Ulrich von Kirchbach und die Verlegerin des Kulturmagazins
ZETT., Caroline Kross, als Medienpartner der Ausstellung sprechen.
Statt dessen backen die Macher vorerst im Homekitchen kleine Brötchen und einen duftenden
Pustekuchen, versprechen aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Die Ausstellung
soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Wann, das verrät, wenn es soweit ist, die
homepage „visionfreiburg.de“. Hier also statt konkreter Ankündigung ein bebilderter Ausblick:
Neun Freiburger Fotografinnen und Fotografen zeigen demnächst in Fritz‘ Galerie und Biergarten,
Bahnweg 4 in Freiburg, ihre verschiedenen Sichtweisen auf das weibliche Geschlecht.
Die Ausstellung ist ein Projekt des Freiburger 900-Jahre-Stadtjubiläums.
Jenseits von Feminismus, MeToo-Debatte, reiner Porträtarbeit oder oberflächlicher Ästhetik
fokussieren die durchweg künstlerischen Fotografien insgesamt 36 sehr subjektive Blicke auf
Alltag, Träume, Stärken, Visionen und Leiden der einen Hälfte unserer Gesellschaft. Das Menschsein
steht jederzeit im Mittelpunkt.
Zu sehen sind ausnahmslos starke Frauen ohne überhöhende Mission aus verschiedensten
Blickwinkeln. Jede Fotografin und jeder Fotograf präsentiert vier Bilder. Diese vier und drei weitere
Bilder werden in einem vom Zypresse Verlag gesponsorten Katalog zu sehen sein. Auf den
folgenden Seiten stellen wir hier im Kulturmagazin ZETT. die Fotografinnen und Fotografen mit
jeweils einer Arbeit vor.
www.visionfreiburg.de
Eine städtische Oase:
Fritz‘ Galerie und Biergarten
im Freiburger Bahnweg 4
28 ZETT. JUNI 2020
FOTOGRAFIE
Jutta Panke lebte in Berlin und
hatte gerade promoviert, als
eine Inspiration sie zur Fotografin
werden ließ. Bei ihrer
Arbeit gibt sie sich seither ganz
der sie umgebenden Energie
und ihrem intuitiven Gespür
hin. Ihre Motive fand sie zunächst
in der Natur und in den
unscheinbaren Erscheinungen
des Alltagslebens in der Großstadt.
Mit den Jahren kam die
Faszination für menschliche
Porträts hinzu, der sie, inzwischen
in Freiburg lebend, mit
einer wesens- und seelennahen
Wahrnehmung nachgeht.
www.juttapanke.de
Michaela Kindle, geboren und
aufgewachsen in Freiburg, zog
Mitte der Neunziger in die USA,
wo sie ein Studium der Fotografie
absolvierte. Die heute
wieder in Freiburg lebende
Foto-Künstlerin hat ihre Leidenschaft
fürs „Composing“
während ihrer Zeit in Los Angeles
und London entdeckt - ihr
Fokus liegt auf der fotografischen
Inszenierung. Mit ihren
surreal anmutenden Motiven
entwirft sie eine Bildwelt, die
irgendwo zwischen Traum und
Märchen in einem poetischen
Wunderland angesiedelt ist.
Hier ihre Arbeit „Red Dot“ (Vier
Künstlerinnen in ihrer Welt).
www.kindle-photography.de
ZETT. JUNI 2020
29
FOTOGRAFIE
Dorothee Himpele ist gebürtige
Freiburgerin, diplomierte
Kunsttherapeutin sowie Video-,
Foto- und Installationskünstlerin.
Ihre Fotografien aus
der Reihe „ich muss (noch an
mir) arbeiten“ richten ihren
Fokus auf die Anforderungen,
denen Frauen durch von außen
an sie herangetragene Definitionen
von Weiblichkeit gegenüberstehen.
Ihre befremdlich
zusammengestellten Arrangements
verknüpfen Dokumentarisches
mit Fiktivem
zu einer Rebellion des Inneren
gegen eine meist viel zu
glatte Oberfläche. Hier ihr Bild
„Weiter Flur“.
www.dorothee-himpele.de
Yasemin Aus dem Kahmen ist
gebürtige Berlinerin, lebt seit
2002 in Freiburg. Sie ist die
Frau hinter dem Label MINZ&-
KUNST, eine selbstbewusste
und kämpferische Künstlerin,
voller unbändiger Neugier. Dabei
bleibt sie auch in feministisch-politisch-provozierenden
Arbeiten stets einfühlsam für
das Individuum vor wie hinter
der Kamera und stellt jene
Schönheiten heraus, welche sie
bei ihren Motiven entdeckt. Der
Geist, die Stimmung ihrer Bilder
ist multimedial, interaktiv,
und immer voller Leidenschaft,
durch sensible Portraits, intime
Einblicke und revolutionäre Momente
- so wie hier: „Early Bird“.
www.minzundkunst.com
30 ZETT. JUNI 2020
FOTOGRAFIE
Janine Machiedo fotografiert
äußerst ungewöhnliche Selbstporträts.
Die freischaffende Fine-Art-Fotografin
aus Freiburg
erzählt in ihren Konzeptfotografien
surreal-skurrile, märchenhafte
und manchmal ironische
Geschichten – immer
mit einem visuellen Anklang an
vergangene Tage. Hier zeigt sie
ihr Bild „Bad Day For Goldie“.
www.janine-machiedo.de
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ZETT. JUNI 2020
31
FOTOGRAFIE
Horst Sobotta stammt aus dem
schleswig-holsteinischen Glüsing.
Er lebt und arbeitet seit
1985 in Freiburg. Sobotta ist
ein Wandler zwischen den Epochen,
zwischen analoger und
digitaler Fotografie, zwischen
Licht, Moment und Abbild. Und
nach Jahrzehnten der Fotografie
hat er eine neue Berufung
gefunden: Horst Sobotta resümiert
und rekapituliert, ergänzt
und transferiert frühere Arbeiten
– um sie erneut abzubilden.
So auch hier: „reconstruction
5“.
www.horst-sobotta.de
Piotr Iwicki, geboren in Gdynia
(Polen), lebt und arbeitet in
Freiburg. Iwicki nutzt die Mittel
einer digital konstruierten Fotografie,
um seine Gedanken
und seine subjektiven Betrachtungen
fotografisch abzubilden.
Seine Bilder verströmen
aus der scheinbaren Ruhe und
Abstraktion eines fotografisch
anmutenden Bildkonstrukts
eine lauernde, lautlose und
überbordende Eindringlichkeit.
Hier zu sehen sein Bild „YOUNG
GIRL“ (2016) aus der Serie RE-
SIDUAL HEAT / RESTWÄRME.
www.iwicki.com
32 ZETT. JUNI 2020
FOTOGRAFIE
Jan Deichner wurde im tschechischen
Liberec geboren, kam
aber als Dreijähriger schon
nach Freiburg, wo er aufwuchs
und nach Zwischenstationen in
Mailand und Hamburg heute
wieder lebt und arbeitet. Betätigungsfelder
des überzeugten
Analogfotografen sind Porträts,
Reportagen, Magazinarbeiten,
Inklusionsprojekte und
Werbefotografie. Im künstlerischen
Bereich sucht Deichner
mit Vorliebe nach „Energien,
Halbheiten, Unschärfe und
Zwischenwelten“ - hier in seiner
Arbeit „SCHANZE“.
www.deichner.de
Arne Bicker ist freier Journalist
in Freiburg, Redaktionsleiter
bei „ZETT. - Das Kulturmagazin
für Freiburg“ sowie beim
Fußballmagazin „Anpfiff“
(beide Zypresse-Verlag) und
Bundesliga-Live-Reporter für
Radio Regenbogen. Neben
seinem Schwerpunkt der journalistischen
Reportagefotografie
entstehen gelegentlich
künstlerische Bilder, die stets
Geschichten von den Widrigkeiten
des Lebens in den Blick
nehmen. Hier das Bild „An einem
Montag im November“.
www.abicker.de
ZETT. JUNI 2020
33
FOTOGRAFIE
REGENTANZ
34 ZETT. JUNI 2020
Thomas Temmer ist ein Lichtmaler, ein Tüftler
und Ausprobierer, einfach einer, der es wissen
will. Im Hauptberuf Polizist in Freiburg, begibt
sich der Kenzinger im Nebenjob als Fotograf auf
eine permanente Suche nach Neuland und gibt
seine Erfahrungen auch in Workshops weiter.
Die erotische Fotografie hat es ihm angetan,
wobei die Ästhetik perfekt arrangierter Körperformen
nicht immer weitgehender Nacktheit
bedarf, wie dieses Bild mit dem Titel „BE A BEAT“
zeigt. Temmer hat eine Gruppe von Tänzerinnen
und Tänzern der Freiburger Hip-Hop-Formation
„Dope Skit“ in Szene gesetzt und mithilfe
einer freiwilligen Feuerwehr beregnen lassen.
Und so scheint hier einfach alles in Bewegung
zu sein, obwohl wir nur einen eingefrorenen
Sekundenbruchteil auf dem Strahl der Zeit
sehen. „Spiegelschlag“ nennt Thomas Temmer
sein Arbeiten, abgeleitet vom typischen „Klack“
des zurückschnellenden Spiegels im Reflexkameragehäuse.
www.spiegelschlag.eu
ZETT. JUNI 2020
35
FOTOGRAFIE
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36 ZETT. JUNI 2020
FOTOGRAFIE
Prima Prisma
DREISAMTORTEN
„Dreisam-Dreams“ nennt Dr. Peter Gerdes
(57) sein Fotoprojekt. Der gelernte Fließgewässerökologe
aus Bremen lebt seit 2012 im neuen
Beruf als Lebenshilfe-Coach in Freiburg, direkt
an der Dreisam, und hat sich fotografische Porträts
der Freiburger „Lebensader“ zur Aufgabe
gemacht. So hält Gerdes Tiere an und in der
Dreisam fest, aber auch Menschen, die er als
„Homo Dreisamiens“ bezeichnet. Seine wohl
spannendsten Bilder sind Nahaufnahmen vom
Flussgrund mit Sonnenreflexen im Wasser, die
er als visuelle Tortenstücke verzwölffacht und
zu kaleidoskopartigen, farbenfohen „Flusskreisen“
verknüpft. Gerdes: „Ich bin da jeden Tag
– die Bilder sind meine Liebeserklärung an die
Dreisam.“ www.dreisam-dreams.de
ZETT. JUNI 2020
37
BÜCHER
Foto: Janine Machiedo
38 ZETT. JUNI 2020
BÜCHER
SCHÖNE GESCHICHTEN
Foto: Arne Bicker
Lesen für umsonst: Dieses oft unterschätzte und doch stets
greifbare Vergnügen bietet die Freiburger Stadtbibliothek mit
ihren vier Standorten am Münsterplatz 17, in der Staudingerschule
in Haslach, in der Falkenbergstraße 21 in Mooswald und
im Rieselfeld (Maria-von-Rudloff-Platz 2).
Im Kulturmagazin ZETT. empfehlen Bibliothekarinnen und Bibliothekare
neuere Bücher im Bestand der Freiburger Stadtbücherei
als besonders lesenswert (in Klammern die Standnummer). Unser
Foto zeigt Ludger Albrecht, Leiter der Filiale Haslach.
www.stadtbibliothek.freiburg.de
Ludger Albrecht empfiehlt: „Kevin Kwan – Crazy Rich Asians“ (Zba Kwan)
Kevin Kwan, Amerikaner, aber selbst Nachkomme asiatischer Vorfahren, schildert in diesem Buch die schillernde
Welt der Neu- und Superreichen in Singapur und China. Für einen unvoreingenommenen Leser wie
mich war es erfrischend amüsant und ein stetes Staunen über eine faszinierende asiatische Parallelwelt, von
deren Existenz ich keinerlei Ahnung hatte. Dort braucht man natürlich für seinen Ferrari einen Auto-Aufzug
bis in die Penthouse-Wohnung im 10. Stock und fliegt mit dem Privatjet mal eben einen Tag zum Einkaufen
von Luxusgütern aller Art nach Paris, London und New York. Das Innenleben dieser „Familien“ gibt jedoch
Einblick, wie menschlich die Protagonisten trotzdem sind. Konflikte, Streit, Eifersucht und Langeweile sind
hier nicht weniger an der Tagesordnung als bei allen anderen Menschen. Geld alleine macht eben doch nicht
glücklich! Flüssig und humoristisch geschrieben, aber ohne viel Tiefgang, eine Gesellschaftskritik, die wie ein
schlechter Nachgeschmack daher kommt, trotzdem auch mit dem zum Teil brillanten Witz einer Realsatire.
Esther Kuschke-Rösch empfiehlt: „Wolfgang Joop – Die einzig mögliche Zeit“ (Ryk Joop)
Auch wenn man mit Mode nichts am Hut hat, ist dieses Buch sehr lesenswert. Wolfgang Joop schreibt über
seine Kindheit in Bornstedt bei Potsdam, damals in der Nachkriegszeit der DDR, auf einem Bauernhof, umringt
von Frauen. Sein Vater kam aus dem Krieg, als er acht Jahre alt war und hat ihn zur Begrüßung erst einmal
mit einer Gardinenstange misshandelt. Die Familie zieht nach Braunschweig, für den Jungen die Vertreibung
aus dem Paradies. Nun pendelt er räumlich und emotional zwischen Ost und West – die Sommerferien verbringt
er immer im Osten. Sehr offen beschreibt er seine Jugend, erste Erfahrungen, seine erste Liebe und sein
junges Familienleben in Hamburg. Über verschlungene Wege kommt er in die Modebranche, besucht Paris,
lernt Karl Lagerfeld kennen und lebt jahrelang in New York. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt er zurück nach
Bornstedt, in seine Heimat. Der Autor analysiert sich und sein Leben sehr ehrlich und bildreich, spannend und
zutiefst menschlich. Ein außergewöhnliches Leben in einer deutsch-deutschen Zeit.
Ann-Katrin Tuerke empfiehlt: „Fernando Aramburu – Langsame Jahre“ (Zba Aram)
Der achtjährige Txiki verbringt seine Kindheit und Jugend bei der Familie seiner Tante im Arbeiterviertel San
Sebastian. Eingebettet in die Jahre der Franco-Ära und den Kampf der ETA schildert der Ich-Erzähler in der
Retrospektive seine Alltagsbeobachtungen dem Autor Fernando Aramburu. Dieser lebte selbst im Viertel, war
aber zum Zeitpunkt der Erzählung noch sehr jung und verstand viele Zusammenhänge noch nicht. Zwischen
den Berichten des Ich-Erzählers fügt der Autor Notate ein, in denen er Beobachtungen und Notizen einbringt,
die später in den Roman einfließen sollen. Mich hat „Langsame Jahre“ auf zweifache Weise fasziniert: Einmal
die authentische, lebendige Schilderung baskischer Verhältnisse Ende der sechziger, Anfang der siebziger
Jahre; zum anderen der kunstvolle Perspektivenwechsel zwischen Autor und Erzähler, das Spiel mit persönlichem
Erleben und ihrer Umsetzung in einen Roman.
Ulrike Kraß empfiehlt: „Volker Weidermann – Das Duell“ (Pyk Gras)
Der Literaturkritiker und Fernsehmoderator Volker Weidermann erzählt in einer Doppelbiographie die
Geschichte von Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass, deren Jugend unterschiedlicher nicht hätte sein
können. Der eine als Jude verfolgt im Dritten Reich, der andere Mitglied der Waffen-SS. Der eine wird Autor
und Nobelpreisträger, der andere der wichtigste Kritiker Deutschlands. „Zwei Tanker. Zwei Kämpfer. Machtbewusst.
Selbstbewusst“ (S. 241). In diesem Spannungsfeld bleiben die beiden ihr Leben lang in Respekt und
gleichzeitig enormer Rivalität intensiv verbunden. Was sie teilen, ist die gemeinsame Überzeugung von der
großen Kraft der Literatur.
ZETT. JUNI 2020
39
BÜCHER
Helen Duppé
WEISSE RIESEN
KURZGESCHICHTE
Ich spiele Basketball mit ein
paar überdimensionalen Typen
Ich stand am Rande eines Tals, das so geformt war wie eine
riesige Halfpipe. Links und rechts von mir erhoben sich steile Felswände
in die Höhe. Ich ließ meinen Blick schweifen. Ich musste
die Augen zusammenkneifen, bis ich die grüne Markierung zwei
Kilometer weiter entdeckte. Sie zog sich von der einen Felswand
bis zur anderen. Ich drehte mich um. In ungefähr der gleichen
Entfernung lag auch eine grüne Linie. Verwundert wanderte
mein Blick nach oben. Und tatsächlich. Basketballkörbe, so
groß wie ein Haus, waren in einer unerreichbaren Höhe an der
Felswand angebracht. Ich wusste nicht, wie viele Fragezeichen
gerade in meinem Kopf herumschwirrten. Nie und nimmer
würden die Spieler dieses Feld überqueren können, ohne total
erschöpft anzukommen. Und wie konnten die Spieler überhaupt
die Körbe erreichen? Ich wusste nur eins: Das hier war nicht
normal – nichts davon.
Ich dachte noch einmal an den Manager, der mir den Posten
als aktueller Trainer für die Mannschaft Weiße Riesen abgetreten
hatte und an das Einwilligungsformular. Er hatte nicht gesagt,
dass das Spielfeld so groß sein würde, er hatte lediglich gesagt,
dass sie im Bärental trainierten. Ich hatte dabei an ein normales
Basketballspielfeld gedacht, aber doch nicht an so was! Eins
ohne Rasen – also kein Fußballfeld. Ich seufzte… Ich hatte keine
Ahnung, was das sollte, und fand es echt nicht lustig, dass mich
dieser Mann schlichtweg hintergangen hatte. Ich brauchte
diesen Job – ich brauchte das Geld. Ich wollte nicht noch einmal
arbeitslos sein!
Plötzlich erklang Johlen und Gelächter von den Bergen rechts
von mir. Ich sah, dass an manchen Stellen der Schnee von den
Bergspitzen abbröckelte und spürte, wie ein leichtes Vibrieren
durch den Boden fuhr. Ich sah ab und zu etwas Weißes aufblitzen,
dachte aber, dass ich mich wohl getäuscht haben musste.
Und dann kamen sie. Menschen oder Schneemänner – keine
Ahnung – so groß wie Hochhäuser, stampften auf das Feld, das,
wie ich jetzt begriff, wie ein ganz normales Spielfeld für sie sein
musste – vielleicht sogar ein bisschen zu klein. Hastig zog ich
den Vertrag heraus und las mir diesen einen Satz noch einmal
gründlich durch: Hiermit willigen Sie ein, den Posten als aktueller
Trainer der Weißen Riesen anzunehmen. Ich schlug mir gegen
den Kopf. Mann, war ich dumm! Ich hatte immer gedacht, dass
die Mannschaft so hieß, nicht aber, dass sie wirklich weiße Riesen
40 ZETT. JUNI 2020
waren. Als der Mann mir gesagt hatte, dass schon viele Trainer
gekündigt hatten, hatte ich einfach gedacht, dass die Mannschaft
ein Problem hatte. Jetzt aber ging mir auf, dass die Trainer ein
Problem gehabt hatten. Und zwar ein Großes: Sie waren zu
klein – viel zu klein. Wahrscheinlich hatten sie für die Riesen
nur wie Fliegen gewirkt, die man nicht einmal Summen hörte.
Ich stolperte zurück, als sich ein weißer Fuß so groß wie ein
Auto neben mir absetzte. Der Riese beugte sich hinab. Schnee
bröckelte von ihm ab und fiel schwer auf mich herunter. Sein
riesiges Mondgesicht wurde von einem breiten Grinsen geziert,
als er mich belustigt von oben herab musterte. „Noch so einer“,
teilte er seinen Kollegen mit, die sich nach seinen Worten
enttäuscht auf den Boden setzten. „Er zittert sogar noch mehr
als die anderen.“ Er streckte seinen weißen Zeigefinger aus
und piekste mich hart in die Brust. Alle Luft wurde aus
meinen Lungen gepresst und ich wurde mindestens
zwei Meter nach hinten geworfen. Es fühlte sich so an,
als hätte mich soeben ein Rammbock getroffen. Kurz
lag ich benommen auf dem Boden und hörte das
abfällige Lachen meiner großen Mannschaft nur
wie durch ein Kissen. Doch nachdem der Schmerz
leicht abgeflaut war, richtete ich mich mühsam
auf und rief den Riesen zu: „Hey, ich bin euer
Trainer. Ihr hört auf mich.“ Der Riese, der mich
umgeschubst hatte, runzelte seine Stirn und
fragte ironisch: „Tut mir leid, was hast du
gesagt?“ Seine Freunde brüllten vor Lachen,
sodass die Felswände wackelten.
„Ich bin euer Trainer!“, schrie ich sie an.
Der Riese nickte, so als ob er einer dummen
Behauptung eines Kindes zustimmte, nur
damit es Ruhe gab. Seine Freunde warfen sich
jetzt auf den Boden. Ihr Gelächter brachte die
Bäume zum Zittern… Und dann hörte ich ein
Krachen. Erst dachte ich, dass einer der Bäume
umgefallen war, doch als ich meinen Blick hob,
flog ein riesiger Felsklotz herunter. Wie in Zeitlupe
sah ich, wie einer der Riesen nach oben zeigte und
alle anderen ihre Münder dümmlich öffneten und
ein nebelhornartiges Geräusch sich ihren Kehlen
entrang… Dann krachte der Stein auf die Finger meines
Streitgegners. Er heulte laut auf und nahm vorsichtig
seinen Stumpen wieder hoch. Zwar wuchs seine Hand
schnell wieder nach, doch ich wettete, dass es trotzdem
sehr wehgetan hatte. Die Überreste seiner alten Hand waren
als Schneehaufen unter dem Felsstück vergraben.
Die anderen Riesen sahen mich ehrfürchtig an. „Warst du
das?“, fragte einer von ihnen mit vor Schreck geweiteten Augen.
Erst legte ich den Kopf schief
und sah ihn erstaunt an, doch
dann sah ich meine Chance, ihr
Vertrauen zu gewinnen, oder
besser ihren Respekt, und mein
Gesichtsausdruck wechselte
von Erstaunen zu überlegener
Gelassenheit. „Natürlich
war ich das“, sagte ich lässig
und hatte meine Augen halb
geschlossen. „Und wenn ihr
mich noch einmal ärgert, mach
ich das nochmal!“ Ich hatte
mich gegen den Felsbrocken
gelehnt und selbst ich konnte
hören, dass meine Stimme
Sie liest rund 60 Bücher pro Jahr, hat selbst schon unzählige
Kurzgeschichten und Gedichte sowie ein Fantasy-Roman-Manuskript
verfasst, in dem den Menschen der Wind
geklaut wird – Helen Duppé (14) besucht die achte Klasse im
Freiburger Kepler-Gymnasium und hat den jüngsten Jugendschreibwettbewerb
des Literaturhaus‘ Freiburg gewonnen.
„Weiße Riesen“ war das Thema. Ältere Zeitgenossen denken
dabei vielleicht an Waschmittel. Nicht so die junge Autorin,
die sich ein klein wenig darüber ärgerte, nicht den fünften
Platz belegt zu haben, weil sie dann einen Büchergutschein
erhalten hätte. So gab es diverse Bade- und andere Gutscheine,
aber eben keinen für weiteres Lesefutter. Dabei ist Helen
so lesehungrig, dass sie auch unser jüngstes ZETT.-Magazin
verschlang. Hier ihre Gewinner-Kurzgeschichte.
BÜCHER
vor schlechter Lügerei nur so triefte. Der Riese zog kurz seine
Augenbrauen misstrauisch zusammen, entspannte sich jedoch
gleich wieder, als ob ich, falls er an mir zweifelte, noch einen
Brocken auf sie niederbrettern lassen würde. „Der ist anders“,
sagte er seinen Freunden.
„Noch nicht bemerkt?“, murmelte ich leise zu mir selbst.
„Okay“, ich hob meine Stimme, um die Ohren meiner Mannschaft
zu erreichen. „Habt ihr einen Ball, weil meiner…“ Ich ließ
den Satz unbeendet und nahm meinen Basketball aus dem
Ballnetz, das ich neben mir abgelegt hatte. Für mich war er genau
richtig, aber für die Riesen… Naja. Einer von meinen weißen
Schützlingen nickte beschwichtigend und zog einen riesigen
Ball, so groß wie ein Lieferwagen, hinter seinem Rücken hervor.
„Wir haben schon vorgesorgt, falls wir wieder einen so
kleinen Trainer haben… Nichts gegen dich!“, sagte er
schnell. Ich nickte knapp. „Also gut“, rief ich. „Bildet zwei
Mannschaften und spielt eine Partie. Ich korrigiere euch
wenn nötig.“ Meine Mannschaft gehorchte und die, die
noch saßen, standen schnell auf und teilten sich in
zwei Gruppen auf.
Alles in allem waren sie eigentlich eine gute
Mannschaft. Ich hatte allerdings ein paar Probleme.
Erstens: Wenn ich pfiff, um einen von ihnen zu
verbessern, spielten sie einfach weiter. Ich wusste
jetzt, dass ich nächstes Mal ein Nebelhorn oder eine
Feuersirene mitnehmen sollte. Zweitens wäre ich
schon mindestens zweimal fast von dem Basketball
zermatscht worden, hätte ich nicht noch in
letzter Sekunde einen 20 Meter Sprint hingelegt.
Und drittens rieselte dauernd Schnee von meinen
Sportlern herunter und ich musste mich mehr als
einmal aus einem ganzen Haufen freikämpfen.
Irgendwann gab ich es auf, die ganze Zeit hin
und her zu laufen und so ging ich mit schnellen
Schritten – mit ab und an einem oder zwei Schlenkern,
um dem Ball zu entgehen – auf einen der Riesen zu und
klammerte mich an seinen großen Zeh. Ich hing eine
Weile an seinem Fuß, bis ich endlich bemerkt wurde.
Als er mich erkannte, nahm er mich beim T-Shirt, hob
mich hoch und setzte mich auf seine Hand.
„Okay“, brüllte ich, sodass auch wirklich jeder
mich hörte. „Ich weiß nicht, wie lange ich dort unten
rumgeschrien hab, aber das ist jetzt zu Ende. Ich werde
jetzt immer bei einem von euch auf der Schulter
sitzen und von dort rufen, damit ich auch ja nicht
ignoriert werde, okay?“ Die Riesen nickten.
„Du da“, ich zeigte dem, auf dessen Handrücken
ich gerade stand, mitten ins Gesicht. „Wie
heißt du?“
„Jonuk.“
„Ja, du trägst mich.“ Ich
stapfte seinen Arm hoch und
auf seine Schulter. Ich verbesserte
die Riesen mal hier, mal
dort. Jeder hörte und respektierte
mich. Und ich glaubte,
dass ich damit auch der Erste
war. Über irgendwelche Spiele
und Meisterschaften machte
ich mir im Moment keine Sorgen.
Ich war einfach nur glücklich,
einen Job zu haben und
eine Mannschaft, mit der ich
mich verstand.
ZETT. JUNI 2020
41
BÜCHER
Philipp Multhaupt
DER SEILTÄNZER
Foto: Foto Konrad Lenz
von Astrid Ogbeiwi
Kultige Locations, Texte in schneller Folge, Lesebühnen-Literatur,
die vor Publikum ‚funktionieren‘ muss, ohrenbetäubenden
Lärm bei der Applaus-Abstimmung – das sind
Poetry Slams. Vielleicht mehr Slam als Poetry eben. Der Freiburger
Philipp Multhaupt ist hier zuhause, obwohl er als junger Autor
diese Szene eher mit leisen Tönen erobert, also: Wenig Slam,
aber sehr viel Poetry.
Im ‚richtigen‘ Leben ist Multhaupt Anglist und als Literaturwissenschaftler
im Promotionsprogramm der Universität
Freiburg mit dem Projekt „Auf der Kante zwischen Literatur- und
Übersetzungswissenschaft“ beschäftigt. Er selbst bezeichnete sich
mal als „unbekümmerter Phantast“ – der Autor als literarischer
Seiltänzer zwischen Fantasie und Wirklichkeit.
Philipp Multhaupts Helden sind vergessene Träumer in einer
erstarrten Gesellschaft. Zwischen Luftschlössern und Irrlichtern
suchen sie ihren Weg – und finden ihn, weil sie getrieben
sind von Melancholie, Sehnsucht und Neugier. Etwa ‚Professor
Felizius‘ aus der Geschichte „Die letzte Seite“ in Multhaupts
erstem Erzählband „Herrn Murmelsams Fieberträume“ (2014).
Eines Tages reißt der aus all seinen Büchern jeweils die letzte
Seite heraus: „Gleich nach dem Frühstück fing er damit an, und
es dauerte bis zum Abend, denn unter den zahllosen Bänden,
die in den zahlreichen Regalen seiner Bibliothek standen, fand
er nicht einen, der keine letzte Seite hatte.“
Hochzufrieden verstaut der Protagonist schließlich den
Stapel mit den herausgerissenen Seiten „in einem großen Paket,
das er am nächsten Morgen auf die Post trug, um es an
einen Herrn Jalisbund in Tamaristan zu verschicken, über den
er neulich eine Geschichte gelesen hatte, und den es vielleicht
gar nicht gab. Aber dem Professor hatte der Name gefallen und
außerdem brachte er es nicht übers Herz, die herausgerissenen
Seiten wegzuwerfen oder gar zu verbrennen. Behalten konnte
er sie freilich auch nicht, und da schien ihm das Paket an Herrn
Jalisbund die eleganteste Lösung zu sein.“
Mit leisen, verträumten Tönen wie diesen, die dennoch nie die
Bodenhaftung verlieren, hat sich Philipp Multhaupt gleich dreimal
in Folge für die Baden-Württembergischen Landesmeisterschaften
im Poetry Slam qualifiziert. Und seine Bücher erscheinen in einem
Verlag, der in der Slam-Szene recht bekannt ist: Periplaneta ist
ein kleines, trotziges, unabhängiges Verlagshaus in Berlin mit
mit einem hohen Qualitätsanspruch, das zugleich breit aufgestellt
ist und auch über ein Produktionsstudio für die eigenen
Hörbücher verfügt und eigene Veranstaltungsreihen auflegt.
Multhaupts 2016 erschienene Novelle „Über die Erhabenheit
toter Katzen und das Umwerben trauriger Mädchen“ über den
„vierzehn-oder-so“-jährigen Jan und seine Sehnsucht nach einer
„schrecklich traurigen Freundin“, die sich plötzlich zu erfüllen
scheint, gehört neben Tschingis Aitmatows „Djamila“ und Navid
Kermanis „Große Liebe“ wohl zu den schönsten Erzählungen
über die erste Liebe überhaupt.
Nach dem Erzählband „Herrn Murmelsams Trinklieder“ von
2019 wird noch in diesem Sommer ein neuer Roman von Philipp
Multhaupt erscheinen, der sich nichts Geringeres als „die Rettung
der Welt“ vorgenommen hat. Durch verschiedene Lebensphasen
hindurch hat sich der Autor während des Schreibens mehrfach
verändert, so berichtet es Multhaupt selbst am Telefon. Der
anfängliche Idealismus wurde hinterfragt, dann gebrochen, und
auch die fantastischen Elemente, welche die „Murmelsam“-Bücher
und auch hier und da die „Katzen“ kennzeichnen, werden
nun sparsamer dosiert. Der neue Roman wird „ein bisschen in
eine andere Richtung“ gehen, verspricht der Dichter – ein echter
Multhaupt soll es allemal bleiben.
Dass der neue Roman noch keinen endgültigen Titel hat, liegt
an rechtlichen Fragen, weil der ursprünglich vorgesehene Titel
bereits vergeben ist. Dass der Erscheinungstermin noch lange
offen bleibt, liegt hingegen an der Corona-Krise. Aufgrund der
geschlossenen Buchhandlungen mussten Bestellungen storniert
werden, und Nachbestellungen bleiben aus. Der Buchgroßhandel
42 ZETT. JUNI 2020
ist inzwischen sogar dazu übergegangen, Neuerscheinungen
gar nicht mehr zu listen. Gerade unabhängige Verlage belastet
dies schwer. Und wo noch Mittel vorhanden sind, verzögern sich
Erscheinungstermine, weil Druckereien Kurzarbeit anmelden
mussten.
Auch die Zukunft der ge ra de
hier im Südwesten besonders lebendigen
Poetry-Slam-Szene ist
ungewiss. Viele Veranstaltungen
können nicht mehr stattfinden,
so auch die elften Baden-Württembergischen
Meisterschaften
im Poetry Slam, die vom
14. bis 16. Mai in Ludwigsburg
vorgesehen waren. Dass der
ganze Kulturbetrieb zum Stillstand
kommt, bereitet auch
Philipp Multhaupt große
Sorgen. Er selbst kann sich
zwar durch seine Tätigkeit
an der Universität und als
freier Journalist über Wasser
halten. Wenn aber nun die finanziellen Ressourcen vieler Veranstalter
wegbrechen, wird es sie dann nach Corona noch geben?
Werden Förderprogramme aufrechterhalten werden können?
Wie würden Multhaupts Figuren mit dieser Situation umgehen?
Vielleicht so wie der bereits erwähnte Professor Felizius?
Nachdem dieser sorgfältig die letzte Seite aus allen seinen Büchern
herausgerissen hat, liest er die, die er noch nicht kennt.
Den Ausgang einer Geschichte zu erfahren, dazu bleibt ihm nun
nur noch eine Möglichkeit: Er, dessen ganzes Leben sich bisher
Die Bücher von Philipp Multhaupt sind lieferbar, komme, was da wolle,
zum Beispiel vor Ort durch die Buchhandlung Ihres Vertrauens oder
direkt beim Verlag unter „www.periplaneta.com/shop“.
BÜCHER
am Schreibtisch, im Lesesaal oder an der Universität abgespielt
hat, muss es selbst ausprobieren.
Zunächst verpflanzt er nachts heimlich kleine Bäumchen
im Park, doch keine Behörde entdeckt und bestraft ihn, denn
„um solche Absonderlichkeiten wie wandernde Bäume zu bemerken,
sahen die Menschen
einfach nicht genau genug
hin.“ Zufrieden schreibt er
seine eigene letzte Seite der
Geschichte. Dann überlegt er
kurz und nimmt ein neues Buch
aus dem Regal. „Der gläserne
Regenmantel hieß es. Eine Liebesgeschichte.
[…] Der Professor,
der sich nicht mehr wie einer
fühlte, nahm in seinem Sessel
Platz, schlug die Liebesgeschichte
auf und begann zu lesen.“
Weil Literatur ja nicht nur aus
dem Leben anderer erzählt, sondern
oft auch ins Leben ihrer Leserinnen
und Leser eingreift,
schreiben wir nun unser eigenes Ende dieses Artikels: Philipp
Multhaupts neues Buch wird erscheinen – wieder bei Periplaneta,
Titel: „Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt: Eine
Heißluftballonräubergeschichte mit Schaf“ – und sein Autor
wird auch wieder live zu erleben sein, in Freiburg zum Beispiel
am 2. Juli um 19:30 Uhr auf dem Kirchplatz in Herdern als einer
von neun Autoren bei „9 Autor*innen, 9 Geschichten, 9 Minuten:
Die Herdermer Sommer-Lesung zum Freiburger Stadtjubiläum“
und sicher auch wieder beim Slam 46 in der Theaterbar.
ZETT_S+P_quer.indd 1 15.05.20 12:24 ZETT. JUNI 2020 43
BÜCHER
Wein-Crime
Was ist ein Weinkrimi? Definieren wir es mal so: Ein Buch, in
dem zumindest so manche Figur nichts zu lachen hat. Denn
im Breisgau, in der Ortenau, am Kaiserstuhl, am Bodensee und
im Markgräflerland werden nicht nur Trauben, sondern auch
Habgier, Eifersucht und Mordlust von der Sonne verwöhnt. All
das verleiht dem blutrot leuchtenden Burgunder im Glas des
geneigten Lesers ein Bouquet, das die Spürnase weitet und das
Gehirn kitzelt. 20 Autorinnen und Autoren servieren, herausgegeben
von Anne Grießer, aus dem ach so malerischen Südbaden
23 schwarzhumorige Geschichten, die es in sich haben. Ob
Breisgau-Psycho, Prinzessinnengeflüster, Winzer in der Wanne
oder Cuvée à trois – diese Weinprobe ist prädikatsverdächtig,
keine Frage, unterhält aufs Vorzüglichste und muss sich vor
keiner Polizeikontrolle fürchten.
Anne Grießer (Hrsg.) // Mörderisch im Abgang
Wellhöfer Verlag • 250 Seiten • 12,95 Euro
Tempelgänger
Eine Frau unternimmt mit dem betagten, aber sehr belesenen
Vater ihre alljährliche Kultur-Gruppenreise. Die Motive könnten
dabei nicht unterschiedlicher sein: Der Vater will sein angelesenes
Wissen mit visuellen Eindrücken vor Ort abgleichen; die
Tochter möchte dem Vater assistieren und gewinnt dabei eher
beiläufig selbst Reiseeindrücke, auch von der Dynamik der elfköpfigen
Reisegruppe. Im fiktiven asiatischen Zielland Kirthan
verschwindet dann plötzlich der ebenso kluge wie geduldsame
Reiseleiter – und sowieso ist in dem autoritären Land kaum
etwas wie erwartet.
Die in Freiburg lebende Autorin Annette Pehnt schickt mit „Alles
was Sie sehen ist neu“ einen ruhigen Fluss an Worten auf die
Reise. Dieser ist angefüllt mit sich langsam einschleichenden
Überraschungen und ebensolchem Humor - eine fesselnde
Nahbetrachtung der Ferne, gerade auch für jene Leserinnen
und Leser, die sich noch nie selbst den Fährnissen einer Studiosus-Exkursion
an die Brust geworfen haben.
Annette Pehnt // Alles was Sie sehen ist neu
Piper Verlag, München • 190 Seiten • 18 Euro
Widerstand
Südbaden Mitte der 1970er-Jahre. In Wyhl am Kaiserstuhl soll
ein Atomkraftwerk gebaut werden. Hannelore und ihr Mann
Karl sind entsetzt. Gemeinsam mit ihrer Nichte Klara, Studentin
in Freiburg, schließen sie sich dem Widerstand an. Bald sind
Familien und das ganze Dorf in Befürworter und Gegner gespalten.
Winzer und Bauern fürchten um ihre Existenzgrundlage
und ihre Heimat. Als der Bau ohne Rücksicht auf ausstehende
Gerichtsentscheidungen beginnt, bleibt den protestierenden
Kaiserstühlern nur ein letztes Mittel: die Bauplatzbesetzung.
Basierend auf Zeitzeugenberichten vermittelt die Freiburger
Autorin Julia Heinecke in ihrem dritten Roman eindrücklich,
wie die politische Stimmung damals kippte und einen gesellschaftlichen
Umbruch einläutete.
Julia Heinecke // Kalter Nebel. Widerstand am Kaiserstuhl
Badischer Landwirtschafts-Verlag • 304 Seiten • 15,80 Euro
44 ZETT. JUNI 2020
BÜCHER
Die Freiburgerin Ulrike Halbe-Bauer beschreibt zwei starke Frauen:
Claire, 1939 geboren, überlebt Krieg und Nachkriegszeit bei
liebevollen Tanten im Elsass. 1949 holt die Mutter, Sängerin am
Stadttheater Oberhausen, das Kind ins Ruhrgebiet zurück. Claire
fühlt sich fremd in der Enge der Adenauerzeit und zwischen
sich bekämpfenden Eltern. Als Jugendliche wird sie schwanger
und fliegt zuhause raus. In Köln lernt sie 1964 bei einem
Chansonauftritt Theo kennen. Zwei Kinder werden geboren,
doch dann politisiert sich Claire und zieht in eine Kommune.
1975 lernt sie in Freiburg die sechzehnjährige Pilar kennen,
Kind von spanischen Gastarbeitern, die in der Kindergruppe
der selbstverwalteten Kulturfabrik an der Habsburgerstraße
unbezahlt aushilft. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich
eine zwiespältige Freundschaft, die Pilar bis zu Claires Tod im
Jahr 2007 in Atem hält.
Ulrike Halbe-Bauer // Claire
Wellhöfer Verlag • 300 Seiten • 14,95 Euro
Im Zwiespalt
Hätte jemand Marc Buhl an einem Mast festgebunden, so
wäre das Buch „Neapel oder das Schweigen der Sirene“ wohl
nie erschienen. Aber auch nur dann nicht. Wie Odysseus begibt
sich der Autor auf große Fahrt in eine Stadt, die für ihn wie eine
ganze Welt ist. Ein sehr alter, gedruckter Reiseführer aus dem
Jahr 1911 ist Magnet und Anker zugleich für Expeditionen in die
drittgrößte Metropole Italiens.
Im Schatten des Vesuvs taucht der Autor ab in eine Stadt der
Unterwelt und in die Unterwelt der Stadt. „Neapel sehen und
sterben…“ dichtete einst Goethe über das Häusermeer am
Tyrrhenischen Meer – besser nicht, denkt sich Marc Buhl, man
verpasse sonst zu viel, vielleicht sogar die ganz große Liebe. Der
gebürtige Sindelfinger arbeitete als Journalist und ist heute
Schriftsteller und Lehrer am Droste-Hülshoff-Gymnasium in
Freiburg. Der Humanist genießt – und schreibt.
Marc Buhl // Neapel oder das Schweigen der Sirene
Corso Verlag • 192 Seiten • 24,90 Euro
Nah am Vulkan
Das „Lexikon der Doppelwörter“ entblättert Sprachkunst und
Kunstsprache von Ausnahmegenehmigung über Mundraub
und Halsabschneider bis zu Industriezweig und Nagelprobe.
Still und leise ziehen diese semantischen Doppelagenten ihre
Kreise durch unsere Sprache, verlieren sich im Genuschel der
Andeutungen und im Irrwitz der Desinformationskataster. Es
wurde Zeit, dass hier Licht ins Dunkel kommt: Manuela Fuelle
erledigt das für uns. Die Autorin beleuchtet ausgetretene
Sprachtrampelpfade und fördert Wahrheitstugenden zu Tage.
Ein Handbuch als Inspirationsquell für Wortschöpfer, Stahl- und
Bedenkenträger. Esra Woites Buchstabengrafiken geben den
lexikalischen Sprachschätzen einen illustren Rahmen.
Manuela Fuelle // Lexikon der Doppelwörter
Derk Janßen Verlag • 150 Seiten • 18 Euro
Doppelagenten
ZETT. JUNI 2020
45
SATIRE
Lebenshilfe
GUTER RAT FÜR 19,90
das „(fast)“ in Klammern? Und dieser Dame soll ich mich restlos
anvertrauen, obwohl ich doch selbst voller Zweifel bin, welches
Buch ich kaufen soll? Nein, das wohl auch eher nicht.
Jetzt bin ich misstrauisch. Ich hätte den erstbesten Ratgeber
kaufen sollen und Zack! Den mit den alten Schuhen. Aber nein,
das habe ich jetzt davon. Wäre ich doch nur selbstbewusster.
Aber dann stünde ich nicht hier. „Hausbau mit Bauträger – Das
Bauherren Handbuch: Fallstricke vermeiden, souverän auftreten
und mit Leichtigkeit zum Eigenheim“ klingt verlockend, aber
geht das auch ganz ohne Geld?
Ergänzend dazu: „Ich glaube, der
Fliesenleger ist tot! Ein lustiges Baubuch.“
Oder. „Du bist genug: Vom Mut,
glücklich zu sein“ – ist das nicht grammatikalisch
anfechtbar? „Du musst nicht
von allen gemocht werden: Vom Mut,
sich nicht zu verbiegen“ – oh, da kenne
ich viele, die das schon können, mein
Nachbar zum Beispiel, und ganz viele
Rad- und Autofahrer hier in Freiburg.
Ob die das alle gelesen haben?
Vor lauter Nachdenken über diese Frage lege ich die beiden
Titel „Das Leben ist zu kurz für später: Ein Gedankenexperiment,
das dein Leben verändern wird“ und „Hör auf ein totes Pferd zu
reiten: Werde zum Meister der Veränderung“ wieder weg, ohne
mich ernsthaft damit zu befassen. „Abenteuer Vertrauen – Vollkommen,
aber nicht perfekt – Was Menschen von Hunden lernen
können“ – das könnte doch passen? Aber vollkommen unperfekt
bin ich eigentlich schon.
„Lass Konfetti für dich regnen: Sei glücklich, nicht perfekt!“
Was für ein wuchtiger Titel! Wenn ich, sagen wir an der Straßenvon
Tom Teuffel
Läuft Ihr Leben so richtig rund – oder gibt es in dem einen
oder anderen Teilbereich vielleicht Renovierungsbedarf? Von
der Selbstoptimierung bis zum Teilreboot des Ich: Gedruckte
Lebensratgeber versprechen Anleitungen und Erfolgsrezepte zur
positiven Selbstbeauftragung.
Die freundliche Dame am Infoschalter der Buchhandlung
kämpft um mich: „Lebensratgeber? Was meinen Sie damit?
Ratgeber für Hobbys und Garten haben wir im ersten Stock.“
Nein, Lebensratgeber, mehr so allgemein. Jetzt ist auch Mitleid
in ihrem Blick. „Dann im zweiten Stock.“ Dass sie mir nicht hinterherruft
‚Gute Besserung!‘ spricht für
ihre Selbstdisziplin.
Ich trete ans Regal. Hier, leuchtend
gelber Umschlag: „Raus aus den alten
Schuhen! So gibst du deinem Leben
eine neue Richtung“. Zur Sicherheit ist
gleich ein Foto des Autors mit auf dem
Titel: Denkerpose, Hand am Kinn, und
er lächelt, milde, nein, schelmisch. ‚Der
freut sich auf meine Kohle‘, denke ich.
Nee, so nicht.
Oder hier: „Das kann weg! – Loslassen – Aufräumen – Freiräume
schaffen“. Aber Aufräumen, Wegschmeißen, und dafür gleich
ein ganzes Buch? Um die Zeit totzuschlagen bis der Sperrmüll
kommt? Und habe ich beim Kauf nicht in jedem Fall gleich mal
noch ein Besitztum mehr? Ist das nicht kontraproduktiv? Ich übe
schon mal vor und trenne mich von dem Gedanken an dieses Buch.
Jetzt aber: „Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel
zur Lösung (fast) aller Probleme“. Inhaltlich allumfassend. Alle
Ratgeber in Einem. Doch ich höre mich seufzen. Die Autorin scheinen
schwerste Selbstzweifel zu plagen. Warum sonst schreibt sie
46 ZETT. JUNI 2020
SATIRE
bahnhaltestelle, selbst Konfetti über mich werfe – ob die mich
dann wegsperren? Wegen Umweltverschmutzung, Aszendent
Wahnvorstellung?
„Sei glücklich, nicht perfekt: Wie ich aufgehört habe, mich
ständig verbessern zu wollen, und angefangen habe, zu leben“.
Das stammt von einer Fitness-Youtuberin, die erst mal alle mit
Videos überzeugen wollte, es ihr nachzutun, und die nun die
gleichen oder andere Menschen schriftlich berät, wie sie „die
Schattenseiten ihrer verbissenen Selbstoptimierung“ wie „Essstörungen,
Anabolikamissbrauch und Fitnesssucht“ hinter sich
lassen können. Wendepunkt bei der Autorin war laut Buchbeschreibung
ein psychischer Zusammenbruch – sehr authentisch.
Und hier, noch so ein Hammer: „Der perfekte Augenblick:
Leben mit mehr Glück, Erfolg und Stärke“. Endlich mal einer,
der im Hier und Jetzt nicht künstlich unperfekt sein will! „Der
Unternehmer und prominente Investor des VOX-Formats
‚Die Höhle der Löwen‘ war Stuntman, brach Weltrekorde
als Bungeejumper und macht mit seinem Unternehmen
Umsätze in Millionenhöhe. Ob beim Fallschirmspringen,
Fassadenklettern oder meditativen Yoga: Er weiß
aus Erfahrung, wie wichtig es ist, in jedem Moment
achtsam zu sein.“ Ach, es geht um Achtsamkeit
beim Fassadenklettern. Nee, das ist nichts für mich.
Beim Fassadenklettern kann ich nicht auch noch lesen.
Es ist ungemein schwer, ein passendes Ratgeberbuch
herauszufischen aus dieser Flut. Jedenfalls scheint das
Ratgeberbuch-Schreiben lukrativ zu sein. Vielleicht sollte
ich selbst eins schreiben? Oder am besten gleich zwei,
mit denen ich auch die jeweilige Gegenposition gleich
mit abdecke? Ich sitze im Café und mache mir Notizen.
Also, mein erster Ratgeber könnte heißen: „Durchblick
durch Ordnung – Warum eine gute Planung das Leben so
leicht macht“ Der zweite Ratgeber könnte dann heißen: „Lass
das Chaos in dir zu – Lebensfreude lässt sich nicht erzwingen“.
Oder ich verdichte beide Sichtweisen gleich zu nur einem Titel:
„Lass das Chaos los – Warum keine Ordnung auch keinen Sinn
macht“. Oder so. Mir schwirrt der Kopf. Das wird nichts, lieber
wieder zurück an die Regale.
Hier: „Der geile Scheiß vom Glücklichsein: Wie man das Glück
nicht sucht und trotzdem findet“. Sind da 200 leere Seiten drin?
Nicht suchen mit Anleitung, wie soll das gehen? Und wie nur
hat mich dieses Buch gefunden? Hat das etwas zu bedeuten?
Schnell weiter: „Charisma Mensch: Das revolutionäre 6 Wochen
Programm für magische Ausstrahlung und eine Körpersprache
der Königsklasse“. Mir fällt selbst noch ein Titel ein: „Sechs muss
man nicht ausschreiben – einfach mal machen.“ Guuut.
Inzwischen bin ich bei den seichten Romanen gestrandet.
Aber klar, das verständnisvolle Ratgeber-Sachbuch grenzt
natürlich an den heiteren Zeitgeist-Roman. „Wenn Schmetterlinge
Loopings fliegen“ und „Morgen mach ich
bessere Fehler“, „Es muss ja nicht perfekt sein“ oder
„Meistens kommt es anders, wenn man denkt“.
Hm. Dann doch lieber zurück zu den Ratgebern.
„Die Gaben der Unvollkommenheit – Lass los,
was du glaubst sein zu müssen und umarme, was
du bist“. Na also, es geht doch. Klingt gleich schon
viel einfühlsamer als so ein lustlos dahingerotzter
Roman ohne liebevoll ergänzenden Subtitel. Das kaufe
ich. Vielleicht. Aber zunächst mal werde ich zuhause
vor dem Spiegel üben, zu umarmen, was ich zu sein
glauben könnte, würde ich mit einer Körpersprache
der Königsklasse beim Fassadenklettern auf einem
(fast) toten Pferd äußerst achtsam bessere Fehler machen.
„Paaralyse“ (KK-Cartoon Edition,
104 S, 18,90 Euro) ist ein Bilderbuch
für alle Gummipärchen,
bei denen die Liebe das Gedächtnis
lähmt: Die Beteiligten stehen
sich nicht nur gegenseitig auf den
Füßen, sondern auch längerfristig
im Weg. So wird die Beziehung
schnell zur Paarodie, in der Sex
und Heiraten nur noch vergessene
Basics sind. Merke: Amor Stein und
Eisen bricht!
Karlitzkyesk
FREI UND AMTLICH
„Schwarze Momente“ (KK-Cartoon Edition, 116 S, 18,90
Euro) schildert eine Welt zwischen Da-geht-noch-was- und
Alles-wird-gut-Attitüde, in der der tägliche Wahnsinn nur
noch mit abgrundtiefem und himmelhochjauchzendem
Humor zu ertragen ist. Wer bei diesem Buch Selbst-Mords-
Hunger bekommt, sollte indes nicht über Los gehen,
sondern das Ganze mit seinem Arzt oder Therapeuten
besprechen oder mit diesem gemeinsam die Seiten
durchblättern. Denn nur hier pocht der schwarze Humor
in quietschfidelen Aquarellfarben.
Der Freiamter Cartoonist Klaus
Karlitzky hat wieder zugeschlagen:
Frei und amtlich
legt der für seine spitze Feder
und scharfe Zunge bekannte
Zeichner gleich zwei nagelneue
Blätterwälder vor – was soll
man auch machen, wenn die
Themen nur so übersprudeln?
ZETT. JUNI 2020
47
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48 ZETT. JUNI 2020
KUNST
Foto: Arne Bicker
Kunst aus Recycling
DER WEISSBLECHKÖNIG
Heinz Soucek ist ein Tausendsassa. Der Mann aus dem tschechischen
Prachatice, unweit vom bayerischen Deggendorf, hat
in seinem Leben schon als Bäcker, Marinekoch, Küchenchef,
Perückenvermarkter und Versicherungsinspektor gearbeitet.
Da klingt es fast wie eine Zwangsläufigkeit, dass er heute und
seit nunmehr 25 Jahren Künstler ist.
Seit 1968 lebt Soucek in Freiburg. Das Freiburger Münster
hat es ihm in besonderer Weise angetan. Dabei ist Soucek ein
Recycling-Künstler par excellence: Sein Lieblingsmaterial ist
Weißblech, dass er aus weggeworfenen Trinkdosen herausschneidet
und farblich in seine Bilder einpasst. Für sein neuestes
Münsterbild hat Soucek drei Monate lang auf Freiburger
Radwegen Fahrradrückblenden, sogenannte Katzenaugen, oder
Bruchstücke davon gesammelt.
Dadurch leuchtet das ein mal zwei Meter große Bild, das bis
in die allerkleinsten Details fein gestaltet ist, förmlich aus sich
heraus und verändert die Lichtbrechung je nach Betrachtungswinkel.
Das ist zwei Meter große Kunst! Und was ist für den
Meister des glänzenden Münsters, dessen Wohnzimmer das
Freiburger Uni Café ist, das wichtigste im Leben? Soucek muss
nicht lange nachdenken: „Gesundheit, schönes Wetter und die
Kunst!“ Chapeau!
www.heinzsoucek.de
ZETT. JUNI 2020
49
KUNST
Theater Freiburg
MR. HOFFENTLICH
Peter Carp hofft auf ein positives Wunder und wundert sich
über Demonstranten in Berlin und Stuttgart.
Foto: Arne Bicker
von Arne Bicker
Peter Carp, in Stuttgart geboren, wuchs in Hamburg auf.
Nach Stationen als Theaterregisseur unter anderem in Berlin
und Luzern leitete er ab 2008 als Intendant das Theater
Oberhausen; seit 2017 steht Carp in gleicher Funktion dem
Freiburger Mehrspartentheater vor.
Herr Carp, wie geht es Ihnen persönlich und dem Freiburger
Theater mitten in der Corona-Krise?
Mir geht es gut, und dem Theater geht es jetzt, da wir es
langsam wieder hochfahren - man muss immer sagen: hoffentlich
- auch nicht schlecht.
Sie haben die bis Ende Juli geplante Spielzeit abgesagt. Was
fahren Sie jetzt hoch?
Naja, wir gehen vorsichtig wieder in den Probenbetrieb und
wir hoffen, dass spezielle Formate außerhalb des regulären
Spielbetriebs vielleicht schon im Sommer unter Corona-Bedingungen
gezeigt werden können. Wir entwickeln zum Beispiel
mit dem Künstler Uwe Mengel ein interaktives, digitales Format
mit dem Titel ‚Glücksritter‘. Da können sich Zuschauer mit von
Schauspielern verkörperten, künstlichen Figuren wie einem
NGO-Mitarbeiter oder Busunternehmer unterhalten, die zum
Teil in sehr seltsamer Weise in der Corona-Krise gefördert
wurden. Eventuell können wir das auch live in fünf Zeltpavillons
auf dem Platz der Alten Synagoge machen. Auch wollen
wir ein digitales Faust-Format mit Virtual Reality machen, da
wir in der nächsten Spielzeit Faust I und II produzieren wollen.
Vielleicht gelingt es uns auch, Dirk Laukes Stück „Nur das beste“
unter Corona-Bedingungen schon im Sommer uraufzuführen.
Und wir bereiten Schauspiel- und Musik-Formate für die neue
Spielzeit ab September vor.
Schauen Sie ein bisschen neidisch in andere Bundesländer, in
denen Theater schon wieder offiziell loslegen dürfen?
Die haben andere Corona-Zahlen als wir hier in Baden-Württemberg.
Ich finde es erfreulich, dass alles hier in Freiburg so
glimpflich abgelaufen ist. Ich schaue ehr etwas entsetzt auf
Demonstrationen zum Beispiel in Berlin und Stuttgart. Sich
gegen die Maßnahmen aufzulehnen finde ich sehr zweifelhaft,
zumal wenn man sich anschaut, welche politischen Kräfte sich
da auch reinmischen.
Ist der ganz allgemeine, gesellschaftliche Diskurs mit all seinen
Widersprüchlichkeiten nicht auch spannend?
Natürlich ist das spannend, wobei man sehr aufpassen
muss, nicht zynisch zu wirken; es ist furchtbar, wenn Menschen
krank werden, und man kann ja morgen selber Opfer sein. Aber
ich glaube, dass sich in den letzten Wochen in den Menschen
sehr viel verändert hat. Viele Menschen denken mehr darüber
nach, was sie eigentlich wirklich brauchen, und haben gelernt,
wie sie mit ihrer Zeit sinnvoller umgehen können. Wenn wir
überlegen, was wir unter wissenschaftlicher Anleitung in der
Corona-Pandemie alles umgesetzt haben, und das übertragen
auf den Klimawandel – dann würden wir sehr weit kommen.
Sie werden möglicherweise auf absehbare Zeit nur noch 20 bis
25 Prozent des üblichen Publikums mit Abstandsregeln einlassen
dürfen. Worauf richten Sie sich ein?
Auf weniger Einnahmen. Wir müssen unseren Wirtschaftsplan
langfristig umstricken, denn wir werden sicherlich unter
anderen Bedingungen spielen. Ich hoffe, dass wir im kommenden
Jahr zu den von uns geschätzten und vertrauten Konditionen
wieder spielen können. Das wäre ein positives Wunder. Das
negative Wunder wäre eine zweite Infektionswelle.
Wird die Krise das Theater auch inhaltlich verändern?
Ich glaube, wenn wir jetzt nur noch Stücke über Corona
oder über das Sterben machen würden, das wäre schrecklich.
Das Theater sollte eine künstlerische Gegenwelt, aber keine
Welterklärung bieten. Wir werden in der nächsten Zeit sicher
starke, emotionale Stoffe sehen.
Wenn Sie rausgehen auf die Straße, wähnen Sie sich dann
im Mummenschanz?
Da ich schon in Karnevalsgegenden gelebt habe, sind mir
maskierte Menschen auf den Straßen gar nicht so fremd. Aber
bisher sieht man eigentlich außerhalb der Läden gar nicht so
viele Menschen mit Masken. Ich finde eher die Vielfalt der
Masken und den aufkeimenden modischen Aspekt interessant.
Das finde ich sehr beruhigend, weil man daran das Verspielte
der Menschen sieht.
Chor und Symphonie-Orchester pausieren weiter – bei Letzterem
wird ohnehin wahnsinnig viel gehustet. Wäre das nicht
mal eine neue Kunstform, ein alptraumhaftes Hustenkonzert
mit panisch flüchtenden Besuchern?
Das ist eine spannende Beobachtung. Ich weiß gar nicht, ob
Menschen im Konzert oder Theater mehr husten als woanders,
oder ob es da nur einfach mehr auffällt. Aber ich nehme das
mal mit als Idee.
50 ZETT. JUNI 2020
KUNST
HARRY DER ZEICHNER
Der Sommer in Freiburg dauert bekanntlich von
Februar bis November. Und ‚Harry der Zeichner‘
aus Freiburg-Tiengen liebt das sonnige Gewimmel
rund um den Münsterplatz. Der 48-Jährige
ist Comic- und Schnellzeichner auf Zuruf, malt
für den SC Freiburg, Borussia Dortmund, Udo
Lindenberg oder Mercedes Benz und bereist die
ganze Welt für viele weitere Auftraggeber. Sein
neuestes Ding ist ein leuchtend-oranger US-Schulbus,
in dem Harry Meyer demnächst mobile
Zeichnen-Workshops geben wird. „ich zeichne
am liebsten quick und dirty“, so Harry, „und
lustige Geschichten sind meine Leidenschaft.“
Schon die Frage seiner Mutter, was er im Kindergarten
erlebt habe, hat der kleine Harry seinerzeit
lieber mit Zeichnungen als mit Worten beantwortet.
Inzwischen malt der große Lucky-Luke-Fan
schnell wie der Teufel so gut wie alles. Nur bei
Katastrophen und allzu anzüglichen Themen
zieht er einen Strich: „Das muss nicht sein, mir
geht es schließlich um den Spaß.“
www.harryderzeichner.de
ZETT. JUNI 2020
51
KUNST
Celso Martínez Naves
IM ZWIELICHT
von Reinhold Wagner
Foto: Reinhold Wagner
Grell werfen Laternen durch
den diesigen Dunst der Nacht
ihr diffuses Licht auf den nassen
Asphalt, der es hundertfach
reflektiert. Die Konturen von
Fahrzeugen, Gebäuden (wie
hier das Freiburger Münster)
und Menschen verschwimmen
geradezu im Meer aus gleißenden
Farben: Kaum ein Künstler
hat sich auf diese zwielichtige
Phase zwischen Dämmerung
und Nacht so spezialisiert wie
der in Freiburg lebende Maler
Celso Martínez Naves (66).
Foto: Werner Bachmann
Ein Studium von Kunst und
Kunstgeschichte zog den Maler
aus dem spanischen Asturien
dereinst in seine heutige
Wahlheimat. Von Beginn an
faszinierten Martínez Naves
Stimmungen, die von Licht und
Schatten, Spiegelungen und
Reflexionen sowie Nacht und
Dunkelheit geprägt sind. Seit
mehr als 40 Jahren malt er ausschließlich
in Öl auf Leinwand,
und das mit großem Erfolg.
„Man muss malen, was und
wie man sieht“, beschreibt
Martínez Naves die hohe Kunst,
im Gemälde wie beim Anblick
mit den Augen den Fokus auf
einen Punkt scharf zu stellen,
während das Umfeld zu den
Seiten hin ins Diffuse hin verwischt.
„Meine Motive sind oft
Orte, an denen ganz viel passieren
kann, aber ich konzentriere
mich allein auf die fast leere
Bühne.“
Inspirierende Momente hält
Martínez Naves mit der Kamera
fest und holt sich so später im
Atelier das Erlebte in die Erinnerung
zurück, um ihm seine
Foto: Bernhard Strauss
ganz eigene Ästhetik zu entlocken.
Zu sehen voraussichtlich
ab August in der Freiburger
Galerie Meier.
www.martinez-naves.de
52 ZETT. JUNI 2020
KUNST
Stefan Koldehoff
Foto: Josy Swafing
Tobias Timm
Foto: Julian Röder
Verbrechen in der Kunst
ARTNAPPING UND GOLDPFUNDE
Kunst lud schon immer Diebe und Räuber ein. Die Kunstexperten
Stefan Koldehoff und Tobias Timm beschrieben in „Falsche Bilder,
echtes Geld“ ausführlich den Fall des vormals auch in Freiburg
lebenden Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi. Und das hat sie
offenbar auf den Geschmack gebracht: In ihrem im März 2020
neu erschienenen Buch „Kunst und Verbrechen“ nehmen sich
die beiden Autoren nun das ganze, weite Feld in den Blick.
Vom Kleinganoven bis zum schwerreichen Meisterfälscher
rücken hier all jene in den Fokus, die sich illegalerweise an Kunst
bereichern wollen. Und denen es selbst, wenn sie geschnappt
werden, gelegentlich gelingt, sich als genial-charmante Trickser
zu inszenieren. Wie hoch der materielle und immaterielle Schaden
ist, den sie in den Duty-Free-Zonen und Dark Rooms des globalen
Kunstbetriebs anrichten, kommt indes nur selten ans Tageslicht.
Die Liste der Verbrechen, die im Zusammenhang mit Kunst
begangen werden, ist lang. Mit dem enormen Anstieg der Preise
und der Globalisierung des Kunstmarktes hat die Kriminalität
jedoch eine neue Qualität erreicht – so ist etwa „Artnapping“, bei
dem ein Kunstwerk als Geisel genommen und erst gegen Lösegeld
wieder zurückgegeben wird, heute keine Seltenheit mehr.
„Kunst und Verbrechen“ erzählt spannende, erschreckende
und irrwitzige Geschichten, wie zum Beispiel jene vom Diebstahl
einer 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Berliner
Bode- Museum – die vier Diebe wurden gefasst. Die beiden Autoren
liefern eine fundierte Analyse, was sich am System Kunstmarkt
und in den Museen ändern sollte. Ein fundiert recherchiertes,
brisantes und hochaktuelles Buch, dessen einzelne Kapitel sich
so spannend lesen wie Krimis.
Stefan Koldehoff, Tobias Timm // Kunst und Verbrechen
Galiani-Verlag Berlin • 328 Seiten • 25 Euro
ZETT. JUNI 2020
53
KUNST
IMPULSIV
Die freischaffende Künstlerin und promovierte
Pharmakologin Anke Augspach aus Freiburg
lebt mittlerweile in Bern und bedient sich seit
mehr als zwölf Jahren der Ölmalerei und seit
2019 auch der Aquarell-Technik. In ihren meist
expressionistischen Gemälden fokussiert sie
seit diesem Jahr vermehrt Frauen, die sie in Öl
porträtiert – wie hier zu sehen. „Freiheit und
Kreativität der Malerei sind für mich Gegenpole
zur Logik und Exaktheit der Naturwissenschaften,
mit denen ich im Rahmen meiner
Tätigkeit als Postdoc in Berührung komme“,
so Augspach. „Beide Gegenpole brauchen und
ergänzen sich.“ Ihre impulsiven Bilder wirken
dynamisch, kraftvoll und bewegend zugleich.
ankeaugspach.wixsite.com/homepage
54 ZETT. JUNI 2020
KUNST
Augustbild
macchina vecchio
DER CHIFFREUR
Der Freiburger Roland Hölderle betreibt „informelle
Malerei“, wie er das nennt, losgelöst
von verstandesgemäßen Erklärungs- und Analyseversuchen,
die zwar stattfänden, von ihm
aber gar nicht „primär gewollt“ seien. Hölderles
Atelier beleben Fundstücke und ausrangierte
Materialien, auch Farbreste, die zusammen mit
Dispersionsfarbe, Lehm, Sägemehl, Steinmehl,
Acryl- oder Pastellfarben die Basis bilden für
ständig neue Möglichkeiten eines Bildaufbaus,
der in einem Arbeitsprozess aus Beachten und
Verwerfen, Strukturwerden und Richtungswechseln
entsteht. „Ein Bild ist ein Bild“, sagt
Roland Hölderle, und meint damit: „Wenn ich in
einem Museum oder einer Galerie um die Ecke
biege und da hängt etwas, das meine Augen
sich weiten lässt, dann laufe ich dahin. Sonst
eben nicht.“
www.erdblau.de
FEUER & STAHL
Der gebürtige Freiburger Martin
Hunke (40) arbeitet seit 2007
als freischaffender Bildhauer.
In seinem Atelier entstehen
Stahlskulpturen, geometrische
Formen, Kugeln, freie experimentelle
Werke und Auftragsarbeiten.
Fundstücke, Fragmente und
Einzelteile aus Metall, Holz oder
Glas sind die Materialgrundlage
seiner Skulpturen. Wer je eine
oder mehrere von Martin Hunkes
„Feuerkugeln“ in Aktion gesehen
hat, vergisst diesen Anblick nicht.
Hunke über Hunke: „Jedes Werk
bleibt nur eine Momentaufnahme,
ein Bruchstück, der Zipfel eines
Fadens, der im dicken Knäuel
der Unendlichkeit ausläuft.“
www.martin-hunke.de
ZETT. JUNI 2020
55
KONZERTE
MEUTE
Foto: shotbywozniak
Zeltbau im Garten
HOME-ZMF
Sarah Lesch
Foto: Sandra Ludewig
Postmodern Jukebox
Foto: Dana Lynn Pleasant
Helge Schneider
Foto: Till Oellrking
Tja, das mit der Corona-Krise
ist wohl so eine Sache, wenn man
ein Kulturmagazin macht. Soll man
auf Konzerte hinweisen, die abgesagt
wurden? Im Falle des Freiburger Zelt-Musik-Festivals
fühlte es sich irgendwie falsch
an, gar nicht zu berichten. Daher wollen wir
Ihnen an dieser Stelle zumindest nicht vorenthalten,
welche Künstler das ZMF in der zweiten
Juli-Hälfte zu seiner inzwischen abgesagten, 38. Ausgabe
eingeladen hatte.
Dazu gehörten die „Black Pumas“ aus Austin / Texas mit
ihrem äußerst geschmeidigen Neo- Funk-Soul ebenso wie die
kanadische Progrock-Kultband SAGA, deren Frontmann Michael
Sadler schon mehrfach mit dem Freiburger Orso-Orchester
für coole Tonverwirbelungen gesorgt hat; Al Di Meola wurde
erwartet, die Postmodern Jukebox und Äl Jawala.
Sehr gefragt gewesen wäre sicher auch die mittlerweile
60-jährige Kalifornierin Suzanne Vega, deren Hits „Tom’s Diner“
und „Luka“ als Ohrwürmer in Millionen von Hirnen schlummern.
Aus Frankreich eingeladen waren die Bossa-Magier Nouvelle
56 ZETT. MAI 2020
Vague und die fünf feurigen Sinti-Swing-Chanson-Jazzer von
Les Yeux D’La Tête.
Als Highlights aus heimischen Landen hätten firmiert die
Techno-Marching-Band MEUTE, die ebenso wie FETTES BROT in
Hamburg beheimatet sind, Element of Crime mit dem Bremer
Stadtmusikanten Sven Regener, Johannes Oerding aus München,
der in Freiburg unvermeidliche Tübinger Dieter Thomas Kuhn
sowie ein gewisser Herr Schneider aus Mülheim an der Ruhr.
Die Riege der markanten Sängerinnen sollte neben Suzanne
Vega mit der Berliner Songwriterin Dota, der Island-Melancholikerin
Soley, der US-amerikanischen Bluesbrumme Beth Heart
und der deutlich zarter besaiteten Sarah Lesch aus Altenburg
besetzt sein. Hätte, wäre, Fahrradklingel.
Damit die Nennung dieser Namen hier nicht ganz umsonst
war, empfiehlt das Kulturmagazin ZETT. allen ZMF-Freunden parallel
zum Home-Office vom 15. Juli bis 2. August ein Home-ZMF
aufzuschlagen: Bauen Sie Ihr Camping-Zelt mit ein paar bequemen
Kissen darin im Garten oder auf dem Balkon auf, lassen Sie sich
einen Flammkuchen liefern und hören Sie per Kopfhörer ihre
Favoriten an. Die Eintrittskarte können Sie sich ausnahmsweise
selbst malen.
www.zmf.de
Foto: Klaus Polkowski
MUSIK
Foto: Danny Clinch
Autor: David Byrne
Die bessere Biographie
WIE MUSIK WIRKT
Eine wahrlich pulsierende Mischung aus
Musikgeschichte, Blick hinter die Kulissen.
Autobiographie, Insiderstory und Anekdotischem
präsentiert der Gründer der New
Yorker Postpunk-Band „Talking Heads“,
David Byrne – in Buchform. Der leuchtend
orangefarbene Wälzer verspricht einen
Blick in die Musikwelt mit all ihren Facetten
und Winkeln und in manches geheime
Hinterzimmer.
Wie genau funktioniert und wirkt Musik
– akustisch, wirtschaftlich, sozial und
technologisch? Diesen Fragen widmet
sich Byrne, der 1952 in Schottland zur
Welt kam, als Kind mit seinen Eltern in
die USA auswanderte und dort erst 2016,
64-jährig, zur US-Staatsbürgerschaft
konvertierte. Seiner Karriere als exzentrischer
Band-Rockstar („Burning Down
The House“) und Solomusiker fügt er
nun noch ein 424 Seiten langes Print-
Epos hinzu – da schließt sich ein Kreis.
Der Leser erfährt, welche Konzertshow
Byrne am besten gefallen hat,
wieviel Honorar für Plattenaufnahmen
ein Weltstar erhält und warum Byrne von
manchen Freunden eher als Geschäftsmann
denn als Musiker wahrgenommen
wurde. Es geht um die Zukunft der Flötentöne,
das Plätschern der Playlists und die
Frage, warum das ganze Universum den
Blues hat. Man könnte also sagen, Byrne
dreht als musikalischer Schriftsteller am
ganz großen Rad. Er tut das ebenso unterhaltsam,
informativ und meinungsstark wie
als Musiker auf der Bühne.
David Byrne – Wie Musik wirkt
S Fischer Verlag // 424 Seiten // 35 Euro
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ZETT. JUNI 2020
57
MUSIK
LAUSCHANGRIFF // CD-TIPPS
58 ZETT. JUNI 2020
Mit einer grandiosen Release-Party
im Waldsee schickte
Nu Funk in Freiburg
die Freiburger Funk-Band „momo“ (vormals: Momo und die
grauen Herren) am 7. März dieses Jahres ihr Debütalbum „Nu
Funk in Town“ auf Weltreise. Auf ihrem ersten Silberling lassen
die acht momoesken Vollblutmusiker neun handgemachte Songs
auf die Stadt und den Weltkreis los. Einzigartiger Gute-Laune-Funk
wechselt sich ab mit sachte fließenden Soulballaden.
„Nu Funk in Town“ ist eine ordentlich groovende Mischung
zwischen Hüftschwingen, Fußwippen und Ohrenträumereien.
www.momo-music.de
Gerade in Krisenzeiten braucht es Menschen
Ernstbold
wie Oliver Scheidis. Musiker wie er sorgen
dafür, dass wir nicht die Bodenhaftung und unser Lachen verlieren.
Als selbsternannter Ernstbold spielt, singt und lebt der
Freiburger Barde mit norddeutschen Wurzeln lustige Lieder
für einfach alle, die ihm zuhören. Spielfreude, Bühnenpräsenz,
Publikumsnähe, Improvisationskunst und Humor sind Attribute,
die der Mann mit dem komischen Hut einsammelt wie Pilze im
Wald. Jetzt liegt seine erste CD vor: „Oliver Scheidis & Die Kapelle
für alle Fälle - Live im SWR“ wurde im Freiburger Funkhaus in
der Kartäuserstraße mit Wolfram Waschow (Piano), Konstantin
Schülke (Drums) und Thilo Schülke (Bass) aufgenommen. So
zaubert sich Scheidis mit seiner Band nun so gut wie fast live
in die Wohnzimmer der Stadt.
www.oliver-scheidies.de
Die Lahrer Hardrock-Band OIL legt mit
Rocktankstelle
„Live In Concert“ nach dem Studioalbum
„Feed Your Brains“ (2017) in diesem Jahr ihre zweite CD
vor. Das besondere daran ist nicht nur die kraftvolle, technisch
perfekte und äußerst facettenreiche Musikexplosion, die alle
Hörer nach Rotationsbeginn der CD übermannt – es gibt auch
einen gleichnamigen Film auf DVD für alle, denen der wummernde
Ohr-Rein-Genuss nicht genügt. Mit „Heart and Soul“
legen die beiden OIL-Protagonisten Gert Endres und Marc Vetter
auch gleich noch einen Musik-Dokumentarfilm nach, in dem das
Sein der Lahrer Rockband „Scaramouche“ beleuchtet wird, in der
Gitarrist Endres und Schlagzeuger Vetter Geschichte schrieben.
www.oil-band.com
Die „Brothers“ muss man in Freiburg wohl
Strandgut
niemandem mehr vorstellen. Die Band wurde
anno dazumal von den vier Brüdern Andres, Coco, Lorenz und
Tilo Buchholz gegründet; die musikalischen Wurzeln der Band
sind irgendwo zwischen Beatles und Eagles zu verorten. 2011
übernahm Roby Scheffert den Basspart von Bruder Andres, der
sich in die Umlaufbahn des Jazz verabschiedete. Was die verbliebenen
Brothers mit ihrem neuen Bassbrunder im musikalischen
Geiste nicht davon abhielt, weiter über die Bühnen diverser
Hocks und Feste zu turnen und ihre perfekt eingespielte und
meist sehr tanzbare Musik auf der Basis akustischer Gitarren
und mehrstimmigen Gesangs abzuliefern. Jetzt haben „The
Brothers“ mit „Grounded“ ihr neuntes Album am Freiburger
Strand abgelegt wie eine Muschel, die dem Finder zwölf Songperlen
musikalischen Reichtums verspricht.
www.thebrothers.de
TANZ
Kleines Rund, großer Zuspruch
TANZEN IM MENSABRUNNEN
von Reinhold Wagner
Foto: Klaus Polkowski
Wer gerne tanzt, weiß, dass Freiburg
stets eine Pionierrolle einnimmt,
wenn es darum geht,
neue Tanzstile bekannt zu machen. Und
auch bei der Wahl der geeigneten Location
zeigen sich die Aktiven in der Stadt
immer wieder erstaunlich einfallsreich.
Einer der Plätze, die sich über die gesamte
Freiluft-Saison hinweg größter Beliebtheit
erfreuen, ist der Mensabrunnen.
An der Ecke Rempart- / Wertmannstraße
sehr zentral am Rotteckring gelegen,
und daher leicht erreichbar, dennoch
geschützt durch Hang und Bäume in
einer Nische zwischen Mensa und Uni-Gebäuden,
liegt der seit vielen Jahren nicht
mehr wasserführende Brunnen. Welche
Nutzungsart wäre da naheliegender als
Tanzen unter freiem Himmel? So trifft
sich hier von den ersten milden Frühlingstagen
bis in die frischen Herbststunden
hinein fast täglich die Szene – eine kunterbunte
Mischung quer durch alle Tanzstile,
Altersstufen und Kulturen, vom Anfänger
und neugierigen Zuschauer bis hin zum
Tanzlehrer und begeisterten Allrounder.
Für Musik und Atmosphäre sorgt ein
wechselndes Team aus Freiwilligen, das
Spaß an der Unterhaltung und am freien
Tanzen hat, und das ohne Erwartung
einer Gegenleistung gerne Interessierte
zum sozialen Miteinander bewegen
will. Da ist Roberto, der aus Kapverden
stammt und mindestens an drei Abenden
vor Ort ist. Lange, bevor die ersten
Tänzer kommen, fegt er schon Mal die
Fläche sauber, auf der er sich am liebsten
zu Kizomba-Rhythmen bewegt, dem
„kapverdisch-angolanischen Tango“. Er
liebt den Platz als Treffpunkt der verschiedensten
Kulturen und Ort, an dem
man ungezwungen neue Freunde kennenlernen
kann. Auch sagt er: „Es bringt
die Menschen zusammen und weg von
Drogen.“
Ulrich, ein regelmäßiger Besucher, der
von sich selbst sagt, dass er vermutlich
der Methusalem unter Freiburgs Tänzern
sei, findet: „Es ist schön, zu sehen, dass
aus einem eigentlich unerfreulichen Anlass
– aus Spargründen der Stadt – sich
doch etwas so Positives entwickelt hat.
Als ich 1961 in Freiburg zu studieren begann,
wurde die Mensa gerade gebaut,
und im Brunnen sprudelte Wasser, aber
kaum einer hat den Platz registriert.“
Als die Stadtverwaltung 2017 darüber
nachdachte, den stillgelegten Brunnen
für Radstellplätze umzunutzen, blies ihr
ein Wind des Aufstands entgegen. Simao,
Tanzlehrer aus Portugal, bündelte anhand
einer Petition die unterschiedlichen
Tanzgruppierungen und Befürworter und
erreichte mit deren Unterstützung, dass
die Stadt nachgab. Heute ist er überzeugt:
„Es ist ein großes Bedürfnis da, diesen
Ort zu erhalten, der unkommerziell Tanzen
und Tänzer verschiedenster Sparten
verbindet.“
Damit noch lange weiter Salsa, Kizomba
und Bachata, Tango, Forró und Lindy Hop
im Brunnen getanzt werden kann, und damit
das „kleine Stück Karibik in Freiburg“,
wie es die tanzbegeisterte Melitta nennt,
auf möglichst breite Akzeptanz stößt und
von vielen Gruppen genutzt werden kann,
hat sich im vergangenen Jahr durchgesetzt,
den frisch geglätteten Tanzboden
an den Samstagen künftig offen für jede
Art der Nutzung zu lassen. Alle anderen
Tage haben sich mehr oder weniger
fest etabliert. „Nachdem aber 2019 auch
Freunde des West Coast Swing, Zouk und
Hip Hop um freie Zeitfenster am Brunnen
baten, haben wir vom Orga-Team uns mit
den weiteren Interessenten auf diesen
Kompromiss verständigt“, so Zeno. Ein
weiterer Schritt, der den gemeinsamen
Wunsch nach Öffnung des Tanzbrunnens
in vielerlei Richtungen hervorhebt.
Aktuelle Termine, Infos und Programm
im Mensabrunnen: www.regiosalsa.de
ZETT. JUNI 2020
59
TANZ
Tanzen im Biotop
WENN KÖRPER SPRECHEN
Performance auf dem Platz der
Alten Synagoge in Freiburg.
Foto: Jennifer Rohrbacher
von Anna Henschel
60 ZETT. JUNI 2020
Eine Tankstelle an der Eschholzstraße in
Freiburg. Es regnet, es ist kalt, der Abend
bricht langsam herein. Die Menschen strömen
nach Hause und halten kurz an, um zu
tanken oder noch schnell Zigaretten zu holen.
Neben den Zapfsäulen steht eine Gruppe junger
Menschen im Kreis, die Gesichter nach außen
gewandt. Hin und wieder wenden sie sich einander
zu und – verpassen sich Ohrfeiegn, reihum.
Zwei Tankstellenbesucher beobachten sichtlich
irritiert, wie sich das Szenario verändert –
die Backpfeifen nehmen an Intensität ab und
entwickeln sich zu Streicheleinheiten. Für einen
der Beobachter ist dennoch die Gewalt, die er
wahrnimmt, nicht hinnehmbar. Er stellt die
Gruppe zur Rede und macht in ruhigem, aber
bestimmten Ton auf die Folgen allgemeiner
Ohrfeigengewalt vor allem für Kinder aufmerksam.
Er kenne viele, die in einem solchen Milieu
aufwüchsen, so etwas müsse man doch nicht
auch noch in der Öffentlichkeit zur Schau stellen.
Doch die Provokation ist Teil einer künstlerischen
Aktion, die sich als Spitze eines komplexen
Eisbergs erweist, als Output eines Experiments,
bei dem eine Gruppe internationaler Tanzschaffender
emotionale Begleiterscheinungen ihres
Kommunikationsprozesses untereinander beobachtet,
verhandelt und in eine Performance
übersetzt hat. Ein Ergebnis: Gewalt. In Form
von Backpfeifen. Entstanden im Rahmen des
„10. Labormanifests“ zum Thema „Tools for
creative group processes“.
Das „Labormanifest“ versteht sich als Plattform
zum kreativen Austausch unter freien
Tänzerinnen und Tänzern, die sich zweimal im
Jahr in Freiburg treffen und in unterschiedlichen
thematischen Feldern aktuelle Fragen der Szene
künstlerisch „erforschen“. Ideen werden in der
Gruppe diskutiert und experimentell erarbeitet,
neue Gestaltungswege nehmen Formen an und
werden, wie in der aktuellen 10. Ausgabe des
„Labormanifests“, schließlich im öffentlichen
Raum präsentiert.
So entstehen spontane Performances, die
erst sehr kurzfristig auf Facebook angekündigt
werden. Was dabei herauskommt ist völlig
offen. Man sieht es, wenn man das Geschehen
beobachtet. Es gibt zwar einen Handlungsrahmen,
aber keine Choreografie. Man sieht
Bewegungen, aber nicht zwingend Tanz. Und
doch hat diese künstlerische Freiheit einen Sinn,
der sich für das Publikum erst dann konkret
erschließt, wenn es seine Bedeutung für den
Künstler erkennt.
Das „Labormanifest“ ist eine Initiative des
„Tanznetz Freiburg“, einer Interessensvertretung
der freien professionellen Tanzszene, die
Infrastrukturen für die Qualifizierung von professionellen
Tanzschaffenden in der Region
entwickelt. Ein Anliegen der Organisatoren
ist die Hinwendung zu einer freien Entfaltung
der künstlerischen Ideen, abseits von hierarchischen
Strukturen, klassischen Kompanien und
Stilvorgaben. Im „Labormanifest“ wird deutlich,
dass die Ergebnisse in der Eigenverantwortung
der Künstler entstehen und der experimentelle
Weg das eigentliche Ziel ist.
Und was ist mit dem Publikum? Dem hat
das „Tanznetz Freiburg“ in seinem Projekt „Tanzwuchs“
eine besondere Rolle zugewiesen.
Hier erlebt man keine fertige Performance, sondern bekommt
vielmehr einen Eindruck über die „Arbeit im Entstehen, eine
Art Zwischenbilanz der kreativen Arbeit von Tänzerinnen und
Choreografen oder Tanzkollektiven.
Damit wollen die Tanzschaffenden den Entwicklungsprozess
hinter den Aufführungen sichtbar machen. Deshalb laden sie das
Publikum zweimal im Jahr ins „Südufer“ ein, eine Mischung aus
Spielstätte und kollektivem Proberaum für die Freiburger Künstlerszene
in der Haslacherstraße. Die konsumorientierte Frage,
ob sich das Ganze „lohnt“, soll hier gar nicht erst beantwortet
werden. „Manchmal fängt ein Prozess bei Apfel an – und man
sieht auf der Bühne Schnitzel“ sagt Julia Klockow, Tänzerin und
Pressefrau beim „Tanznetz Freiburg“. „Aber hätte man nicht bei
Apfel angefangen, würde das Schnitzel ganz anders aussehen.“
Neben dem „Labormanifest“, das sein Experiment mit dem
Verstehen auf die Spitze treibt, wirkt das Konzept des Formats
„Tanzwuchs“ schon fast bodenständig: In einem ‚Speed-Dating‘
zwischen Publikum und Tanzgruppen erklären die Tanzschaffenden
im Anschluss an ihre Performance, was sie sich dabei
gedacht haben, und das
Publikum darf es ruhig
zugeben, wenn es dabei
auf dem Schlauch stand.
Wer einfach nur sein Bier
trinken und sich berieseln
lassen will, darf auch einfach
nach dem letzten
Schluck nach Hause gehen.
Für viele Besucher aber
wird es gerade jetzt erst
interessant: „Meistens sind
das Leute, die nicht einfach
nur was vorgesetzt haben
wollen, die statt dessen
kritisch sind oder auch mal
sagen: Ich hab’s nicht verstanden“,
so Dagny Borsdorf,
eine der Organisatorinnen bei
„Tanznetz Freiburg“. „Das ist
gerade für Leute interessant,
die Tanz nicht so oft sehen,
aber ein Interesse daran haben,
wie das alles abläuft“,
ergänzt Julia Klockow.
Die neugierigen Zuschauer
werden so zum Resonanzkörper
für die Künstler: Wie habt
ihr diesen
und jenen Aspekt wahrgenommen? Habt ihr ihn überhaupt
bemerkt? Was ist das Wesentliche für euch? Bei diesem Date
ist von vornherein klar: Beide sollen profitieren. Nur im Idealfall
hat das Publikum vielleicht auf Anhieb verstanden, was
der Künstler mit der Performance sagen wollte – und wurde
höchstwahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt danach befragt.
Die Tanzschaffenden wiederum bekommen eine Idee
davon, was sich hinter irritierten Blicken, offenen Mündern
oder scharrenden Füßen verbirgt. Das Feedback stecken sie in
die Weiterentwicklung des Stücks.
Mit diesem vitalen wie experimentellen Konzept rekultiviert
das „Tanznetz Freiburg“ eine Tanzlandschaft, die vor nicht allzu
langer Zeit fast zur Wüste geworden wäre. Bis vor ein paar Jahren
lagen die Strukturen für die hiesige freie Tanzszene nahezu
brach – es gab kein Profitraining, kaum Weiterbildungsmaßnahmen
und Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb der freien
Freiburger Tanzszene.
Kommunikationsregeln im Tanznetz-Proberaum des Südufers.
Die Ohrfeige als Werkzeug für „kreative Gruppenprozesse“.
Kein Wunder also, dass viele nach der Ausbildung die Stadt
verlassen haben. Viele, aber nicht alle. Auch Dagny wollte in
Freiburg leben und arbeiten, also tanzen. Schließlich war sie
eine der verbliebenen Freischaffenden,
die ihre Kräfte in der Initiative „Tanznetz
Freiburg“ bündelten, inzwischen mit
Unterstützung des Kulturamtes, eingebettet
in den Verein „bewegungs-art“,
in Kooperation mit dem E-Werk und
gedüngt mit finanziellen Mitteln des
Bundes aus dem Förderprojekt „Tanzpakt
Stadt-Land-Bund“.
So entstand mit den beiden Tanznetz-Formaten
„Tanzwuchs“ und „Labormanifest“
ein Kunstbiotop, das
nicht nur der freien Tanzszene Freiburgs
als Lebensraum dient, sondern
gelegentlich auch jene erfasst, denen
Kunst, Tanz und Performance
fremd sind: Publikum, Passanten,
Neugierige.
Im experimentellen Charakter
dieser beiden Freiburger Tanzprojekte
werden Performer wie Publikum
herausgefordert Erfahrungen
und Ausdrucksformen zu hinterfragen.
Ein intellektuelles Kunstverständnis
braucht man hierfür
nicht zwingend; spontane Reaktionen
wie jene an der Backpfeifen-Tankstelle
sind ein feiner Sensor der
Erkenntnis, allein schon, weil sie emotional entstehen. Sie
halten uns den Spiegel unserer Erfahrung vor, wenn wir es
vielleicht am wenigsten erwarten.
Performance an einer Tankstelle an der Eschholzstraße.
Foto: Anna Henschel
TANZ
Foto: Anna Henschel
Foto: Anna Henschel
ZETT. JUNI 2020
61
TANZ
Lebensgefühl der 20er
PROVOKATION & POPKULTUR
von Mareike Kaiser
62 ZETT. JUNI 2020
Die Verführung. Eine Kunst, die wohl so alt wie die Menschheitsgeschichte
ist. Verführung, auch Verlockung genannt,
versucht das Gegenüber zu einer Handlung zu bewegen,
es zu manipulieren oder Verlangen zu wecken. In der Verführung
geht die Weiblichkeit voll und ganz auf. Doch wo findet sich in
unserer modernen Zeit, die von Unisex-Klamotten und Gendering
geprägt ist, noch die Möglichkeit, die eigene Weiblichkeit
auszuprobieren und auf die Spitze zu treiben?
„Man muss schon etwas verrückt sein; es ist ein Lebensgefühl“,
sagt die Freiburger Tänzerin Elena Auerbach. Ganz ernst
nimmt sie sich in der Burlesque nicht, stellt diese Kunst doch so
etwas wie eine derbe Komödie dar, die Schauspiel, Tanz, Kostüm-
& Make-up, Striptease und gelegentlich auch Akrobatik
miteinander vereint.
Elena Auerbach, professionelle Sängerin und Tänzerin, hat
sich vor sieben Jahren selbstständig gemacht hat und nach
Engagements auf Kreuzfahrtschiffen, Hochzeiten, Messen, in
Freizeitparks und bei Firmenevents die Burlesque nach Freiburg
gebracht. Hier steht sie nicht nur selbst auf der Bühne, sondern
gibt auch Workshops zusammen mit der Künstlerin Dina Whip.
„Es kommen die unterschiedlichsten Frauen zu mir, die sich
ausprobieren möchten“, erzählt Elena. „Meine Schülerinnen sind
zwischen Mitte 20 und 40. Einmal im Jahr veranstalten wir eine
große Gala, die nennt sich „Cherry Pop“, in der jede sich selbst
und das Gelernte präsentiert.“
Ein Jahr lang proben die Frauen, entwickeln ihre eigene
Tanznummer und finden ihr eigenes Make-up und Kostüm
der 20er bis 50er-Jahre. Am Schluss kommt eine farbenfrohe,
außergewöhnliche und auf die Spitze getriebene, provokante
Show heraus: der Höhepunkt der Workshops, die „Cherry Pop
Gala“, angefüllt mit High-Heels, Federboas, atemberaubenden
TANZ
Kostümen und Amüsement. Seit 2019 finden sich auch „Boylesque“
in den Kursen – denn auch manche Männer finden Gefallen
daran, sich in dieser schillernden Theaterkunst auszuprobieren.
Burlesque ist für Elena Auerbach eine Form der Freiheit, in der
sie performen und sich selbst ausprobieren kann, ganz so, wie
sie es möchte. Weiblichkeit und Feminismus sind dabei für sie
treibende Kräfte, denn beides lasse sich beim Burlesque ohne
Einschränkung ausüben.
„Weiblichkeit ist sehr individuell. Man kann sich natürlich
auch in bequemer Kleidung weiblich fühlen, aber die Chance
in andere Rollen zu schlüpfen, sich auszuprobieren und all das
auch noch zu übertreiben, gibt den Frauen oft ein ganz neues
Selbstbewusstsein.“
Als zweites Highlight ist neben der „Cherry Pop Gala“ am
8. November in der Wodan Halle Halloween angedacht: Am 31.
Oktober soll der „Opium Circus Dark Cabaret“ im Theater Freiburg
über die Bühne gehen. Hier können Besucher die dunkle Seite
des Burlesque kennenlernen und in die Gothic-Welt der 20er
und 50er Jahre eintauchen. Mit einem strikten Dresscode für alle
Teilnehmer – um in angemessener Atmosphäre zu feiern und
Showeinlagen zu genießen – soll dieses Event mit den Freiburger
„Queens Of Burlesque“ – Elena Auerbach, Dita Whip, Amber Eve,
Melodie Rose und Innocent Diamond – ein echtes Highlight in
der authentischen Umgebung des Freiburger Theaters sein.
Schwarze Röcke, Korsetts, ausgefallene Strumpfhosen und
High Heels für die Damen, klassischer Anzug für die Herren – und
der Eintritt in die Welt der Burlesque ist gesichert. Alltagskleidung
ist dagegen verpönt; Jeans geht gar nicht. Natürlich sind
auch Drag-Queens und alles Außergewöhnliche willkommen zu
einer Nacht, in der der Besucher seine eigene Identität einmal
ganz bewusst verlassen darf. www.provocation.dance
ZETT. JUNI 2020
63
GESELLSCHAFT
Kunstvolle Vielfalt: Jeder kann bei
„1000 Drawings“ mitmachen und
in seinem Stil und mit seinen Werkzeugen
kreativ werden - solange das
Kunstwerk in A5 gestaltet ist.
Fotos: Josh Häfelinger
Kunst für den guten Zweck
„1000 DRAWINGS“ IN FREIBURG
von Jennifer Reyes
„Male was, mit was, auf was, auf A5!“
So lautet das Motto des internationalen
Kunstprojekts „1000 Zeichnungen“
(original „1000 Drawings“) mit Fundraising-Ansatz,
das 2020 auch in Freiburg
landet. Das Einzigartige daran: Jeder kann
mitmachen, und jedes Kunstwerk unterstützt
soziale Projekte.
Die Geschichte von „1000 Drawings“
beginnt 2006 in Südafrika: Um den einer
Obdachlosenhilfe geklauten Lieferwagen
zu ersetzen, verkaufte eine Truppe
Jugendlicher selbstgemalte Kunstwerke,
genau 1.000 an der Zahl, und trieb so innerhalb
kürzester Zeit die benötigte Menge
an finanziellen Mitteln auf, um einen neuen
Transporter anzuschaffen, mit dessen Hilfe
weiterhin obdachlose Menschen mit Essen
versorgt werden konnten.
Der Erfolg der ersten „1000-Drawings“-Aktion
schien kaum zu glauben – und das soziale
Das Motto fasst in einem Satz zusammen wie
„1000 Drawings“ funktioniert.
Kunstprojekt wanderte danach in die weite
Welt. In diesem Jahr 2020 landet „1000
Drawings“ nun auch in Freiburg.
Julia Hugenschmidt (26), Texterin aus
Freiburg, unterstützte 2016 während einer
Südafrikareise als freiwillige Helferin das
Projekt und half bei einer konzertierten
„Night of a 1000 Drawings“, die gesammelten
Kunstwerke zu verkaufen: „Es war ein
so schönes Erlebnis, wie so viele verschiedene
Menschen ein so großartiges Projekt
auf die Beine gestellt haben, dass mich
der Gedanke, das auch in meiner Heimat
umzusetzen, nie mehr losgelassen hat.“
In ihrer Arbeitskollegin Andrea Maier
und deren Partner Josh Häfelinger, beide
Mediendesigner, fand Julia schließlich
kreative Projektpartner. Andrea zeigt
sich von dem Projektgedanken restlos
überzeugt: „Die Idee, Menschen durch
Kunst zusammenzubringen und dabei
64 ZETT. JUNI 2020
GESELLSCHAFT
Die Präsentation: Die gesammelten tausend Kunstwerke werden für den
Verkauf an langen Leinen aufgehängt.
Ein kreatives Team (v.l.): Andrea, Josh und Julia sind das Freiburger Projektteam
von „1000 Drawings“. Sie bringen damit Kunst und Fundraising unter
einen Hut.
Gutes zu tun, ist einfach perfekt. Josh und ich zeichnen privat
und berufsbedingt auch total viel und möchten wirklich jeden
motivieren mitzumachen. Einfach kreativ werden, alles ist erlaubt
– solange es auf A5 ist.“
Um möglichst viele Kunstwerke zu sammeln, werden regelmäßige
Events, sogenannte „Doodlesessions“ an verschiedenen
Orten veranstaltet. Sich zum „doodeln“ zu treffen hat nichts mit
Online-Terminabstimmungen zu tun, sondern das Wort aus dem
Englischen bedeutet einfach „kritzeln“. Bei diesen Doodlesessions
können sich alle Teilnehmenden in gemütlicher Atmosphäre
treffen, austauschen und gemeinsam kreativ werden.
Wer sich in Freiburger Cafés, wie dem Strandcafé auf dem
Grethergelände, mal genauer umschaut, entdeckt aufgestellte
Pappboxen von „1000 Drawings Freiburg“. In diesen Sammelboxen
kann jeder und jede seine Zeichnung auch abseits der
Events einwerfen und so am Projekt teilnehmen.
Die erste Doodlesession dieses Jahres war für Ende März im
Kunstcafé ‚Artjamming‘ in der Freiburger Wiehre geplant. Doch
das Event musste, wie viele andere Veranstaltungen, wegen der
Corona-Pandemie abgesagt werden. Sobald es wieder möglich
sei, sich in der Öffentlichkeit ohne Virengefahr zu treffen, werde
es weitergehen. Und in regelmäßigen Abständen werde es
Doodlesessions geben, verspricht das Projektteam.
Das Ziel, 1000 Kunstwerke zu sammeln, bleibt für das Frühjahr
2021 trotz Corona-Krise fest im Blick. „Als Wunschort für die
große Verkaufsnacht liebäugeln wir mit dem Jugendclub ArTik
in Freiburg. Dazu vernetzen wir uns mit Künstlern, Bands und
DJs in Freiburg. Wir freuen uns über jede Anfrage, die uns dazu
erreicht“, sagt Josh. In der Freiburger „Night of a 1000 Drawings“
soll dann jedes einzelne der tausend A5-Kunstwerke ab jeweils
10 Euro versteigert werden.
Der Erlös kommt zu hundert Prozent sozialen Projekten
zugute. Wer gut in Mathe ist, kann sich ausrechnen, welche
gigantische Spendensumme da zusammenkommen wird.
„Wir möchten gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, wegen
des Corona-Virus aufrufen von Zuhause aus kreativ zu werden.
Nutzt die Zeit und malt, zeichnet, pinselt, sprüht, fotografiert,
was euch einfällt und gefällt“, sagt Julia, „und schickt uns die
Bilder einfach per Post. Die Adresse nennen wir auf Nachfrage.“
Die ZETT.-Redaktion wünscht dem Projektteam viel Erfolg
und erprobt neben den Schreibkünsten auf DIN-A4 auch schon
mal seine Doodlekünste in DIN-A5-Größe.
www.freiburg.1000drawings.org
Hier einwerfen: Wer es zu zeitlich zu keiner Doodlesession schafft, kann sein
Kunstwerk auch postalisch senden oder in Sammelboxen einwerfen.
ZETT. JUNI 2020
65
GESELLSCHAFT
KÖRPER UND GEIST IM RUHIGEN FLUSS
Seit dem 15. Februar 2020 kümmern sich direkt an der Endhaltestelle
der Freiburger Straßenbahnlinie 1 Jan Karczewski (30) und
Michelle Wegener (27) um Leib und Leben geplagter Zeitgenossen,
die ein bisschen Schützenhilfe bei der Selbstoptimierung
gebrauchen können. Die beiden Sportwissenschaftler nennen
ihr Start-Up in der Kappler Straße 4 „corpus et animus“, weil
sich hier eben alles ums kleine Ganze des einzelnen Menschen
drehen soll.
„Wir sind definitiv kein Fitnessstudio“, sagt Karczewski
und lächelt fast schon ein bisschen entschuldigend.
Jan Karczewski und Michelle Wegener bringen Menschen auf Vordermann.
Kunst kann nicht
modern sein;
Kunst ist urewig.
Foto: Arne Bicker
„Aber bei uns haben Bewegung, Ernährung und Mentales den
gleichen Stellenrang.“ „Wobei wir natürlich gezielt an den
jeweiligen Schwachpunkten des Einzelnen arbeiten“, ergänzt
Michelle Wegener. Die junge Dame aus Berlin-Kreuzberg und
der junge Mann aus Kiel wissen genau, was sie wollen: Menschen
jeden Alters dabei assistieren, Negativfaktoren wie Stress,
Schlaflosigjeit, Übergewicht und Fitnessmangel endgültig den
Garaus zu machen.
Der Rahmen in den bewusst nachhaltig eingerichteten
Räumen ist sehr persönlich, die Preise sind dem Aufwand angemessen,
die Krankenkasse bleibt meist außen vor. Nach einem
Eingangscheck und ausführlicher Anamnese erscheinen je nach
Wasserstandsmeldung Ernährungspläne, Fitnesstraining, Yoga
oder autogenes Training auf dem Stundenplan. Und dann geht
es ans Eingemachte – und damit sind gerade nicht die Marmeladentöpfe
im heimischen Keller gemeint.
„Wer zum Beispiel kein Essenstagebuch führen möchte,
obwohl das vielleicht sinnvoll wäre, kann uns auch einfach Handy-Fotos
von seinem Teller schicken“, sagt Michelle Wegener.
„Wir geben dann entsprechend Feedback.“ Essen fotografieren?
Damit erschließen sich die beiden Neu-Freiburger auf jeden Fall
einen riesengroßen Kundenkreis. Und noch etwas ist Jan Karczewski
besonders wichtig: „In jedem Fall ziehen wir hier keinen
vorgefertigten Trainingsplan aus der Schublade. Wir betreuen
jeden Einzelnen persönlich und individuell, in kleinen oder großen
Schritten. Das ist ein fließender Prozess.“
www.corpusetanimus.de
Alles finden.
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Gitarre gesucht
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wünscht allen Leser*innen
eine anregende Lektüre
von ZETT.
66 ZETT. JUNI 2020
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Wir beherrschen unser Metier:
Wir sind ein inhabergeführtes Familienunternehmen, das 1992 von Brigitte und Dieter Schemmer in
Waldkirch gegründet wurde. 1998 eröffneten wir zusätzlich den Standort in Freiburg.
Seit 2003 befindet sich unser Freiburger Büro am heutigen Standort, in zentraler Lage in der Bertoldstraße.
Wir sind ein hochmotiviertes und qualifiziertes Team mit viel Erfahrung und Profession.
Hohes Fachwissen und ausgeprägte Branchen- und Marktkenntnis, verbunden mit einer angenehm
persönlichen Betreuung: mit diesem Qualitätsanspruch begleiten wir jährlich rund 250 Transaktionen.
Standort Waldkirch:
Lindenweg 1
79183 Waldkirch
Telefon 0 76 81-2 53 91
Brigitte Schemmer
www.schemmer.de
Standort Freiburg:
Bertoldstraße 51
79098 Freiburg
Telefon 0761-15 06 99-0