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Leseprobe_Glüxam_Aus der Seele muß man spielen

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Einführung<br />

Einführung<br />

„<strong>Aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong> <strong>muß</strong> <strong>man</strong> <strong>spielen</strong>,<br />

und nicht wie ein abgerichteter Vogel …“,<br />

schreibt <strong>der</strong> deutsche Komponist und Musikpädagoge Carl Philipp E<strong>man</strong>uel Bach<br />

(1714–1788) anno 1753 im Kapitel Vom Vortrage in seiner Klavierschule. 1 Warum habe<br />

ich gerade diesen Satz als Titel dieses Buchs gewählt? Schlicht deshalb, weil diese <strong>Aus</strong>sage<br />

den wichtigsten Aspekt <strong>der</strong> Interpretation <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

trifft: Nicht spiel- o<strong>der</strong> gesangstechnische Virtuosität, son<strong>der</strong>n die musikalische Darstellung<br />

menschlicher Leidenschaften und die Erregung dieser Leidenschaften in den<br />

Zuhörern bildete die Basis und zugleich das wichtigste Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> musikalischen<br />

Komposition und Interpretation jener Zeit. Es ging also nicht darum, Menschen mit<br />

Musik durch gesangs- o<strong>der</strong> spieltechnisches Können zu beeindrucken, son<strong>der</strong>n sie emotional<br />

zu berühren.<br />

Dahinter verbirgt sich die seit dem klassischen Altertum tradierte Überzeugung, nach<br />

<strong>der</strong> Musik auf Menschen eine geradezu magische – heilende, erzieherische wie ethische –<br />

Wirkung hat. In Anlehnung an diese antiken Theorien wurde <strong>der</strong> Musik im Laufe <strong>der</strong><br />

Jahrhun<strong>der</strong>te die Fähigkeit zugesprochen, menschliche Leidenschaften – Affekte – darstellen<br />

und dadurch gezielt auf Menschen einwirken zu können. Seit <strong>der</strong> Spätrenaissance<br />

und insbeson<strong>der</strong>e im 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>t entwickelte sich diese Auffassung zunächst<br />

in Italien und danach in ganz Europa zur treibenden Kraft <strong>der</strong> barocken Kompositionslehre,<br />

kurzum zum „Richtpunkt musikalischen Denkens“. 2 Beson<strong>der</strong>s nachdrücklich wurde<br />

die alles beherrschende Rolle des Affektes von Johann Mattheson (1681–1764) formuliert,<br />

einem <strong>der</strong> wichtigsten Musiktheoretiker des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts: „Summa, alles<br />

was ohne löbliche Affecten geschiehet, heißt nichts, thut nichts, gilt nichts: es sey wo, wie,<br />

und wenn es wolle.“ 3 In <strong>der</strong> nicht min<strong>der</strong> einflussreichen Allgemeinen Theorie <strong>der</strong> Schönen<br />

Künste (1771) von Johann Georg Sulzer (1720–1779) wird wie<strong>der</strong>um festgehalten, dass<br />

<strong>der</strong> Komponist „nie“ [!] vergessen dürfe, dass ein Tonstück, in dem sich nicht „irgend<br />

eine Leidenschaft, o<strong>der</strong> Empfindung“ in einer „verständlichen“ Sprache äußere, nichts als<br />

ein „bloßes Geräusch“ [!] sei. 4<br />

Wie diese zwei Zitate bereits erahnen lassen, handelt es sich bei <strong>der</strong> Darstellung bzw.<br />

dem <strong>Aus</strong>druck von Affekten / Leidenschaften / Empfindungen o<strong>der</strong> kurz gesagt bei <strong>der</strong><br />

„Affekttheorie“ nicht um eine musikästhetische Theorie neben vielen an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />

um das allumfassende Bestreben <strong>der</strong> Musik des 17. und 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts, menschliche<br />

Affekte in all ihren Nuancen kompositorisch und interpretatorisch adäquat darzustellen,<br />

eine Haltung, die „kompositorische Praxis und Fragen <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe und Wirkung von<br />

1 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 119.<br />

2 R. Dam<strong>man</strong>n, Der Musikbegriff, S. 217.<br />

3 J. Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister (1739), S. 146.<br />

4 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1771), Erster Theil, Art. „Instrumentalmusik“, S. 560.<br />

Vgl. auch die spätere <strong>Aus</strong>gabe Allgemeine Theorie <strong>der</strong> Schönen Künste (1792), Art. „Instrumentalmusik“, Bd. II,<br />

S. 678.<br />

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