19.06.2020 Aufrufe

ZETT4

Die neue Ausgabe des Zett. Magazins ist auf dem Markt - mit meinen beiden Beiträgen a) über den Freiburger Künstler und langjährigen Salsa-Freund Celso Martinez-Naves (S. 52) und b) das Tanzen im Mensabrunnen (S. 59) - wie man sieht, entstanden die Beiträge und Fotos noch vor Corona, sind aber gerade rechtzeitig wieder aktuell - viel Freude beim Schmökern und bei Gefallen gerne weiter empfehlen: https://zett-magazin.de/leben-in-freiburg sowie zum Download unter: https://zett-magazin.de/wp-content/uploads/2020/06/ZETT4.pdf

Die neue Ausgabe des Zett. Magazins ist auf dem Markt - mit meinen beiden Beiträgen a) über den Freiburger Künstler und langjährigen Salsa-Freund Celso Martinez-Naves (S. 52) und b) das Tanzen im Mensabrunnen (S. 59) - wie man sieht, entstanden die Beiträge und Fotos noch vor Corona, sind aber gerade rechtzeitig wieder aktuell - viel Freude beim Schmökern und bei Gefallen gerne weiter empfehlen:
https://zett-magazin.de/leben-in-freiburg
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#4 ∙ JUNI 2020

SCHUTZGEBÜHR 5 E

Das Kulturmagazin für Freiburg

FREIBURG 2030

Wie wir leben werden

Aus dem ZYPRESSE VERLAG

www.zett-magazin.de

Home-ZMF

Tanzszene Freiburg

Kunst & Verbrechen

Der Weißblechkönig

Im Interview:

Vivian Perkovic // Peter Carp

Bücher // Kunst // Mediatheken // Musik



EDITORIAL

Phuturistisches

DIE KULTUR LEBT!

Was macht

ein Kulturmagazin

in

der Corona-Zeit? Diese

Frage wurde mir oft

gestellt in den letzten

Wochen, meist mit

dem Zusatz „Da habt

ihr doch gar nichts zu

berichten, oder?“

Na, unser Kulturmagazin

ZETT. trotzt

der Corona-Krise und

es trotzt ihr die Gewissheit ab, dass Kunst und

Kultur das Menschbleiben verbriefen: Jedes Bild

an der Wand, jedes Buch im Regal, jede CD im

Schrank ist ein Meisterbrief des Seins, des Fühlens,

des Liebens und Lebens und der Fantasie.

Es fällt mir schon schwer, mich daran zu

gewöhnen, Fantasie mit „F“ zu schreiben; dabei

nicht an Limonade zu denken ist mir unmöglich.

An einen Wegfall von Kunst und Kultur muss ich

mich zum Glück nicht und hoffentlich niemals

gewöhnen.

Die inhaltlichen Planungen für dieses Heft

entstanden schon vor der Corona-Krise, und als

Redaktionsleiter musste ich genau zwei Seiten

streichen: Unsere handverlesenen Konzerttipps

und ebensolche Hinweise auf Lesungen, die

in diesem Magazin üblicherweise je eine Seite

ausmachen. Dafür gewann unsere Titelstory

„Freiburg 2030 – Wie wir leben werden“ mit

zwölf Freiburger Visionären auf geradezu unheimliche

Weise an Brisanz, hat doch der Kampf

gegen die Pandemie gerade

Fragen, wie jene nach

unser aller Zukunft, massiv

ins kollektive Bewusstsein

gerückt.

Und natürlich heben

wir wie immer Kunst und

Künstlerinnen und Künstler

auf den Schild des Majestix,

tragen sie durch‘s

Dorf und machen unser

Magazin so ganz einfach zu einer Ausstellung

zum Mitnehmen. Dazu gibt es besonders viele

Bücher- und Mediatheken-Tipps quer durch

unsere Themen für ruhige Stunden daheim und

Geleitworte einer kulturbeflissenen Mainzelfrau.

Wie alles, was unser Mensch sein ausmacht,

hat natürlich auch das Virale schon wieder neue

Kunst hervorgebracht wie die papierlastigen

Quarantäne-Bilder unserer Fotografin Janine

Machiedo. Und wer sagt denn, dass man nicht

sein eigenes ZMF im Garten, auf dem Balkon

oder im Wohnzimmer veranstalten kann? Ist

doch Alles nur eine Frage der PHantasie.

Bleiben Sie neugierig...

Herzlichst

Arne Bicker

Redaktionsleiter Zett.

Bild: Lilli (9 Jahre)

Harry der Zeichner

Impressum

„ZETT. – Das Kulturmagazin für

Freiburg“ ist eine Magazinpublikation

der Zypresse Verlags GmbH,

Brunnenstraße 6, 79098 Freiburg.

redaktion@zett-magazin.de

www.zett-magazin.de

www.zypresse.com

Geschäftsführung:

Caroline Kross

Gestaltung: Schleiner & Partner

Grafik, Layout: Frank Reder

Redaktionelle Leitung:

Arne Bicker

Redaktionelle Mitarbeit: Jennifer

Reyes, Reinhold Wagner, Astrid

Ogbeiwi, Anna Henschel, Mareike

Kaiser, Tom Teuffel.

Titelfoto: Martin Koswig

Fotografie: Janine Machiedo, Klaus

Polkowski, Arne Bicker.

Für Druckfehler keine Haftung.

Das Copyright für Texte und Fotos

liegt beim Verlag und den Autoren

/ Fotografen. Nachdruck, Vervielfältigungen

und elektronische

Speicherung nur mit schriftlicher

Genehmigung des Verlages.

ZETT. JUNI 2020

3


INHALT

2030

TANZ

Kleines Rund, großer Zuspruch

59

BÜCHER

Lesefreude pur

39

Foto: Klaus Polkowski

FREIBURG 2030

ab Seite 8

Foto: M. Koswig

EDITORIAL

Phuturistisches – Die Kultur lebt! 3

LEIDKULTUR

Die Stunde der Vernunft – Krisenperiode 2020 6

Janine Machiedo – Papierstau im Homeoffice 7

FREIBURG 2030 – WIE WIR LEBEN WERDEN

Freiburg 2030 – Wie wir leben werden 8

Stadtverkehr – E-Volution 10

Kunstbetrieb – In der Ahnungsgalerie 11

Architektur & Stadtplanung – Verdichter und Lenker 12

Jobs & Wirtschaft – Klüger arbeiten 13

Künstliche Intelligenz – Whatsapp von Cleopatra 14

Medien – Ethos statt Clickbait 15

Urbanes Klima – Siesta in Freiburg 16

Erneuerbare Energien – Freie Dauer-Power 17

Musik – Das Ende der Vinylisation 18

Energieversorgung – Hitziges Rheintal 19

Polizei – Von wegen Hoverboard 20

Gesellschaft & Politik – Die neue Vernunft 21

900 JAHRE STADTJUBILÄUM

Ausgebremst – Was wird aus dem Stadtjubiläum? 22

60 Jahre Kunstpreis – Phalanx der Preisträger 23

Weltenfrauen – Im Gewand der Vielfalt 24

Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs – Digital unperfekt 25

MEDIATHEKEN

3sat-Kulturzeit – Geschmeidigst produziert 26

Moderne Heldinnen – Fünf starke Frauen 27

FOTOGRAFIE

Fotografie – Kleine Brötchen 28

• Jutta Panke 29

• Michaela Kindle 29

• Yasemin Aus dem Kahmen 30

• Dorothee Himpele 30

• Janine Machiedo 31

• Horst Sobotta 32

• Piotr Iwicki 32

• Jan Deichner 33

• Arne Bicker 33

37

PRIMA PRISMA

Dr. Peter Gerdes

40

WEISSE RIESEN

Helen Duppé

900 JAHRE STADTJUBILÄUM

ab Seite 22

4 ZETT. JUNI 2020


IMPULSIV

Anke Augspach

MUSIK

Zeltbau im Garten

54 56

Foto: Klaus Polkowski

KUNST

ab Seite 49

Thomas Temmer – Regentanz 34

Dr. Peter Gerdes – Prima Prisma 37

BÜCHER

Schöne Geschichten – Buchtipps der Stadtbibliothek 39

Helen Duppé – Weiße Riesen 40

Philipp Multhaupt – Der Seiltänzer 42

Anne Grießer – Wein-Crime 44

Annette Pehnt – Tempelgänger 44

Julia Heinecke – Widerstand 44

Ulrike Halbe-Bauer – Im Zwiespalt 45

Marc Buhl – Nah am Vulkan 45

Manuela Fuelle – Doppelagenten 45

SATIRE

Lebenshilfe? Guter Rat für 19,90 46

Klaus Karlitzky – Frei und amtlich 47

KUNST

Heinz Soucek – Der Weißblechkönig 49

Peter Carp – Mr. Hoffentlich 50

Harry der Zeichner – Sommer in Freiburg 51

Celso Martínez Naves – Im Zwielicht 52

Verbrechen in der Kunst – Artnapping & Goldpfunde 53

Anke Augspach – Impulsiv 54

Roland Hölderle – Der Chiffreur 55

Martin Hunke – Feuer & Stahl 55

MUSIK

Zeltbau im Garten – Home-ZMF 56

Die bessere Biographie – Wie Musik wirkt 57

Lauschangriff – CD-Tipps 58

TANZ

Mensabrunnen – Kleines Rund, großer Zuspruch 59

Tanzen im Biotop – Wenn Körper sprechen 60

Lebensgefühl der 20er – Provokation & Popkultur 62

GESELLSCHAFT

Kunst für den guten Zweck – „1000 Drawings“ 64

Fitness – Körper und Geist im ruhigen Fluss 66

Tom Brane – DANKE 67

55 26

Foto: ZDF / Jana Kay

FEUER & STAHL

Martin Hunke

3SAT-KULTURZEIT

Vivian Perkovic

Fotografie

KLEINE BRÖTCHEN

28

ZETT. JUNI 2020

5


LEIDKULTUR

Foto: Paul Maurer

Bild: Anaïs (9 Jahre)

Die Stunde der Vernunft

KRISENPERIODE 2020

von Arne Bicker

Michael Kraske untersucht

sehr klug und differenziert den

Rechtsruck in Ostdeutschland und

beschreibt einen der vielen Risse,

die sich durch unsere Gesellschaft

ziehen.

Michael Kraske // Der Riss.

Ullstein • 352 S. • 19.99 Euro

Die Corona-Krise hat uns eine schallende

Ohrfeige verpasst, und die Menschheit

steht auf ihrem Weg durch die Galaxis an

einem Scheidepunkt. Schon vor Covid-19 lebten

wir in einer tiefen Menschheitskrise: Weltweit

gab und gibt es eine Friedenskrise, Migrationskrisen,

die Klimakrise, eine politische Rechtsruckkrise,

eine grassierende Ressourcenkrise

durch Raubbau an der Natur, weit verbreitet

Autokratien, Kriege, Überbevölkerung, Armut,

Tod, Hunger, Folter, Tierqual, Artensterben.

All dies hat Jahr für Jahr weit mehr Todesopfer

gefordert als es Covid 19 je gelingen

könnte. Hier in Deutschland hatten und haben

wir eine Bildungskrise (Lehrermangel, PISA,

unzureichende Digitalisierung), einen erdrückenden

Wohnungsnotstand, eine Sozialkrise

mit zu viel Reichtum auf der einen und zu viel

Armut auf der anderen Seite, zunehmend Rassismus,

Hasspolitik und verrohte Schmähungen,

eine Krise der Volksparteien, eine Europa-Krise,

Konsumirrsinn, Desinformation und Steuerbetrüge

in großem Stil, eine Rentenkrise, eine

Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus. Alles

schicksalsfrei selbst verursacht.

Die Corona-Krise wird voraussichtlich beendet

durch entweder 1.) ein Medikament, 2.)

einen Impfstoff, 3.) eine Durchseuchung. Wir

können dann versuchen zu dem oben geschilderten

Ist-Zustand zurückzukehren.

Aber es wird sich ohnehin manches ändern:

Uns werden viele Menschenleben, Unternehmen,

Arbeitsplätze und Geldreserven

verlorengegangen sein. Wir werden uns auf die

nächste Pandemie vorbereiten, indem wir das

Gesundheitssystem umbauen, eine Fertigung

überlebenswichtiger Gesundheitsprodukte

im Inland einrichten, Test-, Erfassungs- und

6 ZETT. JUNI 2020

Notfallsysteme etablieren. Aber welch eine

Gelegenheit ist das, endlich auch an anderen

Stellschrauben zu drehen? Unsere weltweiten

Wirtschaftssysteme sind auf nie endendes

Wachstum ausgelegt. Sie fördern Raubbau

an Natur und Klima, Gewinner und Verlierer,

Demütigende und Gedemütigte. Was für ein

Irrsinn!

Hat uns die Politik nicht gesagt, eine Bekämpfung

des Klimawandels sei zu teuer und

deshalb nicht zeitnah machbar? Und jetzt in

der Corona-Krise ist das Mehrfache an Geld

plötzlich da? Und haben wir nicht zu 80 Prozent

gesagt, wir wollen zwar den Klimawandel

nicht, uns aber stillheimlich doch gefreut, dass

unsere politischen Vertreter uns den Ausweg

servierten, weiterhin großmotorige Automobile

zu kaufen und zigmal im Jahr in Urlaub und zu

vorgeblich unersetzlichen Auslandsmeetings

zu fliegen?

In der riesengroßen Menschheits- und

Menschlichkeitskrise vor Corona galt Vernunft

vielfach als „naiv“. Sollten wir, einzelne Menschen,

Unternehmen, Regierungen, Staaten,

Staatengemeinschaften, die Weltgemeinschaft

überhaupt dahin zurück wollen?

Wie wäre es stattdessen mit einem würdevollen

Leben für ausnahmslos alle Menschen?

Dazu eine schnelle Energiewende, Ressourcenschonung,

nachhaltiges Wirtschaften, entschleunigter

Konsum, regionale Versorgung und

Geburtenbegrenzung soweit möglich. Das alles

auf der Basis eines regulierten Kapitalsystems

und friedlicher, demokratischer Prozesse.

Wir könnten zumindest eine andere Richtung

einschlagen. Der Beginn einer neuen Welt

ist überfällig; die Chance war nie so groß wie

jetzt.

Das National Geographic Magazin

„Wir retten die Welt“ geht der

Frage nach, in was für einer Welt

wir zum 100. Earth Day in 50 Jahren

leben werden und verweist auf die

Vorteile hybrider Denkweisen.

National Geographic // Wir retten

die Welt. Verlagshaus GeraNova

Bruckmann • 6,50 Euro.

Foto: Blühdorn

Ingolfur Blühdorn vom Institut

für Gesellschaftswandel und

Nachhaltigkeit (IGN) und seine

Mitherausgeber beleuchten eine

Gesellschaft, die Wohlstand und

Lebensstil unter der Obhut einer

Politik der Nicht-Nachhaltigkeit

beharrlich verteidigt.

Ingolfur Blühdorn // Nachhaltige

Nicht-Nachhaltigkeit.

Transcript Verlag, 334 S. • 19.99 Euro


LEIDKULTUR

PAPIERSTAU

im Homeoffice

Foto: Janine Machiedo.

Die Fine-Arts-Fotografin Janine

Machiedo verbrachte

wie so viele zwei Wochen in

Quarantäne. Bei zunehmendem

Lagerkoller erreichte sie

die Bitte des Kulturmagazins

ZETT., die Gemeinheiten der

Corona-Krise aus Ihrem Blickwinkel

häuslich-künstlerisch

in zwei Bildern in Szene zu

setzen. Hier ihre Arbeit „Waiting

for better times“. Ihr

zweites Bild „How to act like

this was Plan A“ finden Sie

auf Seite 38 im Bücher-Teil

unseres Magazins.

ZETT. JUNI 2020

7


FREIBURG 2030

Bild: Stadtplanungsamt

Sehr zu empfehlen ist der Besuch im Berliner „Futurium“. Das am 5. September

2019 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung eröffnete Haus

des Wissens um Möglichkeiten unweit des Berliner Hauptbahnhofs beschäftigt

sich auf 3.000 Quadratmetern detailreich, auf der Höhe der Zeit und

häufig interaktiv mit Zukunftsfragen zu den Themen Mensch, Natur, Technik,

Energie, Bauen, Transport, Ernährung. Der Eintritt ist frei.

Freiburg 2030

WIE WIR LEBEN WERDEN

von Arne Bicker

Screenshot: arte.tv

Screenshot: ardmediathek.de

Screenshot: 3sat.de

Visionäre TV-Dokus

Die arte-Mediathek hält online

die Dokumentationen „Mobile

Zukunft - Die Stadt von morgen“,

„iHuman“ und „Das Echo der

Zukunft - Kunst mit Genen und

künstlicher Intelligenz“ bereit.

// arte.tv/de

Die Mediathek der ARD zeigt

„Flugtaxis für die Welt - Die

Firma Volocopter aus Bruchsal“

und „Xenius - Stromspeicher der

Zukunft: Größenwahnsinnig oder

genial?“

// ardmediathek.de

In „Die Roboter kommen!“ geht die

3sat-Sendung „Kulturzeit Extra“

der Frage nach, was Robotern und

Künstlicher Intelligenz zuzutrauen

ist. Und die Sendung „nano“ befasst

sich mit dem „Ringen um die

Mobilität von morgen“.

// 3sat.de

2030

Künstliche Intelligenz, Klimawandel,

Schutz vor Pandemien

– war die Zukunft eigentlich zu allen Zeiten so spannend

wie jetzt? Es ist zu vermuten. Erwiesen ist, dass bahnbrechende

Erfindungen wie die Dampfmaschine, das Telefon oder das Internet

die menschliche Lebenswelt in rasantem Tempo verändert

haben. Und vorhergesehen hat diese Dinge niemand, noch nicht

einmal Jules Verne. Ist also die Zukunft eine Gleichung, die nur

aus lauter Unbekannten besteht?

Nein, keineswegs. Natürlich können Dinge geschehen,

Erfindungen aufploppen, die uns alle aus den Socken hauen.

Aber der Bereich zwischen Schicksalsergebenheit, visionärem

Entdeckertum und weisem Gestaltungswillen lässt uns allen

einen immensen Entscheidungs- und Handlungsspielraum. Wer

sich indes darauf beschränkt, Geschehnisse und Entwicklungen

passiv hinzunehmen oder anonym mit abfälligen Kommentaren

zu begleiten, ist nicht mehr als ein Fussel auf dem Mantel der

Geschichte.

Nur konstruktiv entwickeln wir uns weiter, lösen wir gesellschaftliche

und ethische Konflikte, bringen wir unsere Lebenswelten

voran und schaffen Chancen für die uns nachfolgenden

Generationen. Aber ebenso gilt: Schwülstige Worte wie diese

gibt es schon mehr als genug. Wie also, unter Einbeziehung aller

bislang bekannten Faktoren, kann sie aussehen, unsere Zukunft?

Um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, hat das

Kulturmagazin ZETT. die Fragestellung heruntergebrochen auf

das südbadische Etwas namens Freiburg und auf einen gerade

noch greifbar wirkenden Zeitpunkt in zehn Jahren - bis dahin

werden auch der neue Stadtteil Dietenbach und die Umgestaltung

Stühlinger West fertig sein. Wie also werden wir hier in

Freiburg im Jahr 2030 leben?

Rundes Foto: Zett. / M. Koswig

8 ZETT. JUNI 2020


Diese Frage habe ich in zwölf verschiedene Lebensbereiche

unterteilt und zu jedem eine Expertin, einen Experten hier in

Freiburg befragt. Auf diese Weise soll auf gerade mal zwölf

Magazinseiten ein möglichst umfassendes Bild entstehen, was

uns erwartet, wie unser Leben im Jahr 2030 ganz praktisch, ganz

konkret aussehen könnte, worauf wir uns einrichten, woran wir

mitgestalten können.

Natürlich gehören die ureigenen ZETT.-Themen dazu: Medien,

Kunst, aber auch Bereiche wie Architektur, Energieversorgung,

Stadtverkehrsplanung oder Politik. Jedem dieser Dutzend

Bereiche haben wir eine Seite gewidmet; zwölf Expertinnen

und Experten kommen zu Wort, in unserem ‚Club der

Visionäre‘.

Wie immer im ZETT. gibt es auch diesmal Querverweise

zu unserer Titelstory: So empfehle ich zur

Lektüre den herausragenden Bestseller der Ökonomin

Maja Göpel „Unsere Welt neu denken“.

Sie schreibt: „Unsere Zukunft ist nichts, was

bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur

so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis

unserer Entscheidungen.“

Und wir Einzelne haben sehr viel zu entscheiden:

Wie sehr wir unsere Umwelt schonen,

welche Medien wir als solche wahrnehmen und

konsumieren, worauf wir unsere Meinungen

aufbauen, wie konsequent wir handeln und wo

wir unser Kreuz bei Wahlen machen. Die Frage

„Was wird sein?“ könnte deshalb auch lauten:

„Was wollen wir?“.

Wer zum Beispiel in der immensen Diskrepanz zwischen

individuellem Reichtum und Armut ein Weltübel

sieht, der findet in dem Buch „Kapital und Ideologie“ des

französischen Autors Thomas Piketty Studienfutter. Piketty

fordert einen regulierten Kapitalismus und progressive Reichensteuern.

Und Horst Opaschowski nimmt uns mit in seine schriftliche

Vorlesung „Wissen, was wird“, in der er uns Trends und

Thesen serviert und, ähnlich

wie Maja Göpel, zum aktiven

Mitgestalten auffordert.

In dem Buch „3TH1CS –

Die Ethik der digitalen Zeit“

betrachten die Herausgeber

Philipp Otto und Eike Gräf heikle

Themen wie Kriegsroboter,

Ballerspiele und Algorithmen

vor dem Hintergrund der Moral:

In 20 Texten stellen sich

Expertinnen und Experten aus

Europa, Amerika und Asien der

Herausforderung, neue Perspektiven

zu Pflegerobotern,

autonomen Fahrzeugen, persönlichen

Drohnen, Sexrobotern,

Fake News, Deep Learning

oder Datenethik aufzuklappen.

Stecken wir also wirklich

schon mitten drin, in einer

dritten industriellen Revolution,

wie es Jeremy Rifkin in

seinem Buch „Der Globale

Green New Deal“ (siehe ZETT. /

Ausgabe 3) postuliert? Werden

wir Menschen unsere globale

Wirtschaft umkrempeln, hin

Maja Göpel - Unsere Welt neu

denken. Ullstein-Verlag, 208 Seiten,

17,99 Euro.

Thomas Piketty - Kapital und Ideologie.

Verlag C.H. Beck, 1312 Seiten,

39,95 Euro.

FREIBURG 2030

Horst Opaschowski - Wissen was

wird. Patmos-Verlag, 280 Seiten,

24 Euro.

3TH1CS - Die Ethik der digitalen

Zeit. iRIGHTS media, 264 Seiten,

29,99 Euro (als E-Book 9,99 Euro).

2030

zu ausschließlich regenerativen Energien und einer solidarisch

gerechteren Einkommens- und Besitzverteilung? Schnallen Sie

sich an, rufen Sie sich Christian Bruhns Captain-Future-Soundtrack

in Erinnerung und blättern Sie um.

Los geht‘s!

So soll es 2030 aussehen: Der neu gestaltete Freiburger Stadtteil Stühlinger-West im Windschatten des neuen

Rathauses (großes Oval) wird grün sein, verkehrsarm und mehrstöckig bebaut.

Foto: Futurium / David von Becker

ZETT. JUNI 2020

9


FREIBURG 2030

Deutschlands jüngster Oberbürgermeister besitzt mit seiner

Familie kein Privatauto. Zwar wird Martin Horn von

einem Fahrer im Dienstwagen zu Terminen chauffiert,

aber privat düst das 35 Jahre junge Stadtoberhaupt auf einem

geleasten E-Bike durch die City. Auf die Frage, wie der Freiburger

Stadtverkehr im Jahr 2030 aussehen wird, hält Horn gleich einen

ganzen Korb voller Antworten parat.

Stadtverkehr

E-VOLUTION

„Beispielgebend bis in zehn Jahren werden unsere Neubaugebiete

Dietenbach, Stühlinger-West, Metzgergrün und

Schildacker sein. Da sehe ich für 2030 eine dichtere, urbane

Bebauung, dafür mehr grüne Flächen und neue Mobilkonzepte

mit Car-Sharing, Quartiersgaragen, Lastenrädern und insgesamt

viel mehr Lebensraum für Menschen als für Autos“, erklärt Horn.

Auch in Freiburg werde es dann mietbare E-Scooter geben, jedoch

nur als „kleiner Baustein“ in einem Konzept, das vor allem auf

Fahrräder und Nahverkehr plus Elektromobilität mit möglichst

wenig privaten Autos setzen wird.

Bis zu 40 Prozent schätzt Martin Horn den Anteil an Elektro-Fahrzeugen

in Freiburg in seiner Vision für das Jahr 2030.

Einige Tausend Mietfahrräder, die in Freiburg ‚Frelo‘ heißen,

werde es in zehn Jahren geben und dazu deutlich über hundert

‚Lasten-Frelos‘. Zudem sieht der parteilose OB vor seinem inneren

Auge ein dichteres Radwegenetz mit breiten, attraktiven

Radwegen, „die schnell und direkt in die Innenstadt führen.“

Der öffentliche Nahverkehr solle zudem „sicher, zuverlässig

und in kurzer Taktung fahren“. Außerdem sollten neue

Finanzierungskonzepte des Landes das fahrscheinlose Fahren

ermöglichen“.

Man kann Freiburgs Verwaltungschef also keineswegs

vorwerfen, er blicke nicht nach vorn. Am Besprechungstisch

im OB-Büro malt Martin Horn mit Händen und Worten auch

„drei bis vier neue Stadtbahnlinien“ in die Luft: „Die Linie 1 wird

etwa bis zum Kappler Knoten verlängert, die Linie 3 bis nach

Merzhausen, die Linie 4 bis zur Messe und zum Fußballstadion,

die Linie 5 wird nach Dietenbach fahren, und eine neue

Linie könnte St. Georgen anbinden.“

In der ganzen Stadt werde, bis auf den Autobahnzubringer,

maximal Tempo 30 gelten, in vielen Spielstraßen Schrittgeschwindigkeit.

„Das gilt dann hoffentlich pauschal, ohne Schilderchaos.“

Und „in allen Himmelsrichtungen“ hofft Horn an den Stadtgrenzen

auf Park & Ride Plätze und dadurch möglichst wenige Autos

in der Stadt. Stattdessen sieht er „urbane Lebensquartiere mit

lebendig nutzbarem öffentlichen Raum.“

Dazu komme eine intelligente, elektronische Verkehrsbeschilderung

und ein Elektro-Lieferservice in der Innenstadt:

„Einkäufe kann man sich umweltfreundlich nach Hause liefern

lassen, das wird dann zum Serviceangebot gehören.“

Die vielbefahrene Ost-West-Achse, die zwischen Stadtzentrum

und Wiehre verläuft, sieht Martin Horn in einem unterirdischen

Stadttunnel verschwinden, ersetzt durch einen

renaturierten Dreisamboulevard auf der Innenstadtseite „mit

viel Grünflächen, dazu Rad- und Fußwege und beispielsweise

ein Spielplatz zwischen dem Café Extrablatt und der Innenstadt.

Und ähnlich dem Rotteckring wird auch der Schlossbergring

verkehrsreduziert sein.“

Städtische Müllautos und Busse könnten 2030 vollständig

mit Elektro- und Wasserstoffantrieben ausgestattet sein, denkt

Martin Horn; bei privatwirtschaftlichem Schwerlastverkehr

rechnet er mit einem rund 50-prozentigen Wasserstoffanteil.

Durch solche Quoten werde sich die CO2-Bilanz zum Positiven

verändern.

„Wenn ich 2030 durch die Stadt spaziere, dann sehe ich

Ladestationen für Elektromobile aller Art, angefangen von E-Tretrollern,

E-Scootern, Pedelecs sowie E-Autos und E-Lieferwagen

und rund 100 Mietstationen für Fahr- und Lastenräder. Auch eine

zweite Schienenquerung für Straßenbahnen in Bahnhofsnähe

kommt in meiner Vorstellung vor“ so Horn.

Sein Fazit: „Ich erwarte keine Revolution,

sondern eine E-Volution. Unsere

Stadt wird nicht autofrei sein, aber

autoreduziert, zugunsten einer

deutlich höheren Lebensqualität

ihrer Bewohner. Dies wird

nicht durch das Ausspielen vom

Auto- gegen den Fahrradverkehr

gelingen, sondern durch

ein stetig besseres, bequemeres

und umweltfreundlicheres Stadtverkehrskonzept.“

Martin Horn

Foto: Adobe Stock

10 ZETT. JUNI 2020


Der Begriff der Kunst ist schwer zu fassen. Und dann auch

noch eine Projektion in die Zukunft, ins Jahr 2030? Der

renommierte Freiburger Galerist Albert Baumgarten empfängt

mich in seinen heiligen Hallen in der Kartäuserstraße. Auf

dem Weg zum Besprechungszimmer passieren wir ein Bild des

Malers Volker Blumkowski; es zeigt Männer, Klone, die gleichzeitig

in mehrere kleine Raketen hineinkriechen. Ist das ein Zeichen?

Ich schaffe es nicht, meine Kamera wirklich sachte auf dem

Glastisch abzusetzen, durch den wir unsere Schuhspitzen von

oben sehen können. Albert Baumgarten beugt sich vor und schaut

mir durch seine Brille fest in die Augen: „Also, ich halte nichts von

Algorithmen.“ Na das geht ja gut los. „Wenn da irgendwelche

Holländer sogenannte neue Rembrandts von Computern malen

lassen, dann ist das doch nur eine neue Form der Reproduktion. So

ein wissenschaftlicher Stolz

kann auch etwas Lächerliches

haben.“

Werden also im Jahr

2030 keine von künstlichen

Intelligenzen erschaffenen

Kunstwerke unsere Wohnzimmer

fluten? „Doch“, sagt

Baumgarten, „denn der breite

Geschmack wird sich 2030

mal wieder geändert haben. Aber vor allem wird es andere

Präsentationsformen geben: Die Wohnzimmerwand wird als

Kunstwand aus sich heraus so etwas wie ein riesiger E-Book-Reader

sein. Da wird der Besitzer seine Kunst zeigen können, ohne

dass es aussieht wie auf einem Flatscreen.“

Heute Baselitz, morgen Polke, und zwischendurch mal eben

die Bilder per Laserstrahl neu anordnen? „Etwa so. Und Galerien

wie meine wird es 2030 nicht mehr geben, oder nur noch sehr

wenige. Das verlagert sich in Online-Agenturen, in virtuelle

Ausstellungsräume und in globale Kunstkaufhäuser, die Original-Kunst

auch vermieten werden.“

Langsam kommt Baumgarten in Fahrt: „Künstler werden in

Zukunft auch Ingenieure und Programmierer sein, Wissenschaftler

werden Kunst machen und Künstler Wissenschaftler sein.“ Also

zurück in die Zukunft da Vincis? „Warum nicht? Viel mehr Künstler

werden Zukunftsforscher sein und ihre Vorahnungen präsentieren.

Und, ach ja, Kunstfreunde können sich ihren Lieblingskünstler

als Smalltalk-Hologramm zum Hausbesuch bestellen.“

Welche Stilrichtung wird 2030 vorherrschen? „Sie stellen

Fragen! Aber gut, ich denke, das ‚Anything Goes‘ wird förmlich

FREIBURG 2030

explodieren. Neue Urbanitäten werden neue Stile schaffen,

Topp-Kuratoren werden von Computerprogrammen abgelöst

und die Kontraste zwischen erster, zweiter, dritter und dann

auch vierter und fünfter Welt werden sich verschärfen.“

Und was macht die Kunst 2030 in Freiburg? „Museen wird

es in der heutigen Form nicht mehr geben, das werden nur noch

Kunstdepots sein. Die Ausstellungen finden woanders statt,

überall, in der virtuellen Welt oder unter freiem Himmel, zum

Beispiel auf dem Platz der alten Synagoge. Da können Passanten

Kunst über ihren Köpfen im Schwebezustand betrachten.“

Die visionäre Seite des Albert Baumgarten tickt weiter:

„Künstler werden Schwerelosigkeit sichtbar machen. Interaktive

Kunst wird den Künstler als Gott der Kreation ablösen, Besucher

und ihre Gedanken werden die Kunsterscheinung beeinflussen.“

Kunstbetrieb

IN DER AHNUNGSGALERIE

Wie bitte soll das aussehen? „Stellen Sie sich eine Polarmeer-Performance

vor, in der Sie als Besucher das Gefühl haben, selbst

auf einer Eisscholle durch eine gewaltige Ausstellung zu treiben.“

Und wird die Kunst irgendwann mal verschwinden? „Nein,

niemals. Die Kunst wird sich weiterentwickeln, weil der denkende

Mensch sie nach wie vor dringend braucht. Da geht es auch

um Neugier und Toleranz. Fast die Hälfte aller Kunststudenten

werden sich zuhause ausbilden lassen, Kunstakademien werden

digitale Techniken lehren, wie zum Beispiel 3D-Skulpturen-Prints.

Und 2030 werden sich auch neue Cross-Over-Stile herausbilden,

Verschmelzungen mit Musik, Performance, Literatur.“

OK, jetzt weiß ich, dass Albert Baumgarten alles andere ist als

der Gralshüter eines in Beton gegossenen Kunstbegriffs. Vorbei an

den fleißigen Raketenmännern trete ich

hinaus in den Freiburger Nieselregen

und schaue nach oben: kein menschen-

oder maschinengemachtes

Kunstwerk weit und breit.

Ob ich mal kurz am Platz der

Alten Synagoge vorbeischaue?

Albert Baumgarten

Foto: Adobe Stock

Kunst wird technikaffin und der Blick ändert sich.

ZETT. JUNI 2020

11


FREIBURG 2030

Foto: Adobe Stock

Architektur & Stadplanung

VERDICHTER UND LENKER

Die Frage, wie Freiburg im Jahr 2030 aussehen könnte, stelle

ich Matthias Hotz vom dreißigköpfigen Architekturbüro

hotz + architekten in Freiburg. Wir sitzen in einem lichtdurchfluteten

Besprechungsraum an einem riesigen Holztisch.

An den Wänden hängen Bilder vollendeter Bauprojekte wie die

Fahrradstation am Hauptbahnhof, die Solarfabrik auf der Haid,

das Bürogebäude Schnewlinstraße 12 mit seiner kippenden Fassade,

das United World College in der Kartäuserstraße, Forum

Merzhausen, Theodor-Heuss-Gymnasium oder die abgerundete

Druckerei Simon am Güterbahnhof.

Ganz Deutschland und Freiburg speziell leiden am Fehlen

bezahlbarer Wohnungen. Im Jahr 2030 wird dieses Problem noch

lange nicht gelöst sein, meint Matthias Hotz, aber man werde

schon sehen können, in welche Richtung es gehen wird: „Sehr in

die Höhe zu bauen, wie das zum Beispiel in Basel geplant ist, löst

das Problem nicht, weil es zu teuer ist. Wir werden klüger nachverdichten

durch Aufstockungen und Neubauten. Die Wiehre ist

schon jetzt der am dichtesten bebaute Stadtteil Freiburgs, und der

ist hoch attraktiv. Der Bau von Einfamilien- und Reihenhäusern

in der Stadt wird aber ein Ende haben.“

Durch Geschosswohnungsbau mit fünf bis sechs Stockwerken

wird künftig der Wohnraumbedarf abgedeckt. Wichtig sein wird

es auch günstig zu bauen. Hotz: „Die Systematik mit Bauvorschriften,

Gutachten, Genehmigungen und Sonderfachleuten müssen

entschlackt und vereinfacht werden. Aber daran, dass unsere

Politik das bis 2030 schafft, glaube ich nicht.

Es wird im Gegenteil immer

umfang-

Sieht so das künftige Green City Haus in Freiburg aus?

reicher und schwerfälliger. Was wir tun können: Es wird mehr

Modulbauweise und Vorfertigung geben, um schnell und günstig

zu sein.“

Wer neu bauen will, muss häufig abreißen. Und nicht nur Oldtimer-Autos

werden 2030 recycelt, sondern auch Oldtimer-Häuser.

„Nicht allein aus Kostengründen wird die Recycling-Fähigkeit von

Häusern eine wesentliche Rolle spielen. Bereits verwendete Baustoffe

werden aufbereitet und dem Baukreislauf wieder zugeführt.

„Die Konstruktionen und Materialzusammenfügungen werden

durchdachter sein. Es wird geschraubte, gefügte Bauteile geben“,

sagt Matthias Hotz. „Und Holz wird einen immensen Aufschwung

erleben. Die Anzahl an Holzbauten wird extrem ansteigen.“

Und was ist mit dem heutigen Trend der ‚Tiny Houses‘, kleine,

containerartige Wohneinheiten, die wenig Platz bieten, dafür

aber günstig und mobil sind? Matthias Hotz tut das als Spielerei

ab: „Da ist überhaupt nichts dran. Ich habe mal mit meiner Frau

ein Fünfzig-Quadratmeter-Häuschen bewohnt – das war als

Erfahrung ganz lustig, löst aber keine Probleme, weil es doch zu

viel Grundfläche braucht. Sinn würde es nur machen, wenn man

die stapelt, aber dann schwindet die Attraktivität.“

Dafür lassen sich 2030 Heizkosten sparen. „Es wird Verwaltungs-

und Bürogebäude geben, die so gut gedämmt sind, dass

sie nicht mehr beheizt werden müssen“, erklärt Hotz. „Neue

Wohnhäuser werden so viel Energie, wie sie selbst verbrauchen,

auch liefern, über ihre Dach- und Fassadenflächen, durch Wärmepumpen.

Das ist natürlich standortabhängig. Der Freiburger Rolf

Disch hat schon vor vielen Jahren gezeigt, wie’s geht. Aber 2030

wird externe Energie so teuer sein und selbst produzierte deutlich

günstiger, so dass neben Energieeinsparverordnungen auch die

Wirtschaftlichkeit für dezentrale Einheiten spricht.“

Bliebe die Frage der Stadtplanung: Das Motiv ‚Individualverkehr

raus, Wohn- und Lebensqualität rein‘ wird von Städten

wie Barcelona oder Kopenhagen schon beispielhaft vorgelebt.

Da müsste doch die Öko-Stadt Freiburg mit ihrer weitgehend

autofreien Innenstadt der perfekte Ort für die Zukunft sein –

Green City = Future City? „Bis 2030 passiert das nicht“, winkt

Hotz ab, „aber der Trend, Straßen und Parkraum zurückzubauen

und Öffentlichen Nahverkehr und Fahrräder zu priorisieren wird

zumindest erkennbar sein.“

Hotz weiter: „Die Stadtplanung durchläuft zu viele Gremien

und Institutionen. Und wenn das Parken am Rande der Innenstadt

zum Beispiel einfach nur verteuert wird,

dann werden die Leute eben mehr

bezahlen. Aber es wäre fatal, wenn

2030 noch mehr einkommensschwache

Familien ins Umland

flüchten müssten. Da wird der

neue Stadtteil Dietenbach allein

nicht ausreichen, das zu

verhindern.“

Matthias Hotz

12 ZETT. JUNI 2020


FREIBURG 2030 ????

Foto: Adobe Stock

Roboter, Künstliche Intelligenz, Entkarbonisierung, Selbstfahrlogistik,

Home-Office, Mechatronisierung – unserer

Wirtschafts- und Arbeitswelt stehen große Umbrüche

bevor, auch in der Dienstleistungsstadt Freiburg. Was wird davon

2030 zu spüren sein, welchen Wandel zwischen Worthülse

und faktischer Neuausrichtung werden wir erleben? Mit diesen

Fragen habe ich Dr. Steffen Auer besucht, den Präsidenten der

Industrie- und Handelskammer Südlicher Oberrhein.

Seit 2011 ist Auer IHK-Präsident, spricht für 63.000 vor allem

kleinere und mittlere Mitgliedsbetriebe. Gleichzeitig führt er

sein eigenes Unternehmen, die Schwarzwald-Gruppe in Lahr

mit 350 Mitarbeitern, der Zukunft entgegen. Hier hat Steffen

Auer selbst neue Strukturen, regenerative Energien, mehr

Eigenverantwortung und digitale Steuerelemente umgesetzt.

Man kann sagen, er tut, was er predigt.

Auf dem Schreibtisch in Auers Büro im dritten Stock

des IHK-Gebäudes in der Schnewlinstraße liegt eine

Studie mit dem Titel „Zukunftsstrategie Südlicher Oberrhein“.

Steffen Auer holt aus: „Ich glaube, wir stehen am

Beginn einer vierten industriellen Revolution. Und fast alle

wirtschaftlichen Umbrüche in der Vergangenheit haben

gezeigt, dass die Anzahl der Arbeitsplätze insgesamt

danach zugenommen hat. Das wird auch diesmal so sein. Aber

Denken und Handeln werden sich ändern, weil viele Menschen

in zehn Jahren etwas ganz anderes tun werden als heute.“

Denn, so Auer: „Die Art der Arbeit wird sich dramatisch

verändern. Bislang wurden zum Beispiel Arbeiter an Fertigungsstraßen

in der Automobilindustrie durch Roboter ersetzt. Schon

2030 werden auch viele Buchhaltungs-, Management- und

Personalarbeiten von vollautomatischer Software abgelöst sein.“

Die Weiterentwicklung der Arbeitswelt beginnt nicht jetzt.

Sie setzt sich einfach nur fort, mit den Mitteln der Zeit. Die Jobs

ändern sich, nicht ihre Zahl. Die Frage ist vor allem: Sind die

Menschen bereit dazu? Kann und wird der Kohlekumpel in der

Lausitz künftig Solardachziegel in Reihe schalten? Eine Neuausrichtung

ist gefordert, bei uns allen, in Fragen der Weiterbildung,

der Umschulung und nicht zuletzt in der Basisausbildung des

modernen Menschen: Im Schulunterricht.

Das Problem: Bleibt es bei Lippenbekenntnissen, wird vieles

den Bach runtergehen. „Ich sehe das aber positiv als Herausforderung“,

sagt Steffen Auer, „denn nur, wenn wir nichts tun,

fallen hier Arbeitsplätze weg, die woanders wieder aufgebaut

werden. Es liegt also an uns selbst. Und an der Politik. Ein Beispiel:

2030 werden wir BIM haben.“

BIM ist die Abkürzung für „Building Information Modeling“,

eine Bauwerksdatenmodellierung, die als Oberbegriff

KI-gestütztes

Prozessmanagement

- unsere Arbeitswelten

werden sich drastisch

verändern.

für vernetzte Planung, Bau und Betrieb von Gebäuden und

Bauwerken mittels modernster Software steht. Auer erläutert:

„Der Zimmermann wird nicht mehr irgendwelche Bretter sägen,

sondern wird ein Prozessmanager sein. Das heißt also, wir

müssen es schaffen, unsere Jugendlichen in eine ganz andere

Liga zu bringen als die, in der sie heute sind.“

Und Auer weiß, wie das gehen könnte: „Wirtschaft und

Politik müssen ehrlicher werden, denn schon 2030 haben wir

eine komplexere, neue Arbeitswelt. Unsere Schulen brauchen

mehr modern ausgebildete Lehrer, mehr externe Referenten,

mehr Ausstattung - da muss signifikant Geld reinfließen.“

Und die Zukunft ist Steffen Auer schon selbst erschienen,

in Form einer Smart Factory von SICK Optoelektronik in Freiburg-Hochdorf:

„Da gibt es jetzt schon eine vollautomatisierte

Jobs & Wirtschaft

KLÜGER ARBEITEN

Fabrik - so etwas habe ich noch nicht gesehen. Da werden

Produktionsaufträge von einem übergeordneten System an

Fertigungsstationen vergeben, mit Zwischentransporten und

Produktion bei fortwährender Kontrolle. Da muss kein Mensch

mehr etwas von Hand tun.“ Auers Erkenntnis: „Das System trifft

in manchen Bereichen die besseren Entscheidungen, bis hin zur

Unternehmensausrichtung.“

Auer weiter: „Der Dieselpreis könnte sich verdoppeln, Energie-,

Ressourcen- und Transportpreise werden steigen, Recyclingvorschriften

und -notwendigkeiten werden sich verschärfen,

so dass Unternehmen ganz anders denken werden als sie das

heute tun. Unternehmen werden zum Beispiel dezentral ihren

eigenen Strom erzeugen, Überkapazitäten an den Markt abgeben,

Transportlogistik, Ressourcenschonung und Abfallverwertung

systemgestützt steuern.“

Und die soziale Komponente wird 2030 eine größere Rolle

spielen: „Wir müssen unsere Mitarbeiter besser unterstützen,

denn wir haben einen gewissen Wahnsinn erreicht, der nicht

mehr steigerbar ist. Wenn man heute eine E-Mail nicht innerhalb

von 30 Minuten beantwortet, wird schon gefragt, ob man

tot sei. Die Digitalisierung hat uns diese Beschleunigung bis an

die Grenze beschert. Sie wird uns nun auch helfen, da wieder

rauszukommen.“

Auers Fazit: „Wir haben irre Chancen, den notwendigen

Innovationssprung zu packen, weil unsere Ausgangslage mit die

beste in der Welt ist. Ich glaube nicht an das Szenario der Arbeitsplätzevernichtung.

Wir werden im Gegenteil zusätzliche, aber

hochqualifizierte Arbeitskräfte von außen brauchen, weil uns

die Demografie am Wickel packen wird. Gleichzeitig

wird der Arbeitsmarkt 2030 flexibler sein und sich

auch an den Bedürfnissen der

neuen Menschen ausrichten,

von der 20 bis

40-Stunden-Woche

über Selbstverantwortung

und

Home-Office mit

Online-Live-Besprechungen

bis

hin zu neuen Sozialberufen

zum Wohle der

Gesellschaft.“

Dr. Stefan Auer

ZETT. JUNI 2020

13


FREIBURG 2030

Der Weg zur Studiendekanin Professor Hannah Bast führt in

eines der wie von göttlicher Hand ausgestreuten Gebäude

der 15. Fakultät am Freiburger Flugplatz. „051 - Informatik“,

Eingang hinten rum, durch eine Metalltür, und dort geht es

alternativlos hinein in einen Aufzug. Wäre der nicht innen mit

Sperrholz verkleidet, man könnte denken, es ginge hier direkt

hoch auf die Brücke eines Raumschiffes.

Eine vertikale Einbahnstraße bei Stromausfall, denke ich, als

ich in einen Flur trete, von dem wechselweise große, freundliche

Büros und ebensolche Besprechungsräume abgehen. Plötzlich

biegt Frau Bast um eine Ecke: Wie lange wir wohl brauchen

„Durch Massen an subtilen Daten aus dem menschlichen Körper

und die Echtzeitanalyse von Blut- und Speichelwerten wird der

Erkenntnisgewinn zu Krankheitsverläufen explodieren“. Und:

„Bei der Hautkrebserkennung ist die KI heute schon extrem

zuverlässig.“ Denn: „Der Arzt kennt vielleicht tausend Fälle, die

KI Millionen.“

Auch autonome Waffen werde es 2030 geben, nicht nur

Drohnen, sagt Bast, das sei leider eine verhältnismäßig einfache

Technik. „Aber von einem Roboter, der zum Beispiel die

Spülmaschine ausräumt oder das Dach deckt, werden wir noch

meilenweit entfernt sein. Dass wir in absehbarer Zeit eine echte,

Foto: Adobe Stock

Künstliche Intelligenz

WHATSAPP VON CLEOPATRA

werden für das Interview? Und ob ich Fragen stellen wolle oder

sie einfach ein bisschen referieren solle? „Beides.“ Dann los.

„Die kurzfristigen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz

werden maßlos überschätzt und die langfristigen Folgen maßlos

unterschätzt“, legt sie los. Ein dialektischer Beginn: Erst die

These, dann der Roboter als synthetischer Antichrist? „Diskurs

und Medienberichterstattung geben oft nicht den wahren Stand

der Forschung wieder“, so die Professorin für Algorithmen und

Datenstrukturen. Im Moment steckt also die Künstliche Intelligenz

noch in den Babyschuhen? Oder sie liegt sogar noch im

Himmelbett?

„Was wir im Moment haben, ist eine noch relativ schematische

Null-Acht-Fuffzehn-Intelligenz“, so Bast. „Damit sind

nur sehr spezifische Einzelaufgaben wie Gesichtserkennung

oder autonomes Fahren möglich. Die

Revolution kam und kommt meist eher durch

Low-Tech und kritische Masse zustande.“ Die

kritische Masse im Fall des Internets waren

Rechner und Telefonleitungen. Im Fall der

KI sind das Daten, Speicherkapazitäten

und Verarbeitungsgeschwindigkeiten.

Damit werde schon 2030

die Medizin revolutioniert

sein, meint

Hannah

Bast:

Da soll es irgendwann

mal alles rein.

künstliche Superintelligenz haben werden, das ist noch so weit

weg wie die altägyptischen Pharaonen vom Handy.“ In meinem

Kopfkino sehe ich, wie Cleopatra Caesar eine Whatsapp schreibt:

„Hey Alter, Bock auf Chillen am Nil?“

Überhaupt: Kommunikation, Journalismus - gilt da bald:

KI, übernehmen Sie? „Nein“, sagt die KI-Professorin Bast mit

Bestimmtheit, „es wird zwar neue Methoden zum Fälschen

von Fotos und Videos geben, aber KI wird so bald keinen guten

Journalismus ersetzen. Höchstens Kurzmeldungen und so standardisierte

Texte wie Sportmeldungen und Promi-News können

2030 von Fabrikjournalismus geschrieben werden, mehr nicht.“

Was wir aber 2030 haben werden, sei vollautonomes Fahren:

„Das ist letztendlich auch nur ein Zusammenwachsen

ständig besser werdender Assistenzsysteme. Speziell

bei Lkws, Bussen, Straßenbahnen und

Taxis wird das zum Einsatz kommen. Neue

Städte werden darauf ausgerichtet sein. Im

Privatbereich wird das aber noch nicht flächendeckend

stattfinden.“ Warum nicht?

„Das dauert, bis das im Massenmarkt

ankommt und es gibt ja auch erstmal

Wichtigeres.“

Noch ein bohrender Professorinnenblick

und ich verlasse das Büro, in

dem Hannah Bast sofort ihr Notebook

aufklappt und sich tiefschürfenderen

Dingen zuwendet. Ich aber denke an

Cleopatra im

Raumanzug

und trotte

zum

Aufzug:

„Beam me

down, Scotty.“

Prof. Hannah Bast

14 ZETT. JUNI 2020


FREIBURG 2030

Foto: Adobe Stock

Dr. Franz Leithold war schwer zu fassen für das Kulturmagazin

ZETT.: Zum Zeitpunkt des vereinbarten Interviews

musste die Freiburger Uni-Bibliothek gerade Corona-bedingt

schließen; Leithold hatte als Leiter des Medienzentrums

und stellvertretender Direktor der UB alle Hände voll zu tun. Am

Ende klappte es eine knappe Woche später dann doch noch –

am Telefon.

„Das Zeitungssterben wird weitergehen“,

meint Leithold. „Im Jahr

2030 werden wir nur, oder immerhin,

halb so viele Zeitungen haben wie

heute. Und diese Zeitungen werden

leider alle als bezahlte Online-Ausgaben

auftreten, wobei die Printausgabe

nur noch ein Beiwerk hierzu sein

wird. Es wird nach individuellen Prioritäten zusammenstellbare

Online-Ausgaben geben, die man dann zum Beispiel auf großen

Readern lesen kann, ähnlich den E-Book-Readern der ersten

Generation.“

2030 werde das Fach ‚Medien‘ fest im deutschen Schulsystem

verankert sein, prophezeit Franz Leithold: „Uns wird spätestens

in zehn Jahren absolut klar sein, dass wir junge Menschen dazu

ausbilden müssen, kritisch, verantwortungsvoll und selbstbewusst

mit Medien umzugehen und seriöse von unseriösen unterscheiden

zu können. Umgekehrt werden die Medien Leser einbinden als

eine Art Mitredakteure; unser gesamtes Bildungssystem wird

endlich wieder ein humanistisches Menschenbild allen Lehr- und

Ausbildungsplänen zu Grunde legen und sich weniger an den

Anforderungen des freien Marktes ausrichten.“

Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem sagt Leithold

ein neues Erstrahlen voraus: „Mit einer neuen Ausrichtung

hin zu besserem, kritischem und investigativem Journalismus

und qualitativ hochwertiger Unterhaltung werden die Öffentlich-Rechtlichen

2030 auch einzelne Printmedien betreiben.“

Lineares Fernsehen mit festen Einschaltzeiten werde es zwar

noch geben, aber deutlich reduziert: „Streamingsdienste mit

massenkonformen Inhalten und nicht-lineare Mediathek-Angebote

mit einer zentralen, europaweiten Mediathekplattform als

Anlaufstelle werden im Vordergrund stehen“, so Franz Leithold.

Das gelte 2030 weiterhin auch für die weniger seriösen

Mail-Medien wie „t-online“, „gmx“ oder „web.de“, die laut

Leithold dann noch stärker

danach trachten würden,

mit manipulativen

Mitteln in gesellschaftliche

Prozesse

einzugreifen und so Marktmacht zu erlangen. Gleiches gelte

für neuartige Konzern-TV-Sender; neben „Red-Bull-TV“ oder

„Bayern-München-TV“ hält Leithold auch einen „Nestlé-Sender“

oder einen „Mercedes-Benz-Kanal“ für möglich – wie immer sie

dann auch heißen mögen.

Immerhin werde das Fixiertsein auf Einschaltquoten teilweise

verschwunden sein, „weil 2030 die Ansprüche der dann auch viel

Medien

ETHOS STATT CLICKBAIT

politischer denkenden Menschen deutlich höher sein werden.

Seriöse Medien wie Spiegel, ZEIT, taz, FAZ, Süddeutsche oder

correctiv.org sowie die öffentlich-rechtlichen Formate werden

hochqualifizierte und verantwortungsbewusste Journalisten

aufbieten im Einsatz gegen eine perfide Verblödung, wie sie

einigen politisch agierenden Gruppierungen nur allzu recht wäre.“

Diese seriösen Medien würden sich auch durch einen umfassenden

Verzicht auf anonyme Hasskommentare auszeichnen,

meint Franz Leithold. „Radioprogramme wird es 2030 immer noch

geben, meist in digitaler Form. Sie werden parallel existieren und

sich vermischen mit Musik- und Informationsstreamingdiensten.

All das wird auch jederzeit mobil empfangbar sein, auf dem

Handy oder im selbstfahrenden Elektro-Auto.“ Der User wird

2030 sein eigener Programmchef sein.

Und dann schließt sich ein Kreis, weil Leithold zum Ende des

Gesprächs wieder zur Corona-Krise des Jahres 2020 zurückfindet:

„In zehn Jahren werden die Menschen aus dieser weltweiten Krise

gelernt haben, wie elementar wichtig seriöse Medien sind, die auf

der Grundlage eines ethischen Konzepts

nach journalistischen Kriterien verantwortungsbewusst

Informationen

recherchieren, aufbereiten

und darstellen. Ohne die geht

es einfach nicht. Ein unabhängiger

Journalismus ist eine der

Säulen unserer Demokratie“

Dr. Franz Leithold

Auf den Durchblick

kommt es an.

ZETT. JUNI 2020

15


FREIBURG 2030

Professor Dr. Andreas Matzarakis trägt den Titel „Außerplanmäßiger

Professor“, der ihm in meinen Augen gleich eine

sehr besondere Aura verleiht. Nur wenige Tage vor seinem

sechzigsten Geburtstag klettert der Spezialist für Human-Biometeorologie,

Stadtklimatologie, Tourismusklimatologie und

Klimafolgenforschung mit mir auf das Dach des Gebäudes an der

Stefan-Meier-Straße in Freiburg, in dem neben dem Rheinschifffahrtsmuseum

auch die Freiburger Dependance des Deutschen

Wetterdienstes (DWD) zu finden ist.

Der gebürtige Grieche Matzarakis studierte in München und

habilitierte in Freiburg über die „thermische Komponente des

Stadtklimas“. Auf dem Dach seines Arbeitsplatzes hat er nicht nur

eine meterologische Glaskugel - hier ist er auch ganz nah dran

„Eine Stadt wie Freiburg ist grundsätzlich etwa drei Grad

wärmer als das Umland“, erklärt Matzarakis. „Wir nennen das

eine Wärmeinsel. Der Temperaturunterschied zwischen Innenstadt

und Flugplatz kann zum Beispiel nachts bis zu sieben Grad

betragen. Die Menschen in den Städten erleben jetzt schon den

Klimawandel: Wenn Sie sich heute vom Waldrand auf der Haid

in die Innenstadt bewegen, dann merken Sie bereits, was uns

der Klimawandel in den nächsten Jahrzehnten bringen wird.“

2030 werden wir in Freiburg eine deutlich größere Hitze

und mehr Hitzewellen haben, das stehe fest, erläutert Andreas

Matzarakis. Die Menschen würden mehr schattenspendende

Bäume pflanzen, Sonnensegel zum Beispiel auf dem Platz der

alten Synagoge aufspannen und ihre mit reflektierenden Farben

Urbanes Klima

SIESTA IN FREIBURG

am Wetter, wenn auch nicht nahe genug, als dass mit Wachs

verklebte Flügel Gefahr liefen zu schmelzen. Wer Matzarakis

zuhört, könnte indes auf die Idee kommen, dass derartiges sogar

bald am Boden in Freiburg möglich ist.

„Es wird heiß, soviel steht fest“, sagt der Professor, ohne

seine Rooftop-Glaskugel auch nur eines Blickes zu würdigen.

Wir steigen wieder hinab in sein Büro, auf dessen Schreibtisch

ein Daumenkino liegt mit dem Titel „Baden-Württemberg wird

wärmer“. Matzarakis folgt meinem Blick: „Sie können gern eins

mitnehmen.“

Um das Jahr 2030 werde es in und um Freiburg über zehn

Prozent weniger Schnee geben und es werde in der Stadt 0,5

bis 1 Grad wärmer sein als heute, sagt Matzarakis. „Das ist eine

ganze Menge. Die Winter werden insgesamt milder und mehr

regenbehaftet sein und die Sommer heißer und mit weniger

Niederschlägen. Und diese wenigen Regenfälle werden dafür

oftmals intensiver ausfallen.“

In Freiburg bin ich es gewohnt im Januar schon mal vor einem

Café im Freien zu sitzen. Der Sommer ist hier gefühlt acht Monate

lang. Wird aus diesem südbadischen Standortvorteil künftig

ein Standortnachteil nach dem Glutofen-Prinzip? Matzarakis

schwankt: „Das hängt davon ab, wie man Hitze betrachtet. Da

geht es nicht nur um die Lufttemperatur, sondern auch um

Feuchte, Wind, Bestrahlung und schließlich um den Menschen

selbst und seine Aktivitäten.“

versehenen Häuserfassaden begrünen, um durch Verdunstung

ein besseres Mikroklima zu schaffen.

„Aber wohin reflektieren weiße Häuserfassaden?“, fragt

Matzarakis. „Natürlich auf den Menschen. Das ist eine Intensivierung

der thermischen Bedingungen, sprich des Hitzestresses

für den Stadtmenschen.“ Also machen es die Griechen seit Jahrhunderten

falsch? „Nein, durch weiße Fassaden bleiben Häuser

innen kühl. Und haben Sie schon mal einen Griechen gesehen,

der mittags draußen in der Sonne steht?“

Jetzt hat er mich. Der Grieche in mir weiß, dass schon die

letzten beiden Sommer an meinem Schreibtisch in Freiburg

heißer waren als die zuvor. Matzarakis: „Nicht nur Stadtplanung

und Bauwesen in Freiburg müssen sich auf die neuen Bedingungen

einstellen, sondern vor allem der Kopf der Menschen. Wir

neigen dazu bei Hitze Klimaanlagen einzuschalten. Die blasen

dann zusätzliche Wärme nach draußen und erwärmen die Stadt

noch mehr.“

Und was macht der Grieche? Siesta und Stromsparen. Genau

so sollten es auch die Freiburger in künftigen Hitzesommern

halten, empfiehlt Matzarakis. Schon bald will der DWD eine

eigene App mit Gesundheits- und Wetterhinweisen herausbringen,

die 2030 zum sommerlichen Alltag

gehören werden wie Schlangen vor

den Eisdielen. Und für die Verwaltungen

werden professionelle

Hitzeaktionspläne entwickelt.

Neben dem Hitzewarnsystem

des Deutschen Wetterdienstes

gibt es schon heute ein europäisches

Hitzeinformationssystem

mit dem denkwürdigen Namen

„EuroHEAT“.

Prof. Andreas Matzarakis

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16 ZETT. JUNI 2020


FREIBURG 2030

Foto: Adobe Stock

Erneuerbare Energien sind – neben künstlicher Intelligenz –

gerade DAS Zukunftsthema schlechthin. Vorhersage-Studien

gibt es reichlich, so der „Energiewendeatlas 2030“ (Agentur

für Erneuerbare Energien), der „Europäische Energieatlas“ (Heinrich-Böll-Stiftung)

oder die „EWI-Analyse“ des Energiewirtschaftlichen

Instituts der Uni Köln.

Auch in Freiburg gibt es ausgewiesene Experten und Forscher

zum Thema. Professor Dr. Bruno Burger empfängt mich in der

Abteilung für „Neue Bauelemente und

Technologien für die Leistungselektronik“

am Freiburger Fraunhofer-Institut für Solare

Energiesysteme (ISE). Er ist zuständig für

Energie-Elektronik, -Netze und -Systeme.

Genau der richtige Mann für eine Prognose,

was uns im Jahr 2030 erwartet. Im Verlauf

des Gesprächs wird mir klar, dass Professor

Burger ein forscher Optimist ist, der meine Fragen gern aufgreift,

um zu plakatieren, was heute und morgen schon getan werden

kann, um die Dinge übermorgen in den Griff zu bekommen.

Burger blättert sein Bilderbuch der Zukunft Freiburgs im

Jahr 2030 auf: „Wir werden große Batteriespeicher

haben, aber auch dezentrale Speicher in

Kellern von Privathäusern, die vor allem

Sonnenstrom für sonnenscheinarme

Stunden vorhalten und zentral

gesteuert werden. Wir werden

alte und neue Dächer und

vor allem auch Fassaden

als Produktionsorte für

photovoltaischen Strom

erschließen.“

Und dann lässt

Burger gleich seinen

ersten Ballon platzen:

„Ein Netzknoten mit

einem großvolumigen

Batteriestromspeicher

wird in Fessenheim

stehen, am

Standort des früheren

Atomkraftwerks, und

hier wird in Kombination

mit dem Pumpspeicherwerk

am Schluchsee

grenzüberschreitend Strom

zwischengespeichert und

ausgetauscht. Weitere, kleinere

Fünf-Megawatt-Stromspeichereinheiten

werden in Containerbauweise

feuersicher in der Region verteilt sein.“

Das geht ja gut los – ist das schon Science

Fiction? Nein, Bruno Burger weiß genau, wovon er spricht.

Er beugt sich vor: „Es wird insgesamt mehr Güterverkehr auf

Schienen und weniger in der Schifffahrt geben. Hier am Rhein

wird es Wasserstofftankstellen für die Rheinschifffahrt geben.“

Und das alles schon 2030? „Wir werden zumindest auf einem

sichtbaren Weg dorthin sein“, prognostiziert Burger. Seine Kollegen

haben die vollständige Energiewende hin zu ausschließlich

erneuerbarem Strom bis 2050 mit einem Simulationsprogramm

durchgerechnet, sogar „im Stundentakt“.

Die Windenergie werde in und um Freiburg nicht maßgeblich

wachsen, meint Burger: „Viel Wind haben wir nicht. Dafür

wird es Gleichstromtrassen von den Offshore-Anlagen aus dem

Norden geben. Jetzt, im Jahr 2020, versucht die Politik zwar noch,

den Energiewende-Ball flach zu halten, aber 2030 wird das Geschichte

sein, weil sich bis dahin Bevölkerung und Wissenschaft

mit iher breiten Forderung der Energiewende gegen altbackene

Industrieinteressen durchgesetzt haben werden.“

So, Burger hat also auch die Rahmenbedingungen im Blick.

„Wir müssen bedenken, dass wir bei einer vollelektrischen Energieversorgung

für Strom, Wärme, Verkehr und Industrie den

zweieinhalb- bis dreifachen Strombedarf haben werden, weil

Erneuerbare Energien

FREIE DAUER-POWER

Kohle und Öl als Energieträger durch Strom ersetzt werden. Um

den zu decken, müssen wir aber nicht Wasserstoff aus Saudi-Arabien

importieren oder Stromtrassen bis in die Sahara verlegen.

Wir haben hier genug Sonne und Wind für unser Land.“

Und wie sieht es 2030 in Freiburg aus? „Vom

Flugplatz werden erste Elektrohubschrauber

starten. Das Ladesäulennetz für

Elektroautos wird sich in einem

rasanten Ausbau befinden, allein

in der Schlossberg-Garage

werden 100 Ladesäulen

installiert sein. Durch die

Elektroautos wird die

Luft sauberer und der

Verkehr wird leiser.

Es wird Batteriespeicher

geben für den

täglichen Stromlastenausgleich

und

ein großflächiges

Wachstum an Photovoltaikanlagen.

Neue Häuser

werden oftmals in

Holzbauweise erstellt,

um CO2 langfristig

zu binden. Und

das sind in meinen Augen

nur die Low Hanging Fruits

– die ersten wirtschaftlich

Sinn machenden Schritte auf

dem Weg zu einer 100-prozentigen

Versorgung mit erneuerbaren

Energien und erneuerbarem Wasserstoff

als saisonalem Speicher. “

Und was ist mit der Kernfusion, dem menschengemachten

Sonnenfeuer, an dem in Frankreich

und den USA mit Hochdruck

geforscht wird? „Auf die Kernfusion

können wir nicht warten. Sie ist

vor 2050 nicht einsatzbereit,

und bis dahin müssen wir die

Energiewende schon komplett

abgeschlossen haben. Das Klima

ändert sich rasend schnell.

Wir müssen heute reagieren

und dürfen nichts auf morgen

vertagen.“

Prof. Dr. Bruno Burger

ZETT. JUNI 2020

17


FREIBURG 2030

Es ist menschheitsgeschichtlich noch gar nicht so

lange her, da dudelten Musiker auf Instrumenten

wie der Rauschpfeife, dem Rankett, dem Cembalo

oder einem Violoncello herum. Und wer Musik

hören wollte, musste dorthin gehen, wo sie

gespielt wurde - es sei denn, ein Minnesänger

beschallte die eigene Kemenate mit

seinem analogen Schmachtstream.

Heute verfolgt uns die Musik in

der zivilisierten Welt bis in die letzten

Winkel, ob wir das wollen oder

nicht. Wobei: Meistens wollen wir.

Die mehr oder weniger melodischen

Tonfolgen quellen aus Handys, TV-

Screens und Bluetooth-Ohrstöpseln.

2030 wird alles Gewummere dieser

Welt überall und jederzeit verfügbar

sein. Und wer jemals wutschnaubend

in ein rhythmisch donnerschallendes

Kinderzimmer geeilt ist, mag vielleicht

kaum glauben, dass bereits die barocke

Ensemblemusik des siebzehnten

Jahrhunderts als ‚Generalbasszeitalter‘

bezeichnet wird - mein lieber

Herr Gesangsverein.

Wohin all das noch führen

könnte, darüber sprach das Kulturmagazin

ZETT. mit Tilo Buchholz (51),

Musiker in der Freiburger Band „the brothers“

einerseits – Pop-Beauftragter der Stadt

Freiburg per Halbtagsdeputat andererseits.

„Klar, CDs wird es auch 2030 noch geben“,

Allzeit bereit: Der

Hologramm-Gitarrist

aus der Dose beim

Wohnzimmerkonzert

anno 2030.

Leider werde der Musikunterricht an Schulen noch

mehr ins Hintertreffen geraten, mutmaßt Buchholz,

„am G8-Gymnasium allein schon aus Zeitgründen, aber

auch an Grundschulen“. Dafür werde Freiburg schon

vor 2030 einen Förderort für Popbands bekommen:

„Im Moment ist die Musikzentrale noch umstritten,

aber das Grundstück am Güterbahnhof ist da, und ein

Haus wird kommen.“

Denn die Not sei groß: „Es gibt heute schon einen

findigen Unternehmer, Michael Simon, der fünf verschiedene

Bandproberäume in Freiburg sowie weitere

in Konstanz, Karlsruhe und Basel wie in einer Art

Stundenhotel für

Musikmachende

vermietet.“ Und die

Klassik? Werde so schnell

nicht aussterben, meint Buchholz:

„Es gibt kein Land auf der Welt,

dass so viele Orchester, Opernhäuser und Theater

betreibt wie Deutschland. Das wird weniger, wenn

die alten Generationen aussterben, denn junge

Leute, die heute nicht in klassische Konzerte

gehen, gehen auch in zehn Jahren nicht. Aber

ganz so schnell stirbt unser kulturelles Erbe nicht

aus, dagegen spricht allein die Demographie.“

Dafür geht die Inflation der Musikstile

weiter. Dabei geht es weniger um Substanz

als um Namen. Tilo Buchholz: „1962 haben

die Decca Records die Beatles abgelehnt mit

Foto: Adobe Stock

Musik

DAS ENDE DER VINYLISATION

sagt Buchholz im Gespräch, „aber vielleicht eher

in der Art wie heute die alten Vinylplatten wieder

boomen – als Liebhaberstücke für Retrofans.“ Eine

neue Generation physischer Mobiltonträger wird es

nicht mehr geben. Unsere Standardquelle werden

Streamingdienste sein wie Spotify, Amazon Unlimited,

Apple Music, Google Play, Qobuz, Tidal, Deezer,

Napster, Youtube und Soundcloud, die uns eine hochqualitative

Beschallung jederzeit und überall anbieten werden, auch ortsungebunden

in Autos und G5-Kopfhörern.

Und wer wird die Musik verlegen? Buchholz: „Ich glaube,

dass es so kommen wird, dass Musikverlage und Marketingapparate

überflüssig sein werden. Die Mehrzahl der Bands

wird mit technisch hypermodernem, eigenen Studioequipment

selbst produzieren und sich selbst vermarkten, vor allem durch

Videostreams.“

Live-Musik auf Bühnen wird es auch in zehn Jahren noch

geben, prognostiziert Tilo Buchholz, „aber die Schere wird weiter

auseinander gehen: Wir werden mehr große Produktionen haben

und mehr Wohnzimmerkonzerte als Gegengewicht. Schon jetzt

teilt sich der Markt auf; Live Nation und Eventim kaufen alles

auf, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist“.

der Begründung, die Zeit der Gitarrenbands sei

vorbei. Da konnte auch kein Mensch Techno

vorhersehen. 2030 werden wir vor allem eine

tiefere Verästelung der Stile haben. Aber

viele echte, neue Musikstile wird es nicht

geben. Da kommen eher neu verquirlte

Retrowellen auf uns zu.“

Buchholz‘ Ausblick: „2030 wird die Zeit der musikproduzierenden

Gitarrenbands im Studio wirklich vorbei sein. Elektronische

Musik wird dominieren, die Gitarren kommen aus dem

Computer, und künstliche Intelligenzen

werden nach einprogrammierten

Erfolgsmustern Hits produzieren.

Aber es gibt eben nur zwölf Töne,

und die kann man nicht endlos

variieren. Neue Stile entstehen

mehr durch Ausdünnung und

Weglassen. Die minimalistische

Art, wie schon heute viele

Songs gemacht werden, kann

nicht mehr reduziert werden. Da

ist nicht mehr viel Luft nach unten.“

Tilo Buchholz

18 ZETT. APRIL 2020


FREIBURG 2030

Foto: Adobe Stock

Jetzt geht’s ans Eingemachte, ich treffe Mr. Energy persönlich:

Dr. Thorsten Radensleben, Chef des Energieversorgers

badenova. Wenn einer weiß, wie realistisch eine Energiewende

sein kann, dann er. Auf dem Weg in sein Büro zapft sich

Radensleben einen kohleschwarzen Espresso; wir sprechen

zunächst über die Energien menschlicher Körper und tauschen

uns über die Saisonleistungen des SC und EHC Freiburg aus.

Dann geht’s zu Sache.

Dass uns allen eine bedeutsame Energiewende bevorsteht,

ist für Thorsten Radensleben ausgemachte Sache – auch das

schon 2030 die Stärken einer dezentralen Energieversorgung

vermehrt genutzt werden. 2030 werden wir eine Gesetzgebung

haben, so Radensleben, die Photovoltaik auf neuen Hausdächern

dort, wo es sinnvoll sei, verbindlich zur Pflicht mache. Und dann

werde auch eine regenerative Nah- und Fernwärmeversorgung,

zum Beispiel durch Geothermie

und grünes, also umweltverträgliches Biogas, in

Freiburg eine Rolle spielen.

„Im Jahr 2030 werden wir speziell hier am

Oberrheingraben geothermische Kraftwerke haben,

die in weiterer Zukunft ein grünes Fernwärmenetz

möglich machen werden“, so der Experte.

„Und wir werden zentrale Energiespeicher in Form

von Großbatterieanlagen haben, in denen kleinere Solaranlagen

und Mini-Blockheizkraftwerke ihren überschüssigen Strom für

Zeiten des Bedarfs gegen Miete zwischenspeichern können.

Das wird viel günstiger sein als kleinere Batterieeinheiten in

einzelnen Gebäuden.“

Und es werde in zehn Jahren „keine Diskussionen mehr um

Windkraftanlagen im Schwarzwald“ geben – diese Anlagen

seien schlicht unabdingbar und würden 2030 in großer Zahl

umweltfreundlichen Strom liefern. Für viele Wirtschaftsfachleute

ist der entscheidende Faktor zugunsten einer Energiewende

ohnehin der, dass die ‚Grenzkosten‘ für die Ressourcen

Sonnen- und Windkraft bei null liegen, sprich: Sonne und Wind

scheinen beziehungsweise wehen kostenlos. Da geht es ‚nur‘

noch um Investitionen in Anlagen- und Netzausbau – allerdings

sind diese gewaltig.

Radensleben: „Es wird einen großangelegten Umbau der

Energiewirtschaft geben; auch die Nord-Süd-Trassen von den

Offshore-Windanlagen werden kommen. All das wird 2030 voll

im Gange sein.“ Hochintelligente Stromnetze, sogenannte ‚Smart

Grids‘, werden 2030 der neue Standard sein, „mit deutlich mehr

Kuppelpunkten für einen gesamteuropäischen Netzverbund.“

Tatsächlich dezentral werde die Stromerzeugung funktionieren,

aber „Algorithmen werden anstelle des Verbrauchers entscheiden,

wann am besten die Waschmaschine laufen oder die

Tiefkühltruhe mal für zwei Stunden abgeschaltet

wird. Der letztlich benötigte Strom

wird vom Netzbetreiber dann clever ausbalanciert gleich passgenau

mitgeliefert.“

Wow, das sind Aussichten. Im großen Ganzen stellt sich

Thorsten Radensleben derweil hinter eine Analyse des Energiewirtschaftlichen

Instituts (EWI) der Uni Köln. Der zufolge wird

Deutschland sein selbstgestecktes Ziel, bis 2030 insgesamt 65

Prozent des Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien abzudecken,

um 19 Prozentpunkte verfehlen – prognostiziert werden

46 Prozentpunkte. Grund ist unter anderem ein gesteigerter

Stromverbrauch durch Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen.

Auch einen starken Rückgang des Individualverkehrs in

Städten wie Freiburg sieht Radensleben 2030 noch nicht. „In

den urbanen Strukturen wird es 2030 nur einen kleinen Rückgang

geben. Das individuelle Verkehrsaufkommen wird hier in

Energieversorgung

HITZIGES RHEINTAL

Freiburg gleich bleiben, bei einer auf etwa 260.000 Menschen

angewachsenen Bevölkerung. Das ist dann nur ein relativer

Rückgang.“ Auf „zehn Prozent“ schätzt Radensleben den Anteil

elektromobiler Autos in Freiburg 2030.

Dafür werde Freiburg als grüne Stadt ganz Grundsätzliches

umsetzen: „Wir werden bis 2030 erkannt haben, dass jeder Euro

für den Klimaschutz zum Beispiel in Indien besser investiert sein

wird als hier bei uns. Das CO2-Problem macht nicht an einer

Gemarkungsgrenze halt. Es betrifft den gesamten Planeten,

und da gibt es auf dem Weg zur weltweiten Abkehr von fossilen

Brennstoffen weitaus größere Baustellen als hier bei uns.

Es wird uns rein gar nichts nützen, nur selber gut dazustehen.“

In Deutschland und Freiburg werde es „2030 eine CO2-Steuer

auf alles geben“, so Radensleben, „da bin ich mir sicher.“ Die

Industrien würden bis dahin noch lange nicht soweit umgebaut

sein, wie es eine entkarbonisierte, also nicht-fossile Energieerzeugung

erfordere: „Aber der Weg wird erkennbar sein.“

Eine intelligente Menschengesellschaft in einer nachhaltigen

Welt mit einem fusionierten Internet der Dinge, einem durch

künstliche Intelligenz gesteuerten Kommunikations-,

Energie- und Logistiknetz,

wird also 2030 noch lange

nicht umgesetzt, aber immerhin

im Aufbau begriffen sein und

somit wesentlich greifbarer als

2020.

Dr. Thorsten Radensleben

Produziert das Eugen-Keidel-Bad 2030 auch Strom aus Tiefenwärme -

wie hier das Geothermie-Kraftwerk im italienischen Bagnore?

ZETT. JUNI 2020

19


FREIBURG 2030

Darf man einen in strenge Hierarchien eingebundenen,

deutschen Beamten nach seinen berufsinhaltlichen Zukunftsvisionen

für das Jahr 2030 befragen und das dann

auch noch abdrucken? Freiburgs Leitender Polizeidirektor Uwe

Oldenburg, Sportler durch und durch, holt mich als ZETT.-Reporter

persönlich vier Treppen runter und rauf an der Pforte

des Polizeipräsidiums in der Bissierstraße ab. Und ja, man darf.

Polizei 2030

VON WEGEN HOVERBOARD

Oldenburg stammt aus dem südbadischen Schwörstadt bei

Rheinfelden und ist seit Anfang dieses Jahres Chef der Freiburger

Schutzpolizei. Davor leitete er die Verkehrspolizei, nachdem

ihm 20 Berufsjahre in der Landeshauptstadt Stuttgart vergönnt

waren. Der 56-jährige hat sich mit Notizen gut auf den Termin

vorbereitet – und ist dann doch überrascht. Scoring-Systeme

wie in China? Gated Communities wie in den USA? Und was

ist mit Predictive Policing?

Zugegeben, die Kino-unterfütterte Fantasie ist mit mir

durchgegangen. Immerhin, Hoverboards und Laserschwerter

lasse ich vorsorglich unerwähnt. Oldenburg bemüht sich derweil,

die restlichen Fesselballone an ihren lose hängenden Seilen auf

den Boden der Tatsachen zurückzukurbeln. Aber er bleibt keine

Antwort schuldig: „Ein Punkte-System für Wohlverhalten der

Bürger, wie das in China wohl geplant ist, wird es bei uns 2030

nicht geben. Unsere Werte wie Freiheit und Eigenverantwortung

werden dann sogar noch tragfähiger sein. Bestrafung für

mangelnde Systemkonformität wird es nicht geben.“

Oldenburg beißt sich weiter durch den Fragenkatalog:

„Privat bewachte Wohnhäuserviertel? Nein, das sehe ich nicht.

Das passt nicht zu uns hier in Deutschland. Und das zeitliche

und räumliche Vorhersagen künftiger Kriminalitätsdelikte

mithilfe künstlicher Intelligenz wird auch 2030 nicht in Gänze

tragfähig sein, weil sich Kriminelle eben auch in Zukunft trotz

Digitalisierung nicht logisch verhalten werden.“

Kameraüberwachung, Drogen, Identitätsdiebstahl, Biometrie?

„Na ja“, holt Uwe Oldenburg aus, „ich denke, dass wir

2030 nicht mehr Kameraüberwachung im öffentlichen Raum

haben werden, dafür aber technisch deutlich verbessert. Die

Bilder werden besser werden und Algorithmen werden helfen,

Verdachtsfälle zu erkennen. Ich denke,

Marihuana

wird auch 2030 nicht legalisiert sein. Aber es wird keine offene

Drogenszene bei uns in Freiburg geben. Online-Identitätsdiebstahl

und -betrug werden leider ein großes Thema sein, weil

sich sehr vieles, eben auch die Kriminalität, ins Netz verlagert.“

Der Polizeichef fährt fort: „Die vielen falschen Telefonpolizisten

werden bis 2030 ausgemerzt sein, weil bis dahin alle

potenziellen Opfer restlos aufgeklärt sind. Und Polizeistreifen

werden endlich

Ausweisdokumente,

sei es mit oder ohne

biometrische Daten,

mit portablen Geräten

checken können.“

Der Trend scheint

klar: Das Wettrüsten

zwischen Polizei und

Kriminellen hat sich

2030 endgültig ins

Internet verlagert. Aus Banküberfällen mit Geiselnahme sind

Online-Betrügereien mit Pizza und Cola vorm sirenenfernen PC

geworden. In Uwe Oldenburgs Worten: „Gewöhnliche Hauseinbrüche

werden zurückgehen. Und auch wenn wir nicht

wesentlich mehr Beamte haben werden, so wird es deutlich

mehr Fachspezialisten bei der Polizei geben, die häufig den

typischen Generalisten in Uniform ablösen werden. Denn die

Polizei wird mithalten und als Seismograph der Gesellschaft

2030 noch schneller, flexibler, länderübergreifender und spezialisierter

sein.“

Das ist mal ein Wort. Und im Straßenverkehr? „Wir werden

2030 Tempo 130 auf Autobahnen und 30 in zumeist verkehrsberuhigten

Innenstädten haben, weil sich die Erkenntnis

der Folgenschwere hoher Geschwindigkeiten in Gesellschaft

und Politik durchgesetzt haben wird. Telemetrie-Technik wird

beim Einhalten von Höchstgeschwindigkeiten und Sicherheitsabständen

assistieren.“

Was noch? Medien, DNA, Streifenwagen? Auch vor diesen

Themen drückt sich Oldenburg nicht: „Unsere Polizeipressestellen

werden 2030 noch sehr viel schneller arbeiten und zum

Beispiel eine Polizei-App bedienen, mit der Bürger auf Wunsch

wichtige Infos zeitnah aufs Handy bekommen und umgekert

Notrufe absetzen können. Eine umfassendere DNA-Analyse als

heute wird bei Schwerstdelikten im Einzelfall mit richterlicher

Bewilligung möglich sein.“

Wir sind fast durch mit den Fragen, und im Verlauf des Gesprächs

hat sich deutlich gezeigt: Uwe Oldenburg glaubt felsenfest

an die Vernunft des Menschens, an die der Gesellschaft und

der Politik. Wenn nicht heute, dann in zehn Jahren. Er glaubt zum

Beispiel daran, dass Alkoholkonsum im Jahr 2030 „wesentlich

selbstkontrollierter“ sein wird als 2020.

Nur bei den Streifenwagen ist zumindest

eines im Jahr 2030 noch

ganz beim Alten: „Die werden

nach wie vor vier Räder haben“,

grinst Oldenburg, „dafür aber

vollgestopft sein mit Hi-Tech.“

Schade – das mit dem Hoverboard

wäre einfach

zu schön gewesen.

Uwe Oldenburg

Foto: Adobe Stock

Cybercrime - Spion und Gegenspion auf der dunklen Seite des Internets

20 ZETT. JUNI 2020


FREIBURG 2030

Foto: Adobe Stock

Dr. Carsten Hutt ist studierter Politikwissenschaftler, Mitglied

im „Microeconomics of Competitiveness Affiliate

Network“ der Harvard Business School und Gründer mehrerer

Unternehmen. Als wacher Beobachter des Zeitgeschehens

hat er eine klare Vision von bundesdeutscher Politik im Jahr

2030: „Politik wird härter und bunter sein und sich verstärkt um

Grundsatzfragen drehen.“

In zehn Jahren würden sehr große ideologische Gegensätze

aufeinanderprallen, meint Hutt, und „die zunehmende Ausdifferenzierung

der Gesellschaft“ werde zu „einem größeren

Spektrum politischer Partikularinteressen“ führen: „Da werden

neue Strömungen auf der Bühne stehen, die wir heute noch gar

nicht auf dem Schirm haben.“ Und in den Grundsatzfragen der

2030er Jahre sieht Carsten Hutt vier große, politikbeherrschende

Themen: „Das werden der Klimawandel, die demographische

Entwicklung der Bevölkerung, Migration und der Innovationsdruck

auf Wirtschaft und Gesellschaft sein.“

Wir würden 2030 nicht mehr „von den Innovationen

unserer Mütter und Väter leben“ können,

wie dies noch im Jahr 2020 weitgehend der Fall

sei, meint Hutt. Daneben würden sich internetbasierte

Communities zu neuen Lebens- und

Arbeitsformen im realen Leben manifestieren,

sichtbar in einer deutlichen Zunahme von

Co-Working- und Co-Living-Spaces, die dann

starke Einflüsse auf die gesellschaftliche

Entwicklung haben „und auch in die

Politik reinschwappen werden“.

Wird es denn 2030 noch große

Volksparteien geben? „Die Frage

nach einer Volkspartei entscheidet

sich daran, ob es beherrschende

Themen gibt, die einer

Partei als Lösungsbringer

klar zugeordnet werden. Im

Moment sehe ich am ehesten,

dass die Grünen zu einer Volkspartei

werden, weil sie die Themen

Ökologie und Klimawandel am glaubhaftesten

vertreten und alle anderen

Themen darum herum mitorganisieren

können.“

Zudem sieht Hutt eine klare Trennung der

Gesellschaft in zwei unterschiedlich große und sich

jeweils ausdifferenzierte Blöcke voraus: „Die kleinere

Gruppe wird sich als Nationalstaatsbewahrer am Wertesystem

des vergangenen Jahrhunderts orientieren. Der größere Teil der

Gesellschaft wird jedoch vorwärtsgerichtet die großen Herausforderungen

mit neuen Lösungsansätzen angehen.“

Und die soziale Lage? „Die Ungleichheit in den Einkommen

wird bestehen bleiben, aber an Bedeutung verlieren“, so Hutt.

„Für die neuen Generationen geht es nicht mehr primär um den

Führerschein und ein hohes Einkommen, sondern um die Frage:

Welchen Sinn stifte ich mit meiner Tätigkeit?“ Hutt weiter: „Die

neuen Herausforderungen der Gesellschaft werden so viel Geld

brauchen, dass wir zwangsläufig unser Steuersystem anpassen

werden. Die großen Privat- und Unternehmensvermögen des

sehr reichen Teils unserer Gesellschaft werden mit einbezogen.

Entweder man findet einen solidarischeren Ansatz, oder wir

gehen unter. Da ist die Corona-Krise schon ein Anfang.“

Wie selbstverständlich sieht Carsten Hutt für das Jahr 2030

Online-Wahlen und eine deutliche Ausweitung digitaler Verwaltungsdienste

voraus – auch hier werde die Corona-Krise

„zusammen mit dem zuvor bereits bestehenden Innovationsdruck

einen Riesen-Schub geben“. Im politischen Personal verortet

Hutt für 2030 eine wachsende Anzahl parteiloser Akteure, „die

ihre Aufgaben wegarbeiten, ohne das große Rampenlicht zu

suchen.“ Daneben rückt, wie bereits in der Corona-Krise, die

Wissenschaft stärker in den politischen Fokus: „Probleme wie

Meeresspiegelanstieg, Wetterextreme, aber auch Migration

und Integration werden so grundlegend und drastisch sein,

dass wir beratenden wissenschaftlichen Sachverstand dringend

benötigen. Die Bürger werden das einfordern.“

Und was wird aus der Demokratie? Hutt: „Wenn Regierungsmodelle

drängende Probleme nicht lösen, werden sie unter Druck

geraten. Das demokratische System wird zwar Deutschland auch

2030 bestimmen. Aber die Tendenz der demokratisch legitimierten

Einschränkung persönlicher Freiheiten im vermeintlichen

Interesse aller wird sich fortsetzen. Der Staat wird sich noch

stärker einmischen zum Beispiel beim Erhalt strategisch wichtiger

Gesellschaft & Politik

DIE NEUE VERNUNFT

Wirtschaftszweige und

auf der individuellen Ebene beim Reisen, bei

Gesundheitsdaten, beim Rauchen oder beim Alkoholkonsum.“

Zum Thema Europa meint Carsten Hutt: „Der Brexit wird sich

als Nachteil für Großbritannien erweisen, ist aber gleichzeitig auch

ein heftiger Warnschuss, dass die EU als Bürokratiemonster wahrgenommen

wird. Die EU wird daraus lernen und sich 2030 erstarkt

um ihre Kernaufgaben Binnenmarkt,

Grenzsicherung, geregelte Migration,

gesamteuropäische Streitkräfte

und internationale Friedenssicherung

kümmern und sich aus

den unteren Ebenen zurückziehen,

weil sie das nicht kann und

weil es auch nicht akzeptiert

wird. Die EU wird dann sowohl

innerhalb Europas als auch international

als kompetenter Problemlöser

wahrgenommen werden.“

Dr. Carsten Hutt

ZETT. JUNI 2020

21


900 JAHRE STADTJUBILÄUM

Was wird aus dem Stadtjubiläum?

AUSGEBREMST

Abgesagt. Verschoben. Ausgebremst. Die Corona-Krise

hat das 900-jährige Stadtjubiläum aus dem Sattel geworfen

wie ein scheuendes Pferd. „Wir waren auf einem

Super-Weg“ erzählt Zeremonienmeister Holger Thiemann am

Telefon, „und dann das“. Von Mitte März bis Anfang September

wurden alle geplanten Veranstaltungen abgesagt; der Gemeinderat

soll am 30. Juni entscheiden, ob die Feierlichkeiten bis in

den Sommer 2021 verlängert und nachgeholt werden.

Not amused: Holger Thiemann

Die Münsterillumination, eine 900 Meter lange Mittsommernachtstafel,

das große Sommerfest vom 10. bis 14. Juli?

Alles Pustekuchen. Dennoch sagt Thiemann: „Wir langweilen

uns nicht.“ Als Chef des Planungskomitees hält er die Stellung

im Stadtjubiläumsbüro an der Günterstalstraße, beantwortet

Fragen, stimmt sich mit der Stadtverwaltung ab, improvisiert,

so gut es eben geht, während der Rest seines Teams zumeist

aus dem Homeoffice telefoniert und online arbeitet.

Das Freiburger Stadtjubiläum

wanderte vorerst in die Cloud ab.

Fotos: Arne Bicker

Vorerst haben eine Übersicht über Hilfs- und Liefermöglichkeiten

in Freiburg sowie digitale Kulturangebote auf der

Homepage „www.2020.freiburg.de“ das abgesagte Jubiläumsprogramm

abgelöst. Online-Lesungen und Kulturwettbewerbe

finden sich hier nun statt dessen, eine Videoführung durch die

Ausstellung „Gottlieb Theodor Hase – Freiburgs erster Fotograf“

oder Wohnzimmer-Video-Tanzkurse, in denen Fitness-Tanzlehrer

Ivam auffordert: „Zuhause kannst du richtig übertreiben!“.

Neuestes Projekt auf der Online-Seite des Stadtjubiläums

ist das „Stadtnetz Freiburg“, ein, so die Macher „digitaler Raum,

ein digitales Freiburg für Begegnung, Anregung, Kultur, Hilfe

und Kommunikation.“ Die Macher machen weiter.

Während die einen also in den eigenen vier Wänden mit artistischen

Rock-‘n‘-Roll-Figuren die Deckenbeleuchtung schreddern,

peilt Holger Thiemann vorsichtig die Erste Hälfte des Jahres 2021

als Nachholzeitraum an: „Ich denke, dass es die vielen Projekte

wert wären, gezeigt zu werden.“ Noch ist unsicher, ob, wie und

wann es mit dem Freiburger Stadtjubiläum weitergeht. Fest

steht wohl nur: Bei 900 Jahren kommt es auf ein paar Monate

mehr nicht an.

22 ZETT. JUNI 2020


900 JAHRE STADTJUBILÄUM

Rudolf Dischinger - Sitzende und liegende Puppen

Foto Bernhard Strauss

Ausste lung I Ausste lung I

2.04.2020–21.08.2020 8.10.2020– 29.01.2021

RUDOLF RIESTER PETER STAECHELIN

WALTER SCHELENZ VIOLA KEISER

JÜRGEN BRODWOLF HANS RATH

CHRISTOPH MECKEL PETER VOGEL

PETER DREHER FREYA RICHTER

RUDOLF DISCHINGER SABINE WANNENMACHER

KARL-HEINZ SCHERER THOMAS KITZINGER

BERND VÖLKLE BEATRICE ADLER

SUSI JUVAN STEFANIE GERHARDT

ARTUR STOLL SUSI JUVAN

CHRISTINE GERSTL-NAUBEREIT ANDREAS VON OW

HELGA MARTEN

60 JAHRE KUNSTPREIS

Phalanx der Preisträger

Kunstfreunde in Freiburg dürfen sich auf zwei aussergewöhnliche

Ausstellungsreihen im Rahmen des 900-Jahre-Stadtjubiläums

freuen: Die Reinhold-Schneider-Preisträger aus

der Sparte Bildende Kunst im sechzigjährigen Bestehen dieser

Auszeichnung sollen in den Räumen von Kunst-Koch (Hanferstraße

26 in Freiburg ) präsentiert werden.

Seit 1960 gibt es den „Reinhold-Schneider-Preis“ als offiziellen

Kulturpreis der Stadt Freiburg. Verliehen wird er in zweijährigem

Rhythmus abwechselnd in den Sparten Musik, Kunst und

Literatur. Daneben existieren Förderpreise und Stipendien. Der

1958 in Freiburg verstorbene Namensgeber Reinhold Schneider

war Schriftsteller und Gegner des Nationalsozialismus.

Nun werden von den Gewinnerinnen und Gewinnern aus

all den Jahren ausgewählte frühe Werke, insbesondere aus der

Zeit, als ihnen der Preis zugesprochen wurde, im Kontrast zu

aktuellen Arbeiten zeigen.

In der ersten Ausstellungsreihe, die vor der Corona-Krise bis

zum 21. August 2020 geplant war und sich nun verschieben wird,

finden sich Rudolf Riester, Walter Schelenz, Jürgen Brodwolf,

Christoph Meckel, Peter Dreher, Rudolf Dischinger, Karl-Heinz

Scherer, Bernd Völkle, Susi Juvan, Artur Stoll, Christine Gerstel-Naubereit

und Lotte Paepcke wieder.

Die zweite Ausstellungsreihe war zunächst vom 8. Oktober

2020 bis zum 29. Januar 2021 vorgesehen, mit Peter Staechelin,

Viola Kaiser, Hans Rath, Peter Vogel, Freya Richter, Sabine Wannenmacher,

Thomas Kitzinger, Beatrice Adler, Stefanie Gerhardt,

Susi Juvan, Andreas von Ow und Helga Marten.

Rudolf Riester - Fensterbild

Foto Nachlaß Rudolf Riester

Peter Vogel - Holzklang

Foto Nachlaß P. Vogel

ZETT. JUNI 2020

23


Chile

Bolivien

Indien

Mexiko

Im Gewand der Vielfalt

WELTENFRAUEN

Alles fing bei einem Freiburger Rahmentrommelfestival

vor elf Jahren an. Damals freundete

sich die Musikerfotografin Ellen Schmauss mit

einer Dame aus Indien an; deren Gewandwechsel

von der deutschen Alltagsgarderobe zur

leuchtend-blauen Heimatkleidung faszinierte

sie. Die Idee zur Fotoserie „Weltenfrauen“

entstand genau hier.

Seitdem lichtete die aus Biberach stammende

Berufsfotografin insgesamt 98 Frauen in

Freiburg, Köln, Mannheim und Ulm ab. „Ich

möchte damit die Vielfalt zeigen, die es in

Deutschland gibt“, so Schmauss. „Das sind

keineswegs Trachten, sondern vor allem heimatliche

Gewänder in Deutschland lebender

Frauen aus aller Welt.“ Ihre Wanderausstellung

„Weltenfrauen“ zeigte Ellen Schmauss unter

anderem im Rahmen des Freiburger Stadtjubiläums

in der Meckel-Halle.

www.ellenschmauss.de

24 ZETT. JUNI 2020


900 JAHRE STADTJUBILÄUM

Aus Geschichten, die das Leben

schreibt, kann manchmal wundervolle

Kunst entstehen. So

auch im Falle der Evelyn Höfs:

2012 war die Berliner Gymnasiallehrerin

ihrem Mann nach

Freiburg gefolgt. Beim Umzug

erlitt die Malerin eine Armverletzung,

von der sie sich jedoch

um keinen Preis der Welt von

der kunstsinnigen Erkundung

ihrer neuen Umgebung abhalten

lassen wollte. So begann

Höfs Szenen und Menschen in

Freiburger Cafés einhändig auf

ihre digitale und stets wiederverwertbare

Tablet-PC-Leinwand

zu bannen.

Die Methode war geboren.

In einer gezielten Aktion mit

Flyer-basierter Suche entstanden

in der Folge 51 Porträts von

Freiburger Studierenden, die

sie in einer Ausstellung unter

dem Titel „Gegenüber“ im Rahmen

des Stadtjubiläums zeigte.

Als Lohn für das Modelsitzen

gab es übrigens jeweils „ein

Frühstück und ein Gespräch

über Gott und die Welt“, so

Evelyn Höfs. Das kam an.

Auch wenn in den digital gemalten

Bildern manches Auge

ein wenig windschief aus der

Wäsche schaut, kippende Perspektiven

auf skizzenhaft-unperfekte

Beinpartien treffen,

meint Höfs: „Das sind für mich

keine Fehler. Ich will moderne

Menschen zeigen. Da gehören

Brüche einfach zum Leben

dazu.“

www.evelynhoefs.com

Die Tablett-Kunst der Evelyn Höfs

DIGITAL UNPERFEKT

ZETT. JUNI 2020

25


MEDIATHEKEN

3sat-Kulturzeit

GESCHMEIDIGST PRODUZIERT

Unsere tägliche Dosis

Kultur gebe uns heute,

oh Herr des Bewegtbildes,

und kredenze uns diese

bei Salzgestänge und kühlem

Trunke zur Tageszeit unserer

Wahl.

Wunsch? Gebet? Jedenfalls

ist nichts einfacher als das.

Denn in einem niemals vergriffenen

Nudelregal des Internets

wartet, wochentäglich frisch

befüllt, die „Kulturzeit“ – ein

40-minütiges TV-Magazin bei

„3sat“.

Täglich von Montag bis Freitag

nehmen sich die regen Macher

in Mainz kulturelle und

kulturpolitische Themen zur

Brust, mit einem meist ganz

schön schrägen Musikclip im

Abgang.

Davor: Kluge Interviews mit

Nele Pollatschek, Mourad Merzouki

oder Daniel Hope und das

Neueste von Handke bis Berlinale.

Reinklicken lohnt sich.

Eine von vier wöchentlich

wechselnden Moderatorinnen

und Moderatoren ist Vivian

Perkovic (Frontfrau seit 2017).

Als Moderatorin sei es doch

eigentlich ihr Job, Fragen zu

stellen, wandte Sie zunächst im

Telefonat mit dem ZETT.-Magazin

ein.

3sat.de/kultur/kulturzeit

26 ZETT. JUNI 2020

Anders als ARD und ZDF im Wochenrhythmus

produziert 3sat mit der „Kulturzeit“ eine

tägliche Kultursendung von Montag bis Freitag.

Ist das nicht ungemein stressig in einem Sujet,

das oft Entspanntheit, Zeit und ein Sich-Einlassen

einfordert?

Nicht die ganze Redaktion und alle Moderatorinnen

arbeiten von Montag bis Freitag jede

Woche an der Sendung. Wir Moderatorinnen

und Moderatoren wechseln uns wöchentlich

ab. Und die Redakteure und Reporterinnen

haben auch Zeit zu recherchieren, rauszugehen,

zu drehen und zu schneiden. Ein wundersames

Ding namens „Dienstplan“ regelt

das. Und dann spielen wir ja auch die besten

Beiträge, die ARD, ZDF, ORF und SRF aus Kultur

und Gesellschaftsdiskurs zu bieten haben. Die

suchen die Planer aus, aber machen sie nicht

selbst. Insofern bleibt genug Ruhe für fundierte

Kontemplation. Der tägliche Rhythmus ist aber

sogar gut, er hilft, an den Entwicklungen und

Themen dranzubleiben, selbst wenn man die

Sendung nur zu Hause guckt.

Auf welche Themen fährt Ihre Redaktion

ab – was lässt sie eher kalt?

Es gibt für jede Kultursparte glühende Verfechter:

Der Literatur-Papst, die Kino-Königin,

der Diskurs-Deuter. Und generell geht es ja eher

darum, wie man über ein Thema berichtet, als ob.

Warum berichten so viele seriöse Medien

zum Beispiel über das quotenheischende Dschungelcamp,

in dem es vor allem darum zu gehen

scheint, Aufmerksamkeit, Scham und Ekel zunächst

zu produzieren und dann Geld damit zu

verdienen?

Das müssen Sie diese Medien fragen. Aber

zu analysieren, warum das Dschungelcamp ja

offensichtlich Menschen in seinen Bann zieht,

was das über Medien und Menschen verrät – das

könnte ich mir auch in der Kulturzeit vorstellen.

In Freiburg feiern wir gerade – mehr oder

minder kulturbeseelt – eine 900-Jahre-Geburtstagsparty

an 365 Tagen für 230.000 Menschen

– hätte das Potenzial für ein Kulturzeit-Thema?

Wenn es darum ginge, wie die Geschichte

der Stadt heute erzählt wird, wo Menschen sie

bemerken, und was nicht so gern rausgestellt

wird – also wenn es um die allgemeinere Frage

ginge: Was macht Geschichte und auch die Ge-


MEDIATHEKEN

Taktgeberin in Kulturfragen:

Vivian Perkovic.

Foto: ZDF / Jana Kay

schichte einer Stadt mit denen, die dort wohnen,

oder zu Besuch kommen – wieso nicht?

Welchen Sinn haben kleine und kleinste

Kulturveranstaltungen, und was hat der sogenannte

Kulturbetrieb überhaupt mit dem

täglichen Leben zu tun – wo hört das eine auf

und fängt das andere an?

Kultur macht immer Sinn. Egal wie groß

oder klein. Bestenfalls gehört das, was im Buch,

auf Bildschirm und Bühne passiert zum Alltag

dazu. Ist doch schön, wenn man eine Figur in

sein eigenes Leben mitnimmt. Und sich beim

Busfahren ausdenkt, wie es mit ihr wohl weitergeht.

Und was das Verhalten dieser Figur

über uns alle verrät.

Wir blicken in diesem ZETT.-Printmagazin

auch in die Zukunft, ins Jahr 2030 – wie wird

es dem Kulturbetrieb dann gehen? Drohen uns

Einschränkungen und Ausgrenzungen durch eine

rechtslastigere Politik?

Da geht es nicht um Kultur, sondern um

alles. Wir müssen aufpassen und rechte Ideologien

bloßstellen, uns vielleicht auch eigenen

Vorurteilen stellen. Nach dem Terroranschlag in

Hanau hätte ich mir zum Beispiel gewünscht,

dass nicht von „Fremdenfeindlichkeit“ die Rede

ist, sondern von Terrorismus. Denn die meisten

Opfer lebten schon lange in Deutschland und

einige hatten auch einen deutschen Pass. Die

schweigende Mehrheit positioniert sich onund

offline zu wenig gegen Rechts. Ich hätte

mir gewünscht, dass mehr Menschen auf die

Straße gehen, sich mit den Familien der Opfer

solidarisieren. Es gab zwar am Tag nach dem

Anschlag einige Mahnwachen, das Echo insgesamt

auf die Tat hätte aber lauter und schärfer

sein müssen. Kultur kann helfen, zu vermitteln,

zusammenzubringen, Vorurteile abzubauen

oder zu reflektieren – aber an Rechts muss die

ganze Gesellschaft ran. Vom Kultur-Onkel bis

zur KfZ-Mechatronikerin.

Welches Buch hat sie zuletzt schwer beeindruckt,

welches Bild hängt in Ihrem Büro über

dem Schreibtisch, und welche CD hören Sie gerade

am liebsten?

Buch - Primo Levi, das ist gerade als Hörbuch

erschienen, sehr gut gelesen von Alexander

Fehling. In der Woche als ich es gehört habe,

war gerade der 75. Jahrestag der Befreiung von

Auschwitz. Primo Levi beschreibt das Grauen,

das Menschliche, das Erbärmliche so, dass es

sich in Leib und Seele einprägt. Mehr verstanden,

was Auschwitz war, habe ich nie. Im Büro habe

ich an vier Wänden Glasscheiben. Ich bemühe

mich für die anderen Kollegen, in den Bürostuhl

versunken, ein möglichst gutes Bild abzugeben.

CD: Little Simz, eine Spitzen-Rapperin aus London;

introspektiver Rap in geschmeidigster Produktion.

Julia Jentsch als Astrid in

„24 Wochen“

Foto: ZDF / Friede Clausz

Fünf starke Frauen

MODERNE HELDINNEN

Alissa Jung als Judith in

„Das Menschenmögliche“

Foto: ZDF / Daniel Schmid

Maryam Zaree als Pelin in

„Abgebrannt“

Foto: ZDF / Jens Mackeldey

Idil Üner als Saniye in

„Saniyes Lust“

Foto: ZDF / Richard Hübner

Jella Haase als Leila in

„Looping“

Foto: ZDF / Jieun Yi

Mit der Reihe „Moderne Heldinnen“ zeigt das ZDF in seiner

Mediathek (zdf.de) im Rahmen des ‚Kleinen Fernsehspiels‘ fünf

Filme von Frauen über Frauen: „24 WOCHEN“ von Anne Zohra

Berrached, „Das Menschenmögliche“ von Eva Wolf, „Abgebrannt“

von Verena S. Freytag, „Saniyes Lust“ von Sülbiye Güna sowie

„Looping“ von Leonie Krippendorff.

Im Mittelpunkt stehen eine Kabarettistin, die ein zweites Kind

mit Trisomie 21 erwartet, eine Assistenzärztin, die einen Fehler

macht, eine Hartz-IV-Empfängerin, die schwarz als Tätowiererin

arbeitet, eine junge, emanzipierte Frau mit türkischen Wurzeln

zwischen Familie und Karriere und eine 19-Jährige, die in der Psychiatrie

landet und dort ungewöhnliche Freundschaften knüpft.

ZETT. JUNI 2020

27


FOTOGRAFIE

Fotografie

KLEINE BRÖTCHEN

Caroline Kross

Ulrich von Kirchbach

Abgesagt, verlegt, verschoben, neuer Zeitpunkt ungewiss – der Sprachduktus der Corona-Krise

ist uns inzwischen vertraut. Eigentlich, tja, eigentlich wollten wir an dieser Stelle über

eine Fotoausstellung berichten, die in Freiburg vom 2. Bis 10. Mai stattfinden sollte. Einführende

Worte wollten Freiburgs Erster Bürgermeister Ulrich von Kirchbach und die Verlegerin des Kulturmagazins

ZETT., Caroline Kross, als Medienpartner der Ausstellung sprechen.

Statt dessen backen die Macher vorerst im Homekitchen kleine Brötchen und einen duftenden

Pustekuchen, versprechen aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Die Ausstellung

soll zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden. Wann, das verrät, wenn es soweit ist, die

homepage „visionfreiburg.de“. Hier also statt konkreter Ankündigung ein bebilderter Ausblick:

Neun Freiburger Fotografinnen und Fotografen zeigen demnächst in Fritz‘ Galerie und Biergarten,

Bahnweg 4 in Freiburg, ihre verschiedenen Sichtweisen auf das weibliche Geschlecht.

Die Ausstellung ist ein Projekt des Freiburger 900-Jahre-Stadtjubiläums.

Jenseits von Feminismus, MeToo-Debatte, reiner Porträtarbeit oder oberflächlicher Ästhetik

fokussieren die durchweg künstlerischen Fotografien insgesamt 36 sehr subjektive Blicke auf

Alltag, Träume, Stärken, Visionen und Leiden der einen Hälfte unserer Gesellschaft. Das Menschsein

steht jederzeit im Mittelpunkt.

Zu sehen sind ausnahmslos starke Frauen ohne überhöhende Mission aus verschiedensten

Blickwinkeln. Jede Fotografin und jeder Fotograf präsentiert vier Bilder. Diese vier und drei weitere

Bilder werden in einem vom Zypresse Verlag gesponsorten Katalog zu sehen sein. Auf den

folgenden Seiten stellen wir hier im Kulturmagazin ZETT. die Fotografinnen und Fotografen mit

jeweils einer Arbeit vor.

www.visionfreiburg.de

Eine städtische Oase:

Fritz‘ Galerie und Biergarten

im Freiburger Bahnweg 4

28 ZETT. JUNI 2020


FOTOGRAFIE

Jutta Panke lebte in Berlin und

hatte gerade promoviert, als

eine Inspiration sie zur Fotografin

werden ließ. Bei ihrer

Arbeit gibt sie sich seither ganz

der sie umgebenden Energie

und ihrem intuitiven Gespür

hin. Ihre Motive fand sie zunächst

in der Natur und in den

unscheinbaren Erscheinungen

des Alltagslebens in der Großstadt.

Mit den Jahren kam die

Faszination für menschliche

Porträts hinzu, der sie, inzwischen

in Freiburg lebend, mit

einer wesens- und seelennahen

Wahrnehmung nachgeht.

www.juttapanke.de

Michaela Kindle, geboren und

aufgewachsen in Freiburg, zog

Mitte der Neunziger in die USA,

wo sie ein Studium der Fotografie

absolvierte. Die heute

wieder in Freiburg lebende

Foto-Künstlerin hat ihre Leidenschaft

fürs „Composing“

während ihrer Zeit in Los Angeles

und London entdeckt - ihr

Fokus liegt auf der fotografischen

Inszenierung. Mit ihren

surreal anmutenden Motiven

entwirft sie eine Bildwelt, die

irgendwo zwischen Traum und

Märchen in einem poetischen

Wunderland angesiedelt ist.

Hier ihre Arbeit „Red Dot“ (Vier

Künstlerinnen in ihrer Welt).

www.kindle-photography.de

ZETT. JUNI 2020

29


FOTOGRAFIE

Dorothee Himpele ist gebürtige

Freiburgerin, diplomierte

Kunsttherapeutin sowie Video-,

Foto- und Installationskünstlerin.

Ihre Fotografien aus

der Reihe „ich muss (noch an

mir) arbeiten“ richten ihren

Fokus auf die Anforderungen,

denen Frauen durch von außen

an sie herangetragene Definitionen

von Weiblichkeit gegenüberstehen.

Ihre befremdlich

zusammengestellten Arrangements

verknüpfen Dokumentarisches

mit Fiktivem

zu einer Rebellion des Inneren

gegen eine meist viel zu

glatte Oberfläche. Hier ihr Bild

„Weiter Flur“.

www.dorothee-himpele.de

Yasemin Aus dem Kahmen ist

gebürtige Berlinerin, lebt seit

2002 in Freiburg. Sie ist die

Frau hinter dem Label MINZ&-

KUNST, eine selbstbewusste

und kämpferische Künstlerin,

voller unbändiger Neugier. Dabei

bleibt sie auch in feministisch-politisch-provozierenden

Arbeiten stets einfühlsam für

das Individuum vor wie hinter

der Kamera und stellt jene

Schönheiten heraus, welche sie

bei ihren Motiven entdeckt. Der

Geist, die Stimmung ihrer Bilder

ist multimedial, interaktiv,

und immer voller Leidenschaft,

durch sensible Portraits, intime

Einblicke und revolutionäre Momente

- so wie hier: „Early Bird“.

www.minzundkunst.com

30 ZETT. JUNI 2020


FOTOGRAFIE

Janine Machiedo fotografiert

äußerst ungewöhnliche Selbstporträts.

Die freischaffende Fine-Art-Fotografin

aus Freiburg

erzählt in ihren Konzeptfotografien

surreal-skurrile, märchenhafte

und manchmal ironische

Geschichten – immer

mit einem visuellen Anklang an

vergangene Tage. Hier zeigt sie

ihr Bild „Bad Day For Goldie“.

www.janine-machiedo.de

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ZETT. JUNI 2020

31


FOTOGRAFIE

Horst Sobotta stammt aus dem

schleswig-holsteinischen Glüsing.

Er lebt und arbeitet seit

1985 in Freiburg. Sobotta ist

ein Wandler zwischen den Epochen,

zwischen analoger und

digitaler Fotografie, zwischen

Licht, Moment und Abbild. Und

nach Jahrzehnten der Fotografie

hat er eine neue Berufung

gefunden: Horst Sobotta resümiert

und rekapituliert, ergänzt

und transferiert frühere Arbeiten

– um sie erneut abzubilden.

So auch hier: „reconstruction

5“.

www.horst-sobotta.de

Piotr Iwicki, geboren in Gdynia

(Polen), lebt und arbeitet in

Freiburg. Iwicki nutzt die Mittel

einer digital konstruierten Fotografie,

um seine Gedanken

und seine subjektiven Betrachtungen

fotografisch abzubilden.

Seine Bilder verströmen

aus der scheinbaren Ruhe und

Abstraktion eines fotografisch

anmutenden Bildkonstrukts

eine lauernde, lautlose und

überbordende Eindringlichkeit.

Hier zu sehen sein Bild „YOUNG

GIRL“ (2016) aus der Serie RE-

SIDUAL HEAT / RESTWÄRME.

www.iwicki.com

32 ZETT. JUNI 2020


FOTOGRAFIE

Jan Deichner wurde im tschechischen

Liberec geboren, kam

aber als Dreijähriger schon

nach Freiburg, wo er aufwuchs

und nach Zwischenstationen in

Mailand und Hamburg heute

wieder lebt und arbeitet. Betätigungsfelder

des überzeugten

Analogfotografen sind Porträts,

Reportagen, Magazinarbeiten,

Inklusionsprojekte und

Werbefotografie. Im künstlerischen

Bereich sucht Deichner

mit Vorliebe nach „Energien,

Halbheiten, Unschärfe und

Zwischenwelten“ - hier in seiner

Arbeit „SCHANZE“.

www.deichner.de

Arne Bicker ist freier Journalist

in Freiburg, Redaktionsleiter

bei „ZETT. - Das Kulturmagazin

für Freiburg“ sowie beim

Fußballmagazin „Anpfiff“

(beide Zypresse-Verlag) und

Bundesliga-Live-Reporter für

Radio Regenbogen. Neben

seinem Schwerpunkt der journalistischen

Reportagefotografie

entstehen gelegentlich

künstlerische Bilder, die stets

Geschichten von den Widrigkeiten

des Lebens in den Blick

nehmen. Hier das Bild „An einem

Montag im November“.

www.abicker.de

ZETT. JUNI 2020

33


FOTOGRAFIE

REGENTANZ

34 ZETT. JUNI 2020


Thomas Temmer ist ein Lichtmaler, ein Tüftler

und Ausprobierer, einfach einer, der es wissen

will. Im Hauptberuf Polizist in Freiburg, begibt

sich der Kenzinger im Nebenjob als Fotograf auf

eine permanente Suche nach Neuland und gibt

seine Erfahrungen auch in Workshops weiter.

Die erotische Fotografie hat es ihm angetan,

wobei die Ästhetik perfekt arrangierter Körperformen

nicht immer weitgehender Nacktheit

bedarf, wie dieses Bild mit dem Titel „BE A BEAT“

zeigt. Temmer hat eine Gruppe von Tänzerinnen

und Tänzern der Freiburger Hip-Hop-Formation

„Dope Skit“ in Szene gesetzt und mithilfe

einer freiwilligen Feuerwehr beregnen lassen.

Und so scheint hier einfach alles in Bewegung

zu sein, obwohl wir nur einen eingefrorenen

Sekundenbruchteil auf dem Strahl der Zeit

sehen. „Spiegelschlag“ nennt Thomas Temmer

sein Arbeiten, abgeleitet vom typischen „Klack“

des zurückschnellenden Spiegels im Reflexkameragehäuse.

www.spiegelschlag.eu

ZETT. JUNI 2020

35


FOTOGRAFIE

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36 ZETT. JUNI 2020


FOTOGRAFIE

Prima Prisma

DREISAMTORTEN

„Dreisam-Dreams“ nennt Dr. Peter Gerdes

(57) sein Fotoprojekt. Der gelernte Fließgewässerökologe

aus Bremen lebt seit 2012 im neuen

Beruf als Lebenshilfe-Coach in Freiburg, direkt

an der Dreisam, und hat sich fotografische Porträts

der Freiburger „Lebensader“ zur Aufgabe

gemacht. So hält Gerdes Tiere an und in der

Dreisam fest, aber auch Menschen, die er als

„Homo Dreisamiens“ bezeichnet. Seine wohl

spannendsten Bilder sind Nahaufnahmen vom

Flussgrund mit Sonnenreflexen im Wasser, die

er als visuelle Tortenstücke verzwölffacht und

zu kaleidoskopartigen, farbenfohen „Flusskreisen“

verknüpft. Gerdes: „Ich bin da jeden Tag

– die Bilder sind meine Liebeserklärung an die

Dreisam.“ www.dreisam-dreams.de

ZETT. JUNI 2020

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BÜCHER

Foto: Janine Machiedo

38 ZETT. JUNI 2020


BÜCHER

SCHÖNE GESCHICHTEN

Foto: Arne Bicker

Lesen für umsonst: Dieses oft unterschätzte und doch stets

greifbare Vergnügen bietet die Freiburger Stadtbibliothek mit

ihren vier Standorten am Münsterplatz 17, in der Staudingerschule

in Haslach, in der Falkenbergstraße 21 in Mooswald und

im Rieselfeld (Maria-von-Rudloff-Platz 2).

Im Kulturmagazin ZETT. empfehlen Bibliothekarinnen und Bibliothekare

neuere Bücher im Bestand der Freiburger Stadtbücherei

als besonders lesenswert (in Klammern die Standnummer). Unser

Foto zeigt Ludger Albrecht, Leiter der Filiale Haslach.

www.stadtbibliothek.freiburg.de

Ludger Albrecht empfiehlt: „Kevin Kwan – Crazy Rich Asians“ (Zba Kwan)

Kevin Kwan, Amerikaner, aber selbst Nachkomme asiatischer Vorfahren, schildert in diesem Buch die schillernde

Welt der Neu- und Superreichen in Singapur und China. Für einen unvoreingenommenen Leser wie

mich war es erfrischend amüsant und ein stetes Staunen über eine faszinierende asiatische Parallelwelt, von

deren Existenz ich keinerlei Ahnung hatte. Dort braucht man natürlich für seinen Ferrari einen Auto-Aufzug

bis in die Penthouse-Wohnung im 10. Stock und fliegt mit dem Privatjet mal eben einen Tag zum Einkaufen

von Luxusgütern aller Art nach Paris, London und New York. Das Innenleben dieser „Familien“ gibt jedoch

Einblick, wie menschlich die Protagonisten trotzdem sind. Konflikte, Streit, Eifersucht und Langeweile sind

hier nicht weniger an der Tagesordnung als bei allen anderen Menschen. Geld alleine macht eben doch nicht

glücklich! Flüssig und humoristisch geschrieben, aber ohne viel Tiefgang, eine Gesellschaftskritik, die wie ein

schlechter Nachgeschmack daher kommt, trotzdem auch mit dem zum Teil brillanten Witz einer Realsatire.

Esther Kuschke-Rösch empfiehlt: „Wolfgang Joop – Die einzig mögliche Zeit“ (Ryk Joop)

Auch wenn man mit Mode nichts am Hut hat, ist dieses Buch sehr lesenswert. Wolfgang Joop schreibt über

seine Kindheit in Bornstedt bei Potsdam, damals in der Nachkriegszeit der DDR, auf einem Bauernhof, umringt

von Frauen. Sein Vater kam aus dem Krieg, als er acht Jahre alt war und hat ihn zur Begrüßung erst einmal

mit einer Gardinenstange misshandelt. Die Familie zieht nach Braunschweig, für den Jungen die Vertreibung

aus dem Paradies. Nun pendelt er räumlich und emotional zwischen Ost und West – die Sommerferien verbringt

er immer im Osten. Sehr offen beschreibt er seine Jugend, erste Erfahrungen, seine erste Liebe und sein

junges Familienleben in Hamburg. Über verschlungene Wege kommt er in die Modebranche, besucht Paris,

lernt Karl Lagerfeld kennen und lebt jahrelang in New York. Nach dem Tod seiner Mutter kehrt er zurück nach

Bornstedt, in seine Heimat. Der Autor analysiert sich und sein Leben sehr ehrlich und bildreich, spannend und

zutiefst menschlich. Ein außergewöhnliches Leben in einer deutsch-deutschen Zeit.

Ann-Katrin Tuerke empfiehlt: „Fernando Aramburu – Langsame Jahre“ (Zba Aram)

Der achtjährige Txiki verbringt seine Kindheit und Jugend bei der Familie seiner Tante im Arbeiterviertel San

Sebastian. Eingebettet in die Jahre der Franco-Ära und den Kampf der ETA schildert der Ich-Erzähler in der

Retrospektive seine Alltagsbeobachtungen dem Autor Fernando Aramburu. Dieser lebte selbst im Viertel, war

aber zum Zeitpunkt der Erzählung noch sehr jung und verstand viele Zusammenhänge noch nicht. Zwischen

den Berichten des Ich-Erzählers fügt der Autor Notate ein, in denen er Beobachtungen und Notizen einbringt,

die später in den Roman einfließen sollen. Mich hat „Langsame Jahre“ auf zweifache Weise fasziniert: Einmal

die authentische, lebendige Schilderung baskischer Verhältnisse Ende der sechziger, Anfang der siebziger

Jahre; zum anderen der kunstvolle Perspektivenwechsel zwischen Autor und Erzähler, das Spiel mit persönlichem

Erleben und ihrer Umsetzung in einen Roman.

Ulrike Kraß empfiehlt: „Volker Weidermann – Das Duell“ (Pyk Gras)

Der Literaturkritiker und Fernsehmoderator Volker Weidermann erzählt in einer Doppelbiographie die

Geschichte von Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass, deren Jugend unterschiedlicher nicht hätte sein

können. Der eine als Jude verfolgt im Dritten Reich, der andere Mitglied der Waffen-SS. Der eine wird Autor

und Nobelpreisträger, der andere der wichtigste Kritiker Deutschlands. „Zwei Tanker. Zwei Kämpfer. Machtbewusst.

Selbstbewusst“ (S. 241). In diesem Spannungsfeld bleiben die beiden ihr Leben lang in Respekt und

gleichzeitig enormer Rivalität intensiv verbunden. Was sie teilen, ist die gemeinsame Überzeugung von der

großen Kraft der Literatur.

ZETT. JUNI 2020

39


BÜCHER

Helen Duppé

WEISSE RIESEN

KURZGESCHICHTE

Ich spiele Basketball mit ein

paar überdimensionalen Typen

Ich stand am Rande eines Tals, das so geformt war wie eine

riesige Halfpipe. Links und rechts von mir erhoben sich steile Felswände

in die Höhe. Ich ließ meinen Blick schweifen. Ich musste

die Augen zusammenkneifen, bis ich die grüne Markierung zwei

Kilometer weiter entdeckte. Sie zog sich von der einen Felswand

bis zur anderen. Ich drehte mich um. In ungefähr der gleichen

Entfernung lag auch eine grüne Linie. Verwundert wanderte

mein Blick nach oben. Und tatsächlich. Basketballkörbe, so

groß wie ein Haus, waren in einer unerreichbaren Höhe an der

Felswand angebracht. Ich wusste nicht, wie viele Fragezeichen

gerade in meinem Kopf herumschwirrten. Nie und nimmer

würden die Spieler dieses Feld überqueren können, ohne total

erschöpft anzukommen. Und wie konnten die Spieler überhaupt

die Körbe erreichen? Ich wusste nur eins: Das hier war nicht

normal – nichts davon.

Ich dachte noch einmal an den Manager, der mir den Posten

als aktueller Trainer für die Mannschaft Weiße Riesen abgetreten

hatte und an das Einwilligungsformular. Er hatte nicht gesagt,

dass das Spielfeld so groß sein würde, er hatte lediglich gesagt,

dass sie im Bärental trainierten. Ich hatte dabei an ein normales

Basketballspielfeld gedacht, aber doch nicht an so was! Eins

ohne Rasen – also kein Fußballfeld. Ich seufzte… Ich hatte keine

Ahnung, was das sollte, und fand es echt nicht lustig, dass mich

dieser Mann schlichtweg hintergangen hatte. Ich brauchte

diesen Job – ich brauchte das Geld. Ich wollte nicht noch einmal

arbeitslos sein!

Plötzlich erklang Johlen und Gelächter von den Bergen rechts

von mir. Ich sah, dass an manchen Stellen der Schnee von den

Bergspitzen abbröckelte und spürte, wie ein leichtes Vibrieren

durch den Boden fuhr. Ich sah ab und zu etwas Weißes aufblitzen,

dachte aber, dass ich mich wohl getäuscht haben musste.

Und dann kamen sie. Menschen oder Schneemänner – keine

Ahnung – so groß wie Hochhäuser, stampften auf das Feld, das,

wie ich jetzt begriff, wie ein ganz normales Spielfeld für sie sein

musste – vielleicht sogar ein bisschen zu klein. Hastig zog ich

den Vertrag heraus und las mir diesen einen Satz noch einmal

gründlich durch: Hiermit willigen Sie ein, den Posten als aktueller

Trainer der Weißen Riesen anzunehmen. Ich schlug mir gegen

den Kopf. Mann, war ich dumm! Ich hatte immer gedacht, dass

die Mannschaft so hieß, nicht aber, dass sie wirklich weiße Riesen

40 ZETT. JUNI 2020


waren. Als der Mann mir gesagt hatte, dass schon viele Trainer

gekündigt hatten, hatte ich einfach gedacht, dass die Mannschaft

ein Problem hatte. Jetzt aber ging mir auf, dass die Trainer ein

Problem gehabt hatten. Und zwar ein Großes: Sie waren zu

klein – viel zu klein. Wahrscheinlich hatten sie für die Riesen

nur wie Fliegen gewirkt, die man nicht einmal Summen hörte.

Ich stolperte zurück, als sich ein weißer Fuß so groß wie ein

Auto neben mir absetzte. Der Riese beugte sich hinab. Schnee

bröckelte von ihm ab und fiel schwer auf mich herunter. Sein

riesiges Mondgesicht wurde von einem breiten Grinsen geziert,

als er mich belustigt von oben herab musterte. „Noch so einer“,

teilte er seinen Kollegen mit, die sich nach seinen Worten

enttäuscht auf den Boden setzten. „Er zittert sogar noch mehr

als die anderen.“ Er streckte seinen weißen Zeigefinger aus

und piekste mich hart in die Brust. Alle Luft wurde aus

meinen Lungen gepresst und ich wurde mindestens

zwei Meter nach hinten geworfen. Es fühlte sich so an,

als hätte mich soeben ein Rammbock getroffen. Kurz

lag ich benommen auf dem Boden und hörte das

abfällige Lachen meiner großen Mannschaft nur

wie durch ein Kissen. Doch nachdem der Schmerz

leicht abgeflaut war, richtete ich mich mühsam

auf und rief den Riesen zu: „Hey, ich bin euer

Trainer. Ihr hört auf mich.“ Der Riese, der mich

umgeschubst hatte, runzelte seine Stirn und

fragte ironisch: „Tut mir leid, was hast du

gesagt?“ Seine Freunde brüllten vor Lachen,

sodass die Felswände wackelten.

„Ich bin euer Trainer!“, schrie ich sie an.

Der Riese nickte, so als ob er einer dummen

Behauptung eines Kindes zustimmte, nur

damit es Ruhe gab. Seine Freunde warfen sich

jetzt auf den Boden. Ihr Gelächter brachte die

Bäume zum Zittern… Und dann hörte ich ein

Krachen. Erst dachte ich, dass einer der Bäume

umgefallen war, doch als ich meinen Blick hob,

flog ein riesiger Felsklotz herunter. Wie in Zeitlupe

sah ich, wie einer der Riesen nach oben zeigte und

alle anderen ihre Münder dümmlich öffneten und

ein nebelhornartiges Geräusch sich ihren Kehlen

entrang… Dann krachte der Stein auf die Finger meines

Streitgegners. Er heulte laut auf und nahm vorsichtig

seinen Stumpen wieder hoch. Zwar wuchs seine Hand

schnell wieder nach, doch ich wettete, dass es trotzdem

sehr wehgetan hatte. Die Überreste seiner alten Hand waren

als Schneehaufen unter dem Felsstück vergraben.

Die anderen Riesen sahen mich ehrfürchtig an. „Warst du

das?“, fragte einer von ihnen mit vor Schreck geweiteten Augen.

Erst legte ich den Kopf schief

und sah ihn erstaunt an, doch

dann sah ich meine Chance, ihr

Vertrauen zu gewinnen, oder

besser ihren Respekt, und mein

Gesichtsausdruck wechselte

von Erstaunen zu überlegener

Gelassenheit. „Natürlich

war ich das“, sagte ich lässig

und hatte meine Augen halb

geschlossen. „Und wenn ihr

mich noch einmal ärgert, mach

ich das nochmal!“ Ich hatte

mich gegen den Felsbrocken

gelehnt und selbst ich konnte

hören, dass meine Stimme

Sie liest rund 60 Bücher pro Jahr, hat selbst schon unzählige

Kurzgeschichten und Gedichte sowie ein Fantasy-Roman-Manuskript

verfasst, in dem den Menschen der Wind

geklaut wird – Helen Duppé (14) besucht die achte Klasse im

Freiburger Kepler-Gymnasium und hat den jüngsten Jugendschreibwettbewerb

des Literaturhaus‘ Freiburg gewonnen.

„Weiße Riesen“ war das Thema. Ältere Zeitgenossen denken

dabei vielleicht an Waschmittel. Nicht so die junge Autorin,

die sich ein klein wenig darüber ärgerte, nicht den fünften

Platz belegt zu haben, weil sie dann einen Büchergutschein

erhalten hätte. So gab es diverse Bade- und andere Gutscheine,

aber eben keinen für weiteres Lesefutter. Dabei ist Helen

so lesehungrig, dass sie auch unser jüngstes ZETT.-Magazin

verschlang. Hier ihre Gewinner-Kurzgeschichte.

BÜCHER

vor schlechter Lügerei nur so triefte. Der Riese zog kurz seine

Augenbrauen misstrauisch zusammen, entspannte sich jedoch

gleich wieder, als ob ich, falls er an mir zweifelte, noch einen

Brocken auf sie niederbrettern lassen würde. „Der ist anders“,

sagte er seinen Freunden.

„Noch nicht bemerkt?“, murmelte ich leise zu mir selbst.

„Okay“, ich hob meine Stimme, um die Ohren meiner Mannschaft

zu erreichen. „Habt ihr einen Ball, weil meiner…“ Ich ließ

den Satz unbeendet und nahm meinen Basketball aus dem

Ballnetz, das ich neben mir abgelegt hatte. Für mich war er genau

richtig, aber für die Riesen… Naja. Einer von meinen weißen

Schützlingen nickte beschwichtigend und zog einen riesigen

Ball, so groß wie ein Lieferwagen, hinter seinem Rücken hervor.

„Wir haben schon vorgesorgt, falls wir wieder einen so

kleinen Trainer haben… Nichts gegen dich!“, sagte er

schnell. Ich nickte knapp. „Also gut“, rief ich. „Bildet zwei

Mannschaften und spielt eine Partie. Ich korrigiere euch

wenn nötig.“ Meine Mannschaft gehorchte und die, die

noch saßen, standen schnell auf und teilten sich in

zwei Gruppen auf.

Alles in allem waren sie eigentlich eine gute

Mannschaft. Ich hatte allerdings ein paar Probleme.

Erstens: Wenn ich pfiff, um einen von ihnen zu

verbessern, spielten sie einfach weiter. Ich wusste

jetzt, dass ich nächstes Mal ein Nebelhorn oder eine

Feuersirene mitnehmen sollte. Zweitens wäre ich

schon mindestens zweimal fast von dem Basketball

zermatscht worden, hätte ich nicht noch in

letzter Sekunde einen 20 Meter Sprint hingelegt.

Und drittens rieselte dauernd Schnee von meinen

Sportlern herunter und ich musste mich mehr als

einmal aus einem ganzen Haufen freikämpfen.

Irgendwann gab ich es auf, die ganze Zeit hin

und her zu laufen und so ging ich mit schnellen

Schritten – mit ab und an einem oder zwei Schlenkern,

um dem Ball zu entgehen – auf einen der Riesen zu und

klammerte mich an seinen großen Zeh. Ich hing eine

Weile an seinem Fuß, bis ich endlich bemerkt wurde.

Als er mich erkannte, nahm er mich beim T-Shirt, hob

mich hoch und setzte mich auf seine Hand.

„Okay“, brüllte ich, sodass auch wirklich jeder

mich hörte. „Ich weiß nicht, wie lange ich dort unten

rumgeschrien hab, aber das ist jetzt zu Ende. Ich werde

jetzt immer bei einem von euch auf der Schulter

sitzen und von dort rufen, damit ich auch ja nicht

ignoriert werde, okay?“ Die Riesen nickten.

„Du da“, ich zeigte dem, auf dessen Handrücken

ich gerade stand, mitten ins Gesicht. „Wie

heißt du?“

„Jonuk.“

„Ja, du trägst mich.“ Ich

stapfte seinen Arm hoch und

auf seine Schulter. Ich verbesserte

die Riesen mal hier, mal

dort. Jeder hörte und respektierte

mich. Und ich glaubte,

dass ich damit auch der Erste

war. Über irgendwelche Spiele

und Meisterschaften machte

ich mir im Moment keine Sorgen.

Ich war einfach nur glücklich,

einen Job zu haben und

eine Mannschaft, mit der ich

mich verstand.

ZETT. JUNI 2020

41


BÜCHER

Philipp Multhaupt

DER SEILTÄNZER

Foto: Foto Konrad Lenz

von Astrid Ogbeiwi

Kultige Locations, Texte in schneller Folge, Lesebühnen-Literatur,

die vor Publikum ‚funktionieren‘ muss, ohrenbetäubenden

Lärm bei der Applaus-Abstimmung – das sind

Poetry Slams. Vielleicht mehr Slam als Poetry eben. Der Freiburger

Philipp Multhaupt ist hier zuhause, obwohl er als junger Autor

diese Szene eher mit leisen Tönen erobert, also: Wenig Slam,

aber sehr viel Poetry.

Im ‚richtigen‘ Leben ist Multhaupt Anglist und als Literaturwissenschaftler

im Promotionsprogramm der Universität

Freiburg mit dem Projekt „Auf der Kante zwischen Literatur- und

Übersetzungswissenschaft“ beschäftigt. Er selbst bezeichnete sich

mal als „unbekümmerter Phantast“ – der Autor als literarischer

Seiltänzer zwischen Fantasie und Wirklichkeit.

Philipp Multhaupts Helden sind vergessene Träumer in einer

erstarrten Gesellschaft. Zwischen Luftschlössern und Irrlichtern

suchen sie ihren Weg – und finden ihn, weil sie getrieben

sind von Melancholie, Sehnsucht und Neugier. Etwa ‚Professor

Felizius‘ aus der Geschichte „Die letzte Seite“ in Multhaupts

erstem Erzählband „Herrn Murmelsams Fieberträume“ (2014).

Eines Tages reißt der aus all seinen Büchern jeweils die letzte

Seite heraus: „Gleich nach dem Frühstück fing er damit an, und

es dauerte bis zum Abend, denn unter den zahllosen Bänden,

die in den zahlreichen Regalen seiner Bibliothek standen, fand

er nicht einen, der keine letzte Seite hatte.“

Hochzufrieden verstaut der Protagonist schließlich den

Stapel mit den herausgerissenen Seiten „in einem großen Paket,

das er am nächsten Morgen auf die Post trug, um es an

einen Herrn Jalisbund in Tamaristan zu verschicken, über den

er neulich eine Geschichte gelesen hatte, und den es vielleicht

gar nicht gab. Aber dem Professor hatte der Name gefallen und

außerdem brachte er es nicht übers Herz, die herausgerissenen

Seiten wegzuwerfen oder gar zu verbrennen. Behalten konnte

er sie freilich auch nicht, und da schien ihm das Paket an Herrn

Jalisbund die eleganteste Lösung zu sein.“

Mit leisen, verträumten Tönen wie diesen, die dennoch nie die

Bodenhaftung verlieren, hat sich Philipp Multhaupt gleich dreimal

in Folge für die Baden-Württembergischen Landesmeisterschaften

im Poetry Slam qualifiziert. Und seine Bücher erscheinen in einem

Verlag, der in der Slam-Szene recht bekannt ist: Periplaneta ist

ein kleines, trotziges, unabhängiges Verlagshaus in Berlin mit

mit einem hohen Qualitätsanspruch, das zugleich breit aufgestellt

ist und auch über ein Produktionsstudio für die eigenen

Hörbücher verfügt und eigene Veranstaltungsreihen auflegt.

Multhaupts 2016 erschienene Novelle „Über die Erhabenheit

toter Katzen und das Umwerben trauriger Mädchen“ über den

„vierzehn-oder-so“-jährigen Jan und seine Sehnsucht nach einer

„schrecklich traurigen Freundin“, die sich plötzlich zu erfüllen

scheint, gehört neben Tschingis Aitmatows „Djamila“ und Navid

Kermanis „Große Liebe“ wohl zu den schönsten Erzählungen

über die erste Liebe überhaupt.

Nach dem Erzählband „Herrn Murmelsams Trinklieder“ von

2019 wird noch in diesem Sommer ein neuer Roman von Philipp

Multhaupt erscheinen, der sich nichts Geringeres als „die Rettung

der Welt“ vorgenommen hat. Durch verschiedene Lebensphasen

hindurch hat sich der Autor während des Schreibens mehrfach

verändert, so berichtet es Multhaupt selbst am Telefon. Der

anfängliche Idealismus wurde hinterfragt, dann gebrochen, und

auch die fantastischen Elemente, welche die „Murmelsam“-Bücher

und auch hier und da die „Katzen“ kennzeichnen, werden

nun sparsamer dosiert. Der neue Roman wird „ein bisschen in

eine andere Richtung“ gehen, verspricht der Dichter – ein echter

Multhaupt soll es allemal bleiben.

Dass der neue Roman noch keinen endgültigen Titel hat, liegt

an rechtlichen Fragen, weil der ursprünglich vorgesehene Titel

bereits vergeben ist. Dass der Erscheinungstermin noch lange

offen bleibt, liegt hingegen an der Corona-Krise. Aufgrund der

geschlossenen Buchhandlungen mussten Bestellungen storniert

werden, und Nachbestellungen bleiben aus. Der Buchgroßhandel

42 ZETT. JUNI 2020


ist inzwischen sogar dazu übergegangen, Neuerscheinungen

gar nicht mehr zu listen. Gerade unabhängige Verlage belastet

dies schwer. Und wo noch Mittel vorhanden sind, verzögern sich

Erscheinungstermine, weil Druckereien Kurzarbeit anmelden

mussten.

Auch die Zukunft der ge ra de

hier im Südwesten besonders lebendigen

Poetry-Slam-Szene ist

ungewiss. Viele Veranstaltungen

können nicht mehr stattfinden,

so auch die elften Baden-Württembergischen

Meisterschaften

im Poetry Slam, die vom

14. bis 16. Mai in Ludwigsburg

vorgesehen waren. Dass der

ganze Kulturbetrieb zum Stillstand

kommt, bereitet auch

Philipp Multhaupt große

Sorgen. Er selbst kann sich

zwar durch seine Tätigkeit

an der Universität und als

freier Journalist über Wasser

halten. Wenn aber nun die finanziellen Ressourcen vieler Veranstalter

wegbrechen, wird es sie dann nach Corona noch geben?

Werden Förderprogramme aufrechterhalten werden können?

Wie würden Multhaupts Figuren mit dieser Situation umgehen?

Vielleicht so wie der bereits erwähnte Professor Felizius?

Nachdem dieser sorgfältig die letzte Seite aus allen seinen Büchern

herausgerissen hat, liest er die, die er noch nicht kennt.

Den Ausgang einer Geschichte zu erfahren, dazu bleibt ihm nun

nur noch eine Möglichkeit: Er, dessen ganzes Leben sich bisher

Die Bücher von Philipp Multhaupt sind lieferbar, komme, was da wolle,

zum Beispiel vor Ort durch die Buchhandlung Ihres Vertrauens oder

direkt beim Verlag unter „www.periplaneta.com/shop“.

BÜCHER

am Schreibtisch, im Lesesaal oder an der Universität abgespielt

hat, muss es selbst ausprobieren.

Zunächst verpflanzt er nachts heimlich kleine Bäumchen

im Park, doch keine Behörde entdeckt und bestraft ihn, denn

„um solche Absonderlichkeiten wie wandernde Bäume zu bemerken,

sahen die Menschen

einfach nicht genau genug

hin.“ Zufrieden schreibt er

seine eigene letzte Seite der

Geschichte. Dann überlegt er

kurz und nimmt ein neues Buch

aus dem Regal. „Der gläserne

Regenmantel hieß es. Eine Liebesgeschichte.

[…] Der Professor,

der sich nicht mehr wie einer

fühlte, nahm in seinem Sessel

Platz, schlug die Liebesgeschichte

auf und begann zu lesen.“

Weil Literatur ja nicht nur aus

dem Leben anderer erzählt, sondern

oft auch ins Leben ihrer Leserinnen

und Leser eingreift,

schreiben wir nun unser eigenes Ende dieses Artikels: Philipp

Multhaupts neues Buch wird erscheinen – wieder bei Periplaneta,

Titel: „Herr Freytag und Miss Kafka retten die Welt: Eine

Heißluftballonräubergeschichte mit Schaf“ – und sein Autor

wird auch wieder live zu erleben sein, in Freiburg zum Beispiel

am 2. Juli um 19:30 Uhr auf dem Kirchplatz in Herdern als einer

von neun Autoren bei „9 Autor*innen, 9 Geschichten, 9 Minuten:

Die Herdermer Sommer-Lesung zum Freiburger Stadtjubiläum“

und sicher auch wieder beim Slam 46 in der Theaterbar.

ZETT_S+P_quer.indd 1 15.05.20 12:24 ZETT. JUNI 2020 43


BÜCHER

Wein-Crime

Was ist ein Weinkrimi? Definieren wir es mal so: Ein Buch, in

dem zumindest so manche Figur nichts zu lachen hat. Denn

im Breisgau, in der Ortenau, am Kaiserstuhl, am Bodensee und

im Markgräflerland werden nicht nur Trauben, sondern auch

Habgier, Eifersucht und Mordlust von der Sonne verwöhnt. All

das verleiht dem blutrot leuchtenden Burgunder im Glas des

geneigten Lesers ein Bouquet, das die Spürnase weitet und das

Gehirn kitzelt. 20 Autorinnen und Autoren servieren, herausgegeben

von Anne Grießer, aus dem ach so malerischen Südbaden

23 schwarzhumorige Geschichten, die es in sich haben. Ob

Breisgau-Psycho, Prinzessinnengeflüster, Winzer in der Wanne

oder Cuvée à trois – diese Weinprobe ist prädikatsverdächtig,

keine Frage, unterhält aufs Vorzüglichste und muss sich vor

keiner Polizeikontrolle fürchten.

Anne Grießer (Hrsg.) // Mörderisch im Abgang

Wellhöfer Verlag • 250 Seiten • 12,95 Euro

Tempelgänger

Eine Frau unternimmt mit dem betagten, aber sehr belesenen

Vater ihre alljährliche Kultur-Gruppenreise. Die Motive könnten

dabei nicht unterschiedlicher sein: Der Vater will sein angelesenes

Wissen mit visuellen Eindrücken vor Ort abgleichen; die

Tochter möchte dem Vater assistieren und gewinnt dabei eher

beiläufig selbst Reiseeindrücke, auch von der Dynamik der elfköpfigen

Reisegruppe. Im fiktiven asiatischen Zielland Kirthan

verschwindet dann plötzlich der ebenso kluge wie geduldsame

Reiseleiter – und sowieso ist in dem autoritären Land kaum

etwas wie erwartet.

Die in Freiburg lebende Autorin Annette Pehnt schickt mit „Alles

was Sie sehen ist neu“ einen ruhigen Fluss an Worten auf die

Reise. Dieser ist angefüllt mit sich langsam einschleichenden

Überraschungen und ebensolchem Humor - eine fesselnde

Nahbetrachtung der Ferne, gerade auch für jene Leserinnen

und Leser, die sich noch nie selbst den Fährnissen einer Studiosus-Exkursion

an die Brust geworfen haben.

Annette Pehnt // Alles was Sie sehen ist neu

Piper Verlag, München • 190 Seiten • 18 Euro

Widerstand

Südbaden Mitte der 1970er-Jahre. In Wyhl am Kaiserstuhl soll

ein Atomkraftwerk gebaut werden. Hannelore und ihr Mann

Karl sind entsetzt. Gemeinsam mit ihrer Nichte Klara, Studentin

in Freiburg, schließen sie sich dem Widerstand an. Bald sind

Familien und das ganze Dorf in Befürworter und Gegner gespalten.

Winzer und Bauern fürchten um ihre Existenzgrundlage

und ihre Heimat. Als der Bau ohne Rücksicht auf ausstehende

Gerichtsentscheidungen beginnt, bleibt den protestierenden

Kaiserstühlern nur ein letztes Mittel: die Bauplatzbesetzung.

Basierend auf Zeitzeugenberichten vermittelt die Freiburger

Autorin Julia Heinecke in ihrem dritten Roman eindrücklich,

wie die politische Stimmung damals kippte und einen gesellschaftlichen

Umbruch einläutete.

Julia Heinecke // Kalter Nebel. Widerstand am Kaiserstuhl

Badischer Landwirtschafts-Verlag • 304 Seiten • 15,80 Euro

44 ZETT. JUNI 2020


BÜCHER

Die Freiburgerin Ulrike Halbe-Bauer beschreibt zwei starke Frauen:

Claire, 1939 geboren, überlebt Krieg und Nachkriegszeit bei

liebevollen Tanten im Elsass. 1949 holt die Mutter, Sängerin am

Stadttheater Oberhausen, das Kind ins Ruhrgebiet zurück. Claire

fühlt sich fremd in der Enge der Adenauerzeit und zwischen

sich bekämpfenden Eltern. Als Jugendliche wird sie schwanger

und fliegt zuhause raus. In Köln lernt sie 1964 bei einem

Chansonauftritt Theo kennen. Zwei Kinder werden geboren,

doch dann politisiert sich Claire und zieht in eine Kommune.

1975 lernt sie in Freiburg die sechzehnjährige Pilar kennen,

Kind von spanischen Gastarbeitern, die in der Kindergruppe

der selbstverwalteten Kulturfabrik an der Habsburgerstraße

unbezahlt aushilft. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich

eine zwiespältige Freundschaft, die Pilar bis zu Claires Tod im

Jahr 2007 in Atem hält.

Ulrike Halbe-Bauer // Claire

Wellhöfer Verlag • 300 Seiten • 14,95 Euro

Im Zwiespalt

Hätte jemand Marc Buhl an einem Mast festgebunden, so

wäre das Buch „Neapel oder das Schweigen der Sirene“ wohl

nie erschienen. Aber auch nur dann nicht. Wie Odysseus begibt

sich der Autor auf große Fahrt in eine Stadt, die für ihn wie eine

ganze Welt ist. Ein sehr alter, gedruckter Reiseführer aus dem

Jahr 1911 ist Magnet und Anker zugleich für Expeditionen in die

drittgrößte Metropole Italiens.

Im Schatten des Vesuvs taucht der Autor ab in eine Stadt der

Unterwelt und in die Unterwelt der Stadt. „Neapel sehen und

sterben…“ dichtete einst Goethe über das Häusermeer am

Tyrrhenischen Meer – besser nicht, denkt sich Marc Buhl, man

verpasse sonst zu viel, vielleicht sogar die ganz große Liebe. Der

gebürtige Sindelfinger arbeitete als Journalist und ist heute

Schriftsteller und Lehrer am Droste-Hülshoff-Gymnasium in

Freiburg. Der Humanist genießt – und schreibt.

Marc Buhl // Neapel oder das Schweigen der Sirene

Corso Verlag • 192 Seiten • 24,90 Euro

Nah am Vulkan

Das „Lexikon der Doppelwörter“ entblättert Sprachkunst und

Kunstsprache von Ausnahmegenehmigung über Mundraub

und Halsabschneider bis zu Industriezweig und Nagelprobe.

Still und leise ziehen diese semantischen Doppelagenten ihre

Kreise durch unsere Sprache, verlieren sich im Genuschel der

Andeutungen und im Irrwitz der Desinformationskataster. Es

wurde Zeit, dass hier Licht ins Dunkel kommt: Manuela Fuelle

erledigt das für uns. Die Autorin beleuchtet ausgetretene

Sprachtrampelpfade und fördert Wahrheitstugenden zu Tage.

Ein Handbuch als Inspirationsquell für Wortschöpfer, Stahl- und

Bedenkenträger. Esra Woites Buchstabengrafiken geben den

lexikalischen Sprachschätzen einen illustren Rahmen.

Manuela Fuelle // Lexikon der Doppelwörter

Derk Janßen Verlag • 150 Seiten • 18 Euro

Doppelagenten

ZETT. JUNI 2020

45


SATIRE

Lebenshilfe

GUTER RAT FÜR 19,90

das „(fast)“ in Klammern? Und dieser Dame soll ich mich restlos

anvertrauen, obwohl ich doch selbst voller Zweifel bin, welches

Buch ich kaufen soll? Nein, das wohl auch eher nicht.

Jetzt bin ich misstrauisch. Ich hätte den erstbesten Ratgeber

kaufen sollen und Zack! Den mit den alten Schuhen. Aber nein,

das habe ich jetzt davon. Wäre ich doch nur selbstbewusster.

Aber dann stünde ich nicht hier. „Hausbau mit Bauträger – Das

Bauherren Handbuch: Fallstricke vermeiden, souverän auftreten

und mit Leichtigkeit zum Eigenheim“ klingt verlockend, aber

geht das auch ganz ohne Geld?

Ergänzend dazu: „Ich glaube, der

Fliesenleger ist tot! Ein lustiges Baubuch.“

Oder. „Du bist genug: Vom Mut,

glücklich zu sein“ – ist das nicht grammatikalisch

anfechtbar? „Du musst nicht

von allen gemocht werden: Vom Mut,

sich nicht zu verbiegen“ – oh, da kenne

ich viele, die das schon können, mein

Nachbar zum Beispiel, und ganz viele

Rad- und Autofahrer hier in Freiburg.

Ob die das alle gelesen haben?

Vor lauter Nachdenken über diese Frage lege ich die beiden

Titel „Das Leben ist zu kurz für später: Ein Gedankenexperiment,

das dein Leben verändern wird“ und „Hör auf ein totes Pferd zu

reiten: Werde zum Meister der Veränderung“ wieder weg, ohne

mich ernsthaft damit zu befassen. „Abenteuer Vertrauen – Vollkommen,

aber nicht perfekt – Was Menschen von Hunden lernen

können“ – das könnte doch passen? Aber vollkommen unperfekt

bin ich eigentlich schon.

„Lass Konfetti für dich regnen: Sei glücklich, nicht perfekt!“

Was für ein wuchtiger Titel! Wenn ich, sagen wir an der Straßenvon

Tom Teuffel

Läuft Ihr Leben so richtig rund – oder gibt es in dem einen

oder anderen Teilbereich vielleicht Renovierungsbedarf? Von

der Selbstoptimierung bis zum Teilreboot des Ich: Gedruckte

Lebensratgeber versprechen Anleitungen und Erfolgsrezepte zur

positiven Selbstbeauftragung.

Die freundliche Dame am Infoschalter der Buchhandlung

kämpft um mich: „Lebensratgeber? Was meinen Sie damit?

Ratgeber für Hobbys und Garten haben wir im ersten Stock.“

Nein, Lebensratgeber, mehr so allgemein. Jetzt ist auch Mitleid

in ihrem Blick. „Dann im zweiten Stock.“ Dass sie mir nicht hinterherruft

‚Gute Besserung!‘ spricht für

ihre Selbstdisziplin.

Ich trete ans Regal. Hier, leuchtend

gelber Umschlag: „Raus aus den alten

Schuhen! So gibst du deinem Leben

eine neue Richtung“. Zur Sicherheit ist

gleich ein Foto des Autors mit auf dem

Titel: Denkerpose, Hand am Kinn, und

er lächelt, milde, nein, schelmisch. ‚Der

freut sich auf meine Kohle‘, denke ich.

Nee, so nicht.

Oder hier: „Das kann weg! – Loslassen – Aufräumen – Freiräume

schaffen“. Aber Aufräumen, Wegschmeißen, und dafür gleich

ein ganzes Buch? Um die Zeit totzuschlagen bis der Sperrmüll

kommt? Und habe ich beim Kauf nicht in jedem Fall gleich mal

noch ein Besitztum mehr? Ist das nicht kontraproduktiv? Ich übe

schon mal vor und trenne mich von dem Gedanken an dieses Buch.

Jetzt aber: „Das Kind in dir muss Heimat finden. Der Schlüssel

zur Lösung (fast) aller Probleme“. Inhaltlich allumfassend. Alle

Ratgeber in Einem. Doch ich höre mich seufzen. Die Autorin scheinen

schwerste Selbstzweifel zu plagen. Warum sonst schreibt sie

46 ZETT. JUNI 2020


SATIRE

bahnhaltestelle, selbst Konfetti über mich werfe – ob die mich

dann wegsperren? Wegen Umweltverschmutzung, Aszendent

Wahnvorstellung?

„Sei glücklich, nicht perfekt: Wie ich aufgehört habe, mich

ständig verbessern zu wollen, und angefangen habe, zu leben“.

Das stammt von einer Fitness-Youtuberin, die erst mal alle mit

Videos überzeugen wollte, es ihr nachzutun, und die nun die

gleichen oder andere Menschen schriftlich berät, wie sie „die

Schattenseiten ihrer verbissenen Selbstoptimierung“ wie „Essstörungen,

Anabolikamissbrauch und Fitnesssucht“ hinter sich

lassen können. Wendepunkt bei der Autorin war laut Buchbeschreibung

ein psychischer Zusammenbruch – sehr authentisch.

Und hier, noch so ein Hammer: „Der perfekte Augenblick:

Leben mit mehr Glück, Erfolg und Stärke“. Endlich mal einer,

der im Hier und Jetzt nicht künstlich unperfekt sein will! „Der

Unternehmer und prominente Investor des VOX-Formats

‚Die Höhle der Löwen‘ war Stuntman, brach Weltrekorde

als Bungeejumper und macht mit seinem Unternehmen

Umsätze in Millionenhöhe. Ob beim Fallschirmspringen,

Fassadenklettern oder meditativen Yoga: Er weiß

aus Erfahrung, wie wichtig es ist, in jedem Moment

achtsam zu sein.“ Ach, es geht um Achtsamkeit

beim Fassadenklettern. Nee, das ist nichts für mich.

Beim Fassadenklettern kann ich nicht auch noch lesen.

Es ist ungemein schwer, ein passendes Ratgeberbuch

herauszufischen aus dieser Flut. Jedenfalls scheint das

Ratgeberbuch-Schreiben lukrativ zu sein. Vielleicht sollte

ich selbst eins schreiben? Oder am besten gleich zwei,

mit denen ich auch die jeweilige Gegenposition gleich

mit abdecke? Ich sitze im Café und mache mir Notizen.

Also, mein erster Ratgeber könnte heißen: „Durchblick

durch Ordnung – Warum eine gute Planung das Leben so

leicht macht“ Der zweite Ratgeber könnte dann heißen: „Lass

das Chaos in dir zu – Lebensfreude lässt sich nicht erzwingen“.

Oder ich verdichte beide Sichtweisen gleich zu nur einem Titel:

„Lass das Chaos los – Warum keine Ordnung auch keinen Sinn

macht“. Oder so. Mir schwirrt der Kopf. Das wird nichts, lieber

wieder zurück an die Regale.

Hier: „Der geile Scheiß vom Glücklichsein: Wie man das Glück

nicht sucht und trotzdem findet“. Sind da 200 leere Seiten drin?

Nicht suchen mit Anleitung, wie soll das gehen? Und wie nur

hat mich dieses Buch gefunden? Hat das etwas zu bedeuten?

Schnell weiter: „Charisma Mensch: Das revolutionäre 6 Wochen

Programm für magische Ausstrahlung und eine Körpersprache

der Königsklasse“. Mir fällt selbst noch ein Titel ein: „Sechs muss

man nicht ausschreiben – einfach mal machen.“ Guuut.

Inzwischen bin ich bei den seichten Romanen gestrandet.

Aber klar, das verständnisvolle Ratgeber-Sachbuch grenzt

natürlich an den heiteren Zeitgeist-Roman. „Wenn Schmetterlinge

Loopings fliegen“ und „Morgen mach ich

bessere Fehler“, „Es muss ja nicht perfekt sein“ oder

„Meistens kommt es anders, wenn man denkt“.

Hm. Dann doch lieber zurück zu den Ratgebern.

„Die Gaben der Unvollkommenheit – Lass los,

was du glaubst sein zu müssen und umarme, was

du bist“. Na also, es geht doch. Klingt gleich schon

viel einfühlsamer als so ein lustlos dahingerotzter

Roman ohne liebevoll ergänzenden Subtitel. Das kaufe

ich. Vielleicht. Aber zunächst mal werde ich zuhause

vor dem Spiegel üben, zu umarmen, was ich zu sein

glauben könnte, würde ich mit einer Körpersprache

der Königsklasse beim Fassadenklettern auf einem

(fast) toten Pferd äußerst achtsam bessere Fehler machen.

„Paaralyse“ (KK-Cartoon Edition,

104 S, 18,90 Euro) ist ein Bilderbuch

für alle Gummipärchen,

bei denen die Liebe das Gedächtnis

lähmt: Die Beteiligten stehen

sich nicht nur gegenseitig auf den

Füßen, sondern auch längerfristig

im Weg. So wird die Beziehung

schnell zur Paarodie, in der Sex

und Heiraten nur noch vergessene

Basics sind. Merke: Amor Stein und

Eisen bricht!

Karlitzkyesk

FREI UND AMTLICH

„Schwarze Momente“ (KK-Cartoon Edition, 116 S, 18,90

Euro) schildert eine Welt zwischen Da-geht-noch-was- und

Alles-wird-gut-Attitüde, in der der tägliche Wahnsinn nur

noch mit abgrundtiefem und himmelhochjauchzendem

Humor zu ertragen ist. Wer bei diesem Buch Selbst-Mords-

Hunger bekommt, sollte indes nicht über Los gehen,

sondern das Ganze mit seinem Arzt oder Therapeuten

besprechen oder mit diesem gemeinsam die Seiten

durchblättern. Denn nur hier pocht der schwarze Humor

in quietschfidelen Aquarellfarben.

Der Freiamter Cartoonist Klaus

Karlitzky hat wieder zugeschlagen:

Frei und amtlich

legt der für seine spitze Feder

und scharfe Zunge bekannte

Zeichner gleich zwei nagelneue

Blätterwälder vor – was soll

man auch machen, wenn die

Themen nur so übersprudeln?

ZETT. JUNI 2020

47


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48 ZETT. JUNI 2020


KUNST

Foto: Arne Bicker

Kunst aus Recycling

DER WEISSBLECHKÖNIG

Heinz Soucek ist ein Tausendsassa. Der Mann aus dem tschechischen

Prachatice, unweit vom bayerischen Deggendorf, hat

in seinem Leben schon als Bäcker, Marinekoch, Küchenchef,

Perückenvermarkter und Versicherungsinspektor gearbeitet.

Da klingt es fast wie eine Zwangsläufigkeit, dass er heute und

seit nunmehr 25 Jahren Künstler ist.

Seit 1968 lebt Soucek in Freiburg. Das Freiburger Münster

hat es ihm in besonderer Weise angetan. Dabei ist Soucek ein

Recycling-Künstler par excellence: Sein Lieblingsmaterial ist

Weißblech, dass er aus weggeworfenen Trinkdosen herausschneidet

und farblich in seine Bilder einpasst. Für sein neuestes

Münsterbild hat Soucek drei Monate lang auf Freiburger

Radwegen Fahrradrückblenden, sogenannte Katzenaugen, oder

Bruchstücke davon gesammelt.

Dadurch leuchtet das ein mal zwei Meter große Bild, das bis

in die allerkleinsten Details fein gestaltet ist, förmlich aus sich

heraus und verändert die Lichtbrechung je nach Betrachtungswinkel.

Das ist zwei Meter große Kunst! Und was ist für den

Meister des glänzenden Münsters, dessen Wohnzimmer das

Freiburger Uni Café ist, das wichtigste im Leben? Soucek muss

nicht lange nachdenken: „Gesundheit, schönes Wetter und die

Kunst!“ Chapeau!

www.heinzsoucek.de

ZETT. JUNI 2020

49


KUNST

Theater Freiburg

MR. HOFFENTLICH

Peter Carp hofft auf ein positives Wunder und wundert sich

über Demonstranten in Berlin und Stuttgart.

Foto: Arne Bicker

von Arne Bicker

Peter Carp, in Stuttgart geboren, wuchs in Hamburg auf.

Nach Stationen als Theaterregisseur unter anderem in Berlin

und Luzern leitete er ab 2008 als Intendant das Theater

Oberhausen; seit 2017 steht Carp in gleicher Funktion dem

Freiburger Mehrspartentheater vor.

Herr Carp, wie geht es Ihnen persönlich und dem Freiburger

Theater mitten in der Corona-Krise?

Mir geht es gut, und dem Theater geht es jetzt, da wir es

langsam wieder hochfahren - man muss immer sagen: hoffentlich

- auch nicht schlecht.

Sie haben die bis Ende Juli geplante Spielzeit abgesagt. Was

fahren Sie jetzt hoch?

Naja, wir gehen vorsichtig wieder in den Probenbetrieb und

wir hoffen, dass spezielle Formate außerhalb des regulären

Spielbetriebs vielleicht schon im Sommer unter Corona-Bedingungen

gezeigt werden können. Wir entwickeln zum Beispiel

mit dem Künstler Uwe Mengel ein interaktives, digitales Format

mit dem Titel ‚Glücksritter‘. Da können sich Zuschauer mit von

Schauspielern verkörperten, künstlichen Figuren wie einem

NGO-Mitarbeiter oder Busunternehmer unterhalten, die zum

Teil in sehr seltsamer Weise in der Corona-Krise gefördert

wurden. Eventuell können wir das auch live in fünf Zeltpavillons

auf dem Platz der Alten Synagoge machen. Auch wollen

wir ein digitales Faust-Format mit Virtual Reality machen, da

wir in der nächsten Spielzeit Faust I und II produzieren wollen.

Vielleicht gelingt es uns auch, Dirk Laukes Stück „Nur das beste“

unter Corona-Bedingungen schon im Sommer uraufzuführen.

Und wir bereiten Schauspiel- und Musik-Formate für die neue

Spielzeit ab September vor.

Schauen Sie ein bisschen neidisch in andere Bundesländer, in

denen Theater schon wieder offiziell loslegen dürfen?

Die haben andere Corona-Zahlen als wir hier in Baden-Württemberg.

Ich finde es erfreulich, dass alles hier in Freiburg so

glimpflich abgelaufen ist. Ich schaue ehr etwas entsetzt auf

Demonstrationen zum Beispiel in Berlin und Stuttgart. Sich

gegen die Maßnahmen aufzulehnen finde ich sehr zweifelhaft,

zumal wenn man sich anschaut, welche politischen Kräfte sich

da auch reinmischen.

Ist der ganz allgemeine, gesellschaftliche Diskurs mit all seinen

Widersprüchlichkeiten nicht auch spannend?

Natürlich ist das spannend, wobei man sehr aufpassen

muss, nicht zynisch zu wirken; es ist furchtbar, wenn Menschen

krank werden, und man kann ja morgen selber Opfer sein. Aber

ich glaube, dass sich in den letzten Wochen in den Menschen

sehr viel verändert hat. Viele Menschen denken mehr darüber

nach, was sie eigentlich wirklich brauchen, und haben gelernt,

wie sie mit ihrer Zeit sinnvoller umgehen können. Wenn wir

überlegen, was wir unter wissenschaftlicher Anleitung in der

Corona-Pandemie alles umgesetzt haben, und das übertragen

auf den Klimawandel – dann würden wir sehr weit kommen.

Sie werden möglicherweise auf absehbare Zeit nur noch 20 bis

25 Prozent des üblichen Publikums mit Abstandsregeln einlassen

dürfen. Worauf richten Sie sich ein?

Auf weniger Einnahmen. Wir müssen unseren Wirtschaftsplan

langfristig umstricken, denn wir werden sicherlich unter

anderen Bedingungen spielen. Ich hoffe, dass wir im kommenden

Jahr zu den von uns geschätzten und vertrauten Konditionen

wieder spielen können. Das wäre ein positives Wunder. Das

negative Wunder wäre eine zweite Infektionswelle.

Wird die Krise das Theater auch inhaltlich verändern?

Ich glaube, wenn wir jetzt nur noch Stücke über Corona

oder über das Sterben machen würden, das wäre schrecklich.

Das Theater sollte eine künstlerische Gegenwelt, aber keine

Welterklärung bieten. Wir werden in der nächsten Zeit sicher

starke, emotionale Stoffe sehen.

Wenn Sie rausgehen auf die Straße, wähnen Sie sich dann

im Mummenschanz?

Da ich schon in Karnevalsgegenden gelebt habe, sind mir

maskierte Menschen auf den Straßen gar nicht so fremd. Aber

bisher sieht man eigentlich außerhalb der Läden gar nicht so

viele Menschen mit Masken. Ich finde eher die Vielfalt der

Masken und den aufkeimenden modischen Aspekt interessant.

Das finde ich sehr beruhigend, weil man daran das Verspielte

der Menschen sieht.

Chor und Symphonie-Orchester pausieren weiter – bei Letzterem

wird ohnehin wahnsinnig viel gehustet. Wäre das nicht

mal eine neue Kunstform, ein alptraumhaftes Hustenkonzert

mit panisch flüchtenden Besuchern?

Das ist eine spannende Beobachtung. Ich weiß gar nicht, ob

Menschen im Konzert oder Theater mehr husten als woanders,

oder ob es da nur einfach mehr auffällt. Aber ich nehme das

mal mit als Idee.

50 ZETT. JUNI 2020


KUNST

HARRY DER ZEICHNER

Der Sommer in Freiburg dauert bekanntlich von

Februar bis November. Und ‚Harry der Zeichner‘

aus Freiburg-Tiengen liebt das sonnige Gewimmel

rund um den Münsterplatz. Der 48-Jährige

ist Comic- und Schnellzeichner auf Zuruf, malt

für den SC Freiburg, Borussia Dortmund, Udo

Lindenberg oder Mercedes Benz und bereist die

ganze Welt für viele weitere Auftraggeber. Sein

neuestes Ding ist ein leuchtend-oranger US-Schulbus,

in dem Harry Meyer demnächst mobile

Zeichnen-Workshops geben wird. „ich zeichne

am liebsten quick und dirty“, so Harry, „und

lustige Geschichten sind meine Leidenschaft.“

Schon die Frage seiner Mutter, was er im Kindergarten

erlebt habe, hat der kleine Harry seinerzeit

lieber mit Zeichnungen als mit Worten beantwortet.

Inzwischen malt der große Lucky-Luke-Fan

schnell wie der Teufel so gut wie alles. Nur bei

Katastrophen und allzu anzüglichen Themen

zieht er einen Strich: „Das muss nicht sein, mir

geht es schließlich um den Spaß.“

www.harryderzeichner.de

ZETT. JUNI 2020

51


KUNST

Celso Martínez Naves

IM ZWIELICHT

von Reinhold Wagner

Foto: Reinhold Wagner

Grell werfen Laternen durch

den diesigen Dunst der Nacht

ihr diffuses Licht auf den nassen

Asphalt, der es hundertfach

reflektiert. Die Konturen von

Fahrzeugen, Gebäuden (wie

hier das Freiburger Münster)

und Menschen verschwimmen

geradezu im Meer aus gleißenden

Farben: Kaum ein Künstler

hat sich auf diese zwielichtige

Phase zwischen Dämmerung

und Nacht so spezialisiert wie

der in Freiburg lebende Maler

Celso Martínez Naves (66).

Foto: Werner Bachmann

Ein Studium von Kunst und

Kunstgeschichte zog den Maler

aus dem spanischen Asturien

dereinst in seine heutige

Wahlheimat. Von Beginn an

faszinierten Martínez Naves

Stimmungen, die von Licht und

Schatten, Spiegelungen und

Reflexionen sowie Nacht und

Dunkelheit geprägt sind. Seit

mehr als 40 Jahren malt er ausschließlich

in Öl auf Leinwand,

und das mit großem Erfolg.

„Man muss malen, was und

wie man sieht“, beschreibt

Martínez Naves die hohe Kunst,

im Gemälde wie beim Anblick

mit den Augen den Fokus auf

einen Punkt scharf zu stellen,

während das Umfeld zu den

Seiten hin ins Diffuse hin verwischt.

„Meine Motive sind oft

Orte, an denen ganz viel passieren

kann, aber ich konzentriere

mich allein auf die fast leere

Bühne.“

Inspirierende Momente hält

Martínez Naves mit der Kamera

fest und holt sich so später im

Atelier das Erlebte in die Erinnerung

zurück, um ihm seine

Foto: Bernhard Strauss

ganz eigene Ästhetik zu entlocken.

Zu sehen voraussichtlich

ab August in der Freiburger

Galerie Meier.

www.martinez-naves.de

52 ZETT. JUNI 2020


KUNST

Stefan Koldehoff

Foto: Josy Swafing

Tobias Timm

Foto: Julian Röder

Verbrechen in der Kunst

ARTNAPPING UND GOLDPFUNDE

Kunst lud schon immer Diebe und Räuber ein. Die Kunstexperten

Stefan Koldehoff und Tobias Timm beschrieben in „Falsche Bilder,

echtes Geld“ ausführlich den Fall des vormals auch in Freiburg

lebenden Kunstfälschers Wolfgang Beltracchi. Und das hat sie

offenbar auf den Geschmack gebracht: In ihrem im März 2020

neu erschienenen Buch „Kunst und Verbrechen“ nehmen sich

die beiden Autoren nun das ganze, weite Feld in den Blick.

Vom Kleinganoven bis zum schwerreichen Meisterfälscher

rücken hier all jene in den Fokus, die sich illegalerweise an Kunst

bereichern wollen. Und denen es selbst, wenn sie geschnappt

werden, gelegentlich gelingt, sich als genial-charmante Trickser

zu inszenieren. Wie hoch der materielle und immaterielle Schaden

ist, den sie in den Duty-Free-Zonen und Dark Rooms des globalen

Kunstbetriebs anrichten, kommt indes nur selten ans Tageslicht.

Die Liste der Verbrechen, die im Zusammenhang mit Kunst

begangen werden, ist lang. Mit dem enormen Anstieg der Preise

und der Globalisierung des Kunstmarktes hat die Kriminalität

jedoch eine neue Qualität erreicht – so ist etwa „Artnapping“, bei

dem ein Kunstwerk als Geisel genommen und erst gegen Lösegeld

wieder zurückgegeben wird, heute keine Seltenheit mehr.

„Kunst und Verbrechen“ erzählt spannende, erschreckende

und irrwitzige Geschichten, wie zum Beispiel jene vom Diebstahl

einer 100 Kilogramm schweren Goldmünze aus dem Berliner

Bode- Museum – die vier Diebe wurden gefasst. Die beiden Autoren

liefern eine fundierte Analyse, was sich am System Kunstmarkt

und in den Museen ändern sollte. Ein fundiert recherchiertes,

brisantes und hochaktuelles Buch, dessen einzelne Kapitel sich

so spannend lesen wie Krimis.

Stefan Koldehoff, Tobias Timm // Kunst und Verbrechen

Galiani-Verlag Berlin • 328 Seiten • 25 Euro

ZETT. JUNI 2020

53


KUNST

IMPULSIV

Die freischaffende Künstlerin und promovierte

Pharmakologin Anke Augspach aus Freiburg

lebt mittlerweile in Bern und bedient sich seit

mehr als zwölf Jahren der Ölmalerei und seit

2019 auch der Aquarell-Technik. In ihren meist

expressionistischen Gemälden fokussiert sie

seit diesem Jahr vermehrt Frauen, die sie in Öl

porträtiert – wie hier zu sehen. „Freiheit und

Kreativität der Malerei sind für mich Gegenpole

zur Logik und Exaktheit der Naturwissenschaften,

mit denen ich im Rahmen meiner

Tätigkeit als Postdoc in Berührung komme“,

so Augspach. „Beide Gegenpole brauchen und

ergänzen sich.“ Ihre impulsiven Bilder wirken

dynamisch, kraftvoll und bewegend zugleich.

ankeaugspach.wixsite.com/homepage

54 ZETT. JUNI 2020


KUNST

Augustbild

macchina vecchio

DER CHIFFREUR

Der Freiburger Roland Hölderle betreibt „informelle

Malerei“, wie er das nennt, losgelöst

von verstandesgemäßen Erklärungs- und Analyseversuchen,

die zwar stattfänden, von ihm

aber gar nicht „primär gewollt“ seien. Hölderles

Atelier beleben Fundstücke und ausrangierte

Materialien, auch Farbreste, die zusammen mit

Dispersionsfarbe, Lehm, Sägemehl, Steinmehl,

Acryl- oder Pastellfarben die Basis bilden für

ständig neue Möglichkeiten eines Bildaufbaus,

der in einem Arbeitsprozess aus Beachten und

Verwerfen, Strukturwerden und Richtungswechseln

entsteht. „Ein Bild ist ein Bild“, sagt

Roland Hölderle, und meint damit: „Wenn ich in

einem Museum oder einer Galerie um die Ecke

biege und da hängt etwas, das meine Augen

sich weiten lässt, dann laufe ich dahin. Sonst

eben nicht.“

www.erdblau.de

FEUER & STAHL

Der gebürtige Freiburger Martin

Hunke (40) arbeitet seit 2007

als freischaffender Bildhauer.

In seinem Atelier entstehen

Stahlskulpturen, geometrische

Formen, Kugeln, freie experimentelle

Werke und Auftragsarbeiten.

Fundstücke, Fragmente und

Einzelteile aus Metall, Holz oder

Glas sind die Materialgrundlage

seiner Skulpturen. Wer je eine

oder mehrere von Martin Hunkes

„Feuerkugeln“ in Aktion gesehen

hat, vergisst diesen Anblick nicht.

Hunke über Hunke: „Jedes Werk

bleibt nur eine Momentaufnahme,

ein Bruchstück, der Zipfel eines

Fadens, der im dicken Knäuel

der Unendlichkeit ausläuft.“

www.martin-hunke.de

ZETT. JUNI 2020

55


KONZERTE

MEUTE

Foto: shotbywozniak

Zeltbau im Garten

HOME-ZMF

Sarah Lesch

Foto: Sandra Ludewig

Postmodern Jukebox

Foto: Dana Lynn Pleasant

Helge Schneider

Foto: Till Oellrking

Tja, das mit der Corona-Krise

ist wohl so eine Sache, wenn man

ein Kulturmagazin macht. Soll man

auf Konzerte hinweisen, die abgesagt

wurden? Im Falle des Freiburger Zelt-Musik-Festivals

fühlte es sich irgendwie falsch

an, gar nicht zu berichten. Daher wollen wir

Ihnen an dieser Stelle zumindest nicht vorenthalten,

welche Künstler das ZMF in der zweiten

Juli-Hälfte zu seiner inzwischen abgesagten, 38. Ausgabe

eingeladen hatte.

Dazu gehörten die „Black Pumas“ aus Austin / Texas mit

ihrem äußerst geschmeidigen Neo- Funk-Soul ebenso wie die

kanadische Progrock-Kultband SAGA, deren Frontmann Michael

Sadler schon mehrfach mit dem Freiburger Orso-Orchester

für coole Tonverwirbelungen gesorgt hat; Al Di Meola wurde

erwartet, die Postmodern Jukebox und Äl Jawala.

Sehr gefragt gewesen wäre sicher auch die mittlerweile

60-jährige Kalifornierin Suzanne Vega, deren Hits „Tom’s Diner“

und „Luka“ als Ohrwürmer in Millionen von Hirnen schlummern.

Aus Frankreich eingeladen waren die Bossa-Magier Nouvelle

56 ZETT. MAI 2020

Vague und die fünf feurigen Sinti-Swing-Chanson-Jazzer von

Les Yeux D’La Tête.

Als Highlights aus heimischen Landen hätten firmiert die

Techno-Marching-Band MEUTE, die ebenso wie FETTES BROT in

Hamburg beheimatet sind, Element of Crime mit dem Bremer

Stadtmusikanten Sven Regener, Johannes Oerding aus München,

der in Freiburg unvermeidliche Tübinger Dieter Thomas Kuhn

sowie ein gewisser Herr Schneider aus Mülheim an der Ruhr.

Die Riege der markanten Sängerinnen sollte neben Suzanne

Vega mit der Berliner Songwriterin Dota, der Island-Melancholikerin

Soley, der US-amerikanischen Bluesbrumme Beth Heart

und der deutlich zarter besaiteten Sarah Lesch aus Altenburg

besetzt sein. Hätte, wäre, Fahrradklingel.

Damit die Nennung dieser Namen hier nicht ganz umsonst

war, empfiehlt das Kulturmagazin ZETT. allen ZMF-Freunden parallel

zum Home-Office vom 15. Juli bis 2. August ein Home-ZMF

aufzuschlagen: Bauen Sie Ihr Camping-Zelt mit ein paar bequemen

Kissen darin im Garten oder auf dem Balkon auf, lassen Sie sich

einen Flammkuchen liefern und hören Sie per Kopfhörer ihre

Favoriten an. Die Eintrittskarte können Sie sich ausnahmsweise

selbst malen.

www.zmf.de

Foto: Klaus Polkowski


MUSIK

Foto: Danny Clinch

Autor: David Byrne

Die bessere Biographie

WIE MUSIK WIRKT

Eine wahrlich pulsierende Mischung aus

Musikgeschichte, Blick hinter die Kulissen.

Autobiographie, Insiderstory und Anekdotischem

präsentiert der Gründer der New

Yorker Postpunk-Band „Talking Heads“,

David Byrne – in Buchform. Der leuchtend

orangefarbene Wälzer verspricht einen

Blick in die Musikwelt mit all ihren Facetten

und Winkeln und in manches geheime

Hinterzimmer.

Wie genau funktioniert und wirkt Musik

– akustisch, wirtschaftlich, sozial und

technologisch? Diesen Fragen widmet

sich Byrne, der 1952 in Schottland zur

Welt kam, als Kind mit seinen Eltern in

die USA auswanderte und dort erst 2016,

64-jährig, zur US-Staatsbürgerschaft

konvertierte. Seiner Karriere als exzentrischer

Band-Rockstar („Burning Down

The House“) und Solomusiker fügt er

nun noch ein 424 Seiten langes Print-

Epos hinzu – da schließt sich ein Kreis.

Der Leser erfährt, welche Konzertshow

Byrne am besten gefallen hat,

wieviel Honorar für Plattenaufnahmen

ein Weltstar erhält und warum Byrne von

manchen Freunden eher als Geschäftsmann

denn als Musiker wahrgenommen

wurde. Es geht um die Zukunft der Flötentöne,

das Plätschern der Playlists und die

Frage, warum das ganze Universum den

Blues hat. Man könnte also sagen, Byrne

dreht als musikalischer Schriftsteller am

ganz großen Rad. Er tut das ebenso unterhaltsam,

informativ und meinungsstark wie

als Musiker auf der Bühne.

David Byrne – Wie Musik wirkt

S Fischer Verlag // 424 Seiten // 35 Euro

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ZETT. JUNI 2020

57


MUSIK

LAUSCHANGRIFF // CD-TIPPS

58 ZETT. JUNI 2020

Mit einer grandiosen Release-Party

im Waldsee schickte

Nu Funk in Freiburg

die Freiburger Funk-Band „momo“ (vormals: Momo und die

grauen Herren) am 7. März dieses Jahres ihr Debütalbum „Nu

Funk in Town“ auf Weltreise. Auf ihrem ersten Silberling lassen

die acht momoesken Vollblutmusiker neun handgemachte Songs

auf die Stadt und den Weltkreis los. Einzigartiger Gute-Laune-Funk

wechselt sich ab mit sachte fließenden Soulballaden.

„Nu Funk in Town“ ist eine ordentlich groovende Mischung

zwischen Hüftschwingen, Fußwippen und Ohrenträumereien.

www.momo-music.de

Gerade in Krisenzeiten braucht es Menschen

Ernstbold

wie Oliver Scheidis. Musiker wie er sorgen

dafür, dass wir nicht die Bodenhaftung und unser Lachen verlieren.

Als selbsternannter Ernstbold spielt, singt und lebt der

Freiburger Barde mit norddeutschen Wurzeln lustige Lieder

für einfach alle, die ihm zuhören. Spielfreude, Bühnenpräsenz,

Publikumsnähe, Improvisationskunst und Humor sind Attribute,

die der Mann mit dem komischen Hut einsammelt wie Pilze im

Wald. Jetzt liegt seine erste CD vor: „Oliver Scheidis & Die Kapelle

für alle Fälle - Live im SWR“ wurde im Freiburger Funkhaus in

der Kartäuserstraße mit Wolfram Waschow (Piano), Konstantin

Schülke (Drums) und Thilo Schülke (Bass) aufgenommen. So

zaubert sich Scheidis mit seiner Band nun so gut wie fast live

in die Wohnzimmer der Stadt.

www.oliver-scheidies.de

Die Lahrer Hardrock-Band OIL legt mit

Rocktankstelle

„Live In Concert“ nach dem Studioalbum

„Feed Your Brains“ (2017) in diesem Jahr ihre zweite CD

vor. Das besondere daran ist nicht nur die kraftvolle, technisch

perfekte und äußerst facettenreiche Musikexplosion, die alle

Hörer nach Rotationsbeginn der CD übermannt – es gibt auch

einen gleichnamigen Film auf DVD für alle, denen der wummernde

Ohr-Rein-Genuss nicht genügt. Mit „Heart and Soul“

legen die beiden OIL-Protagonisten Gert Endres und Marc Vetter

auch gleich noch einen Musik-Dokumentarfilm nach, in dem das

Sein der Lahrer Rockband „Scaramouche“ beleuchtet wird, in der

Gitarrist Endres und Schlagzeuger Vetter Geschichte schrieben.

www.oil-band.com

Die „Brothers“ muss man in Freiburg wohl

Strandgut

niemandem mehr vorstellen. Die Band wurde

anno dazumal von den vier Brüdern Andres, Coco, Lorenz und

Tilo Buchholz gegründet; die musikalischen Wurzeln der Band

sind irgendwo zwischen Beatles und Eagles zu verorten. 2011

übernahm Roby Scheffert den Basspart von Bruder Andres, der

sich in die Umlaufbahn des Jazz verabschiedete. Was die verbliebenen

Brothers mit ihrem neuen Bassbrunder im musikalischen

Geiste nicht davon abhielt, weiter über die Bühnen diverser

Hocks und Feste zu turnen und ihre perfekt eingespielte und

meist sehr tanzbare Musik auf der Basis akustischer Gitarren

und mehrstimmigen Gesangs abzuliefern. Jetzt haben „The

Brothers“ mit „Grounded“ ihr neuntes Album am Freiburger

Strand abgelegt wie eine Muschel, die dem Finder zwölf Songperlen

musikalischen Reichtums verspricht.

www.thebrothers.de


TANZ

Kleines Rund, großer Zuspruch

TANZEN IM MENSABRUNNEN

von Reinhold Wagner

Foto: Klaus Polkowski

Wer gerne tanzt, weiß, dass Freiburg

stets eine Pionierrolle einnimmt,

wenn es darum geht,

neue Tanzstile bekannt zu machen. Und

auch bei der Wahl der geeigneten Location

zeigen sich die Aktiven in der Stadt

immer wieder erstaunlich einfallsreich.

Einer der Plätze, die sich über die gesamte

Freiluft-Saison hinweg größter Beliebtheit

erfreuen, ist der Mensabrunnen.

An der Ecke Rempart- / Wertmannstraße

sehr zentral am Rotteckring gelegen,

und daher leicht erreichbar, dennoch

geschützt durch Hang und Bäume in

einer Nische zwischen Mensa und Uni-Gebäuden,

liegt der seit vielen Jahren nicht

mehr wasserführende Brunnen. Welche

Nutzungsart wäre da naheliegender als

Tanzen unter freiem Himmel? So trifft

sich hier von den ersten milden Frühlingstagen

bis in die frischen Herbststunden

hinein fast täglich die Szene – eine kunterbunte

Mischung quer durch alle Tanzstile,

Altersstufen und Kulturen, vom Anfänger

und neugierigen Zuschauer bis hin zum

Tanzlehrer und begeisterten Allrounder.

Für Musik und Atmosphäre sorgt ein

wechselndes Team aus Freiwilligen, das

Spaß an der Unterhaltung und am freien

Tanzen hat, und das ohne Erwartung

einer Gegenleistung gerne Interessierte

zum sozialen Miteinander bewegen

will. Da ist Roberto, der aus Kapverden

stammt und mindestens an drei Abenden

vor Ort ist. Lange, bevor die ersten

Tänzer kommen, fegt er schon Mal die

Fläche sauber, auf der er sich am liebsten

zu Kizomba-Rhythmen bewegt, dem

„kapverdisch-angolanischen Tango“. Er

liebt den Platz als Treffpunkt der verschiedensten

Kulturen und Ort, an dem

man ungezwungen neue Freunde kennenlernen

kann. Auch sagt er: „Es bringt

die Menschen zusammen und weg von

Drogen.“

Ulrich, ein regelmäßiger Besucher, der

von sich selbst sagt, dass er vermutlich

der Methusalem unter Freiburgs Tänzern

sei, findet: „Es ist schön, zu sehen, dass

aus einem eigentlich unerfreulichen Anlass

– aus Spargründen der Stadt – sich

doch etwas so Positives entwickelt hat.

Als ich 1961 in Freiburg zu studieren begann,

wurde die Mensa gerade gebaut,

und im Brunnen sprudelte Wasser, aber

kaum einer hat den Platz registriert.“

Als die Stadtverwaltung 2017 darüber

nachdachte, den stillgelegten Brunnen

für Radstellplätze umzunutzen, blies ihr

ein Wind des Aufstands entgegen. Simao,

Tanzlehrer aus Portugal, bündelte anhand

einer Petition die unterschiedlichen

Tanzgruppierungen und Befürworter und

erreichte mit deren Unterstützung, dass

die Stadt nachgab. Heute ist er überzeugt:

„Es ist ein großes Bedürfnis da, diesen

Ort zu erhalten, der unkommerziell Tanzen

und Tänzer verschiedenster Sparten

verbindet.“

Damit noch lange weiter Salsa, Kizomba

und Bachata, Tango, Forró und Lindy Hop

im Brunnen getanzt werden kann, und damit

das „kleine Stück Karibik in Freiburg“,

wie es die tanzbegeisterte Melitta nennt,

auf möglichst breite Akzeptanz stößt und

von vielen Gruppen genutzt werden kann,

hat sich im vergangenen Jahr durchgesetzt,

den frisch geglätteten Tanzboden

an den Samstagen künftig offen für jede

Art der Nutzung zu lassen. Alle anderen

Tage haben sich mehr oder weniger

fest etabliert. „Nachdem aber 2019 auch

Freunde des West Coast Swing, Zouk und

Hip Hop um freie Zeitfenster am Brunnen

baten, haben wir vom Orga-Team uns mit

den weiteren Interessenten auf diesen

Kompromiss verständigt“, so Zeno. Ein

weiterer Schritt, der den gemeinsamen

Wunsch nach Öffnung des Tanzbrunnens

in vielerlei Richtungen hervorhebt.

Aktuelle Termine, Infos und Programm

im Mensabrunnen: www.regiosalsa.de

ZETT. JUNI 2020

59


TANZ

Tanzen im Biotop

WENN KÖRPER SPRECHEN

Performance auf dem Platz der

Alten Synagoge in Freiburg.

Foto: Jennifer Rohrbacher

von Anna Henschel

60 ZETT. JUNI 2020

Eine Tankstelle an der Eschholzstraße in

Freiburg. Es regnet, es ist kalt, der Abend

bricht langsam herein. Die Menschen strömen

nach Hause und halten kurz an, um zu

tanken oder noch schnell Zigaretten zu holen.

Neben den Zapfsäulen steht eine Gruppe junger

Menschen im Kreis, die Gesichter nach außen

gewandt. Hin und wieder wenden sie sich einander

zu und – verpassen sich Ohrfeiegn, reihum.

Zwei Tankstellenbesucher beobachten sichtlich

irritiert, wie sich das Szenario verändert –

die Backpfeifen nehmen an Intensität ab und

entwickeln sich zu Streicheleinheiten. Für einen

der Beobachter ist dennoch die Gewalt, die er

wahrnimmt, nicht hinnehmbar. Er stellt die

Gruppe zur Rede und macht in ruhigem, aber

bestimmten Ton auf die Folgen allgemeiner

Ohrfeigengewalt vor allem für Kinder aufmerksam.

Er kenne viele, die in einem solchen Milieu

aufwüchsen, so etwas müsse man doch nicht

auch noch in der Öffentlichkeit zur Schau stellen.

Doch die Provokation ist Teil einer künstlerischen

Aktion, die sich als Spitze eines komplexen

Eisbergs erweist, als Output eines Experiments,

bei dem eine Gruppe internationaler Tanzschaffender

emotionale Begleiterscheinungen ihres

Kommunikationsprozesses untereinander beobachtet,

verhandelt und in eine Performance

übersetzt hat. Ein Ergebnis: Gewalt. In Form

von Backpfeifen. Entstanden im Rahmen des

„10. Labormanifests“ zum Thema „Tools for

creative group processes“.

Das „Labormanifest“ versteht sich als Plattform

zum kreativen Austausch unter freien

Tänzerinnen und Tänzern, die sich zweimal im

Jahr in Freiburg treffen und in unterschiedlichen

thematischen Feldern aktuelle Fragen der Szene

künstlerisch „erforschen“. Ideen werden in der

Gruppe diskutiert und experimentell erarbeitet,

neue Gestaltungswege nehmen Formen an und

werden, wie in der aktuellen 10. Ausgabe des

„Labormanifests“, schließlich im öffentlichen

Raum präsentiert.

So entstehen spontane Performances, die

erst sehr kurzfristig auf Facebook angekündigt

werden. Was dabei herauskommt ist völlig

offen. Man sieht es, wenn man das Geschehen

beobachtet. Es gibt zwar einen Handlungsrahmen,

aber keine Choreografie. Man sieht

Bewegungen, aber nicht zwingend Tanz. Und

doch hat diese künstlerische Freiheit einen Sinn,

der sich für das Publikum erst dann konkret

erschließt, wenn es seine Bedeutung für den

Künstler erkennt.

Das „Labormanifest“ ist eine Initiative des

„Tanznetz Freiburg“, einer Interessensvertretung

der freien professionellen Tanzszene, die

Infrastrukturen für die Qualifizierung von professionellen

Tanzschaffenden in der Region

entwickelt. Ein Anliegen der Organisatoren

ist die Hinwendung zu einer freien Entfaltung

der künstlerischen Ideen, abseits von hierarchischen

Strukturen, klassischen Kompanien und

Stilvorgaben. Im „Labormanifest“ wird deutlich,

dass die Ergebnisse in der Eigenverantwortung

der Künstler entstehen und der experimentelle

Weg das eigentliche Ziel ist.

Und was ist mit dem Publikum? Dem hat

das „Tanznetz Freiburg“ in seinem Projekt „Tanzwuchs“

eine besondere Rolle zugewiesen.


Hier erlebt man keine fertige Performance, sondern bekommt

vielmehr einen Eindruck über die „Arbeit im Entstehen, eine

Art Zwischenbilanz der kreativen Arbeit von Tänzerinnen und

Choreografen oder Tanzkollektiven.

Damit wollen die Tanzschaffenden den Entwicklungsprozess

hinter den Aufführungen sichtbar machen. Deshalb laden sie das

Publikum zweimal im Jahr ins „Südufer“ ein, eine Mischung aus

Spielstätte und kollektivem Proberaum für die Freiburger Künstlerszene

in der Haslacherstraße. Die konsumorientierte Frage,

ob sich das Ganze „lohnt“, soll hier gar nicht erst beantwortet

werden. „Manchmal fängt ein Prozess bei Apfel an – und man

sieht auf der Bühne Schnitzel“ sagt Julia Klockow, Tänzerin und

Pressefrau beim „Tanznetz Freiburg“. „Aber hätte man nicht bei

Apfel angefangen, würde das Schnitzel ganz anders aussehen.“

Neben dem „Labormanifest“, das sein Experiment mit dem

Verstehen auf die Spitze treibt, wirkt das Konzept des Formats

„Tanzwuchs“ schon fast bodenständig: In einem ‚Speed-Dating‘

zwischen Publikum und Tanzgruppen erklären die Tanzschaffenden

im Anschluss an ihre Performance, was sie sich dabei

gedacht haben, und das

Publikum darf es ruhig

zugeben, wenn es dabei

auf dem Schlauch stand.

Wer einfach nur sein Bier

trinken und sich berieseln

lassen will, darf auch einfach

nach dem letzten

Schluck nach Hause gehen.

Für viele Besucher aber

wird es gerade jetzt erst

interessant: „Meistens sind

das Leute, die nicht einfach

nur was vorgesetzt haben

wollen, die statt dessen

kritisch sind oder auch mal

sagen: Ich hab’s nicht verstanden“,

so Dagny Borsdorf,

eine der Organisatorinnen bei

„Tanznetz Freiburg“. „Das ist

gerade für Leute interessant,

die Tanz nicht so oft sehen,

aber ein Interesse daran haben,

wie das alles abläuft“,

ergänzt Julia Klockow.

Die neugierigen Zuschauer

werden so zum Resonanzkörper

für die Künstler: Wie habt

ihr diesen

und jenen Aspekt wahrgenommen? Habt ihr ihn überhaupt

bemerkt? Was ist das Wesentliche für euch? Bei diesem Date

ist von vornherein klar: Beide sollen profitieren. Nur im Idealfall

hat das Publikum vielleicht auf Anhieb verstanden, was

der Künstler mit der Performance sagen wollte – und wurde

höchstwahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt danach befragt.

Die Tanzschaffenden wiederum bekommen eine Idee

davon, was sich hinter irritierten Blicken, offenen Mündern

oder scharrenden Füßen verbirgt. Das Feedback stecken sie in

die Weiterentwicklung des Stücks.

Mit diesem vitalen wie experimentellen Konzept rekultiviert

das „Tanznetz Freiburg“ eine Tanzlandschaft, die vor nicht allzu

langer Zeit fast zur Wüste geworden wäre. Bis vor ein paar Jahren

lagen die Strukturen für die hiesige freie Tanzszene nahezu

brach – es gab kein Profitraining, kaum Weiterbildungsmaßnahmen

und Vernetzungsmöglichkeiten innerhalb der freien

Freiburger Tanzszene.

Kommunikationsregeln im Tanznetz-Proberaum des Südufers.

Die Ohrfeige als Werkzeug für „kreative Gruppenprozesse“.

Kein Wunder also, dass viele nach der Ausbildung die Stadt

verlassen haben. Viele, aber nicht alle. Auch Dagny wollte in

Freiburg leben und arbeiten, also tanzen. Schließlich war sie

eine der verbliebenen Freischaffenden,

die ihre Kräfte in der Initiative „Tanznetz

Freiburg“ bündelten, inzwischen mit

Unterstützung des Kulturamtes, eingebettet

in den Verein „bewegungs-art“,

in Kooperation mit dem E-Werk und

gedüngt mit finanziellen Mitteln des

Bundes aus dem Förderprojekt „Tanzpakt

Stadt-Land-Bund“.

So entstand mit den beiden Tanznetz-Formaten

„Tanzwuchs“ und „Labormanifest“

ein Kunstbiotop, das

nicht nur der freien Tanzszene Freiburgs

als Lebensraum dient, sondern

gelegentlich auch jene erfasst, denen

Kunst, Tanz und Performance

fremd sind: Publikum, Passanten,

Neugierige.

Im experimentellen Charakter

dieser beiden Freiburger Tanzprojekte

werden Performer wie Publikum

herausgefordert Erfahrungen

und Ausdrucksformen zu hinterfragen.

Ein intellektuelles Kunstverständnis

braucht man hierfür

nicht zwingend; spontane Reaktionen

wie jene an der Backpfeifen-Tankstelle

sind ein feiner Sensor der

Erkenntnis, allein schon, weil sie emotional entstehen. Sie

halten uns den Spiegel unserer Erfahrung vor, wenn wir es

vielleicht am wenigsten erwarten.

Performance an einer Tankstelle an der Eschholzstraße.

Foto: Anna Henschel

TANZ

Foto: Anna Henschel

Foto: Anna Henschel

ZETT. JUNI 2020

61


TANZ

Lebensgefühl der 20er

PROVOKATION & POPKULTUR

von Mareike Kaiser

62 ZETT. JUNI 2020

Die Verführung. Eine Kunst, die wohl so alt wie die Menschheitsgeschichte

ist. Verführung, auch Verlockung genannt,

versucht das Gegenüber zu einer Handlung zu bewegen,

es zu manipulieren oder Verlangen zu wecken. In der Verführung

geht die Weiblichkeit voll und ganz auf. Doch wo findet sich in

unserer modernen Zeit, die von Unisex-Klamotten und Gendering

geprägt ist, noch die Möglichkeit, die eigene Weiblichkeit

auszuprobieren und auf die Spitze zu treiben?

„Man muss schon etwas verrückt sein; es ist ein Lebensgefühl“,

sagt die Freiburger Tänzerin Elena Auerbach. Ganz ernst

nimmt sie sich in der Burlesque nicht, stellt diese Kunst doch so

etwas wie eine derbe Komödie dar, die Schauspiel, Tanz, Kostüm-

& Make-up, Striptease und gelegentlich auch Akrobatik

miteinander vereint.

Elena Auerbach, professionelle Sängerin und Tänzerin, hat

sich vor sieben Jahren selbstständig gemacht hat und nach

Engagements auf Kreuzfahrtschiffen, Hochzeiten, Messen, in

Freizeitparks und bei Firmenevents die Burlesque nach Freiburg

gebracht. Hier steht sie nicht nur selbst auf der Bühne, sondern

gibt auch Workshops zusammen mit der Künstlerin Dina Whip.

„Es kommen die unterschiedlichsten Frauen zu mir, die sich

ausprobieren möchten“, erzählt Elena. „Meine Schülerinnen sind

zwischen Mitte 20 und 40. Einmal im Jahr veranstalten wir eine

große Gala, die nennt sich „Cherry Pop“, in der jede sich selbst

und das Gelernte präsentiert.“

Ein Jahr lang proben die Frauen, entwickeln ihre eigene

Tanznummer und finden ihr eigenes Make-up und Kostüm

der 20er bis 50er-Jahre. Am Schluss kommt eine farbenfrohe,

außergewöhnliche und auf die Spitze getriebene, provokante

Show heraus: der Höhepunkt der Workshops, die „Cherry Pop

Gala“, angefüllt mit High-Heels, Federboas, atemberaubenden


TANZ

Kostümen und Amüsement. Seit 2019 finden sich auch „Boylesque“

in den Kursen – denn auch manche Männer finden Gefallen

daran, sich in dieser schillernden Theaterkunst auszuprobieren.

Burlesque ist für Elena Auerbach eine Form der Freiheit, in der

sie performen und sich selbst ausprobieren kann, ganz so, wie

sie es möchte. Weiblichkeit und Feminismus sind dabei für sie

treibende Kräfte, denn beides lasse sich beim Burlesque ohne

Einschränkung ausüben.

„Weiblichkeit ist sehr individuell. Man kann sich natürlich

auch in bequemer Kleidung weiblich fühlen, aber die Chance

in andere Rollen zu schlüpfen, sich auszuprobieren und all das

auch noch zu übertreiben, gibt den Frauen oft ein ganz neues

Selbstbewusstsein.“

Als zweites Highlight ist neben der „Cherry Pop Gala“ am

8. November in der Wodan Halle Halloween angedacht: Am 31.

Oktober soll der „Opium Circus Dark Cabaret“ im Theater Freiburg

über die Bühne gehen. Hier können Besucher die dunkle Seite

des Burlesque kennenlernen und in die Gothic-Welt der 20er

und 50er Jahre eintauchen. Mit einem strikten Dresscode für alle

Teilnehmer – um in angemessener Atmosphäre zu feiern und

Showeinlagen zu genießen – soll dieses Event mit den Freiburger

„Queens Of Burlesque“ – Elena Auerbach, Dita Whip, Amber Eve,

Melodie Rose und Innocent Diamond – ein echtes Highlight in

der authentischen Umgebung des Freiburger Theaters sein.

Schwarze Röcke, Korsetts, ausgefallene Strumpfhosen und

High Heels für die Damen, klassischer Anzug für die Herren – und

der Eintritt in die Welt der Burlesque ist gesichert. Alltagskleidung

ist dagegen verpönt; Jeans geht gar nicht. Natürlich sind

auch Drag-Queens und alles Außergewöhnliche willkommen zu

einer Nacht, in der der Besucher seine eigene Identität einmal

ganz bewusst verlassen darf. www.provocation.dance

ZETT. JUNI 2020

63


GESELLSCHAFT

Kunstvolle Vielfalt: Jeder kann bei

„1000 Drawings“ mitmachen und

in seinem Stil und mit seinen Werkzeugen

kreativ werden - solange das

Kunstwerk in A5 gestaltet ist.

Fotos: Josh Häfelinger

Kunst für den guten Zweck

„1000 DRAWINGS“ IN FREIBURG

von Jennifer Reyes

„Male was, mit was, auf was, auf A5!“

So lautet das Motto des internationalen

Kunstprojekts „1000 Zeichnungen“

(original „1000 Drawings“) mit Fundraising-Ansatz,

das 2020 auch in Freiburg

landet. Das Einzigartige daran: Jeder kann

mitmachen, und jedes Kunstwerk unterstützt

soziale Projekte.

Die Geschichte von „1000 Drawings“

beginnt 2006 in Südafrika: Um den einer

Obdachlosenhilfe geklauten Lieferwagen

zu ersetzen, verkaufte eine Truppe

Jugendlicher selbstgemalte Kunstwerke,

genau 1.000 an der Zahl, und trieb so innerhalb

kürzester Zeit die benötigte Menge

an finanziellen Mitteln auf, um einen neuen

Transporter anzuschaffen, mit dessen Hilfe

weiterhin obdachlose Menschen mit Essen

versorgt werden konnten.

Der Erfolg der ersten „1000-Drawings“-Aktion

schien kaum zu glauben – und das soziale

Das Motto fasst in einem Satz zusammen wie

„1000 Drawings“ funktioniert.

Kunstprojekt wanderte danach in die weite

Welt. In diesem Jahr 2020 landet „1000

Drawings“ nun auch in Freiburg.

Julia Hugenschmidt (26), Texterin aus

Freiburg, unterstützte 2016 während einer

Südafrikareise als freiwillige Helferin das

Projekt und half bei einer konzertierten

„Night of a 1000 Drawings“, die gesammelten

Kunstwerke zu verkaufen: „Es war ein

so schönes Erlebnis, wie so viele verschiedene

Menschen ein so großartiges Projekt

auf die Beine gestellt haben, dass mich

der Gedanke, das auch in meiner Heimat

umzusetzen, nie mehr losgelassen hat.“

In ihrer Arbeitskollegin Andrea Maier

und deren Partner Josh Häfelinger, beide

Mediendesigner, fand Julia schließlich

kreative Projektpartner. Andrea zeigt

sich von dem Projektgedanken restlos

überzeugt: „Die Idee, Menschen durch

Kunst zusammenzubringen und dabei

64 ZETT. JUNI 2020


GESELLSCHAFT

Die Präsentation: Die gesammelten tausend Kunstwerke werden für den

Verkauf an langen Leinen aufgehängt.

Ein kreatives Team (v.l.): Andrea, Josh und Julia sind das Freiburger Projektteam

von „1000 Drawings“. Sie bringen damit Kunst und Fundraising unter

einen Hut.

Gutes zu tun, ist einfach perfekt. Josh und ich zeichnen privat

und berufsbedingt auch total viel und möchten wirklich jeden

motivieren mitzumachen. Einfach kreativ werden, alles ist erlaubt

– solange es auf A5 ist.“

Um möglichst viele Kunstwerke zu sammeln, werden regelmäßige

Events, sogenannte „Doodlesessions“ an verschiedenen

Orten veranstaltet. Sich zum „doodeln“ zu treffen hat nichts mit

Online-Terminabstimmungen zu tun, sondern das Wort aus dem

Englischen bedeutet einfach „kritzeln“. Bei diesen Doodlesessions

können sich alle Teilnehmenden in gemütlicher Atmosphäre

treffen, austauschen und gemeinsam kreativ werden.

Wer sich in Freiburger Cafés, wie dem Strandcafé auf dem

Grethergelände, mal genauer umschaut, entdeckt aufgestellte

Pappboxen von „1000 Drawings Freiburg“. In diesen Sammelboxen

kann jeder und jede seine Zeichnung auch abseits der

Events einwerfen und so am Projekt teilnehmen.

Die erste Doodlesession dieses Jahres war für Ende März im

Kunstcafé ‚Artjamming‘ in der Freiburger Wiehre geplant. Doch

das Event musste, wie viele andere Veranstaltungen, wegen der

Corona-Pandemie abgesagt werden. Sobald es wieder möglich

sei, sich in der Öffentlichkeit ohne Virengefahr zu treffen, werde

es weitergehen. Und in regelmäßigen Abständen werde es

Doodlesessions geben, verspricht das Projektteam.

Das Ziel, 1000 Kunstwerke zu sammeln, bleibt für das Frühjahr

2021 trotz Corona-Krise fest im Blick. „Als Wunschort für die

große Verkaufsnacht liebäugeln wir mit dem Jugendclub ArTik

in Freiburg. Dazu vernetzen wir uns mit Künstlern, Bands und

DJs in Freiburg. Wir freuen uns über jede Anfrage, die uns dazu

erreicht“, sagt Josh. In der Freiburger „Night of a 1000 Drawings“

soll dann jedes einzelne der tausend A5-Kunstwerke ab jeweils

10 Euro versteigert werden.

Der Erlös kommt zu hundert Prozent sozialen Projekten

zugute. Wer gut in Mathe ist, kann sich ausrechnen, welche

gigantische Spendensumme da zusammenkommen wird.

„Wir möchten gerade jetzt, in dieser schwierigen Zeit, wegen

des Corona-Virus aufrufen von Zuhause aus kreativ zu werden.

Nutzt die Zeit und malt, zeichnet, pinselt, sprüht, fotografiert,

was euch einfällt und gefällt“, sagt Julia, „und schickt uns die

Bilder einfach per Post. Die Adresse nennen wir auf Nachfrage.“

Die ZETT.-Redaktion wünscht dem Projektteam viel Erfolg

und erprobt neben den Schreibkünsten auf DIN-A4 auch schon

mal seine Doodlekünste in DIN-A5-Größe.

www.freiburg.1000drawings.org

Hier einwerfen: Wer es zu zeitlich zu keiner Doodlesession schafft, kann sein

Kunstwerk auch postalisch senden oder in Sammelboxen einwerfen.

ZETT. JUNI 2020

65


GESELLSCHAFT

KÖRPER UND GEIST IM RUHIGEN FLUSS

Seit dem 15. Februar 2020 kümmern sich direkt an der Endhaltestelle

der Freiburger Straßenbahnlinie 1 Jan Karczewski (30) und

Michelle Wegener (27) um Leib und Leben geplagter Zeitgenossen,

die ein bisschen Schützenhilfe bei der Selbstoptimierung

gebrauchen können. Die beiden Sportwissenschaftler nennen

ihr Start-Up in der Kappler Straße 4 „corpus et animus“, weil

sich hier eben alles ums kleine Ganze des einzelnen Menschen

drehen soll.

„Wir sind definitiv kein Fitnessstudio“, sagt Karczewski

und lächelt fast schon ein bisschen entschuldigend.

Jan Karczewski und Michelle Wegener bringen Menschen auf Vordermann.

Kunst kann nicht

modern sein;

Kunst ist urewig.

Foto: Arne Bicker

„Aber bei uns haben Bewegung, Ernährung und Mentales den

gleichen Stellenrang.“ „Wobei wir natürlich gezielt an den

jeweiligen Schwachpunkten des Einzelnen arbeiten“, ergänzt

Michelle Wegener. Die junge Dame aus Berlin-Kreuzberg und

der junge Mann aus Kiel wissen genau, was sie wollen: Menschen

jeden Alters dabei assistieren, Negativfaktoren wie Stress,

Schlaflosigjeit, Übergewicht und Fitnessmangel endgültig den

Garaus zu machen.

Der Rahmen in den bewusst nachhaltig eingerichteten

Räumen ist sehr persönlich, die Preise sind dem Aufwand angemessen,

die Krankenkasse bleibt meist außen vor. Nach einem

Eingangscheck und ausführlicher Anamnese erscheinen je nach

Wasserstandsmeldung Ernährungspläne, Fitnesstraining, Yoga

oder autogenes Training auf dem Stundenplan. Und dann geht

es ans Eingemachte – und damit sind gerade nicht die Marmeladentöpfe

im heimischen Keller gemeint.

„Wer zum Beispiel kein Essenstagebuch führen möchte,

obwohl das vielleicht sinnvoll wäre, kann uns auch einfach Handy-Fotos

von seinem Teller schicken“, sagt Michelle Wegener.

„Wir geben dann entsprechend Feedback.“ Essen fotografieren?

Damit erschließen sich die beiden Neu-Freiburger auf jeden Fall

einen riesengroßen Kundenkreis. Und noch etwas ist Jan Karczewski

besonders wichtig: „In jedem Fall ziehen wir hier keinen

vorgefertigten Trainingsplan aus der Schublade. Wir betreuen

jeden Einzelnen persönlich und individuell, in kleinen oder großen

Schritten. Das ist ein fließender Prozess.“

www.corpusetanimus.de

Alles finden.

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Gitarre gesucht

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wünscht allen Leser*innen

eine anregende Lektüre

von ZETT.

66 ZETT. JUNI 2020



Ihr Nachbar

merkt es nicht!

Wir verkaufen Ihr

Haus oder Ihre

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ganz diskret.

Wir beherrschen unser Metier:

Wir sind ein inhabergeführtes Familienunternehmen, das 1992 von Brigitte und Dieter Schemmer in

Waldkirch gegründet wurde. 1998 eröffneten wir zusätzlich den Standort in Freiburg.

Seit 2003 befindet sich unser Freiburger Büro am heutigen Standort, in zentraler Lage in der Bertoldstraße.

Wir sind ein hochmotiviertes und qualifiziertes Team mit viel Erfahrung und Profession.

Hohes Fachwissen und ausgeprägte Branchen- und Marktkenntnis, verbunden mit einer angenehm

persönlichen Betreuung: mit diesem Qualitätsanspruch begleiten wir jährlich rund 250 Transaktionen.

Standort Waldkirch:

Lindenweg 1

79183 Waldkirch

Telefon 0 76 81-2 53 91

Brigitte Schemmer

www.schemmer.de

Standort Freiburg:

Bertoldstraße 51

79098 Freiburg

Telefon 0761-15 06 99-0

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