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Leseprobe_Fo_Christian VII.

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Roman<br />

<strong>Christian</strong> <strong>VII</strong><br />

Ein Narr auf dem Thron von Dänemark


<strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>.<br />

Ein Narr auf dem Thron von Dänemark


Dario <strong>Fo</strong><br />

<strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>.<br />

Ein Narr auf dem Thron von Dänemark<br />

Roman<br />

Aus dem Italienischen von Johanna Borek<br />

Mit einem Nachwort von Bent Holm<br />

Mit Illustrationen entworfen und gemalt von Dario <strong>Fo</strong><br />

in Zusammenarbeit mit Jessica Borroni,<br />

Michela Casiere und Sara Bellodi


Questo libro è stato tradotto grazie ad un contributo del Ministero degli Affari<br />

Esteri e della Cooperazione Internazionale Italiano.<br />

Dieses Buch wurde dank eines Kostenbeitrages des italienischen Ministeriums<br />

für Auswärtige Angelegenheiten und Internationale Kooperation übersetzt.<br />

Die Publikation erfolgt mit Unterstützung der<br />

Kunstförderung des Bundeskanzleramtes Österreich.<br />

Lektorat: Teresa Profanter<br />

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović<br />

Satz: Daniela Seiler<br />

Hergestellt in der EU<br />

Dario <strong>Fo</strong>: <strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>. Ein Narr auf dem Thron von Dänemark<br />

Roman<br />

Aus dem Italienischen von Johanna Borek<br />

Mit einem Nachwort von Bent Holm<br />

Mit Illustrationen entworfen und gemalt von Dario <strong>Fo</strong><br />

in Zusammenarbeit mit Jessica Borroni, Michela Casiere und Sara Bellodi<br />

<strong>Fo</strong>tos: Luca Vittorio Toffolon<br />

Originaltitel:<br />

Dario <strong>Fo</strong>: C’è un re pazzo in Danimarca<br />

© 2015 Ugo Guanda Editore S.r.l., Via Gherardini 10, Milano<br />

Gruppo editoriale Mauri Spagnol<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien 2019<br />

www.hollitzer.at<br />

ISBN 978-3-99012-440-6


VORBEMERKUNG<br />

Die Idee zu diesem Buch entstand, als mein Sohn Jacopo<br />

eine Untersuchung über die dänischen Könige des<br />

18. Jahrhunderts durchführte und zu seiner Verwunderung<br />

feststellte, dass die zeitgenössischen Berichte und<br />

Zeugnisse über <strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>. und Friedrich VI. voller<br />

Widersprüche stecken.<br />

PROLOG<br />

Erzählt, ihr Menschen, eure Geschichte.<br />

Alberto Savinio<br />

Etwa ab dem 15. Jahrhundert verbreitete sich in ganz<br />

Europa unter schreibkundigen Menschen der Brauch,<br />

ein Tagebuch zu führen. Auf diese Weise sind Zeugnisse<br />

gewöhnlicher, aber auch historisch bedeutsamer Männer<br />

und Frauen auf uns gekommen. Wir haben darauf zurückgegriffen,<br />

um unsere Kenntnisse über Epochen zu<br />

vertiefen, in denen Zeitungen rar und gedruckte Texte<br />

nur Wohlhabenden zugänglich waren.<br />

In die Geschichte, die wir hier erzählen wollen, ist<br />

eine Vielzahl außergewöhnlicher Personen verstrickt.<br />

Dank wiederaufgefundener Schriftstücke konnten wir<br />

die tragischen und grotesken Ereignisse rekonstruieren,<br />

die für Skandinavien vom 18. bis zur ersten Hälfte des<br />

19. Jahrhunderts bestimmend geworden sind und uns allen<br />

lange Zeit so gut wie unbekannt waren.<br />

5


König <strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>.


ERSTER TEIL<br />

Der wichtigste Verfasser dieser wiederentdeckten Aufzeichnungen<br />

ist kein Geringerer als <strong>Christian</strong> <strong>VII</strong>., König von Dänemark<br />

und Norwegen. Der Text, auf den wir durch einen glücklichen<br />

Zufall gestoßen sind, beginnt folgendermaßen:<br />

Heute Morgen erwachte ich in bester Verfassung. Mein<br />

Kopf fühlte sich leicht und frei an, keine Spur von<br />

Schmerzen, außerdem konnte ich mich bewegen, ohne<br />

dass alle Gelenke knirschten und ich nach Atem ringen<br />

musste. Kurzum, ich war blendender Laune, was schon<br />

lange nicht mehr der Fall gewesen ist. Ich schleuderte<br />

Decken und Laken von mir, schwang energisch die Beine<br />

aus dem Bett und stand gleich aufrecht da, ohne im<br />

Geringsten zu wanken oder zu zittern.<br />

Ich muss unbedingt diesen außergewöhnlichen Zustand<br />

nutzen und mich sofort an den Schreibtisch setzen<br />

und an meiner Geschichte weiterschreiben. An welcher<br />

Geschichte? Der Geschichte meines Lebens! Es gilt keine<br />

Sekunde zu verlieren, ich mag mich nicht einmal ankleiden,<br />

werfe mir nur den Schlafrock über und schreibe,<br />

durchforste mein Gedächtnis, das sich in solchen seltenen<br />

Augenblicken bereitwillig an all das erinnert, was<br />

bei jedem meiner Anfälle wie ausgelöscht ist, als stürzte<br />

7


jeder Gedanke in einen bodenlosen, schwarzen Abgrund.<br />

Bei den Mächtigen, wie ich es zumindest auf dem Papier<br />

und zum Schein bin, übernehmen diese Aufgabe gewöhnlich<br />

Berufsschreiber, sogenannte Biografen; Leute,<br />

die gewöhnlich einem altbekannten Schema folgen: Sie<br />

reihen Gemeinplätze und widerwärtige Schmeicheleien<br />

aneinander und machen jeden Herrscher zum Helden eines<br />

Puppentheaters, der durch so grandiose wie sinnlose<br />

Taten glänzt. Meine Geschichte soll der Wahrheit entsprechen,<br />

es wird ihr vermutlich an Pathos fehlen, dafür<br />

aber auch an leerer Rhetorik und schönem Schein. Deshalb<br />

erzähle ich sie selbst.<br />

Hier nun sind meine geheimen Aufzeichnungen. Ich<br />

habe schon an die fünfzig Seiten geschrieben. Es kann<br />

weitergehen! Ehe ich jedoch fortfahre, lese ich mir alles<br />

wie immer nochmals durch, korrigiere Irrtümer<br />

und füge den Ereignissen neue Erinnerungen hinzu, die<br />

leicht und wie durch einen Zauber in mir auftauchen.<br />

Wie im Märchen<br />

Ich lese:<br />

Ich heiße <strong>Christian</strong>, bin Lutheraner und um die dreißig<br />

Jahre alt – genau weiß ich es nicht, habe aber keine Lust,<br />

jemanden aus der Dienerschaft oder dem Hofstaat nach<br />

meinem Geburtsjahr zu fragen. Zur Welt gekommen<br />

bin ich in Kopenhagen, vermutlich im Königsschloss,<br />

die ganze Stadt war verschneit, es war tiefer Winter …<br />

Das war um die Mitte des 18. Jahrhunderts.<br />

8


Juliane Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel


Meine Mutter war Louise von Hannover, die erste<br />

Ehefrau von Friedrich V., König von Dänemark, wie sich<br />

versteht. An sie habe ich so gut wie keine Erinnerung,<br />

weder an ihre Stimme noch an ihre Brüste, die mich gar<br />

nicht gesäugt haben. Ich wurde nämlich sogleich einer<br />

Amme anvertraut; ich erinnere mich an ihre weichen<br />

Brüste, aus denen die Milch quoll, und an ihre Stimme,<br />

mit der sie mich in den Schlaf sang. Meine Mutter starb,<br />

als ich zwei Jahre alt war, was ich erst viel später erfuhr,<br />

als sich mein Vater, der König, mit einer anderen Dame<br />

verheiratete, einer sehr schönen, aber habgierigen und<br />

herzlosen Frau, Juliane Marie von Braunschweig-Wolfenbüttel;<br />

von ihr werde ich, wenn auch höchst widerwillig,<br />

bald ausführlicher berichten. Fürs Erste sage ich<br />

nur, dass ich ein tiefes Unbehagen empfand, als ich diese<br />

Frau kennenlernte. Sie schien den Mythen und Legenden<br />

der alten skandinavischen Sänger zu entstammen<br />

und war wie die Stiefmütter in den grausamen Märchen,<br />

mit denen man den Kindern Angst einjagt.<br />

Ein Jahr später, als meine Stiefmutter ihren Erstgeborenen<br />

zur Welt brachte, bekam ich plötzlich hohes Fieber,<br />

aber bestimmt nicht wegen dieser Geburt. Eiligst<br />

wurde ein Arzt gerufen, der befand, dass es sich wahrscheinlich<br />

um nichts Ernstes handelte, vielmehr um eine<br />

normale Erscheinung der Entwicklungsjahre. Leider erwies<br />

sich seine Diagnose als vollkommen falsch, denn<br />

ich erholte mich erst nach Monaten, in denen ich halb<br />

bewusstlos dahindämmerte.<br />

Zunächst schien es, als wäre ich von dieser schrecklichen<br />

Krankheit gänzlich geheilt; ich durfte hinaus in<br />

den Park und mit den übrigen Kindern des Schlosses<br />

10


spielen, umherlaufen und wieder ein normales Leben<br />

führen. Sogar reiten durfte ich, auf einem <strong>Fo</strong>hlen, das<br />

mir mein Vater zur Feier meiner Genesung geschenkt<br />

hatte, zugeritten von den königlichen Stallmeistern.<br />

Außerdem bekam ich, wie es sich für einen Prinzen geziemt,<br />

einen Lehrer, der mir Schreiben beibringen und<br />

mich in den Künsten, der Mathematik und der Philosophie<br />

unterweisen sollte.<br />

Es klingt seltsam, doch das Lernen gefiel mir und<br />

befriedigte mich außerordentlich. Ich entdeckte meine<br />

Begeisterung fürs Lesen und dafür, mit der Feder selbst<br />

eine Geschichte zu erzählen. Mein Lehrer war geduldig<br />

und verfügte über großes Wissen. Er erkundete mit mir<br />

das gesamte Anwesen. Wir fuhren auf einem Boot über<br />

kleine Wasserläufe bis zum Hafen voller Schiffe, die in<br />

See stachen oder mit Matrosen und Reisenden beladen<br />

an den Kais anlegten.<br />

Von Zeit zu Zeit wurde mir schwarz vor Augen und<br />

ich fiel in Ohnmacht. Mein Lehrer nahm mich in die<br />

Arme, als wäre er mein Vater – von dem ich etwas Derartiges<br />

nie erfahren hatte.<br />

Nach jedem Anfall erschienen neue Gehirnspezialisten<br />

und untersuchten mich. Oft berieten sich diese gelehrten<br />

Männer und betasteten meinen Schädel, als wäre<br />

er eine Melone, deren Reifegrad es zu prüfen galt.<br />

Unweigerlich gerieten sich diese Leuchten der Wissenschaft<br />

schließlich in die Haare und beschimpften sich<br />

gegenseitig. Am Ende der Auseinandersetzung schlug<br />

regelmäßig einer aus der Runde eine Schädeltrepanation<br />

vor, um die Gase entweichen zu lassen, die gewiss die Gehirnwindungen<br />

zusammenpressten und die Krankheit<br />

11


auslösten. Darüber wurde diskutiert, als wäre ich gar<br />

nicht vorhanden, dachten sie doch, nur weil sie lateinische<br />

Ausdrücke verwendeten, bräuchten sie auf mich<br />

keine Rücksicht zu nehmen – bis ich schließlich die Nase<br />

voll hatte und schrie: „Jetzt will ich Euch etwas sagen,<br />

meine Herren Gelehrten! Ich bin ganz Eurer Meinung,<br />

eine Trepanation ist wirklich die einzige Lösung, setzt<br />

ruhig Euren Bohrer an, aber nicht an meinem Schädel,<br />

sondern an Eurem Hintern!“ Keine besonders königliche<br />

Ausdrucksweise …<br />

An einem der seltenen Tage, an denen es mir etwas<br />

besser ging, ritt ich auf dem Pferd, das mein Vater mir<br />

geschenkt hatte, durch den Schlosspark von Frederiksberg.<br />

Das Pferd scheute vor irgendetwas zurück und<br />

bäumte sich ausgerechnet in dem Moment auf, als eine<br />

Mutter mit ihrem Kind an der Hand den Weg querte.<br />

Der Kleine erschrak und wollte weglaufen, stolperte<br />

jedoch und fiel hin. Die Mutter hingegen blieb vor<br />

Schreck wie angewurzelt stehen. Ich stieg ab, lief zu<br />

dem Kind und half ihm auf. Die Frau verabschiedete sich<br />

mit den Worten „Ich danke Euch vielmals, mein Prinz“.<br />

Im Davonreiten hörte ich, wie der Kleine fragte: „Sag,<br />

Mutter, ist das nicht der verrückte Sohn des Königs?“<br />

„Still, mein Junge, er kann dich hören!“, erwiderte<br />

die Mutter.<br />

Auf diese Weise erfuhr ich, dass ich mittlerweile für<br />

alle zum ersten Irren auf dem Königsthron geworden war.<br />

12


Eine Fiktion ist angenehmer als die Realität<br />

Die Tage gingen dahin, ich hatte mich in meine Gemächer<br />

zurückgezogen, die zum Schlosspark hin ausgerichtet<br />

waren. Eines Abends ging ich über den Korridor zum<br />

sogenannten bronzenen Bad und sah durchs Fenster, wie<br />

mein Vater und meine Stiefmutter das Schloss verließen.<br />

Sie trugen auffallende neue Kleider und strahlten übers<br />

ganze Gesicht. Die neue Frau meines Vaters hatte kostbare<br />

Ringe an den Fingern, wahrscheinlich aus dem Besitz<br />

meiner Mutter, was mir besonders zuwider war und<br />

wie Diebstahl vorkam. Der König war fröhlich, und<br />

meine Stiefmutter lächelte unentwegt – eine Seltenheit<br />

bei ihr. Ihre gute Laune weckte in mir den Wunsch, den<br />

beiden zu folgen.<br />

Ich bat den Kammerdiener, mir beim Anlegen des<br />

Gala gewandes behilflich zu sein, dann nahm ich meinen<br />

ganzen Mut zusammen und begab mich in den Empfangssaal,<br />

gab einem Pagen den Auftrag, mir eine Kutsche zu<br />

besorgen, worauf der jedoch erwiderte, zurzeit stehe keine<br />

zur Verfügung. Ich aber erinnerte mich sehr genau daran,<br />

dass sich ein zweispänniger Paradelandauer im Depot<br />

befand. Dort traf ich auf den Oberkutscher und erfuhr<br />

von ihm – indem ich mich eines Vorwands bediente –,<br />

wohin mein Vater und die Königin gefahren waren. Ich<br />

behauptete nämlich, der König habe sein Monokel vergessen,<br />

das ich ihm unter allen Umständen bringen müsse.<br />

Unterwegs verriet mir der Oberkutscher, dass meine<br />

Eltern zur Eröffnung der Spielzeit ins städtische Theater<br />

gefahren waren, das mein Vater höchstpersönlich hatte<br />

erbauen lassen: das Königliche Theater von Kopenhagen.<br />

13


Ich betrat das Gebäude durch den Künstlereingang<br />

und befand mich gleich auf der Hinterbühne. Maschinisten<br />

und Beleuchtungstechniker beendeten gerade<br />

den Bühnenaufbau; sie entzündeten die zahllosen Kerzen<br />

auf den Lüstern, die sie anschließend emporhievten.<br />

Dann erfuhr ich, dass eine Opera buffa im italienischen<br />

Stil mit vielen Akrobaten, Tänzerinnen und natürlich<br />

Sängern gegeben wurde. Ich begab mich in die Kulissenloge<br />

des Bühnenmeisters, der mir seinen Sitz überlassen<br />

wollte; ich jedoch bat ihn zu bleiben und mir einen<br />

Stuhl zu besorgen. So konnte ich die Aufführung direkt<br />

von der Bühne aus verfolgen.<br />

Es war das erste Mal, dass ich einem Schauspiel beiwohnte,<br />

und ich war überwältigt von den szenischen<br />

Effekten, die aufeinanderfolgten wie auf einem Zauberkarussell.<br />

Das Orchester spielte die Ouvertüre und<br />

begleitete die Tanzeinlagen; es bestand aus unglaublich<br />

vielen Musikern. Von einem Augenblick zum andern<br />

änderte sich die Szenerie: Von oben wurden Prospekte<br />

heruntergelassen, von den Seiten schoben sich Palastmauern<br />

auf die Bühne, von unten stiegen Fenster und<br />

Portale empor. Von meinem Platz aus konnte ich die<br />

Maschinerie von allen Seiten beobachten. Sprachlos und<br />

fasziniert entdeckte ich die technischen Tricks hinter<br />

allen Veränderungen. Inmitten dieser Zauberwelt bewegten<br />

sich Darsteller und Tänzer mit unglaublicher<br />

Leichtigkeit. Mir wurde klar, dass es sich hier um ein<br />

Gesamtkunstwerk handelte, bei dem Malerei, Maschinerie,<br />

Musik und Tanz einer einzigen schöpferischen<br />

Fantasie entstammten. Ich war, so viel steht fest, bis ins<br />

Mark erschüttert.<br />

14


Ich weiß nicht, ob dieses Erlebnis oder etwas anderes für<br />

eine weitere Krise verantwortlich waren, die volle zwei<br />

Wochen andauerte. Als ich mich erholt hatte und wieder<br />

klar denken konnte, erfuhr ich, dass mein Vater im Koma<br />

lag. Wir hatten einen der strengsten Winter des Jahrhunderts,<br />

und der König hatte bei einer Truppen parade dem<br />

eisigen Wind nicht standgehalten. Bei seinem Tod war er<br />

knapp über dreiundvierzig Jahre alt. Die Köni ginwitwe<br />

brach in hemmungsloses Schluchzen aus und deutete sogar<br />

an, sich vor Verzweiflung aus dem Fenster stürzen zu<br />

wollen, doch wie ich genau sehen konnte, hatte sie sich<br />

zuvor vergewissert, dass genügend Männer in der Nähe<br />

standen, um sie allenfalls zurückzuhalten. Ich selbst empfand<br />

vor dem Sarg meines Vaters keinen Schmerz; es gelang<br />

mir nicht einmal, ein paar Tränen vorzutäuschen.<br />

Ich gestehe, dass er für mich so gut wie ein Fremder war,<br />

der mich aus reinem Zufall gezeugt hatte.<br />

Dem König fehlt es komplett an Verstand<br />

Nach dem Tod meines Vaters erlitt ich einen weiteren<br />

Anfall, doch diesmal verweigerte ich dem Königlichen<br />

Oberarzt den Zutritt, und mit ihm der Schar der gelehrten<br />

Doktoren, die ununterbrochen an die Tür zu meinen<br />

Gemächern klopften. In Wirklichkeit machte mir<br />

meine Gleichgültigkeit angesichts des Todes meines Vaters<br />

sehr zu schaffen, und das führte zu einer so heftigen<br />

Krise, dass ich den Begräbnisfeierlichkeiten fernbleiben<br />

musste – und beinahe dazu, dass ich doch daran teilgenommen<br />

hätte: als zusätzliche Leiche nämlich. Durch<br />

15


die Vorhänge meines Schlafzimmers verfolgte ich, wie<br />

die königliche Kutsche mit einem Gespann von schwarzen<br />

Pferden das Schloss verließ.<br />

Obwohl ich jede Orientierung verloren hatte, erinnere<br />

ich mich genau an die Jahreszeit. Es war Ende Januar<br />

1766, und ich bin sicher, dass ich kurz davor siebzehn<br />

Jahre alt geworden war. Ich wurde zum König von Dänemark<br />

und Norwegen gekrönt. Zahllose Kanonenschüsse<br />

begleiteten das Ereignis, die Königliche Musikkappelle<br />

intonierte Märsche und Hymnen. Viele Untertanen, vor<br />

allem Frauen, waren so bewegt, dass sie weinten. Doch<br />

mich selbst berührte das Ganze nicht im Geringsten. Da<br />

wurde mir endgültig klar, dass ich verrückt sein musste.<br />

Hoch lebe der König!<br />

Ein alter Ratgeber meines Vaters trat zu mir und<br />

sprach mich sehr höflich mit „Sire“ an. Tatsächlich, mit<br />

„Sire“, wie in einer Tragödie für das Marionettentheater!<br />

Er fuhr fort: „Wenn Ihr erlaubt, Majestät, würde ich<br />

Euch gerne sagen, was meiner Meinung nach in diesem<br />

Moment das Allerwichtigste ist.“<br />

„Und zwar?“<br />

„Ihr müsst Euch so schnell wie möglich verheiraten!“<br />

„Wozu die Eile? Ich bin siebzehn!“<br />

Darauf er: „Vergesst nicht, dass Ihr Verwandte habt,<br />

nahe und entferntere, wie Euren Stiefbruder, den Sohn<br />

der zweiten Frau Eures Vaters; die beiden haben keinen<br />

dringenderen Wunsch, als Euren Platz auf dem Thron<br />

einzunehmen, und deshalb müsst Ihr so rasch wie möglich<br />

eine adlige Dame mit Eurem Samen befruchten,<br />

damit sie Euch schnellstens einen Erben schenkt – nach<br />

Möglichkeit einen männlichen.“<br />

16


Da durchfuhr mich ein Gedanke: „Großer Gott, es ist<br />

wahr, ich bin König und habe keine Frau, nicht einmal eine<br />

Mätresse! Und wer weiß, ob mein Samen reicht, um …“<br />

Caroline Mathilde<br />

17


An dieser Stelle unterbricht <strong>Christian</strong> plötzlich seine Eintragungen<br />

und schreibt in Großbuchstaben einen Satz, der keinen<br />

Zweifel zulässt:<br />

GENUG! ICH KANN NICHT MEHR! MIR GEHT<br />

ES EINFACH ZU SCHLECHT …<br />

Darf das denn wahr sein? Was sollen wir jetzt machen? Dieser<br />

unberechenbare König lässt uns ausgerechnet in dem Moment<br />

im Stich, in dem er kurz davorsteht, Caroline Mathilde von<br />

Hannover kennenzulernen, keine Geringere als die Lieblingsschwester<br />

des englischen Königs, Georg III., die für <strong>Christian</strong><br />

auserwählt worden ist.<br />

Und wer soll nun die Liebesgeschichte so erzählen, wie sie<br />

sich abgespielt hat?<br />

Zu unserem Glück sind vor etwas mehr als einem halben<br />

Jahrhundert in der Kopenhagener Nationalbibliothek Schriftstücke<br />

aufgetaucht, die aus einer anderen Quelle stammen und<br />

hervorragend die Lücke in <strong>Christian</strong>s Aufzeichnungen füllen.<br />

Es handelt sich um nichts Geringeres als um das unveröffentlichte<br />

geheime Tagebuch von Prinzessin Caroline Mathilde, der<br />

Braut <strong>Christian</strong>s. Doch die Lektüre stellt uns vor ein weiteres<br />

Problem: Die zukünftige Königin schreibt weder auf Englisch<br />

noch in der Sprache des Hauses Hannover. Und noch dazu bedient<br />

sie sich einer Geheimschrift, offenkundig in der Absicht,<br />

ihre Eintragungen vor jedermann zu schützen. Doch einer Expertengruppe<br />

gelang es, dank ihres außerordentlichen Einsatzes,<br />

den Code zu entschlüsseln und uns den Text zugänglich zu machen.<br />

Lest selbst.<br />

18


„Mein <strong>Christian</strong> ist unbeschreiblich schön … Schade nur, dass<br />

er etwas sonderbar ist.“<br />

Aufgepasst, nun spricht Caroline Mathilde von Hannover selbst:<br />

16. Februar 1766<br />

In Begleitung meines älteren Bruders und meiner Mutter<br />

schiffte ich mich im Hafen von London ein, dem<br />

größten der Welt. Das königliche Schiff, das mich nach<br />

Dänemark bringen sollte, segelte unter einer steifen,<br />

aber gleichmäßigen Brise, sodass ich mich mit meiner<br />

Kammerfrau, die der kommenden Begegnung noch bei<br />

Weitem aufgeregter entgegensah als ich selbst, auf dem<br />

Bug aufhalten konnte.<br />

Ich verstand es nicht. Noch auf der Leiter zur Kommandobrücke<br />

fragte ich meine Mutter, weshalb ich gar so<br />

eilig zu <strong>Christian</strong> geschickt wurde; vor allem wollte ich<br />

wissen, warum er mir nicht diese Reise ersparte und selbst<br />

nach London kam, wenn er mich kennenlernen wollte.<br />

Meine Mutter antwortete: „Du vergisst wohl, meine<br />

Liebe, dass es sich bei deinem voraussichtlichen<br />

Ehemann per Zufall um den absoluten Herrscher über<br />

Dänemark und Norwegen handelt, dass er außerdem<br />

ein Reich mit Kolonien in Afrika, der Karibik und Indien<br />

regiert, und eine Armee samt Marine unter seinem<br />

Kommando stehen!“<br />

„Allerhand … Und er ist wirklich erst achtzehn?“<br />

„Ja, meine Liebe, zwei Jahre älter als du.“<br />

In Wirklichkeit konnten mich die Antworten meiner<br />

Mutter nicht überzeugen. Laut fragte ich mich nach dem<br />

Grund für dieses übereilte Treffen. Ich werde <strong>Christian</strong><br />

19


ein paar Stunden sehen, und dann soll ich mein ganzes<br />

Leben mit ihm verbringen. Was soll ich in der kurzen<br />

Zeit über seinen Charakter erfahren, was über sein Wesen?<br />

Wie soll ich sagen können: „Er ist der Richtige! So<br />

habe ich ihn mir immer vorgestellt!“<br />

Wie soll das gehen? Wenn ich kaum Zeit habe, mich<br />

mit ihm zu unterhalten, ihn kennenzulernen. „Liebling,<br />

ist es dir lieber, dass wir die ganze Nacht im selben Bett<br />

verbringen, oder nur, um miteinander zu schlafen, und<br />

anschließend geht jeder in sein eigenes Bett zurück und<br />

schnarcht alleine?“<br />

Meine Kammerfrau, Louise von Plessen, lachte amüsiert,<br />

dann meinte sie: „Also gut, ich werde dir sagen,<br />

was ich weiß und dir schon aus persönlicher Hochachtung<br />

auf keinen Fall verschweigen darf … Meine Liebe,<br />

diese Ehe zwischen zwei jungen Leuten, die sich hoffentlich<br />

bis über beide Ohren ineinander verlieben werden,<br />

ist in erster Linie ein Vertrag, ein hochwichtiges<br />

Geschäft zum Vorteil des britischen wie des dänischen<br />

Königreichs! Aber da manche deiner Angehörigen wie<br />

die deines Bräutigams dieses Geschäft mit aller Macht<br />

zu vereiteln suchen und eine andere, für sie vorteilhaftere<br />

Verbindung planen, heißt es entschlossen und rasch<br />

zu handeln. Doch da wäre noch ein weiterer Grund für<br />

diese Eile: Dein zukünftiger Mann ist nämlich zurzeit<br />

nicht bei bester Gesundheit.“<br />

„Oh Gott“, entfuhr es mir, „was fehlt ihm denn?“<br />

„Der Verstand, meine Liebe! Oft ist er ganz normal,<br />

manchmal jedoch wie von Sinnen!“<br />

„Aha! Und das erzählt Ihr mir jetzt?“<br />

„Tja, so ist das eben, les affaires sont les affaires …<br />

20

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