Leseprobe_Glüxam_Aus der Seele muß man spielen

Dagmar Glüxam
„Aus der Seele
muß man spielen …“
Über die Affekttheorie in der Musik
des 17. und 18. Jahrhunderts
und ihre Auswirkung auf die Interpretation

„Aus der Seele muß man spielen …“
Über die Affekttheorie in der Musik
des 17. und 18. Jahrhunderts
und ihre Auswirkung
auf die Interpretation

Dagmar Glüxam
„Aus der Seele muß man spielen …“
Über die Affekttheorie in der Musik
des 17. und 18. Jahrhunderts
und ihre Auswirkung
auf die Interpretation

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:
MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien,
Wissenschafts- und Forschungsförderung
Dagmar Glüxam: „Aus der Seele muß man spielen …“ Über die Affekttheorie
in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Auswirkung auf die Interpretation
© HOLLITZER Verlag, Wien 2020
Abbildung auf dem Umschlag:
„Der Lebensbaum“, © Dagmar Glüxam (2019)
Foto: Christian Schörg
Lektorat: Marion Linhardt
Umschlaggestaltung: Daniela Seiler
Satz: Nikola Stevanović
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
© HOLLITZER Verlag, Wien 2020
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99012-624-0

In Liebe und unendlicher Dankbarkeit
meinem Vater
Ctibor Valeš (1930–2019)
gewidmet.

Einführung
Inhalt
Einführung. ....................................................... 15
„Aus der Seele muß man spielen,
und nicht wie ein abgerichteter Vogel …“ ............................. 15
Der Komponist steht im Vordergrund ............................... 16
Die vermittelnde Rolle des Interpreten .............................. 18
Der Notentext und seine symbolische (Affekt-)botschaft ................. 19
Die zentrale Rolle der Nachahmung nach dem Prinzip der Analogie ........ 20
Die etwas andere Art des „richtigen“ Notenlesens ...................... 20
Wie arbeitet man mit diesem Buch? ................................ 22
Woher bekommen wir die Information? ............................. 24
Musiktheoretische Werke – Musiklexika – Lehrwerke – Sekundärliteratur
Teil I
Historische Grundlagen der Affektdarstellung in der Musik. ................ 35
Zu den Begriffen Affekt, Leidenschaft, Gemütsbewegung,
Empfindung, Gefühl, Charakter. .................................... 37
Affect / Affekt / Leidenschaft ..................................... 37
Empfindung, Gefühl ........................................... 41
Character / Charakter .......................................... 48
Die Musik und ihre Wirkung: ein kurzer geschichtlicher Überblick. ........ 51
Antike ...................................................... 51
Redekunst und Affekt
Mittelalter ................................................... 57
Renaissance .................................................. 61
Die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. .............................. 67
Die „wunderbaren“ Wirkungen der Musik ........................... 76
Wie wirkt Musik? .............................................. 80
Musik als Nachahmung der „Natur“. .................................87
Nachahmung nach dem Prinzip der Analogie. ..........................97
Nachahmung versus Ausdruck? .................................. 104
„Ausdruck“ nach dem Prinzip der analogen Nachahmung .............. 107
Musik als Nachahmung der Sprache. ................................ 111
Über die besonders starke affekterregende
Wirkung der textgebundenen Musik ............................... 114
Instrumentalmusik und Affekt. .................................... 125
Instrumentalmusik als Nachahmung des Gesangs ..................... 128
Der Text als treibende Kraft des Ausdrucks in der Instrumentalmusik ..... 133
Musik und Rhetorik ............................................. 139
Rhetorik und musikalischer Vortrag ............................... 144
6

Einführung
Musikalische Darstellung der Affekte nach dem Prinzip der Analogie. ..... 153
Haupt- und Nebenaffekte ....................................... 155
Übersicht der Affekte. ............................................ 161
Liebe – Verlangen – Zärtlichkeit – Die Empfindungen des Anmutigen und Lieblichen – Das
„Niedliche“ – Ruhe, Zufriedenheit, das „Angenehme“ – Unschuld – Wollust – Schmerz, Trauer,
Melancholie – Missvergnügen – Verzweiflung – Freude – Fröhlichkeit – Lachen / Weinen –
Furcht – Zweifel, Wankelmut – Mitleid, Erbarmen – Trost – Hoffnung – Stolz und Hochmut –
Demut, Geduld – Ungeduld – Mut – Feigheit – Zorn, Rache, Gewalt – Wut und Raserei –
Hass, Kaltsinn – Eifersucht – Neid – Reue – Das Pathetische, Erhabene, Prächtige – Das
„Große“ – „Ehrbegierde“, „Liebe zum Ruhm“ (Ehrliebe, Ehrgeiz) – Schamhaftigkeit – Sorglosigkeit
– Verspottung und Ironie
Teil II
Das Erkennen von Affekten. ......................................... 195
Wie lassen sich Affekte erkennen?. .................................. 197
Kurzer historischer Überblick über Aussagen zur Affekterkennung ........ 198
Stil. ..........................................................209
Allgemeines ................................................. 209
Drei wichtige Kategorien: der Kirchen-, der Theater- und der Kammerstil ... 213
Kirchenstil .................................................. 218
Theaterstil .................................................. 224
Kammerstil ................................................. 226
Die Auswirkung des Stils auf die Interpretation ...................... 230
Nationalstil ................................................. 232
Hohe, mittlere, niedrige Schreibart ................................ 235
Die Auswirkung der hohen, der mittleren und
der niedrigen Schreibart auf Affekterkennung und Vortrag .............. 239
Gattungen, Formen. ............................................. 241
Allgemeines ................................................. 241
Vokalinstrumentale Musik ...................................... 241
Oper – Pastorale – Oratorium – Kantate – Arie – (Arien-)Ritornell – Arioso – Rezitativ –
Chor – Lied – Choral
Instrumentalmusik ............................................. 263
Ouverture – Sinfonia, Sinfonie, Symphonie – Intrada – Concerto grosso / Concerto / Konzert –
Divertimento – Marche – Rondeau – Saltarella – Serenata, Serenada – Solo – Sonata, Sonate –
Fantasie – Fuga – Lamento, Lamentatione – Romanze – Orgelvor- und -zwischenspiele
Instrumentalmusik – Tanzsätze .................................. 283
Übersicht der Tänze (alphabetisch) ............................... 284
Allemanda, Allemande – Bourrée – Bransle / Branle – Canarie – Chaconne, Ciacona – Courante –
Entrée – Folie d’Espagne – Forlane – Furie – Galliarda, Galliarde – Gavotte – Gigue – Ländler –
Loure – Menuett – Musette – Passacaille, Passacaglia – Passamezzo – Passepied – Pastorale –
Pavane / Paduana – Polonaise – Rigaudon – Sarabande – Siciliano – Tambourin – Villanella
7

Einführung
Tonart ........................................................309
Allgemeines ................................................. 309
Kirchentonarten .............................................. 310
Charakteristiken der einzelnen Kirchentonarten ...................... 312
Dur-Moll-Tonarten ........................................... 323
Drei Aspekte der Tonartencharakteristik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Charakteristiken der einzelnen Dur- und Moll-Tonarten ............... 327
C-Dur – G-Dur – D-Dur – A-Dur – E-Dur – H-Dur – Gis-Dur – a-Moll – e-Moll – h-Moll –
fis-Moll – as-Moll / gis-Moll – cis-Moll – F-Dur – B-Dur – Es-Dur – As-Dur – Des-Dur /
Cis-Dur – Ges-Dur / Fis-Dur – d-Moll – g-Moll – c-Moll – f-Moll – b-Moll – es-Moll
Das Prinzip der „Reinheit“ als Hilfe zur Bestimmung
des (Affekt-)Charakters einer Tonart ............................... 344
Melodie .......................................................347
Allgemeines ................................................. 347
Melodie als Nachahmung: das Analogieprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Tonlage .................................................... 348
Höhe der Stimmung
Intervalle ................................................... 355
Intervallschritt, Intervallsprung / Gradus, saltus ...................... 358
Terminologischer Exkurs
Intervallsymbolik ............................................. 369
Übersicht der einzelnen Intervalle ................................ 374
Kleine Sekund – Die Position der kleinen Sekund als bestimmend für den affektiven Charakter
verschiedener Tonfolgen – Chromatische Fortschreitungen – Große Sekund – Verminderte
Terz, kleine Terz – Große Terz – Quarte – Übermäßige Quarte – Quinte – Kleine Sexte –
Große Sexte – Septime – Oktav
Melodierichtung ............................................... 389
Anabasis – catabasis – Circulatio
Melodieumfang ............................................... 395
Hyperbole – hypobole
Regelmäßigkeit / Unregelmäßigkeit des melodischen Verlaufs ............. 398
Rhythmus .....................................................403
Allgemeines ................................................. 403
Der symbolische Wert der Notenwerte ............................. 404
Verbindung von Melodie und Rhythmus ........................... 407
Verschiedene Formen von Tonrepetitionen .......................... 407
Repetierte Sechzehntelnoten – genere (stile) concitato – Repetierte Achtelnoten
Rhythmische Bewegung in Kombination mit melodischer Bewegung ...... 415
Sekundwiederholungen, Triller – Die sog. „wesentlichen“ Manieren – Verschiedene Intervalle
in Verbindung mit kurzen Notenwerten als Ausdruck von heftigen oder flüchtigen Affekten –
Exclamatio – Tirata – Passagien – Fuga – Gebrochene Akkorde – Passagen bzw. gebrochene
Akkorde mit Bindebögen – Akkordzerlegungen
8

Einführung
Punktierter Rhythmus ......................................... 438
Punktierte Rhythmen in Kombination mit Bindebögen – Der unterschiedliche Vortrag der
punktierten Rhythmen – Der sog. „lombardische“ Rhythmus und sein Vortrag
Versfüße .................................................... 447
Die Charakteristik der einzelnen Versfüße . ......................... 448
Zweisilbige Versfüße – Spondäus – Pyrrhichius – Jambus –Trochäus
Dreisilbige Versfüße – Anapäst – Daktylus – Tribrachys – Molossus – Bacchius – Amphimacer –
Amphibrachys – Palymbacchius
Viersilbige Versfüße – Pæon – Epitritus – Jonicus, a majori; Jonicus, a minori
Pausen ..................................................... 460
Suspiratio, stenasmos – Tmesis – Pausa generalis, aposiopesis – Fermata – Dubitatio – Abruptio –
Ellipsis
Rhythmische Regelmäßigkeit – Unregelmäßigkeit .................... 470
Zum Vortrag der unterschiedlichen Notenwerte ...................... 473
Tempo, Bewegung. .............................................. 475
Allgemeines ................................................. 475
Tempo (Bewegung) und Affekt ................................... 476
Tempo (Bewegung) und das Prinzip der analogen Nachahmung .......... 477
Kompositionen ohne Tempoangaben .............................. 480
Tempo giusto
Kompositionen mit Tempo- / Charakterangaben ..................... 483
Tempoangaben als Verdeutlichung oder Abweichung von der „Norm“ – Tempoangaben
als Charakterangaben – Adagio, presto und tardo als Tempoangaben – Allegro, vivace als
Charakterangaben – Verwandlung der Charakterangaben in Tempoangaben
Zwei grundlegende Bewegungstypen – adagio und allegro ............... 496
Adagio – Allegro
Plötzlicher Tempowechsel als Ausdruck von
Gefühlsschwankungen oder Eifersucht ............................. 502
Die beschränkte Aussagekraft von Tempoangaben .................... 502
Das richtige „Gefühl“ als unverzichtbare
Voraussetzung für die richtige Tempowahl .......................... 503
J. G. Portmann und seine Anleitung zum Empfinden verschiedener Affekte
Die Rolle der „Deutlichkeit“ und „Verständlichkeit“
bei der Tempobestimmung ...................................... 507
Stimmen gegen zu schnelles Tempo bzw. Tempoextreme – Extremes Tempo als Ausdruck von
extremen Gefühlen
Agogik, Tempo rubato ......................................... 512
Affekte, die nach Temposchwankungen verlangen – Konkrete Hinweise zur Anwendung
affektbedingter Temposchwankungen – Ad 1) Charakter des musikalischen Satzes, Stil, Gattung –
Ad 2) Melodische und rhythmische Kontraste – Ad 3) Verzierungen – Ad 4) Wiederholungen –
Ad 5) Crescendo – decrescendo – D. G. Türk über das „Eilen“ und das „Zögern“ – Tempo rubato
9

Takt. ......................................................... 529
Allgemeines ................................................. 529
Der Takt als wichtiger Hinweis auf den Affekt ....................... 530
Ad 1) Der gerade / ungerade Takt ................................. 532
Ad 2) Die einzelnen Taktarten als Hinweise auf die Art der Bewegung ..... 534
Ad 3) Takt und vorherrschende Notenwerte der Komposition ............ 542
Modifikation der Bedeutung der Taktart durch Tempoangabe ........... 545
Übersicht der Taktarten ........................................ 546
Der gerade Takt – 2/1-Takt – 2-Takt, -Takt, -Takt, 2/2-Takt – 4/2-Takt, -Takt, 4-Takt –
2/4-Takt, -Takt - -Takt, 4/4-Takt – Alla breve-Takt () – 8/4-Takt – 2/8-Takt – 4/8-Takt –
4/16-Takt – 8/8-Takt – 8/16-Takt
6/1-Takt – 6/2-Takt – 6/4-Takt – 6/8-Takt – 6/16-Takt
12/1-Takt – 12/2-Takt – 12/4-Takt – 12/8-Takt – 12/16-Takt – 18/16-Takt – 24/16-Takt
Der ungerade Takt – 3-Takt – 3/1-Takt – 3/2-Takt – 3/4-Takt – 3/8-Takt – 3/16-Takt
9/1-Takt – 9/2-Takt -9/4-Takt – 9/8-Takt – 9/16-Takt
Taktordnung. Die Bedeutung der Synkope .......................... 586
Harmonie. .....................................................589
Allgemeines ................................................. 589
Die besonders affekterregende Kraft von Dissonanzen ................. 591
Pathopoiea – Parrhesia, relatio non harmonica – Catachresis, fauxbordon – Verschiedene
Dissonanzen als Hinweis auf den Affekt der Komposition – Häufigkeit von Dissonanzen als
Hinweis auf den Affekt
Modulation ................................................. 605
Modulation und Affekt – Dubitatio – Modulation im Rezitativ
Sonderfall Unisono ............................................ 611
Dynamik. ..................................................... 613
Allgemeines ................................................. 613
Dynamik und Affekt .......................................... 614
Dynamische Nuancen als Folge nuancierter Affektdarstellung
Die Dynamik und das Prinzip der analogen Nachahmung .............. 620
Con sordino
Kompositionen ohne dynamische Angaben .......................... 625
„Komponierte Dynamik“ – Mehrstimmige Klänge als Form der Akzentuierung – Der melodische
Verlauf als Hinweis auf dynamische Schattierungen – Anabasis – catabasis – Circulatio –
Saltus, saltus duriusculus – Exclamatio – Interrogatio – Arpeggien
Dynamische Extreme als Ausdruck extremer Empfindungen ............. 640
Nachdruck als dynamische Kategorie .............................. 642
Akzente – Vortragsangaben und Nachdruck
Wie lassen sich wichtige Töne (Figuren) erkennen? .................... 649
a) Harmonische Hervorhebung ................................... 650
Harmoniefremde Töne – Verzierungen – Modulationen
b) Rhythmische Hervorhebung ................................... 657

Lange Töne innerhalb schneller Passagen – Kurze Töne innerhalb langsamer Passagen – Synkopen,
Ligaturen
c) Melodische Hervorhebung .................................... 661
d) „Verweilen“ als weitere Verstärkung der dynamischen Akzentuierung .... 663
Suspensio
e) Wiederholungsfiguren ........................................ 664
Anaphora, repetitio – Wiederholung als Echo – Epizeuxis – Anadiplosis – Paronomasia – Climax
(griech.) bzw. gradatio (lat.) – Hyperbaton – Epistrophe
f) Antithesis, antitheton ........................................ 673
g) Noema .................................................. 675
Dynamische Angaben als Hilfe zur Affekterkennung .................. 675
Aufführungsort, Anlass und Dynamik ............................. 678
Artikulation. ................................................... 679
Allgemeines ................................................. 679
Artikulation und Affekt ........................................ 680
Sprache als Vorbild – Eine „vernünftige“ – dem Affekt entsprechende – Wahl der Artikulation
Die Artikulation und das Prinzip der analogen Nachahmung ............ 686
Die An- und Aussprache der Töne ................................ 686
Tongebung, Tongestaltung ...................................... 689
Der Vortrag der Auftakte – Der „leichte“ und der „schwere“ Vortrag
Kompositionen oder Abschnitte ohne Artikulationszeichen .............. 716
Die Melodie als Affektträger: die Artikulation
von „Schritten“ und „Sprüngen“ .................................. 716
Drei Möglichkeiten der Artikulation: gezogen, geschleift, gestoßen. . . . . . . . 725
Schritte und Sprünge und musikalisch-rhetorische Figuren bzw. Verzierungen – Sprünge als
Hinweise auf eine innere Gliederung – Schritte und Sprünge als Hinweise auf Affektwechsel
Das Binden und Trennen der Töne – Strich, Punkt, Bindebogen ......... 745
Artikulation und Verzierungen
Der Bindebogen .............................................. 750
Die mildernde Wirkung des Bindebogens – Seufzerfiguren – Intensivierte Seufzerfiguren –
Viererbindungen als Nachahmung von Meereswellen – Bindebogen über dem Taktstrich – Unregelmäßige
Länge der Bindebögen / unregelmäßige Artikulation
Das Trennen der Töne ......................................... 760
Strich und Punkt – Unterschiede zwischen den Instrumenten – Unterschiedliche Arten der
getrennten / gestoßenen Artikulation und der Affekt
Scharfe Stimmen gegen den willkürlichen Umgang mit der Artikulation ... 771
Ergänzungen von Artikulationsangaben – (Unangebrachtes) Ergänzen von Bindebögen –
Punktierte Rhythmen – (Unangebrachtes) Ergänzen von Punkten und Strichen bzw. „hüpfende“,
„springende“ Spielweise
Verzierungen. .................................................. 783
Allgemeines ................................................. 783
Verzierung und Affekt ......................................... 784

Verzierungen und das Prinzip der analogen Nachahmung ............... 793
Anmerkungen zum Vibrato, Triller und mordent – Vibrato und Affekt
Kritische Stimmen gegen zu viele Verzierungen ...................... 824
Verzierungen im Adagio
Wo sind keine Verzierungen angebracht? ........................... 830
(Keine!) Verzierungen im Rezitativ
Kadenzen und Fermaten ........................................ 840
Besetzung, Instrumentation. ......................................847
Allgemeines ................................................. 847
Die Besetzungsgröße und das Prinzip der analogen Nachahmung ......... 849
Bassetto-Technik
Die Instrumentenwahl und das Prinzip der analogen Nachahmung ....... 853
Saiteninstrumente ............................................ 856
Laute – Viola da gamba – Viola d’amore, Baryton – Violine – Viola da braccio – Violoncello –
Violone / Kontrabass
Blasinstrumente .............................................. 866
Flöte, Traversflöte – Flageolet, Pfeifen, Pfiffari – Oboe – Chalumeau – Klarinette – Zink –
Fagott – Horn – Trompete – Pauken, Trommel – Posaunen
Tasteninstrumente ............................................ 879
Cembalo – Orgel – Orgelregister
Über den sog. „guten Vortrag“ ..................................... 885
Die Wichtigkeit des „Sich-Hineinversetzens“ in den Affekt .............. 894
Stimmen gegen Virtuosität als Selbstzweck .......................... 900
Zusammenfassung. ..............................................907
Die Feststellung des Affekts als erster Schritt der Interpretation .......... 908
Analyse des Notentextes nach den Prinzipien der analogen Nachahmung ... 909
Vortrag .................................................... 910
Bibliographie ..................................................... 915
Ausgaben ................................................... 915
Quellen .................................................... 917
Sekundärliteratur ............................................. 928
Personenregister ................................................... 943
Dank ........................................................... 949
Biographie der Autorin .............................................. 951

„Obgleich der Weg zur Rührung des Herzens lang, beschwerlich,
und wenigen bekannt ist;
so sind doch nichts desto weniger die Schwierigkeiten,
welche sich uns auf demselben entgegen stellen,
für denjenigen nicht unüberwindlich,
der nicht müde wird zu studieren.“
P. Fr. Tosi / J. Fr. Agricola,
Anleitung zur Singkunst (Berlin 1757)

Einführung
Einführung
„Aus der Seele muß man spielen,
und nicht wie ein abgerichteter Vogel …“,
schreibt der deutsche Komponist und Musikpädagoge Carl Philipp Emanuel Bach
(1714–1788) anno 1753 im Kapitel Vom Vortrage in seiner Klavierschule. 1 Warum habe
ich gerade diesen Satz als Titel dieses Buchs gewählt? Schlicht deshalb, weil diese Aussage
den wichtigsten Aspekt der Interpretation der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts
trifft: Nicht spiel- oder gesangstechnische Virtuosität, sondern die musikalische Darstellung
menschlicher Leidenschaften und die Erregung dieser Leidenschaften in den
Zuhörern bildete die Basis und zugleich das wichtigste Erfordernis der musikalischen
Komposition und Interpretation jener Zeit. Es ging also nicht darum, Menschen mit
Musik durch gesangs- oder spieltechnisches Können zu beeindrucken, sondern sie emotional
zu berühren.
Dahinter verbirgt sich die seit dem klassischen Altertum tradierte Überzeugung, nach
der Musik auf Menschen eine geradezu magische – heilende, erzieherische wie ethische –
Wirkung hat. In Anlehnung an diese antiken Theorien wurde der Musik im Laufe der
Jahrhunderte die Fähigkeit zugesprochen, menschliche Leidenschaften – Affekte – darstellen
und dadurch gezielt auf Menschen einwirken zu können. Seit der Spätrenaissance
und insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich diese Auffassung zunächst
in Italien und danach in ganz Europa zur treibenden Kraft der barocken Kompositionslehre,
kurzum zum „Richtpunkt musikalischen Denkens“. 2 Besonders nachdrücklich wurde
die alles beherrschende Rolle des Affektes von Johann Mattheson (1681–1764) formuliert,
einem der wichtigsten Musiktheoretiker des 18. Jahrhunderts: „Summa, alles
was ohne löbliche Affecten geschiehet, heißt nichts, thut nichts, gilt nichts: es sey wo, wie,
und wenn es wolle.“ 3 In der nicht minder einflussreichen Allgemeinen Theorie der Schönen
Künste (1771) von Johann Georg Sulzer (1720–1779) wird wiederum festgehalten, dass
der Komponist „nie“ [!] vergessen dürfe, dass ein Tonstück, in dem sich nicht „irgend
eine Leidenschaft, oder Empfindung“ in einer „verständlichen“ Sprache äußere, nichts als
ein „bloßes Geräusch“ [!] sei. 4
Wie diese zwei Zitate bereits erahnen lassen, handelt es sich bei der Darstellung bzw.
dem Ausdruck von Affekten / Leidenschaften / Empfindungen oder kurz gesagt bei der
„Affekttheorie“ nicht um eine musikästhetische Theorie neben vielen anderen, sondern
um das allumfassende Bestreben der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, menschliche
Affekte in all ihren Nuancen kompositorisch und interpretatorisch adäquat darzustellen,
eine Haltung, die „kompositorische Praxis und Fragen der Wiedergabe und Wirkung von
1 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 119.
2 R. Dammann, Der Musikbegriff, S. 217.
3 J. Mattheson, Der Vollkommene Capellmeister (1739), S. 146.
4 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771), Erster Theil, Art. „Instrumentalmusik“, S. 560.
Vgl. auch die spätere Ausgabe Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1792), Art. „Instrumentalmusik“, Bd. II,
S. 678.
15

Einführung
Musik umspannte und bestimmend durchdrang“. 5 Doch es ist eines der vielen Paradoxa der
Musikgeschichte, dass das Verständnis für diesen früher so prägenden Aspekt der musikalischen
Praxis im Laufe der Jahrhunderte fast vollständig verloren ging. Dies bedeutet
zwar keineswegs, dass der „Affekt“ nicht in heutigen musikhistorischen Abhandlungen
vertreten wäre, ganz im Gegenteil. Das Problem liegt vielmehr darin, dass musikhistorische
Beiträge in der Regel sozusagen von Musikforschern für Musikforscher verfasst
wurden und werden. Dementsprechend liegt der Schwerpunkt dieser Arbeiten vor allem
auf philosophischen oder musikästhetischen Betrachtungen, während die interpretatorischen
Aspekte kaum oder zumindest nicht in ihrer Gesamtheit beachtet wurden. Die
so wichtige „Brücke“ von der Komposition zur Interpretation, die die Brauchbarkeit und
Bedeutung der Affektdarstellung für die Interpretation verdeutlichen würde, fehlt. Das
vorliegende Buch will diese Lücke schließen. Mit Hilfe zahlreicher musikhistorischer
Lehrwerke und Musiklexika wird hier gezeigt, wie die vorherrschende Stellung des Affekts
die künstlerische Wiedergabe der Werke direkt beeinflusste, denn so wie die Komposition
als musikalisches Abbild menschlicher Emotionen verstanden wurde, war der
Interpret wiederum sozusagen „verpflichtet“, diese im Notentext enthaltenen Affekte zu
erkennen und sie verständlich an den Zuhörer weiter zu vermitteln.
Der Komponist steht im Vordergrund
Hier steht der heutige Musiker vor einer großen Herausforderung, wobei das Hauptproblem
der aktuellen Aufführungspraxis die zeittypische Diskrepanz zwischen dem kaum
bezeichneten Notentext (manche Kompositionen des 17. und 18. Jahrhunderts lassen
Tempo-, Dynamik- oder Artikulationsangaben sogar zur Gänze missen) und dem allgegenwärtigen
Anspruch auf differenzierten Ausdruck und leidenschaftliche Aufführung
darstellt. Bedeutet dies, dass der Interpret die Komposition zwar ausdrucksstark, aber
letztendlich doch nach seinem freien Willen wiedergeben darf?
Dieser Annahme widerspricht die immer wieder aufs Neue formulierte Forderung nach
einer genauen musikalischen Nachahmung der Affekte: Ähnlich wie der Komponist
einen bestimmten Affekt oder bestimmte Affekte so naturgetreu wie möglich darstellen
sollte, sollte der Interpret ebendiese[n] Affekt[e] zum Ausdruck bringen. Obwohl es
also auf den ersten Blick so scheint, dass der Notentext ohne Tempo-, Dynamik- und
Artikulationsangaben dem Interpreten eine ganze Vielfalt an interpretatorischen Möglichkeiten
eröffnet und dass der Vortrag in puncto Tempo, Dynamik, Artikulation oder
Ornamentik seiner freien Entscheidung (um nicht zu sagen Willkür) unterliegt, zeigen
zahlreiche zeitgenössische Aussagen, dass das Gegenteil zutrifft: Nicht der Interpret,
sondern der Komponist und seine „Absicht“ oder die „Wahrheit der Komposition“, also
letztendlich die in der Komposition festgehaltenen Affekte waren entscheidend und
müssen auch heute im Vordergrund stehen.
Wurde ein Musikstück hingegen nicht gewissenhaft auf seinen Affektgehalt untersucht
oder aber wurden die in der Komposition abgebildeten Affekte aufgrund fehlender
Kenntnisse oder emotionalen Unvermögens falsch dargestellt, führte dies automatisch
zu einem „schlechten“ Vortrag. Da dieser „schlechte“ Vortrag eine Komposition bis zur
Unkenntlichkeit verändern konnte, handelte es sich hier in den Augen der Musikgelehr-
5 U. Thieme, Die Affektenlehre, S. 3.
16

Einführung
ten jener Zeit um eine künstlerische Todsünde. Nach Johann Joachim Quantz ist der
Vortrag nicht nur dann „schlecht“, wenn der Ausführende falsch oder undeutlich spiele,
sondern auch dann, wenn er den „auszudrückenden Leidenschaften zuwider handelt; und
überhaupt wenn man alles ohne Empfindung, ohne Affect, und ohne selbst gerühret zu werden,
vorträgt …“. 6
Die Forderung nach adäquater Affektdarstellung im Sinne des Komponisten findet
sich schon bei dem italienischen Musiktheoretiker und Komponisten Gioseffo Zarlino
(1517–1590), 7 später verlangt etwa der deutsch-dänische Komponist und Musikschriftsteller
Johann Adolph Scheibe (1708–1776), dass alle ausführenden Musiker („praktische
Musikanten“) darauf „sehen“ sollten, dem „Sinne des Componisten gemäß“ [!] zu singen
und zu spielen. 8 In der Musikzeitschrift Der Critische Musicus an der Spree des deutschen
Musiktheoretikers Friedrich Wilhelm Marpurg (1718–1795) sind Erläuterungen über
den Vortrag durch den Leitsatz „Die Musick enthält die Sprache der Empfindungen und
der Leidenschaften“ geprägt. 9 Da Kompositionen nur selten von denjenigen gesetzt seien,
die sie aufführten, sei es der Vortrag, durch den sich die ausführenden Tonkünstler
profilieren könnten. Deshalb sei es sehr wichtig, dass die Interpreten das, was sie vortragen,
auch „selbst fühlen, und verstehen [!].“ 10 Dadurch, dass Marpurg später den willkürlichen
Umgang mit der Komposition kritisiert, wird offenkundig, dass mit diesem
„Verstehen“ das richtige „Entziffern“ der Botschaft des Komponisten gemeint ist. Musik
eines anderen zu „verfälschen, hinzuzuthun, wegzulassen“ wird von ihm als eine „Art von
Untreu“ bezeichnet, die ein „gelehrtes“ Ohr nicht verzeihen könne [!]. 11 Während eine
solche Willkürlichkeit dem „wahren“ Geschmack widerspreche, erfordere der „wahre“
Geschmack, dass der Ausführende die Absicht des Komponisten respektiere („der Absicht
des Setzers auf dem Fusse nachfolge“) und dass er durch seinen Vortrag „den Sinn des
Stückes entwerfe.“ 12 Marpurgs Kritik richtet sich insbesondere gegen Instrumentalisten:
„Diese sündigen insgemein durch die übertrieb[e]ne Höhe des Tones, durch die übertrieb[e]ne
Geschwindigkeit der Bewegung und weil sie den eigentlichen Character eines ieden Instruments
unnatürlich machen.“ 13 Nicht minder bezeichnend ist in diesem Zusammenhang
die Aussage des französischen Violinisten, Komponisten und Musiktheoretikers Michel
Paul Guy de Chabanon (1730–1792), der auf die Frage, ob ein und dasselbe Musikstück
6 J. J. Quantz, Versuch (1752), S. 110.
7 G. Zarlino, Le Istitutioni Harmoniche (1558), Terza Parte, Cap. 45, S. 204 („Debbeno adunque li Cantori
avertire, di cantar correttamente quelle cose, che sono scritte secondo la mente del Compositore …“.).
8 J. A. Scheibe, Critischer Musikus (1745), 12. Stück, S. 120.
9 Fr. W. Marpurg, Der Critische Musicus an der Spree (1749), 26. Stück, S. 209.
10 Ebd., S. 207.
11 Ebd., 41. Stück, S. 332.
12 Ebd.
13 Ebd. Nicht minder nachdrücklich verlangt Ch. Avison nach einem Vortrag, der genau der Intention des
Komponisten entspricht und die in der Komposition abgebildeten Affekte zum Ausdruck bringt: „For, as
Musical Expression in the Composer, is succeeding in the Attempt to express some particular Passion; so in the
Performer, it is to do a Composition Justice, by playing it in a Taste and Stile so exactly corresponding with the
Intention of the Composer, as to preserve and illustrate all the Beauties of his Work.“ / „Denn so, wie sich der
musikalische Ausdruck bey dem Komponisten findet, wenn er irgend eine Leidenschaft … auf eine glückliche
Art auszudrücken weiß; so besteht er bey dem Ausführer darinn, daß er einer Komposition Gerechtigkeit wiederfahren
läßt, und sie in einem Geschmacke, und mit einem Vortrage spielt, der mit der Absicht des Komponisten
so genau übereinstimmt, daß alle Schönheiten seines Werks dadurch beybehalten und ins Licht gesetzt werden.“
Ch. Avison, An Essay On Musical Expression (1753), S. 107–108; deutsche Übersetzung s. Karl Avison’s Versuch
über den musikalischen Ausdruck (1775), S. 75–76.
17

Einführung
verschiedene Arten des Vortrags vertrage, kompromisslos antwortet: „Unter allen ist immer
eine die schicklichste; diese Art sollte man auch für die einzige halten, weil sie die wahrste
ist.“ 14 Überhaupt sei es ein Zeichen mangelnden Talents, wenn der Interpret nicht fähig
sei, den „Geist“ eines Komponisten einzusehen. 15 Derjenige Interpret, der am wenigsten
den Geist der Komposition erfasse („der sich am wenigsten darein zu versetzen wüßte“),
verfügt nach Chabanon über das geringste („eingeschränkteste“) Talent. 16
Die vermittelnde Rolle des Interpreten
Daraus geht klar hervor, dass die Affektdarstellung im Sinne der barocken und klassischen
Musikästhetik für den Interpreten keineswegs bedeutet, irgendwelche beliebigen
Affekte nach eigenem Gutdünken darzustellen, sondern dass seine Aufgabe darin besteht,
bestimmte, im Notentext verschlüsselte Affekte zu erkennen und wiederzugeben.
In Übereinstimmung damit ist es die vermittelnde Rolle des Interpreten, die in den
zeitgenössischen Gesangs- und Instrumentalschulen regelmäßig hervorgehoben wurde.
„Worinn aber besteht der gute Vortrag?“, fragt C. Ph. E. Bach und antwortet sogleich: „in
nichts anderm als der Fertigkeit, musikalische Gedancken nach ihrem wahren [!] Inhalte
und Affect [!] singend oder spielend dem Gehöre empfindlich zu machen.“ 17
Der Violinpädagoge Leopold Mozart (1719–1787) verlangt, dass der Musiker sich
bei der Aufführung „alle Mühe“ geben müsse, den vom Komponisten dargestellten Affekt
zu „finden“ und „richtig“ vorzutragen. Weil sich die Affekte in der Komposition oft
veränderten („da oft das Traurige mit dem Fröhlichen abwechselt“), müsse der Interpret
außerdem in der Lage sein, zwischen diesen Affekten zu wechseln: „so muß man jedes
nach seiner Art vorzutragen beflissen seyn.“ 18 Er müsse dabei nicht nur alle Einzelheiten
des Notentextes respektieren („alles angemerkte und vorgeschriebene genau beobachten,
und nicht anders, als wie es hingesetzet ist abspielen …“), sondern auch den dargestellten
Affekt wiedergeben: „ … sondern man muß auch mit einer gewissen Empfindlichkeit spielen;
man muß sich in den Affect setzen, der auszudrücken ist ….“ 19
Der anonyme Autor der Anmerkungen über den musikalischen Vortrag (1767) betont
wiederum, dass es nicht ausreichend sei, die Töne lediglich rein oder genau zu spielen,
sondern dass der Interpret „den völligen [!] Sinn“ des Komponisten erkennen müsse:
„ … man muß nicht nur die Töne rein, und nach Beschaffenheit der Umstände, voll oder
dünne, stark oder schwach, u. s. w. und nach der genauesten Strenge des Zeitmaaßes herausbringen;
sondern selbst diese mechanische Erfordernisse der Execution, werden nicht mit
Reiz und zum Einnehmen des Herzens beobachtet, wenn man nicht den völligen Sinn des
Componisten einsiehet, und bis in den Geist desselben bringet.“ 20
Auch der italienische Jurist und Musiktheoretiker Antonio Lorenzoni (1755–1840)
bezeichnet als eine „gute“ Ausdrucksweise jene Art zu spielen, die der Absicht des Komponisten
entspreche: „Per buona espressione intendo la maniera di sonare conforme alla
14 M. P. G. de Chabanon / J. A. Hiller, Ueber die Musik und deren Wirkungen (1779/81), S. 177.
15 Unterscheiden sich die erstklassigen Musiker am meisten durch ihre eigenen Kompositionen, wird die Ausführung
dort, wenn sie ein und dasselbe Stück aufführen, sehr ähnlich sein: „Alle aber werden auf eins hinaus
kommen, wenn sie den Geist eines Componisten eingesehen, und den Sinn eines Stücks gefaßt haben.“ Ebd., S. 178.
16 Ebd.
17 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 117.
18 L. Mozart, Versuch (1756), S. 255–256.
19 Ebd., S. 253.
20 Anonymus, Fortsetzung der Anmerkungen über den musikalischen Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und
Anmerkungen die Musik betreffend, 12. October 1767, S. 115–116.
18

Einführung
intenzione del Compositore“. 21 Mit geradezu poetischen Worten wurde diese vermittelnde
Aufgabe vom deutschen Flötisten, Komponisten und Flötenbauer Johann Georg Tromlitz
(1725–1805) beschrieben: „ … Man rede durch seine Töne; man bringe durch sie sein
eigen Gefühl in das Gefühl des Zuhörers; man mache ihn traurig, man mache ihn fröhlich;
man rede aus dem Herzen und aus der Seele mit ihm, und lege ihm alles an das Herz, was
man fühlet, mit dem stärksten Nachdrucke.“ 22 Und wie schließlich in Sulzers Allgemeiner
Theorie der Schönen Künste zusammengefasst wird, beziehe sich der Anspruch der komponistengetreuen
Interpretation sowohl auf die einzelnen Teile als auch auf die ganze
Komposition: „Sowol das Ganze als jeder Theil desselben, muß gerade in dem Ton, in dem
Geist, dem Affect und in demselben Schatten und Licht, worin der Tonsetzer [!] es gedacht
und gesetzt hat, vorgetragen werden.“ 23
Zugleich machten die Musikgelehrten darauf aufmerksam, dass der Vortrag bei ein
und derselben Komposition zu völlig konträren Klangergebnissen führen könne:
C. Ph. E. Bach warnt davor, dass man „einerley Gedancken“ durch unterschiedlichen
Vortrag „dem Ohre so veränderlich“ machen könne, dass man „kaum mehr empfindet,
daß es einerley Gedancken“ gewesen seien; 24 der deutsche Klavierpädagoge Daniel Gottlob
Türk (1750–1813) vergleicht die musikalische Interpretation mit dem gesprochenen
Wort und erläutert, wie ein bestimmter Satz oder musikalischer Gedanke durch verschiedenen
Vortrag einen völlig anderen Sinn bekommen könnten: „Die Worte: Wird er
bald kommen? können blos durch den Ton des Sprechenden einen ganz verschiedenen Sinn
erhalten. Es kann dadurch ein sehnliches Verlangen, eine heftige Ungeduld, eine zärtliche
Bitte, ein trotziger Befehl, eine Ironie u. s. w. ausgedruckt werden. Das einzige Wort: Gott!
kann den Ausruf der Freude, des Schmerzes, der Verzweiflung, der größten Angst, des Mitleids,
der Bewunderung etc. in verschiedenen Graden bezeichnen. Eben so können auch
Töne, durch veränderten Vortrag, eine sehr verschiedene Wirkung hervor bringen.“ 25
Daraus folgt, dass der Interpret, will er die einzelnen musikalischen Gedanken wie
die ganze Komposition adäquat – im Sinne des Komponisten – vortragen, die affektive
Botschaft des Werkes bis ins letzte Detail verstehen muss. Deshalb sei es, wie auch Türk
betont, „äußerst nötig“, den Ausdruck „jeder Empfindung und Leidenschaft auf das sorgfältigste
zu studieren, sich denselben eigen zu machen, und richtig [!] anwenden zu lernen.“ 26
Der Notentext und seine symbolische (Affekt-)botschaft
Die zentrale Frage lautet nun: Wie lassen sich die im Notentext enthaltenen Affekte erkennen?
Scheint es dort, wo Musik mit Text verbunden ist, gewissermaßen einfacher zu
sein, zumindest den Grundaffekt der Komposition zu entschlüsseln, 27 stellt reine Instrumentalmusik
die Interpreten vor eine ungleich schwierigere Aufgabe, die Wissen – oder,
21 A. Lorenzoni, Saggio Per Ben Sonare Il Flautotraverso (1779), S. 70.
22 J. G. Tromlitz, Ausführlicher und gründlicher Unterricht die Flöte zu spielen (1791), S. 373. Mehr dazu ebd.
23 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1774), Zweyter Theil, Art. „Vortrag“, S. 1252. Vgl. auch
die Ausgabe Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1794), Art. „Vortrag“, Bd. IV, S. 706.
24 C. Ph. E. Bach, Versuch, I. Teil (1753), S. 117.
25 D. G. Türk, Klavierschule (1789), S. 348.
26 Ebd.
27 Die grundlegende Rolle des Textes in Bezug auf die Affekterkennung zeigt sich darin, dass die Informationen
dazu, wie Affekte erkannt werden können, erst später, und zwar gerade in den Instrumentalschulen,
behandelt wurden, wie etwa in J. J. Quantz’ Versuch (1752), A. Lorenzonis Saggio Per Ben Sonare Il Flautotraverso
(1779) oder in J. Fröhlichs Vollständiger Theoretisch-pracktischer Musikschule [1810/11] (s. u.).
19

Einführung
wie es oft ausgedrückt wurde, „Verstand“ – erfordert. Daraus ergab sich eine Überlegung,
die zur Entstehung dieses Buchs führte: Können wir uns aufgrund der alles beherrschenden
Rolle des Affektes in der Musik des 17. und 18. Jahrhundert sozusagen darauf verlassen,
dass eine jede Komposition ein Abbild einer bestimmten „Affektlandschaft“ darstellt,
bedeutet dies freilich umgekehrt, dass der Notentext als symbolisches Abbild dieser
Affekte zu verstehen ist. Und ähnlich wie diese Affekte mit Hilfe von musikalischen
Mitteln wie Stil, Gattung, Tonart, Melodie, Rhythmus, Takt, Tempo, Dynamik, Artikulation,
Ornamentik sowie Instrumentation abgebildet wurden, bedeutet dies in logischer
Konsequenz, dass ebendiese musikalischen Mittel dem Interpreten Auskunft über die
konkrete Affektdarstellung geben. Es geht dabei keineswegs um subjektive Hermeneutik,
also um subjektive Deutungsversuche mit dem Ziel, den Notentext mit beliebigen, subjektiven
Inhalten zu füllen, sozusagen nach dem Motto „auf mich wirkt dieses Werk, als
ob …“, sondern darum, sich mit den Grundprinzipien der musikalischen Sprache jener
Zeit auseinanderzusetzen, zu lernen und zu verstehen, wie die musikalische Umsetzung
außermusikalischer Inhalte in der Musik jener Zeit funktionierte.
Die zentrale Rolle der Nachahmung
nach dem Prinzip der Analogie
Eine entscheidende – und heutzutage zumindest auf dem Gebiet der Interpretation kaum
beachtete – Rolle spielt in diesem System das (ebenfalls aus der Antike übernommene)
Prinzip der analogen Nachahmung (mimesis), das besagt, dass der Komponist solche Mittel
und ihre Kombinationen wählen soll, die möglichst genau dem abzubildenden Affekt
entsprechen. Um das Ziel der naturgetreuen Affektdarstellung zu erreichen, entwickelten
die Komponisten im Laufe der Zeit einen bestimmten, stets auf dem Prinzip der analogen
Nachahmung basierenden „Umgang“ mit den einzelnen kompositorischen Aspekten
und Hand in Hand damit eine Art „Ausdrucksvokabular“. Damit sind melodische und
rhythmische Figuren oder harmonische Wendungen etc. gemeint, die stets in bestimmten
Kontexten und auf bestimmte Weise eingesetzt wurden, um bestimmte Inhalte auszudrücken.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang der Text, der sowohl in Hinsicht
auf vokale als auch vokalinstrumentale Musik die Entstehung von zahlreichen Figuren
provozierte. Dies ist zugleich der Grund dafür, warum diese Figuren später auch in reiner
Instrumentalmusik stets mit einer konkreten Bedeutung verknüpft wurden. Eine prominente
Rolle kommt in diesem Zusammenhang den sog. musikalisch-rhetorischen Figuren
zu, die von J. A. Scheibe sogar explizit als „Sprache der Affekte“ bezeichnet wurden. 28
Manche dieser Ausdrucksmittel bzw. Figuren sind noch heute geläufig, wie etwa die Bedeutung
der Moll-Tonarten als Ausdruck von traurigen Inhalten oder aber die absteigende
chromatische Reihe (passus duriusculus) als Hinweis auf besonders tragische Inhalte;
die meisten von ihnen sowie das Prinzip der analogen Nachahmung und seine Bedeutung
für das Verständnis der Musiksprache jener Zeit gerieten aber – zumindest im Hinblick
auf die Interpretation – vollkommen in Vergessenheit.
Die etwas andere Art des „richtigen“ Notenlesens
Deshalb ist es für den Interpreten von essenzieller Wichtigkeit, sich sowohl mit diesem
Nachahmungsprinzip als auch mit dem zeittypischen „Ausdrucksvokabular“ und der mu-
28 J. A. Scheibe, Critischer Musikus (1745), 75. Stück, S. 683.
20

Einführung
sikalischen Rhetorik im Detail vertraut zu machen, denn nur dann ist es möglich, Kompositionen
entsprechend zu „lesen“ und zu verstehen. Und umgekehrt: Besitzt der Interpret
keine ausreichende Kenntnis des musikästhetischen Hintergrunds des besprochenen
Zeitraums, wird es ihm wohl ähnlich ergehen wie einem Vortragenden, der einen Text
vortragen soll, dessen Sprache er nicht beherrscht. Auch wenn die Aussprache des vorzutragenden
Textes phonetisch richtig wäre, wäre ein solcher Redner sowohl im Hinblick auf
die einzelnen Worte als auch auf den gesamten Text wohl kaum in der Lage, die richtige
Tongebung, Dynamik, Geschwindigkeit, Akzentsetzung, sprich den richtigen Ausdruck
zu wählen. Dasselbe gilt für die Musik. Dies mag radikal klingen, entspricht aber den
musikästhetischen Prinzipien der Musik von der Spätrenaissance bis ins 19. Jahrhundert.
Hier zeigt sich aber auch die absolute Notwendigkeit eines anderen Zugangs zum Notentext
– eine andere Art des Lesens dieses Musiktextes –, denn es sind nicht „abstrakte“
Noten, die mit beliebigem Ausdruck „gefüllt“ werden können, sondern es ist die verborgene
symbolische Botschaft der Komposition, die es zu entschlüsseln gilt und die der
Interpret ihrem „wahren“ Inhalt entsprechend an den Zuhörer weiter vermitteln soll.
Ansonsten werde, wie der französische Philosoph und Komponist Jean-Jacques Rousseau
(1712–1778) es ausdrückt, ein Sänger, der in seiner Stimme nur die „Noten“ sieht,
„weder imstande sein, den vom Komponisten gewünschten Ausdruck zu erfassen, noch seinem
Gesang Ausdruck zu geben, sofern er dessen Sinn nicht begriffen hat.“ 29 G. S. Löhlein
wiederum wollte in seiner Violinschule den Schüler zum „guten Noten=Leser“ machen,
wobei er den Notentext bezeichnenderweise mit einer Sprache verglich, die man verstehen
müsse, weil „die Erfahrung lehret, daß man vorher der Sprache mächtig seyn muß, ehe
man sich zierlich und beredt darinnen ausdrücken kann.“ 30
Dementsprechend wurde die genaue Auseinandersetzung mit den in der Komposition
enthaltenen Affekten und deren entsprechende Wiedergabe als vordringliche Aufgabe
jedes Musikers betrachtet, die weit mehr als spieltechnische Fertigkeit geschätzt wurde.
„Die Tonkünstler müssen also, wenn sie ein Stück recht spielen wollen, und es studiren, mehr
darauf denken, was für Empfindungen darinn herrschen, und wie von einer zur andern
übergegangen wird, als darauf, wie sie das Stück mit viel Künstlichkeit ausstaffiren wollen“,
heißt es etwa in den anonymen Anmerkungen über den musikalischen Vortrag (1767). 31
Wie wichtig diese Art des Zugangs zur musikalischen Komposition und Interpretation
in der Musik jener Zeit war, zeigt die Tatsache, dass der Autor diese Forderung wenig
später nochmals und mit Nachdruck wiederholte: „Ich habe zwar oben schon gesagt, daß
man das Innere eines musikalischen Stückes recht studieren müsse, wenn man es mit gutem
Erfolge spielen und singen will. Aber man kann davon nicht zu viel sagen.“ 32
Das vorliegende Buch soll dem interessierten Leser und vor allem allen ausführenden
Musikern helfen, die faszinierende Welt der Barockmusik in ihrer Gesamtheit wieder-
29 „Le Chanteur qui ne voit que des Notes dans sa Partie, n’est point pas en état de saisir l’Expression du Compositeur,
ni d’en donner une à ce q’il chante s’il n’en a bien saisi le sens.“ J.-J. Rousseau, Dictionnaire De Musique
(1768), Art. „EXPRESSION“, S. 215. Deutsche Übersetzung nach D. und P. Gülke, J. J. Rousseau. Musik
und Sprache, S. 265.
30 G. S. Löhlein, Anweisung zum Violinspielen (1774), S. 2–3.
31 Anonymus, Fortsetzung der Anmerkungen über den Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen
die Musik betreffend, 21. September 1767, S. 91.
32 Anonymus, Anmerkungen über den musikalischen Vortrag. In: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen
die Musik betreffend, 12. October 1767, S. 115.
21

Einführung
zuentdecken, zu begreifen und die hier gewonnenen Informationen in der musikalischen
Praxis anzuwenden. Die einzelnen Aspekte der kompositorischen Umsetzung
des Nachahmungsprinzips sind ausführlich im II. Teil dieses Buchs erklärt und betreffen
ohne Ausnahme alle Bereiche der Komposition wie Stil, Gattung, Tonart, Takt,
Melodie, Rhythmus, Harmonie, Dynamik, Artikulation, Ornamentik, Besetzung und
Instrumentation sowie des Vortrags. Besonders hervorzuheben sind in diesem Kontext
die außerordentlich wichtige Rolle der Melodie und des Rhythmus, insbesondere
die symbolische Bedeutung der Intervalle wie die Aufteilung auf Schritte (gradus)
und Sprünge (saltus) und ihre Konsequenzen für die Artikulation, ähnlich wie die
symbolische Bedeutung der verschiedenen Notenwerte. Weitere bedeutsame Bereiche
bilden das Tempo als eine direkt aus dem Affekt resultierende Kategorie, die Harmonie
(dort vor allem die Differenzierung zwischen Konsonanzen und Dissonanzen und
ihre Bedeutung bei der Affektdarstellung), die Dynamik (Prinzipien der dynamischen
Gestaltung in ungezeichneten Kompositionen sowie Bedeutung von forte und piano),
die Artikulation in Bezug auf den kompetenten Umgang mit den Artikulationszeichen
Punkt, Strick und Bindebogen wie der gesamten Tongebung sowie der adäquate
Umgang mit Ornamentik. Erst dann, wenn der Interpret anhand einer detaillierten
Untersuchung der Komposition ihre affektive Botschaft verstanden hat, kann er die –
dem dargestellten Affekt adäquate – Vortragsart wählen. Hier ist wiederum eine gefühlvolle
Seele erforderlich, denn erst das Zusammenwirken von Wissen und Gefühl
kann zum Ziel – zur emotionalen Berührung des Zuhörers – führen. Die Rolle des
„wissenden“ und zugleich „fühlenden“ Interpreten lässt sich dabei mit jener eines
Schauspielers vergleichen, der selbstverständlich die Sprache seiner Rolle verstehen
und fühlen muss, um den Inhalt seines Textes überzeugend darstellen zu können.
Wie arbeitet man mit diesem Buch?
Das vorliegende Buch basiert auf einem intensiven jahrelangen Studium zahlreicher historischer
Quellen. Obwohl der Versuch unternommen wurde, die Prinzipien der Affektdarstellung
möglichst breit zu dokumentieren, besteht angesichts der enormen Materialfülle
kein Anspruch auf Vollständigkeit. Um die Orientierung zu erleichtern, beginnen
die einzelnen Kapitel meist mit einer Zusammenfassung der wichtigsten Grundsätze,
danach folgt ein Überblick der Zitate verschiedener Autoritäten aus den wichtigsten musikbezogenen
Abhandlungen etwa ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des
19. Jahrhunderts. Diese Zitate sollen einerseits das eben Gesagte belegen, andererseits
aber auch die Verbreitung dieser Ideen in ganz Europa dokumentieren. Der Schwerpunkt
liegt dabei auf jenen Kommentaren, die für die musikalische Interpretation von Bedeutung
sind. Da die Autoren unseres Darstellungszeitraums jedoch meist nicht systematisch
vorgingen und außerdem verschiedene Akzente setzten, ist die Qualität der Informationen
sehr unterschiedlich. So wurden gewisse Themen, wie z. B. Fragen in Bezug auf
die richtigen (= dem Affekt adäquaten!) Verzierungen, von vielen Autoren abgehandelt,
andere kleine, aber überaus interessante Details dagegen nur selten und punktuell angesprochen.
Dennoch helfen gerade diese Details (wie z. B. die Anmerkungen über den
adäquaten Ausdruck der Augen oder aber die richtige Registerwahl bei der Orgel) erheblich,
das System der musikalischen Affektdarstellung in seiner Gesamtheit zu verstehen.
Das Buch ist in zwei Hauptteile gegliedert: Der erste Teil beginnt mit terminologischen
Erläuterungen zu den Begriffen Affekt, Leidenschaft, Gemütsbewegung, Empfindung, Ge­
22

Einführung
fühl und Charakter, danach folgen Kapitel über die Entwicklung der musikalischen Affektdarstellung
von der Antike bis ins beginnende 19. Jahrhundert, mit Schwerpunkt auf
der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. Dieser Überblick soll helfen, die musikalische
Affektdarstellung als ein gewachsenes und auf antiken Vorbildern basierendes System zu
begreifen, das in der Spätrenaissance wieder aufgegriffen und sukzessive weiter ausgearbeitet
wurde und das in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts schließlich zum vorherrschenden
Prinzip des gesamten musikalischen Denkens wurde. Zwei Hauptaspekte bilden
dabei den roten Faden der Betrachtung: einerseits die seit der Antike tief verankerte Überzeugung
von der besonderen Fähigkeit der Musik, im Menschen „wunderbare“ Wirkungen
erzielen und Emotionen musikalisch darstellen zu können, andererseits das ebenfalls auf
antiken Vorbildern basierende Verständnis von Musik als einer nachahmenden Kunst.
Die Verbindung dieser zwei Sichtweisen führte letztendlich zur Auffassung von Musik als
einer Kunst, die nicht nur fähig ist, menschliche Affekte musikalisch nachzuahmen und
dadurch gezielt den Menschen zu beeinflussen, sondern die dazu verpflichtet ist. Von essenzieller
Bedeutung ist hier die enge Verbindung von Musik und Sprache, denn es war die
Sprache, die als wichtigste Affektträgerin galt und die deshalb direkt mit musikalischen
Mitteln nachgeahmt werden konnte und sollte. Daraus resultiert die zentrale Stellung der
textgebundenen Musik in der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts, ähnlich wie die zahlreichen
Parallelen zwischen Musik und Redekunst (Rhetorik), die sowohl für die Komposition
als auch für die Aufführung von entscheidender Wichtigkeit sind.
Die gedankliche Struktur, auf der das System der musikalischen Affektdarstellung basiert,
lässt sich folgendermaßen umschreiben: „Musik als Nachahmung der Natur“ –
„Nachahmung nach dem Prinzip der Analogie“ – „Musik als Nachahmung der Sprache“ –
„Instrumentalmusik als Nachahmung des Gesangs“. Jedem dieser Stichworte ist in
diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Kapitel „Musikalische Darstellung der
Affekte nach dem Prinzip der Analogie“ wird mithilfe historischer Aussagen erklärt,
wie die Affektdarstellung konkret vonstatten ging; das Kapitel „Übersicht der Affekte“
bietet eine Übersicht über konkrete Affekte samt Beschreibungen der musikalischen
Umsetzung aus musikbezogenen Abhandlungen der Zeit.
Der II. Teil bringt zunächst zusammenfassende Erklärungen dazu, wie sich Affekte erkennen
lassen, und stützt sich auf Autoren wie J. J. Quantz, A. Lorenzoni, J. J. Engel, J. Ph.
Kirnberger, J. G. Sulzer (Allgemeine Theorie der Schönen Künste), J. N. Forkel, H. Chr. Koch
und J. Fröhlich. Da die verschiedenen Autoren stets das Zusammenwirken aller kompositorischen
Aspekte betonten (auch wenn sie nicht immer angeführt wurden), folgt nach
den Hinweisen zur Affekterkennung eine Übersicht der einzelnen kompositorischen
Aspekte wie Stil, Gattungen und Formen, Tonart, Melodie, Rhythmus, Tempo / Bewegung,
Takt, Harmonie, Dynamik, Artikulation, Verzierungen, Besetzung und Instrumentation,
wobei diese Ausführungen schließlich in das Kapitel über den sog. „guten“
Vortrag münden. Als „gut“ wurde ein Vortrag nur dann empfunden, wenn der Interpret
die in der Komposition enthaltenen Affekte erkannte und sie nach der Vorstellung des
Komponisten verständlich an den Zuhörer weitergab.
Obwohl es wünschenswert wäre, dass der Interessierte das gesamte Buch lesen würde,
sind es in Teil I insbesondere die Kapitel über das Prinzip der analogen Nachahmung
sowie über Musik und Rhetorik, die enorm wichtig für das Verständnis der Materie
sind. Die Kapitel aus Teil II können je nach Bedarf auch einzeln gelesen werden,
wie z. B. das Kapitel über die Artikulation oder Ornamentik. Da sich in den Kapiteln
23

Einführung
Gattungen / Formen, Tonart, Melodie, Rhythmus, Takt und Besetzung / Instrumentation
außerdem Übersichten über die Charakteristiken der verschiedenen Gattungen bzw.
Autoren finden, besitzt dieses Buch den Charakter eines Nachschlagewerks. Wie man
jedoch insbesondere in Bezug auf die Tonart oder den Takt sehen kann, weichen die
Informationen gelegentlich voneinander ab. Hier ist es wichtig, den historischen und
regionalen Standort des Autors zu berücksichtigen und ihn mit dem jeweiligen Werk in
Relation zu bringen. Außerdem sollten die einzelnen kompositorischen Aspekte stets in
ihrer Gesamtheit beachtet werden, denn obwohl wir z. B. in Bezug auf eine bestimmte
Tonart oder Taktart mit unterschiedlichen Aussagen konfrontiert sind, geben andere Aspekte
wie Melodie, Rhythmus, Harmonie, Bewegung, Artikulation etc. meist genügend
Hinweise auf den Affekt der Komposition. Außerdem wurden gewisse Einzelheiten erst
später beschrieben, so etwa die Art, wie man einen Seufzer nachahmt, von L. Mozart.
Aufgrund des stets geltenden Nachahmungsprinzips ist gleichwohl klar, dass derartige
musikalische Darstellungen der Seufzer auch für frühere Kompositionen gelten.
Woher bekommen wir die Information?
Es ist gerade durch die Selbstverständlichkeit der Affektdarstellung in der Musik des
17. und 18. Jahrhunderts zu erklären, dass das musiktheoretische Schrifttum jener Zeit
eine genau ausgearbeitete, systematische „Affektenlehre“ vermissen lässt. Sogar der
heutzutage oft verwendete Begriff „Affektenlehre“ wurde im 17. Jahrhundert lediglich
im Sinne einer „Naturlehre“ über menschliche Emotionen verstanden und nicht als Bezeichnung
für ein Lehrsystem zur Darstellung von Emotionen mit musikalischen Mitteln
gebraucht. In dieser Bedeutung ist der Begriff „Affektenlehre“ ein Produkt des
beginnenden 20. Jahrhunderts, der sich so im Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts
nicht nachweisen lässt. 33
Wenn aus dem 17. und 18. Jahrhundert auch keine Schrift überliefert ist, die dieses Thema
systematisch abhandelt, ist die Anzahl jener Werke, in denen die Affektdarstellung
in der Musik in irgendeiner Weise berücksichtigt wird, geradezu unüberschaubar. Nach
den antiken und mittelalterlichen Schriften lassen sich verschiedene Hinweise zu diesem
Thema seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in zunehmendem Maße in italienischen,
französischen, deutschen wie englischen musiktheoretischen und musikästhetischen Abhandlungen,
Kompositionsschulen und Lexika, Gesangs- bzw. Instrumentalschulen oder
Vorreden zu gedruckten Sammlungen finden. 34 Während in musiktheoretischen Schriften
oder Kompositionsschulen Informationen darüber zu finden sind, mit welchen kompositorischen
Mitteln die verschiedenen Affekte dargestellt werden sollen, beschäftigen
sich Gesangs- oder Instrumentalschulen mit dem Erkennen bzw. der interpretatorischen
Umsetzung der Affekte. Hier handelt es sich de facto um zwei Seiten einer Medaille,
denn die Beschreibung der Möglichkeiten der Affektdarstellung in der Komposition stellt
für den Ausführenden gleichzeitig den Schlüssel zu ihrer Erkennung dar. Wird etwa in
Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste erklärt, dass es bei der Melodie auf eine
„genaue Kenntnis der Leidenschaften“ ankomme, wobei der Tonsetzer sich unter ande-
33 Ausführlich dazu G. J. Buelow, Mattheson and the invention of the Affektenlehre, S. 397–404.
34 Vgl. vor allem jene von G. Caccini (Le Nuove Musiche, 1601; Nuove Musiche e Nuova Maniera di Scriverle, 1614),
J. Peri (L’Euridice, 1600), E. de’ Cavalieri (Rappresentatione di Anima, et di Corpo, 1600) und C. Monteverdi
(Madrigali Guerrieri, et Amorosi, Libro Ottavo, 1638).
24