#9 Verantwortung
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philou.
Ausgabe 9
Thema: Verantwortung
UNABHÄNGIGES STUDIERENDENMAGAZIN AN DER RWTH AACHEN
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Arbeitgeber suchen nach Persönlichkeiten, die aufgrund
ihrer Fähigkeiten und Kompetenzen perfekt in das gesuchte
Profil passen, während Arbeitsuchende bestrebt
sind eine Tätigkeit zu finden, die ihrer Persönlichkeit entspricht.
Diese Idealkonstellation zu finden ist eine sehr
aufwendige Angelegenheit. Es sei denn, man baut auf die
onlinebasierten Services von e-stimate, dem Pionier im
Bereich webbasierter Analyse-Tools für das Personalwesen.
Seit 1982 entwickelt und liefert e-stimate Tools für Persönlichkeits-
und Teamprofile als Grundlage für alle erdenklichen Analysen
im Personalwesen. Dieses Know-how transferierte das
Team um den Dänen Jørgen C. Friis in das Medium «World
Wide Web» und bietet somit die jahrelang erprobten Tools seit
2000 auch online an. Dank dieser digitalen Expansion können
sämtliche Analysen noch präziser, relevanter, schneller und
vor allem auch kostengünstiger angeboten werden. Doch aller
Technologie zum Trotz: Es gibt einige Faktoren im Bewerbungsprozess,
die sich nie verändern werden.
mehr Fällen ein Burnout bei einem der Betroffenen. Und das
alles nur, weil wichtige soziale Faktoren zu wenig berücksichtigt
wurden. Denn heutzutage werden komplexe Aufgaben meist in
variierend zusammengesetzten Projekt-Teams gelöst.
Fördern Sie Persönlichkeiten.
Mitarbeiter sind Menschen mit eigenen Zielen und Träumen.
Unterstützt man Angestellte auf ihrem individuellen Weg, so
steigt in der Regel auch die Loyalität zum Arbeitgeber, von
der Motivation ganz zu schweigen. Mit einer gezielten Förderung
von Talenten und dem Erschließen schlummernder
Potenziale legen Unternehmen den Grundstein für den Erfolg
von morgen. Es gilt also, einen gemeinsamen Nenner zu finden,
zu fördern – und auch wieder einzufordern. Jetzt müssen
Sie nur noch herausfinden, wo die Gemeinsamkeiten sind:
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Nehmen Sie es persönlich.
Ein gutes Betriebsklima ist der Humus, aus dem jeder Erfolg
erwächst. Was nützt ein fachlich hochkompetenter Mitarbeiter,
wenn er menschlich nicht in eine bestehende Personalstruktur
passt? Die Chemie aller Beteiligten muss passen, sonst drohen
Disharmonie, unproduktive Konkurrenzkämpfe und in immer
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Editorial
Liebe Leser_innen,
Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut
gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich.
Antoine de saint-exupéry
der kleine prinz (1943)
Hans Jonas (1903–1993) begründet das Prinzip der Verantwortung
mit dem Imperativ „Handle so, dass die Wirkungen
deiner Handlungen mit der Permanenz menschenwürdigen
Lebens verträglich sind“ (1979).
Aber was ist Verantwortung? Von einem einzigen Verantwortungsbegriff
– von „der Verantwortung“ – zu sprechen greift
im Hinblick auf die zahlreichen Bedeutungsinterpretationen
und verschiedenen Disziplinen, in denen Verantwortung eine
Rolle spielt, zu kurz – auch wenn der Begriff in zahlreichen
Sprachen das Wort „Antwort“ enthält. Und inwieweit ist Verantwortung
das Thema, das die Herausforderungen und Fragen
unserer Zeit aufgreifen kann?
Verantwortung & Umwelt: Zentrale Probleme begegnen uns
in einer Zeit der Überbevölkerung, der Ressourcenverknappung
und des Klimawandels. Die Frage nach Verantwortlichkeiten
und Verantwortungszuschreibung scheint in diesem
Kontext omnipräsent. Doch warum divergieren menschliches
Umweltbewusstsein und Umweltverhalten so stark und warum
reicht das bloße Wissen darüber nicht aus? (S. 8) Insbesondere
in den uns weitestgehend unbekannten Bereichen,
wie die Tiefsee, wird die Verantwortungszuschreibung unklar
– denn wer trägt die Verantwortung für Ökosysteme, die niemandem
gehören, auf die wir jedoch zwingend angewiesen
sind? (S. 10) Das „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Prinzip
greift auch in der Abfallwirtschaft: Die Verantwortung wird
nahezu mit den Abfällen exportiert, die damit verbundenen
Auswirkungen werden übersehen und ignoriert. (S. 13) Was
am Ende bleibt, ist das Individuum als „Agent of Change“;
Endverbraucher_innen, die die Welt retten sollen – kann das
individuelle Konsumverhalten zu einer nachhaltigen Entwicklung
beitragen? Und welche Verantwortung obliegt den Institutionen?
(S. 16)
Verantwortung, Wissenschaft & Technik: Im Rahmen des
Studiums, der Forschung, der Lehre und der Wissenschaft
befinden wir uns in einem Sammelsurium von zahlreichen
Disziplinen, in denen verantwortungsvolles Handeln eine zentrale
Rolle spielt. (S. 22) Der Eid des Hippokrates formuliert
die grundlegende Ethik für die Medizin – kann ein solcher
nicht auch ein Vorbild für Technik- und Naturwissenschaften
sein? Ist nicht jede Wissenschaftsdisziplin in der Pflicht,
moralische Verantwortung zu übernehmen? (S. 24) Ethische
Diskurse sind aktuell insbesondere im Bereich der Digitalisierung
und Künstlichen Intelligenz prägnant: Was haben
technologische Fortschritte für Folgen und wer übernimmt
die Verantwortung im Falle des Scheiterns? (S. 27) Letzteres
ist genauso im Städtebau und Bauingenieurwesen relevant –
Gebäude gelten als Fundament menschlichen Lebens und
Arbeitens, werden in ihrer Rolle und Funktion aber häufig
als selbstverständlich erachtet. (S. 30) Und wie steht es um
die moralisch-medizinische Gretchenfrage der menschlichen
Existenz: Wer entscheidet, welches Leben lebenswert ist und
welches nicht? (S. 34)
Verantwortung & Gesellschaft: Zahlreiche Diskurse und
Fragen im Hinblick auf Verantwortung basieren zunehmend
auf der Rolle der Aufklärung und Bildung. Eine zentrale
Funktion haben hier diejenigen, die ihre Gedanken verschriftlichen
und festhalten: Das geschriebene Wort kann Diskurse
eröffnen und gesellschaftliche Meinungen formen – Journalist_
innen moderieren das Zeitgespräch der Gesellschaft. Aber was
geschieht, wenn sie sich irren? (S. 40) Individuen sind nicht
nur auf ihre Funktion als Konsument_innen von Ressourcen
oder Medien zu reduzieren, sie sind in demokratischen Systemen
vor allem Bürger und Bürgerinnen, Akteure der Zivilgesellschaft.
Entsprechend kommt insbesondere der Schule als
Institution der Aufklärung eine bedeutende Verantwortung
zuteil. (S. 41) Häufig wirken Medien diesem Erziehungsauftrag
jedoch entgegen: Vor allem soziale Medien können einen
bedeutenden Einfluss auf die individuelle Haltung und
Überzeugung haben – was geschieht, wenn diese missbraucht
wird? (S. 44) Ähnlich verhält es sich in der Filmkunst: Unterschiedliche
Interpretationsmöglichkeiten schaffen Raum
für widersprüchliche Wertvorstellungen: Tragen die kreativen
Schaffenden von Film, Kunst und Medien die Verantwortung
für ihre Botschaft? (S. 46) Nach Hans Jonas basiert Verantwortung
auf Macht – bedeutet mehr Macht entsprechend auch
mehr Verantwortung? Und kann diese einen monetären Wert
haben? (S. 49) Unsere gängige Vorstellung von Verantwortung
ist die Verantwortung für eine Handlung. Aber wenn jedes
Tun und Lassen aussichtslos wird, was kann Verantwortung
dann noch heißen? Und offenbart sich dadurch eine andere
Dimension von Verantwortung? (S. 51)
Wir freuen uns, diese und weitere Fragen sowie Problemstellungen
mit euch teilen zu können und präsentieren euch nun
die neunte philou. Durch den Fokus auf die Diversität und
Interdisziplinarität der Themen wollen wir zeigen, dass das
inneruniversitäre Gespräch eine der höchsten Prioritäten im
Studium genießen muss. Wir wollen euch hiermit Anreize zu
neuen Überlegungen liefern und hoffen, dass euch die neunte
Ausgabe genauso gefällt wie uns!
Eure philou. Redaktion
Verfasst von Ann-Kristin Winkens
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Inhalt
VERANTWORTUNG &
Umwelt
08 „We ought to. But we
don’t.“ – Verantwortungslose
Abwehrmechanismen
Ann-Kristin Winkens
10 Zwischen Gewissen und
Gerechtigkeit in der Tiefsee
Leona Rodenkirchen & Jonathan Schieren
Ressourcenreichtum vs. Artenvielfalt: Wer
schützt, was niemandem gehört?
13 Die Wege des Abfalls – Eine
Geschichte exportierter
Verantwortung
Caroline Gasten
Auswirkungen und Komplikationen des
internationalen Abfallhandels
16 Geteiltes Leid, geteilte
Verantwortung – Die Ambivalenz der
Konsumentenverantwortung
Ann-Kristin Winkens
Die Ohn(macht) der Konsumenten bei
nachhaltigen Kaufentscheidungen
VERANTWORTUNG,
Technik & Wissenschaft
22 Interdisziplinäre Perspektiven –
Verantwortung an der RWTH Aachen
24 Berufsethos in der Wissenschaft
Felix Engelhardt
Kann der hippokratische Eid Vorbild für Naturund
Technikwissenschaften sein?
27 Künstliche Intelligenz – ein
Paradigma wissenschaftlicher
Verantwortung(-slosigkeit)
Betül Hisim
Der Versuch einer Moralisierung der
Künstlichen Intelligenz: Ein Drahtseilakt
zwischen Verantwortung, Sicherheit und
Freiheit
30 Die Underdogs der
Verantwortungsträger
Julia Kreklau
Zivile Belange: Über die unterschätzte
Verantwortung der Bauingenieure
34 Vertrauen ist gut,
Kontrolle ist besser?
Merle Riedemann
Zwischen Macht, Moral und Nichtwissen:
Verantwortung in der Pränataldiagnostik
VERANTWORTUNG &
Gesellschaft
40 Verant[wort]ung: Erst denken,
dann schreiben
Cristina García Mata
41 Quo vadis, Gesellschaft? Schule in
der Verantwortung: Bedeutung der
politischen Bildung
Yannik Achenbach
Wie Kinder zu Bürgern werden: Förderung
von Urteilsbildung junger Menschen als
demokratische Investition
44 Auch soziale Medien wollen
erziehen – die Frage ist nur:
Wohin erziehen sie?
Christina Krüger
Über den fragwürdigen Erziehungsauftrag
sozialer Medien. Ein Plädoyer für Wachsamkeit
gegenüber neuen Formen der Einflussnahme
46 Once Upon a Time…There was
Responsibility – Verantwortung in
der Filmkunst
Luisa Maulitz
Die Moral von der Geschichte: Was,
wenn sie nicht eindeutig ist?
49 Wa(h)re Verantwortung
Thomas Sojer
Verdiente Bürde? Von Wert und Verwertung
der Verantwortung
51 Glaube, Hoffnung, Liebe – Über
Hiob, Nihilismus und Verantwortung
Caner Dogan
Vom Sinn und Unsinn menschlicher
Verantwortung: Eine Geschichte über
Verbindlichkeit
philou.
Kannst du die
Frage stellen:
„Bin ich für
mein Handeln
verantwortlich
oder nicht?“,
so bist du es.
F.M. Dostojewski
1821–1881
6
Verantwortung &
Umwelt
Klimafinanzierung
„Der Begriff ‚Klimafinanzierung‘ bezeichnet im
engeren Sinne die finanzielle Unterstützung der
Industrieländer für die Entwicklungsländer bei
der Reduzierung von Treibhausgasemissionen
und bei der Anpassung an die klimatischen
Veränderungen infolge der globalen Erwärmung.
Die Klimafinanzierung leitet sich aus der UN-
Klimarahmenkonvention (UNFCCC) von 1992
ab, in der sich die Industrieländer dazu
verpflichtet haben, die Entwicklungsländer
mit neuen und zusätzlichen finanziellen
Mitteln im Kampf gegen den Klimawandel
zu unterstützen. Diese völkerrechtliche
Verpflichtung wird auch im Pariser Abkommen
von 2015 bestätigt. Sie lässt sich als Teil
einer gerechten Lastenverteilung im globalen
Klimaschutz ansehen und begründet sich damit
aus der unterschiedlichen Verantwortung für
das Verursachen des Klimawandels und der
(wirtschaftlichen) Leistungsfähigkeit der Länder,
zu seiner größtmöglichen Begrenzung und an
die Anpassung an die unvermeidlichen Folgen
beizutragen.“ (deutscheklimafinanzierung.de)
Konsumentensouveränität
Beschreibt ein ökonomisches Prinzip und basiert
auf der Annahme der Freiheit der Konsumenten,
auf freien Märkten ihre Bedürfnisse nach eigenem
Belieben und Möglichkeiten zu befriedigen.
Ökologischer Rucksack
Durch den ökologischen Rucksack kann das Gewicht
aller natürlicher Rohstoffe berechnet werden,
die für den Konsum anfallen. Dabei werden
alle Produkte inklusive der Herstellung, Nutzung
und Entsorgung gezählt. Der Input wird durch
das MIPS-Konzept berechnet (Materialinput pro
Serviceeinheit). Dieses ermöglicht eine grobe
Abschätzung des gesamten Umweltbelastungspotentials
– über den vollständigen Lebensweg
eines Produktes von der Gewinnung, Produktion,
Nutzung zur Entsorgung bzw. zum Recycling.
So können Umwelteigenschaften von Produkten,
Verfahren oder Dienstleistungen bewertet und
verglichen werden. (Wuppertal Institut)
7 philou.
Opener
„We ought to.
But we don’t.“
Verantwortungslose Abwehrmechanismen
Der Schriftsteller und Journalist Kurt Tucholsky (1890–
1935) schrieb: „Der Zustand der gesamten menschlichen
Moral läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: We ought
to. But we don‘t.“ Treffender ist die allgegenwärtige Kluft
zwischen Wissen, Bewusstsein und Verhalten hinsichtlich
des menschlichen Umgangs mit ökologischen Problemen
wohl kaum zu beschreiben. Umweltprobleme sind mittlerweile
für die meisten Menschen omnipräsent, in den Medien,
in der Politik und draußen auf der Straße. Das Bewusstsein
hierfür steigt kontinuierlich – aber die seit Jahrzehnten beklagte
Lücke zwischen Wissen und Verhalten möchte sich
nicht schließen. Wie kann es sein, dass trotz des hohen Interesses,
der zunehmenden Aufmerksamkeit, des Verantwortungsbewusstseins
und der Einsicht, dass sich etwas ändern
muss, das individuelle Umweltverhalten inkonsistent bleibt?
Moral Licensing
Eine weniger moralische
Handlung wird mit einer
moralischen kompensiert.
Sogenannte Ersatzhandlungen
verstärken diesen
Effekt: Die Flugreise nach
Australien kann durch den
Kauf von CO 2
-Zertifikaten
kompensiert werden, mit
deren Erlös wiederum Aufforstungsprogramme
finanziert
werden. Somit wird
das gute Gewissen erkauft.
Zahlreiche verhaltenspsychologische Mechanismen und
Phänomene beeinflussen maßgeblich das individuelle Verhalten
in moralischen Entscheidungssituationen. Problematisch
ist dies unter anderem im Konsumverhalten.
Verschiedene Mechanismen der Verantwortungsablehnung
oder -leugnung, wie beispielsweise Moral Licensing oder die
Mind-Behavior-Gap, verdeutlichen, wie Verbraucher Strategien
anwenden, um weniger moralisches
Verhalten zu rechtfertigen, ohne
ihr Selbstbild zu verletzen. Wir sind
uns unserer Verantwortung bewusst,
schaffen es aber nicht, uns regelmäßig
entgegen unserer individuellen Präferenzen
zu verhalten.
Ursprünglich basierend auf der ökonomischen
Spieltheorie kennzeichnen
insbesondere Soziale (bzw. sozial-ökologische)
Dilemmata diese Diskrepanz.
Hierbei geht es um den Konflikt zwischen
individuellen und gemeinschaftlichen Interessen,
sodass individuelles rationales Verhalten zu kollektiv ineffizienten
Ergebnissen führt. Je nach Kontext wird zwischen
Nutzungsdilemmata und Beitragsdilemmata unterschieden.
Im ersten Fall geht es um Allmendegüter, die niemanden in
Ann-kristin winkens
UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTEN
der Nutzung ausschließen, aber Rivalität im Konsum aufweisen.
Als gängiges Beispiel dient die Überfischung der
Weltmeere: Für einen einzelnen Fischer ist der eigene Gewinn
umso größer, je mehr Fische er fängt. Eine Überfischung
der Weltmeere und damit
einhergehende Nahrungsmittelengpässe
oder eine Erhöhung der Prei-
Auch „Einstellungs-Verhal-
Mind-Behavior-Gap
se betreffen jedoch alle Fischer. Das tens-Lücke“ oder „Intentions-Verhaltens-Lücke“:
bedeutet, der kurzfristige Gewinn
des einzelnen Fischers (individuelles
Interesse) steht dem langfristigen bzw. dem Willen der ei-
Beschreibt die Diskrepanz
zwischen dem Anspruch
Verlust aller (kollektives Interesse) gegenüber.
Dadurch wird entsprechend dem tatsächlichen Verhalten.
genen Verantwortung und
auch derjenige Fischer geschädigt, der
verantwortungsvoller war und weniger Fisch gefangen hat
– sodass am Ende kein Anreiz zum ökologisch verantwortungsvollen
Verhalten besteht.
Beitragsdilemmata basieren auf öffentlichen Gütern, die
durch Nicht-Ausschließbarkeit und Nicht-Rivalität im
Konsum gekennzeichnet sind. Hier besteht jedoch grundsätzlich
der Anreiz zum Free Riding: Ohne etwas zu dem
öffentlichen Gut beizutragen, profitieren auch Trittbrettfahrer
hiervon – die Verantwortung wird regelrecht abgelehnt.
Dies wird weiterhin durch Social Discounting verstärkt: In
Experimenten wurde nachgewiesen, dass das individuelle
Fairnessverhalten von der sozialen Distanz abhängig ist. In
Situationen, in denen anonym agiert werden kann, wird ein
vergleichsweise geringes Fairnessverhalten festgestellt. Ist es
für die handelnde Person lohnenswert, sich unfair zu verhalten
und fühlt sie sich dabei nicht beobachtet, wird dies in der
Regel auch ausgenutzt. (vgl. Locey et al. 2011)
Dies veranschaulicht beispielhaft, dass sich moralische
Vorstellungen nicht vollständig im realen Verhalten widerspiegeln.
Zahlreiche Studien zeigen, dass es zwar für viele
Verbraucher wichtig sei, nachhaltig und umweltbewusst
zu konsumieren, das tatsächliche Konsumverhalten diver-
8
Verantwortung & Umwelt
Verantwortungsdiffusion
In Gruppen kann die Verantwortung auf mehrere
Personen verteilt werden. Je größer die Gruppe,
desto geringer das Verantwortungsgefühl.
Indirekter
Verantwortungsanteil
= Verantwortung
Personenzahl
giert jedoch hiervon. Dies wird als Mind-Behavior-Gap
bezeichnet. Nach der Theorie der kognitiven Dissonanz haben
Menschen das inhärente Bedürfnis nach einer Konsistenz
zwischen ihren Einstellungen und ihren Handlungen.
Entsteht eine Inkonsistenz, nehmen wir uns diverser Mechanismen
an, die uns von dem befremdlichen Gefühl der
Dissonanz befreien sollen und unser moralisches Gleichgewicht
wiederherstellen. Dies geschieht beispielsweise durch
Verantwortungsdiffusion, Verantwortungsdelegation, Free Riding,
Rationalisierung oder Moral Licensing. (vgl. Symannk/
Hoffmann 2016; Kollmuss/Agyeman 2002)
Insbesondere in Gruppenkontexten werden diese Mechanismen
relevant, da hier die Verantwortung auf mehrere
Personen verteilt werden kann (Verantwortungsdiffusion).
Entsprechend fühlt sich der Einzelne weniger verantwortlich
– je größer die Gruppe, desto geringer die Bereitschaft
zur Verantwortungsübernahme. Im Hinblick auf globale
Umweltprobleme – in denen die gesamte Menschheit als
Gruppe betrachtet werden kann – erscheint der individuelle
Anteil trivial.
Kognitive Dissonanz kann auch durch eine Rationalisierungsstrategie
verringert oder aufgelöst werden; hierbei passt
das Individuum seine Einstellung seinem Verhalten an. Diejenigen
Informationen, die im Widerspruch zu der bereits
getroffenen Entscheidung stehen, werden abgewertet und
diejenigen, die die Entscheidung bestätigen, aufgewertet:
Fährt ein „umweltbewusster“ Mensch mit dem Auto nach
Kroatien, wohlwissend über die negativen Auswirkungen des
Autofahrens, könnte er sich bewusst machen, dass Flugreisen
wesentlich umweltschädigender sind – die Dissonanz
nimmt ab und seine Einstellung wird seinem Verhalten angepasst.
(vgl. Symannk/Hoffmann 2016)
Eine weitere Möglichkeit, kognitive Dissonanzen aufzulösen,
gewährt uns das Moral Licensing. Sobald das moralische
Selbstimage erhöht wird, sinkt das tatsächliche moralische
Verhalten, indem zwei Handlungen miteinander „verrechnet“
werden: So können beispielsweise lange Flugreisen damit
rechtfertigt werden, täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit zu
fahren oder sich vegan zu ernähren. Eine moralische Handlung
wird mit einer weniger moralischen kompensiert und
das Gewissen ist wieder ausbalanciert. (vgl. Symmank/Hoffmann
2016; Thaler 1985)
Die vorgestellten Mechanismen stellen lediglich einen kurzen
Umriss einer komplexen Thematik dar und sind beliebig
zu erweitern. Festzuhalten ist, dass das menschliche Verhalten
in Umweltfragen zahlreichen psychologischen Mechanismen
unterliegt, die uns erlauben, die Verantwortung von
uns zu weisen – die Überforderung scheint einfach zu groß
und nicht zu bewältigen. Ganz in Freuds Sinne nehmen wir
uns dieser Abwehrmechanismen an, die uns ein Leugnen
oder Verdrängen der eigenen Verantwortung ermöglichen,
im Bewusstsein darüber und wohlwissend der Konsequenzen.
Da also Wissen allein an dieser Stelle nicht ausreicht, muss
es durch eine bestimmte Haltung begleitet werden: „Ein
zentrales Element einer solchen Haltung ist dabei eine leitende
Vision, die zum Kompass des eigenen Handelns wird.“
(Schneidewind 2018)
Kollmuss, A.; Agyeman, J. (2002): Mind
the Gap: Why do people act environmentally
and what are the barriers to pro-environmental
behavior? In: Environmental
Education Research. 8. Jg. 2002/03.
S. 239–260.
Locey, M. L.; Jones, B. A.; Rachlin, H.
(2011): Real and hypothetical rewards in social
discounting. In: Judgment and Decision
Making. 6. Jg. 2011/06. S. 552–564.
Schneidwind, U. (2018): Die Große Transformation.
Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen
Wandels. Frankfurt am Main:
Fischer Verlag.
Symmank, C.; Hoffmann, S. (2016): Leugnung
und Ablehnung von Verantwortung.
In: Heidbrink, L. et al. (2016): Handbuch
Verantwortung. Springer Reference Sozialwissenschaften.
Wiesbaden: Springer VS.
Thaler, R. (1985): Mental Accounting and
Consumer Choice. In: Marketing Science. 4.
Jg. 1985/03. S. 199–214.
WEITERFÜHRENDE LITERATUR
Kahneman, D. (2003): Maps of bounded
rationality: Psychology for behavioral economics.
In: The American Economic Review.
95. Jg. 2003/05. S. 1449–1475.
Thaler, R.; Sunstein, C. (2011): Nudge.
Wie man kluge Entscheidungen anstößt.
Berlin: Ullstein Buchverlage.
Thaler, R. (2015): Misbehaving. Was uns
die Verhaltensökonomik über unsere Entscheidungen
verrät. München: Pantheon
Verlag.
9 philou.
Artikel
Zwischen Gewissen
und Gerechtigkeit
in der Tiefsee
Leona Rodenkirchen und Jonathan Schieren
Physik und Umweltingenieurwissenschaften
Die Tiefsee birgt genug Ressourcen, um uns alle mit den Technologien
der Zukunft zu versorgen – das klingt gut. Aber artenreiche
Ökosysteme stehen auf dem Spiel.
Die Vereinten Nationen arbeiten seit über zehn Jahren an
einem Abkommen zur „Erhaltung und zur nachhaltigen
Nutzung der marinen Artenvielfalt“ (United Nations 2019).
Diesem Vertrag wird enormes geopolitisches Potential zugesprochen,
da in ihm die grundlegende Idee verankert ist,
dass die Rohstoffe am Meeresboden, außerhalb der Grenzen
nationaler Souveränität, gleichermaßen allen Menschen
dieser Erde zustehen. Bei diesen Rohstoffen handelt es sich
unter anderem um Edelmetalle und Seltene Erden – in Zeiten
des technischen Fortschritts wahre Schätze. Jene Funde
in der Tiefsee könnten das internationale Ungleichgewicht
der Ressourcenverteilung und kritische Abhängigkeiten in
naher Zukunft vollkommen kippen. Aber kann es eine „nachhaltige
Nutzung der Artenvielfalt“ überhaupt geben? Viele
Umweltschützer fürchten, das Eingreifen in die noch weitestgehend
unerforschten Ökosysteme der Tiefsee könne
dramatische Folgen für die dort vertretene Biodiversität und
die Wasserqualität haben. Fraglich ist, inwieweit sich der
Mensch hiervon tangiert fühlt: Können und wollen wir uns
den verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen und
Ökosystemen der Tiefsee überhaupt leisten?
Unser aller Erbe
In den 200 Meilen vor ihrer Küste stehen den jeweiligen
Nationen nach internationalem Recht die vorhandenen
Ressourcen zur Erforschung und Förderung zu. Die Hohe
See dahinter ist momentan ein „juristischer Wilder Westen“
(vgl. Schultz 2019). Mit dem Abkommen könnte dieser
aber zu einem Gebiet werden, von dem alle Nationen
profitieren, auch Binnenstaaten. Das Seerechtsübereinkommen
der Vereinten Nationen, zu dem das diskutierte Abkommen
ergänzend in Erscheinung treten soll, beschreibt
die Ressourcen am Meeresboden internationaler Gewässer
als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ (UNCLOS 1982).
Der Entwurf des neuen Vertrages sieht sogar vor, ein besonderes
Augenmerk auf geographisch und wirtschaftlich
benachteiligte Staaten zu richten. Außerdem beinhaltet das
Abkommen die Bedingungen, dass Ressourcen nur zu friedlichen
Zwecken genutzt werden und die Biodiversität, insbesondere
fragiler und langsam regenerierender Ökosysteme,
geschützt wird (vgl. United Nations 2019). Es heißt, der
Meeresboden sei gemeinsames Erbe der Menschheit und
die Erkundung und Nutzung dessen solle der Menschheit
als Ganzes zugutekommen. Doch diese zum Teil Jahrtausende
alten Ökosysteme beherbergen Spezies, die weit älter
sind als die Menschheit. Wer regelt die Bedürfnisse dieser
Ökosysteme und ist es unsere Verantwortung, sie zu schützen?
Und wenn ja, welchen Stellenwert messen wir dieser
Verantwortung bei? Ein erster Schritt wäre, sich Klarheit
zu verschaffen und die Meere und ihre Artenvielfalt sorgfältig
zu erforschen. Denn derzeit sind die Meere aus Forschungssicht
vor allem eins: ein großer, blauer, blinder Fleck.
Der Anteil der uns bekannten Spezies, die die Weltmeere
bewohnen, wird auf unter 30 % allen marinen Lebens geschätzt
(vgl. Costello et al. 2010).
Potentiale des Tiefsee-Bergbaus
Obgleich wir ähnlich wenig über die Rohstoff- wie über die
Artenbestände der Tiefsee sicher sagen können, so ist die
Dunkelziffer in ersterem Fall doch eher Grund zum Enthusiasmus
und zum Investitionsmut. Denn schon wenige
Proben versprechen große Schätze am Grund der Ozeane.
10
Verantwortung & Umwelt
Informationen über das Vorkommen wichtiger Rohstoffe,
wie Gold, Kupfer, Lithium, Nickel und Kobalt, in teilweise
deutlich höheren Konzentrationen als in Abbaugebieten an
Land, liegen schon seit Jahrzehnten vor. Auch die Förderung
von Manganknollen wurde in den Siebzigerjahren bereits
versucht. Bei diesen Knollen handelt es sich um Klumpen
aus über Jahrtausenden angereicherten Erzen. Sie bestehen
zum Großteil aus den Metallen Mangan und Eisen, sind
aber auch eine begehrte Quelle für Kupfer, Kobalt, Zink und
Nickel. Manganfelder sind in mehreren tausend Metern Tiefe
unter anderem im Pazifik vorzufinden und entsprechend
kompliziert zu fördern. Gemeinsam mit den Vorkommen
auf Seebergen und an Thermalquellen sind sie ein zentrales
Objekt der Begierde im Tiefseebergbau.
Die Entwicklung der Förderungstechniken ist auf dem Vormarsch.
Was einst weder technisch ausgereift noch wirtschaftlich
profitabel war, ist heute eine vielversprechende
Investitionsmöglichkeit. Denn der wachsende Markt für
Elektroautos, Smartphones, Solaranlagen und weitere zukunftsträchtige
Technologien führt zu einer gesteigerten
Nachfrage nach Ressourcen wie Lithium und Kobalt und
hatte in den vergangenen Jahren exorbitante Preisanstiege
zur Folge (vgl. Metalary 2019).
Das außergewöhnliche geopolitische Potential von Rohstoffquellen
in der Tiefsee basiert auf ihrer Lage außerhalb der
ausschließlichen Wirtschaftszonen einzelner Staaten. Die
Vorkommen in Landlagerstätten sind sehr ungleich verteilt,
was zu mächtigen Monopolstellungen einiger weniger Nationen
geführt hat (vgl. Ocean Review 2014). Durch eine
geregelte, gerechte Ressourcenförderung am Meeresboden
ergibt sich die Möglichkeit, jene Monopole aufzubrechen.
die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA: International
Seabed Authority). Diese hat bisher lediglich Lizenzen
zur Erforschung des Meeresbodens und seiner Ressourcen
erteilt, nicht aber zur kommerziellen Förderung dieser.
Sie wird aber dennoch bereits jetzt von Organisationen wie
Greenpeace heftig kritisiert. Angefangen damit, dass es der
ISA an Expertise und Kapazitäten zum Schutze der Natur
fehle, bemängelt Greenpeace insbesondere die ausgestellten
Umweltverträglichkeitsgutachten. Diese stehen in der
Kritik, da sie von Bergbaufirmen durchgeführt und nicht
von unabhängiger Seite verifiziert werden. Darüber hinaus
werden sie der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestellt
(vgl. Casson 2019).
Die Deep Sea Conservation Coalition (DSCC), zu deren
Mitgliedern auch Greenpeace und der WWF gehören,
fordert aufgrund dieser Intransparenzen einen Stopp der
kommerziellen Exploration, bis die Auswirkungen auf die
dadurch bedrohte Biodiversität ausreichend erforscht sind
(vgl. DSCC 2019).
Ein weiterer zentraler Punkt in den Forderungen zum Schutz
des Lebens in der Tiefsee ist der Plan für Meeresschutzgebiete.
Genauer sollen Netzwerke von Meeresschutzgebieten
eingeführt werden. Um lokalspezifische Schutzmaßnahmen
ausführen zu können, bedürfe es streng regulierter und effizient
verwalteter „Schutzgebiets-Netzwerke“ (Greenpeace
2019). Dazu werden derzeit Studien durchgeführt.
Risiken des Tiefsee-Bergbaus
Unser aller Verantwortung?
Zum Ausmaß der unmittelbaren und langfristigen Gefahren
für das Biotop Tiefsee können wir nur Schätzungen und
Prognosen anstellen. Und selbst die Optimistischsten dieser
verknüpfen einen radikalen Eingriff in die unberührte
Welt der Tiefen, wie Schürfarbeiten es wären, mit dramatischen
Folgen für die dort angesiedelten Arten. So fand
eine deutsch-französische Forschungsgruppe im Jahr 2006
das Gebiet, in dem in den Siebzigern Manganknollen-Abbautests
durchgeführt wurden, vollkommen kahl und unbelebt
vor, wohingegen sich das Leben im Umland tummelte
und trotz der extremen Umstände der Tiefsee florierte (vgl.
Zierul 2011).
Zuständig für die Organisation und Überwachung der Ressourcennutzung
am Meeresboden, aber auch für die Förderung
wissenschaftlicher Forschung in diesem Gebiet, ist
Es besteht also die Chance, eine gerechtere Ressourcenverteilung
zu ermöglichen und die Technologien der Zukunft
weiter voranzutreiben. Dem gegenüber stehen die noch
größtenteils unerforschten Konsequenzen für die Umwelt,
insbesondere für die marine Artenvielfalt. Eines steht jedoch
fest: Ein Eingriff in diese sensiblen Ökosysteme wird
nicht ohne Folgen bleiben. Es stellt sich also die Frage, was
die Menschheit aus vergangenen und aktuellen Ausbeutungen
des Planeten gelernt hat. Wenn wir – die Menschheit
– uns in diesem Belang überhaupt als eine Einheit bezeichnen
können, wie gedenken wir mit unserem gemeinsamen
Erbe umzugehen – verantwortungsvoll?
11 philou.
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Artikel
Verantwortung & Umwelt
Die Wege des Abfalls
Eine Geschichte exportierter Verantwortung
Caroline gasten
Umweltingenieurwissenschaften
Früher wurde der minderwertige Plastikabfall nach China
exportiert. So beschreibt es ein Mitarbeiter eines öffentlichen
Entsorgungsbetriebs in Aachen, als er an einem kühlen
Januarmorgen Anfang 2018 eine Studierendengruppe
über das Gelände führt, denn wenige Wochen zuvor, am
1. Januar 2018, schloss China seine Grenzen für 24 Sorten
von Abfällen (vgl. UNEP 2018).
Chinas Importverbot ist eines der seltenen Ereignisse, die auf
internationaler Ebene Aufmerksamkeit erregten und damit
die Praxis des Abfallexports in das Bewusstsein der Verbraucher_innen
riefen, denn für diese endet der Weg des Abfalls
meist an der Mülltonne. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz
(KrWG) beschreibt den Übergang von Abfällen von Endnutzer_innen
auf die zuständigen privaten und öffentlichen
Entsorger als „Entledigung“. Diese ist anzunehmen, „wenn
der Besitzer Stoffe oder Gegenstände einer Verwertung […]
oder einer Beseitigung […] zuführt oder die tatsächliche
Sachherrschaft über sie unter Wegfall jeder weiteren Zweckbestimmung
aufgibt.“ (§3 Abs. 2 KrWG).
Der Satz suggeriert eine Abgabe von Verantwortung für die
produzierten Abfälle, eine Nicht-Beteiligung an jeglichen
weiteren Schritten, die nötig sind, um den Abfall im Sinne
des Gesetzes zu verwerten oder zu entsorgen. Nach dem
Prinzip „aus den Augen, aus dem Sinn“ werde der Abfall,
sobald er nicht mehr sichtbar ist, oft vergessen (vgl. Mauch
2016). Doch obwohl er für den/die Endnutzer_in ab dem
Zeitpunkt der Entledigung unsichtbar sein mag, verschwindet
der Abfall nicht, sondern taucht an anderer Stelle wieder
auf. Jedoch ist dies häufig weitab von dem Blickfeld der
Konsument_innen und auch außerhalb des Souveränitätsgebietes
der Staaten, denn der Export von Abfällen und damit
der Export der Verantwortung diese zu behandeln, ist seit
Jahrzehnten eine gängige Praxis in Industrienationen (vgl.
Clapp 2001; Ajibo 2016).
Auch der Importstopp Chinas konnte diese Praxis nicht
beenden. Auf die Frage eines Studenten, was nun mit dem
Abfall passiere, dessen Recycling in Deutschland nicht wirtschaftlich
ist, antwortet der Mitarbeiter des Aachener Entsorgungsunternehmens
nur knapp: „Pakistan“. Und auch
andere Länder, wie Vietnam, Thailand und Malaysia übernahmen
Chinas ehemalige Importmengen (vgl. Greenpeace
South East Asia 2018).
Die Wege des Abfalls sind geprägt von unterschiedlicher
Wertschätzung. Während er in Industrienationen primär als
ästhetisches Übel aufgefasst wird, stellt Abfall für Entwicklungsländer
in erster Linie eine wertvolle Einkommensquelle
dar (vgl. Grant 2016).
Aufgrund der Ausnutzung dieser wirtschaftlichen
Abhängigkeit der Nicht-OECD-Staaten etablierte sich
in den 1980er Jahren der Ausdruck toxic colonialism. Der
Kunstbegriff sollte auf internationaler Ebene auf die
überproportionalen Risiken aufmerksam machen, die
Entwicklungsländer durch den Import von gefährlichen
Abfällen auf sich nehmen (vgl. Pratt 2011). Es wurde
argumentiert, dass die Länder, obwohl sie nicht an
der Entstehung der Abfälle beteiligt seien und keinen
direkten Nutzen aus den produzierten Gütern zögen, die
gesundheitlichen Konsequenzen und Umweltschäden trügen
(vgl. Clapp 2001).
Die Basler Konvention aus dem Jahr 1989 stellte eine erste
internationale Anerkennung der Problematik der grenzüberschreitenden
Verbringung gefährlicher Abfälle dar. Ein Export
gefährlicher Abfälle sollte nur noch erfolgen, wenn in
dem eigenen Land keine Kapazitäten für eine umweltschonende
und effiziente Behandlung des Abfalls bestanden oder
wenn der Abfall im empfangenden Land als Rohstoff benötigt
wurde. Bei einer grenzüberschreitenden Entsorgung
mussten sowohl Export- als auch Empfängerland vorher
zustimmen und jede Verbringung ohne vorheriges Übereinkommen
unter Verfügbarkeit aller vorhandenen Informationen
über den zu entsorgenden Abfall wurde als illegaler
Handel betrachtet.
13 philou.
Trotzdem ist die grenzüberschreitende Abfallentsorgung
zwischen OECD- und Nicht-OECD-Staaten auch 30 Jahre
nach dem Erlass der Konvention gängige Praxis.
Es fehle eine globale Methode, um koordiniert den Handel
mit gefährlichen Abfällen zu kontrollieren. Stattdessen
berufe sich die Basler Konvention auf die Umsetzung der
Bestimmungen durch die einzelnen Länder. Die in vielen
Nicht-OECD-Ländern teilweise sehr geringen Kapazitäten,
um nationale Regulierungen auch durchzusetzen, würden
vielfach zur Verschleierung des Handels gefährlicher Abfallstoffe
führen (vgl. Pratt 2011). Auch fehle es häufig an
politischem Willen und öffentlicher Opposition, da keine
angemessene Aufklärung über die entstehenden Gefahren
durch den Import von gefährlichen Abfällen bzw. kein Zugang
zur Justiz bestehe (vgl. Ajibo 2016). Um die Wirtschaft
anzukurbeln, würden häufig die Regulierungen hinsichtlich
gefährlichen Abfalls vernachlässigt und kurzzeitige Gewinne
bevorzugt, ohne die langfristigen Konsequenzen für Gesundheit
und Umwelt in Betracht zu ziehen (vgl. Pratt 2011).
Für Industrieländer stellt die grenzüberschreitende Verbringung
von Abfällen insbesondere im Zusammenhang mit
den zunehmenden Mengen an Elektroschrott und Plastikabfall
weiterhin eine attraktive Lösung dar. Während in
diesen Ländern durch zunehmend strenge Umweltvorschriften
und lokalen Widerstand die Entsorgungskosten steigen,
gibt es in Entwicklungsländern häufig keine strengen
Regulierungen, zudem sind Arbeitskräfte und Land in der
Regel günstig (vgl. Pratt 2011). Studien aus den 1980er und
1990er Jahren ergaben, dass die durchschnittlichen Entsorgungskosten
einer Tonne gefährlicher Abfälle in Afrika bei
US $2,50–$50 lagen, während diese in Industrieländern US
$200–$3000 betrugen (vgl. Ajibo 2016).
Die gravierenden Folgen, die sich daraus für viele Entwicklungsländer
ergeben, dringen nun auch in OECD-Staaten
an die Öffentlichkeit. Oft fehle in Entwicklungsländern die
Technologie, Ausbildung, Finanzierung und administrative
Infrastruktur um den Abfall adäquat behandeln zu können
(vgl. Pratt 2011). Häufig würden gefährliche Abfälle auf
nicht als Mülldeponie geeigneten Flächen gelagert, Frauen
und Kinder würden den Elektroschrott aus Deponien suchen
und sich dabei den Dämpfen aussetzen, die durch die
Verbrennung von Schwermetallen und Plastik entständen
(vgl. Pratt 2011, Ajibo 2016). Auch hinsichtlich des Ressourcenpotentials
des Elektroschrotts ist eine Rückgewinnung
der verbauten Metalle unter diesen Bedingungen kritisch
zu bewerten, da umweltverträgliche Methoden dazu führen
könnten, dass weniger Ressourcen verbraucht würden
(vgl. Pratt 2011).
Ein Greenpeace-Bericht aus dem Jahr 2018 schildert ähnliche
Bedingungen in Malaysia bei der Entsorgung von international
gehandelten Plastikabfällen, die nicht zu den
gefährlichen Abfällen zählen. Der Abfall werde häufig nicht
richtig behandelt, sondern in einer Weise deponiert oder
verbrannt, die gegen internationale Absprachen verstoße.
Bereits jetzt beständen gesundheitliche Beeinträchtigungen
und Umweltschäden, die wahrscheinlich durch illegale
Verbrennung und Deponierung von importierten Plastikabfällen
hervorgerufen würden. So berichtet Greenpeace
von einer Mülldeponie, von der aus Wasser in die nahegelegenen
Teiche einer Krabbenzucht liefen und gegenüber
nationalen Wasserqualitätsstandards erhöhten Mengen an
Aluminium und Eisen im Kuala Langat Fluss (vgl. Greenpeace
Southeast Asia 2018).
Berichte über die umweltschädliche Entsorgung von Abfällen
oder Plastikmüll im Meer haben im Jahr 2019 zu zwei
Meilensteinen im Bereich der Begrenzung der globalen Abfallverbringung
geführt. Im Rahmen der Basler Konferenz
vom 29. April bis 10. Mai 2019 wurde auch die Entsorgung
von Plastikabfällen erstmals in einen internationalen
Rechtsrahmen eingebunden, was laut UN Environmental
Programme zu mehr Transparenz und Kontrolle im globalen
Handel mit Plastikabfällen führe (vgl. UNEP 2019).
Des Weiteren wird am 5. Dezember 2019 das Basel Ban
Amendment umgesetzt (BRS Secreteriat 2019). Die Novelle
sieht vor, dass sämtlicher Handel gefährlicher Abfallstoffe
zwischen Industrie- und Entwicklungsländern verboten
werde (vgl. Pratt 2011).
Die Auswirkungen und Effektivität der Novellen bleiben
abzuwarten. Angesichts der bereits schwierigen Umsetzung
der Basler Konvention in der ursprünglichen Form durch geringe
nationale, administrative Kapazitäten (vgl. Pratt 2011),
ist ein verstärkter illegaler Handel mit Abfällen sicherlich
nicht auszuschließen. Auch wird das vollständige Verbot
jeglicher Exporte gefährlicher Abfälle von Industriestaaten
in Entwicklungsländer teilweise kritisiert, da so weniger
Anreize für letztere existieren würden Recycling- und
Rückgewinnungsmethoden umweltschonender zu gestalten
(vgl. Pratt 2011).
Die neusten Regulierungen wirken insbesondere deshalb
symbolisch, da sie auf der Selbstverpflichtung vieler Industrienationen
basieren, Verantwortung für ihre Abfälle zu
übernehmen. Das Exportverbot gefährlicher Abfälle werde
als Distanzierung vom toxic waste colonialism begrüßt (vgl.
Pratt 2011). Ob jedoch die ethische Verantwortung letztendlich
jegliche wirtschaftlich attraktive Abfallexporte zum
Erliegen bringt, ohne dass die Staaten auf internationaler
14
Verantwortung & Umwelt
Ebene kontrolliert werden, bleibt abzuwarten. Eine internationale
Kontrollinstanz könnte sicherstellen, dass die Abfälle
tatsächlich nicht mehr exportiert werden.
Chinas Importverbot hat exemplarisch gezeigt, welche Folgen
es für die Industrienationen haben kann, wenn sie wieder
Verantwortung für ihre Abfälle übernehmen müssen. Länder
wie Indonesien und Malaysia, die anfangs noch bereitwillig
Chinas Anteile global gehandelten Abfalls übernommen
hatten, haben mittlerweile ihre Einfuhrbedingungen
aufgrund fehlender Kapazitäten verschärft. Angesichts des
kollabierenden globalen Recycling-Marktes sind viele Industrienationen
nun dazu übergegangen, die zusätzlichen
Plastikabfallmengen zu deponieren oder zu verbrennen – ein
Unterfangen, das mit erheblichen Risiken für Umwelt und
Gesundheit verbunden ist (Heinrich Böll Stiftung 2019).
Die Hoffnung bleibt, dass so zumindest die Abfallproblematik
wieder in das Blickfeld derer rücken wird, die sie
als Einzige endgültig lösen könnten: die Endverbraucher_
innen. Denn letztendlich sei die globale Abfallproblematik
nur zu bewältigen, indem weniger Abfälle produziert
werden würden (vgl. Pratt 2011; Greenpeace Southeast
Asia 2018).
Pratt, L. A. (2011): Decreasing Dirty Dumping?
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15 philou.
Artikel
Geteiltes Leid,
geteilte Verantwortung
Die Ambivalenz der Konsumentenverantwortung
Ann-kristin winkens
UMWELTINGENIEURWISSENSCHAFTEN
Hans Jonas (1987) beschreibt Verantwortung als eine Funktion
von Macht:
„Ein Machtloser hat keine Verantwortung. Man hat Verantwortung
für das, was man anrichtet. Wer nichts anrichten kann,
braucht auch nichts zu verantworten; […] derjenige, der nur
sehr geringen Einfluß auf die Welt hat, ist in der glücklichen
Lage, ein gutes Gewissen haben zu können.“ (ebd.: 272f.)
Auf die Frage „Was hast du da angerichtet?“ folgt somit die
Antwort „Kaum etwas – denn wer bin ich?“ (ebd.: 272). Dieser
Logik wird heute häufig gefolgt, denn die Auswirkungen
der Handlungen des Einzelnen erscheinen in der Gesamtbetrachtung
nahezu null. Gleichzeitig werden zunehmend
Diskurse über die Verantwortung der einzelnen Konsumenten
geführt – ausgehend von der Annahme, dass insbesondere
nicht-nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster für
globale Umweltprobleme und gesellschaftliche Herausforderungen
maßgebend seien (vgl. WCED 1987; SRU 1994).
Bereits im Brundtland-Bericht (1987) „Our Common Future“
findet sich die Feststellung wieder, dass die Menschen
mit ihrem Verhalten und ihren Handlungen Verantwortung
für eine nachhaltige Entwicklung tragen. In dem Bericht
werden primär zwei Handlungsebenen formuliert, um den
Krisen der Moderne zu begegnen: Zum einen die intergenerationelle
Perspektive, die die Verantwortung für zukünftige
Generationen beschreibt und zum anderen die intragenerationelle
Perspektive, das heißt die Verantwortung für derzeit
lebende Menschen. (vgl. WCED 1987; Balaš/Strasdas 2018)
Das inhärente Verständnis des Nachhaltigkeitsbegriffes geht
entsprechend mit einer Verantwortungszuschreibung einher.
Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU)
benennt in seinem Umweltgutachten (1994) drei konkrete
Verantwortungsbereiche, die im Kontext einer nachhaltigen
Entwicklung relevant sind: die Verantwortung des Menschen
für seine natürliche Umwelt, die Verantwortung des
Menschen für seine soziale Mitwelt und die Verantwortung
des Menschen für sich selbst. Somit ist Verantwortung
hinsichtlich einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur umweltethisch
zu begründen, sondern auch im Kontext einer
sozialen Gerechtigkeit sowie der Sicherung der „personalen
Freiheit“ (SRU 1994; Buschmann/Sulmowski 2018).
Das Individuum als „Agent of Change“
Wesentlicher Bestandteil der Nachhaltigkeitsdebatte ist die
Frage nach potentiellen Schlüsselakteuren: Wer hat den entsprechenden
Einfluss, um einen gesellschaftlichen Wandel
herbeizuführen? Wer trägt besondere Verantwortung? Wer
trägt in der Verursacherkette, beispielsweise hinsichtlich
des Klimawandels oder des Ressourcenverbrauchs, maßgeblich
bei? (vgl. Grunwald 2012) Der seit Jahrzehnten
festgeschriebene Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung
ist zunehmend mit einem Appell an die individuelle
Verantwortungsübernahme verbunden (vgl. Buschmann/
Sulmowski 2018; Grunwald 2010; Grunwald 2012): Die
Debatte konzentriert sich vor allem auf den Konsumenten,
der als „schlafender Riese“ gilt und die Welt retten könnte,
wenn er sich doch nur aus seinem Schlaf befreien könne
(vgl. Grunwald 2012, zitiert nach Busse 2006). Damit wird
dem einzelnen Konsumenten eine außerordentliche Macht
zugeschrieben, was letztlich auf dem Verursacherprinzip basiert:
Das Konsumverhalten von Privathaushalten erzeugt
maßgeblich globale ökologische und soziale Probleme, damit
sind die Konsumenten für diese Probleme verantwortlich
16
Verantwortung & Umwelt
und nach dieser Prämisse entsprechend in der moralischen
Pflicht, diese auch zu lösen – dies wird als Konsumentenverantwortung
bezeichnet (vgl. ebd.; Grunwald 2014).
In diesem Sinne wäre das konsumierende Individuum gleichzeitig
Verantwortungssubjekt, Verantwortungsobjekt und Verantwortungsadressat,
das sich vor der Verantwortungsinstanz
„Planet Erde“ rechtfertigen muss (vgl. Braun/Baatz 2018).
Von Konsumenten wird erwartet, öffentliche Verkehrsmittel
oder das Fahrrad zu nutzen, sparsam zu heizen und
stromsparend zu leben, regionale und saisonale Lebensmittel
zu kaufen sowie bei der Anschaffung von Bekleidung, Unterhaltungselektronik
oder der Wohnungseinrichtung auf
die Ökobilanz zu achten. Diese Erwartungshaltung spiegelt
sich auch in der veränderten Werbekultur wider, in der
vielfach Lösungen für private Endverbraucher angeboten
werden, wie sie „etwas für die Umwelt tun könnten“. Ein
ganzer Markt für Nachhaltigkeit hat sich gebildet: Von Mobilitätsalternativen
zum Fliegen und Autofahren, Öko-Tourismus,
Bekleidung bis hin zu Ernährungsgewohnheiten
wird in der Öffentlichkeit direkt der Lebensstil des einzelnen
Konsumenten angesprochen. (vgl. Grunwald 2012,
2014) Nachhaltiges und umweltschonendes Verhalten wird
mittlerweile als „Muster politischer Korrektheit“ propagiert,
ständige Beobachtung hinsichtlich ökologischen Handelns
wird zum Alltag (Grunwald 2010). Private Unterhaltungen
drehen sich darum, wessen Mittagessen die niedrigere
CO 2
-Bilanz aufweist und wessen Urlaub eine bessere Ökobilanz
hat (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit wird somit privatisiert
– das heißt die Erwartungen verschieben sich von der politischen
Ebene zur privaten Ebene (vgl. ebd.). Nachhaltigkeit
per se ist aber keine Privatangelegenheit: Als „Muster politischer
Korrektheit“ deklariert, „verliert es auf eigentümliche
Weise das Private“ (ebd.).
Der moralische Druck auf den privaten Endverbraucher
wächst zunehmend und dieser bemüht sich kontinuierlich,
diesen „ökologischen Tugenden“ nachzugehen (Grunwald
2014). Fraglich ist jedoch, inwieweit diese öffentliche Erwartungshaltung
an das Individuum gerechtfertigt ist und
ob ein verändertes Konsumverhalten des Einzelnen überhaupt
zu einer gesellschaftlichen Umstrukturierung beitragen
kann – das heißt, wie viel Macht der Einzelne tatsächlich
hat bzw. haben kann. „Es wäre zynisch, an das private Handeln
zu appellieren, wenn plausible Zweifel bestehen, dass
dieses Handeln die erhofften positiven Folgen haben wird“
(Grunwald 2010). Und nicht nur das: Zynisch ist es auch,
den Konsumenten durch ein breites Angebot vor die Wahl
zu stellen, um ihm im Nachhinein vorzuwerfen, er habe unmoralisch
gehandelt.
Geteilte Verantwortung
Ausgehend von der Prämisse des Verursacherprinzips scheint
die Schlussfolgerung, dass die von den Konsumenten verursachten
Schäden auch durch diese behoben werden müssen,
naheliegend und logisch – sie kommt jedoch vielmehr einem
Trugschluss nah (vgl. Grunwald 2014). Weiterhin bedarf es
einer Differenzierung der tatsächlichen Kausalität: Treibhausgasemissionen,
die beispielsweise durch das Autofahren
entstehen, können nur als geteilte Verursachung eines ökologischen
Schadens verstanden werden, da dieser als Summe
aller kollektiven Handlungen bewirkt wird – und nicht aus
einer einzelnen Handlung resultiert (vgl. Schmidt 2016).
Die Verantwortungszuschreibung basiert entsprechend nicht
ausschließlich auf einem kausalen Zusammenhang, sie ist
wesentlich komplexer, denn es müssen ebenso die Strukturen,
Rahmenbedingungen und das vorhandene Wissen berücksichtigt
werden. Eine vollständige Zuschreibung der
Verantwortung an die verursachenden Akteure würde nur
dann gelten, wenn diese in ihren Handlungsalternativen
völlig frei wären – dies trifft aber im Falle des Konsumverhaltens
nicht zu. (vgl. Grunwald 2014) Die Konsumenten
bewegen sich in gesetzlichen Rahmenbedingungen.
Es steht außer Frage, dass Privatpersonen einen Teil der
Verantwortung tragen. Ebenso können sie sicherlich durch
nachhaltige(re)n, aber vor allem bewussten Konsum zu Veränderungsprozessen
beitragen. Der andere Teil liegt aber
eben in jenen Rahmenbedingungen: In demokratischen
Systemen sind die Konsumenten nicht nur Konsumenten,
sondern vor allem als Bürger und Bürgerinnen Gestalter
der Partizipation. (vgl. ebd.) Durch transparente und demokratisch
legitimierte Prozesse, die für alle verbindlich sein
können, werden Rahmenbedingungen, die einen bewussten
Konsum fördern, zu einem öffentlichen Diskurs und
stellen entsprechend Gestaltungsräume dar, an denen alle
partizipieren können. Es geht nicht darum, das Individuum
von seiner Verpflichtung zur Verantwortungsübernahme
zu befreien; diese Verpflichtung ist aber nicht nur auf den
privaten Konsumbereich zu beziehen, sondern eben auch
17 philou.
auf die politische Ebene des individuellen Handelns. (vgl.
Grunwald 2010) Das Individuum ist sowohl Privatperson
und Konsument als auch Mitglied einer Zivilgesellschaft
und politischer Akteur – und der simplifizierte Ansatz des
moralisierenden Verursacherprinzips ignoriert eben genau
diesen zweiten Aspekt (vgl. ebd.; Grunwald 2012).
Verantwortungsübernahme für „mehr Nachhaltigkeit“ kann
sowohl durch verstärktes Engagement im politischen Bereich
als auch durch bewusstes Einkaufen im Supermarkt geschehen
– zwei unterschiedliche Weisen, der Verantwortung
gerecht zu werden (vgl. Grunwald 2018). Entsprechend wird
die Konsumentenverantwortung in ihrer Erwartung und den
tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten relativiert – Verantwortung
für „mehr Nachhaltigkeit“ ist viel umfassender (vgl.
ebd.). Im Hinblick auf eine geteilte Verantwortung ist es vor
allem die Konsistenz im Handeln, die relevant ist. Wer sich
im politischen Bereich aktiv für Nachhaltigkeit einsetzt, im
privaten jedoch seine Überzeugungen verwirft, weist keine
intrinsische Überzeugung auf – im Kantischen Sinne darf
Nachhaltigkeit nicht als Mittel zum Zweck, zur Imagepflege
oder Ähnlichem, missbraucht werden, es geht vielmehr um
den „Guten Willen“ an sich. (vgl. Grunwald 2012)
„In summa wirken wir alle mit und sogar im bloßen Verbrauchen,
sogar ohne etwas zu tun. Schon dadurch,
daß wir an den Früchten dieses Systems partizipieren,
sind wir alle mit kausale Kräfte in der Gestaltung
der Welt und der Zukunft. […] Wir alle sind es, ohne
daß es ein einzelner zu sein braucht.“ ( Jonas 1987: 273)
Balaš, M.; Strasdas, W. (2018): Nachhaltigkeit
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Fischer Verlag.
18
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F.M. Dostoyevski
1821–1881
20
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
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Ingenieurberufs VDI
„In der Erkenntnis, daß Naturwissenschaft und
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und Ingenieure ihrer besonderen
Verantwortung bewußt.
Sie richten ihr Handeln im Beruf an ethischen
Grundsätzen und Kriterien aus und setzen diese
konsequent in die Praxis um.
Die Grundsätze bieten Orientierung und unterstützen
die Einzelnen bei der Beurteilung von
Verantwortungskonflikten.“
(Auszug aus der Präambel)
Responsible research and
innovation (RRI)
„Responsible research and innovation is an
approach that anticipates and assesses potential
implications and societal expectations with
regard to research and innovation, with the aim
to foster the design of inclusive and sustainable
research and innovation.“ (Horizon 2020)
Es gibt Risiken, die man nie
eingehen darf: Der Untergang
der Menschheit ist ein solches.
Was die Welt mit den Waffen
anrichtet, die sie schon besitzt,
wissen wir, was sie mit jenen
anrichten würde, die ich
ermögliche, können wir uns
denken.
Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker
(1962)
Büro für Technikfolgenabschätzung
beim Deutschen
Bundestag (TAB)
Zu den Hauptaufgaben der TA gehört, die
Potentiale und Auswirkungen wissenschaftlich-technischer
Entwicklungen umfassend und
vorausschauend zu analysieren und die damit
verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen,
ökologischen Chancen und Risiken auszuloten.
Auf dieser Grundlage werden den Gremien und
Abgeordneten Handlungsbedarf und -möglichkeiten
aufgezeigt.(https://www.tab-beim-bundestag.de/de/)
21 philou.
Opener
Interdisziplinäre
Perspektiven
Verantwortung an der RWTH Aachen
„In den Wirtschaftswissenschaften
bilden wir
zukünftige Führungskräfte
aus, die damit eine wichtige
Rolle bei der Gestaltung
unserer Gegenwart und Zukunft
einnehmen. Verantwortung
bedeutet in diesem
Zusammenhang über den
wirtschaftlichen Erfolg hinaus
zu denken und das Wohl der
anvertrauten Menschen, der
zukünftigen Generationen sowie
unserer natürlichen Umwelt in
die Entscheidungskalküle mit
einzubeziehen. Gerade bei
den immer wieder auftretenden
Interessenskonflikten erfordert
Verantwortung damit Mut, sich
kurzfristigem und egoistischem
Denken entgegenzustellen
und insbesondere unsere
gewachsenen Institutionen zu
schützen.“
Peter Letmathe
Dekan der Fakultät für
Wirtschaftswissenschaften
RWTH Aachen
„Der Aachener Maschinenbau
bekennt sich zu einem
verantwortungsvollen Umgang
mit der Umwelt, indem
er auf Nachhaltigkeit und
Energieeffizienz setzt. Jeden
Tag arbeiten wir daran,
die Welt mit Hilfe unserer
Forschungsergebnisse zu
verbessern und dabei die
Gesellschaft im Allgemeinen
sowie den wissenschaftlichen
Nachwuchs im Speziellen
zu unterstützen und für
ein verantwortungsvolles
Handeln auszubilden.“
Jörg Feldhusen
Dekan der Fakultät für
Maschinenwesen
RWTH Aachen
22
„Die Verantwortung für den
Gegenstand, die Ausgestaltung
und den Nutzen von Forschung
liegt bei den individuell
handelnden Persönlichkeiten
meiner Fakultät. Meine
Verantwortung als Dekan liegt
darin Arbeitsbedingungen zu
ermöglichen, die relevante
Forschung erlauben und die
Freiheit in Forschung und Lehre
gewähren.“
Ulrich Simon
Dekan der Fakultät für
Mathematik, Informatik und
Naturwissenschaften
RWTH Aachen
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
„Für alle Mitglieder der
RWTH Aachen gilt: Die
Freiheit von Wissenschaft,
Forschung und Lehre,
festgeschrieben in Art. 5 des
Grundgesetzes, ermöglicht
uns Gestaltungsspielraum
für unsere Arbeit, für die
Entwicklung neuer Ideen und
die Diskussion kontroverser
Meinungen. Es ist ein hohes
Gut, das zugleich ein hohes
Maß an Verantwortung
für unser persönliches
Handeln mit sich bringt.
Ob es um die Auswahl von
Forschungsthemen geht, den
Umgang mit Projektpartnern
oder die Vermittlung von
Wissen in der Lehre –
Freiheit gibt es nicht ohne
Verantwortung.“
Ulrich Rüdiger
Rektor der RWTH Aachen
Was bedeutet Verantwortung
in dem Wissenschafts- und
Forschungsbereich Ihrer
Fakultät?
„Für die Philosophische Fakultät
stellt die Frage nach der
Verantwortung eine fortlaufende
und herausfordernde
Aufgabe dar. Neben den an
einer Universität relevanten
Rollenverantwortlichkeiten –
man hat z.B. als Professor_
in eine Verantwortung
gegenüber Kolleg_innen
und Studierenden – geht es
darum, verantwortungsvolle
Forschung inmitten
gesellschaftlichen Wandels
zu praktizieren. Dafür steht
das von der Philosophischen
Fakultät verantwortete Human
Technology Center (HumTec),
das die zentrale Plattform
der RWTH für avancierte
interdisziplinäre Forschung
darstellt.“
Christine Roll
Dekanin der Philosophischen
Fakultät
RWTH Aachen
„Es bedeutet, die richtigen
Antworten auf Zukunftsfragen
der Menschheit zu geben. Die
Fakultät für Bauingenieurwesen
beschäftigt sich hierbei mit
den Themen ‚Anpassung
an den Klimawandel‘,
‚Mobilität der Zukunft ‘ und
‚nachhaltiges Bauen und
Betreiben von Gebäuden und
Infrastrukturen‘. Diese Themen
sind gleichermaßen in der
Forschung und in der Lehre tief
zu verankern.“
Markus Oeser
Dekan der Fakultät für
Bauingenieurwesen
RWTH Aachen
„Als Dekan der Medizinischen
Fakultät sehe ich mich
verantwortlich für die
Weiterentwicklung unserer
Forschungsstrategie, und
dann für die Sicherstellung der
Finanzen und der Infrastruktur
für deren Umsetzung.“
Stefan Uhlig
Dekan der Fakultät für Medizin
RWTH Aachen
23 philou.
Artikel
Berufsethos
in der
Wissenschaft
Mediziner_innen treffen in ihrer Arbeit auf eine Vielzahl
moralischer Fragestellungen. Ein herausragendes Merkmal
im Umgang mit diesen ist das Standesethos von Ärzt_innen,
welches sich im Rahmen des hippokratischen Eids und seiner
Nachfolger formuliert findet. Der folgende Artikel beschäftigt
sich mit der Frage, inwiefern dieser Ansatz in der
Medizin noch zeitgemäß ist und Vorbild für Natur- und
Technikwissenschaften sein kann und sollte.
Der Eid in seiner ursprünglichen Fassung ist uns als Teil
des „Corpus Hippocraticum“ aus dem 5. Jahrhundert. n. C.
bekannt. Damalige Kernaussagen sind das Anrufen göttlichen
Schutzes, das Ehren von Mentor_innen, die Vermeidung
von Schaden und Unrecht, der Wert menschlichen
Lebens und Vertraulichkeit gegenüber Patient_innen sowie
der professionelle Umgang mit ihnen (vgl. Nittis 1940). Es
ist unbestritten, dass der hippokratische Eid eine prägende
Wirkung auf das Berufsethos von Mediziner_innen hat.
Dieser sei auch heute Eckpunkt und Grundlage der medizinischen
Berufe. (vgl. Antoniou et al. 2010)
In der praktischen Umsetzung wurde der hippokratische
Eid bereits im Jahre 1948 durch die „Genfer Deklaration
des Weltärztebundes“ oder kürzer das „Genfer Gelöbnis“
abgelöst. Selbiges ist in Deutschland, noch vor der Präambel,
Teil der Berufsordnung der Bundesärztekammer. Das
Gelöbnis wurde über die Jahre immer wieder ergänzt und
geändert, zuletzt 2017 um die Anerkennung der Patientenwürde,
das freie Teilen medizinischer Erkenntnisse, den
Selbstschutz und den Schutz der Umwelt (vgl. World Medical
Association 2018).
Felix engelhardt
mathematik
In der Praxis gibt es selbstverständlich Grenzen der Wirksamkeit:
Das Gelöbnis ist nicht rechtskräftig, anders als die
ärztliche Approbation oder die Standesgerichtsbarkeit der
Kammern. Es bleibt somit ein Leitbild, welches auch selbst
den Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
unterworfen ist. Grundsätzliche Kritik greift die Frage auf,
ob das Gelöbnis, über das Verständnis als Richtlinie hinaus,
überhaupt Antworten auf fundamentale moralische Dilemmata
bieten könne oder ob sich solche Probleme nicht ob
der ihnen innewohnenden Komplexität einfacher und konsensfähiger
Bewertung entzögen (vgl. Vollmann 2017). Dies
spiegelt sich auch im Gelöbnis selbst wider. Dieses wurde
über die Jahre, neben notwendigen Aktualisierungen, in Bezug
auf ursprünglich klar formulierte Reglungen nivelliert.
Ein herausragendes Beispiel sei der historische Grundsatz
„Tue nichts, was schadet.“, welcher heute im Kontext der Patient_innenautonomie
betrachtet werde: Auch medizinisch
nicht indizierte Eingriffe (z.B. Geschlechtsumwandlungen)
würden so moralisch gerechtfertigt, sofern Patient_innen
sie wünschen (vgl. Egler 2003). Bemerkenswert bleibt, dass
Egler, selbst Mediziner und emeritierter Professor in Bonn,
im Resümee nicht die Abschaffung des Gelöbnisses, sondern
ein formalisiertes und verpflichtendes Ablegen des selbigen
im Rahmen der Mediziner_innenausbildung fordert.
Aber inwiefern lassen sich die diskutierten Konzepte auf
Natur- und Technikwissenschaften übertragen? Historisch
gesehen ist dies zunächst keine neue Idee. Bereits 1962
haben die Professoren Brüche und Luck die vorgestellte
Frage im renommierten Physik-Journal „Physikalische
Blätter“ diskutiert (vgl. Luck 1962). Im Folgenden gab es
24
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
eine ganze Reihe von Veröffentlichungen diesbezüglich (vgl.
Luck/Goubeau 1963; Luck 1975). Luck, der die Debatte
federführend vorantreibt, formuliert auch einen ersten
Entwurf für einen Eid:
„Nach bestem Wissen und Können werde ich alle meine
Kenntnisse nur zum Wohl der gesamten Menschheit einsetzen.
Nie werde ich ihr irgendwie Schaden oder Unrecht
antun. Naturwissenschaft bedeutet für mich, der Natur mit
allem meinem Wissen in Ehrfurcht zu dienen.“ (Luck 1975)
Der Philosoph Karl Popper greift das gleiche Argument auf
und leitet die Notwendigkeit eines Eids aus den sich ändernden
Rahmenbedingungen wissenschaftlichen Fortschritts ab:
„Formerly, the pure scientist or the pure scholar had only one
responsibility beyond those which everybody has; that is, to
search for truth. […] This happy situation belongs to the
past. […] One of the few things we can do is to try to keep
alive, in all scientists, the consciousness of their responsibility.“
(Popper 1969)
Greift man Poppers und Lucks Gedanken auf, eröffnet sich
ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Anspruch
von Wissenschaft, in der Gesellschaft bedeutend zu sein und
der Verpflichtung ihrer selbst, sich mit ethischen Fragestellungen
zu beschäftigen und zu solchen zu positionieren. Der
vielbeschworene Elfenbeinturm wird zum Schutzraum, dessen
Verlassen Wissenschaftler_innen zwingt, die einfache
Prämisse und die Sicherheit, dass Wissen gut und Wahrheit
richtig ist, aufzugeben. Der Physiker Joseph Rotblat, welcher
selbst Beiträge zur Entwicklung der Atombombe leistete
und später die Pugwash-Konferenzen mitbegründete,
zielt in eine ähnliche Richtung und argumentiert, dass die
Grundlage für das Fehlen moralischer Aspekte im Handeln
mancher Wissenschaftszweige auf einer falsch verstandenen
Trennung zwischen „reinen“ und „angewandten“ beruhe
(Rotblat 1999). Die Verantwortung von Wissenschaftler_innen
erstrecke sich stets auch auf die Nutzung ihrer Erkenntnisse
(vgl. ebd.).
Kann nun ein solcher Eid einen Beitrag leisten, sich einer
entsprechenden Verantwortung zu stellen? Hier gilt es
zu differenzieren zwischen der rechtlichen Verbindlichkeit,
welche auch der hippokratische Eid nicht hat und welche
im Kern immer von außen kommt, und der normativen
Wirkung, die ein Eid nichtsdestotrotz langfristig entfalten
kann. Dass eine normative Wirkung möglich ist, zeigt das
Beispiel der Medizin. Dass ein Grundwertekanon in Naturund
Technikwissenschaften wünschenswert ist, sei an dieser
Stelle angenommen.
Festzuhalten ist, dass die Auseinandersetzung mit ethischen
Fragen in vielen Fällen kein Teil der Ausbildung darstellt,
auch und gerade da, wo es notwendig sei:
„They have never been asked to think about ethics, they have
never been asked to consider how other people’s perspectives
of life might be different to theirs, and ultimately these are the
people who are designing the future for all of us.“ (Fry 2019).
25 philou.
So beschreibt Mathematikerin Hannah Fry die Ausbildung
von Absolvent_innen in Natur- und Technikwissenschaften.
Hier vermittelt ein Eid zwar an sich noch keine Kompetenzen,
er schafft aber Bewusstsein und Raum für Diskurse.
Ein solcher Wertekanon kann auch in den Momenten, in
denen keine konkreten moralischen Fragestellungen anstehen,
eine positive Wirkung entfalten: Nämlich als verbindendes
Element über Fachgrenzen hinaus. Denn was
macht eigentlich die Identität eine_r Ingenieur_in oder Naturwissenschaftler_in
aus? Interdisziplinarität lässt Grenzen
zwischen Fachwissenschaften verschwimmen und die
Konvergenz natur- und technikwissenschaftlicher Methoden
eröffnet stetig neue Anwendungsszenarien. Die Prinzipien
des „wie, was und wofür?“ nach denen Wissenschaft
erforscht und entwickelt wird, können aber ein solches verbindendes
Element sein.
Für eine moderne Hochschule könnte ein solches Gelöbnis
eine Möglichkeit bieten, etwas zu finden, was Studierende,
Mitarbeiter_innen und Alumni verbindet – jenseits des
modischen Hoodies oder der Anzahl an Creditpunkten in
Mathematik oder Mechanik: Die Idee einer gemeinsamen
Vision zur Verbesserung der Gesellschaft, nicht nur im Forschen,
sondern auch im Lehren, Lernen und Denken. Am
Ende wird ein Gelöbnis nie hand-, hieb- und stichfest sein,
aber es hätte das Potential, trotzdem zu wirken. Und es gibt
einen Weg, dies herauszufinden.
Antoniou, S.; Antoniou, G.; Granderath, F.;
Mavroforou, A.; Giannoukas, A.; Antoniou, A.
(2010): Reflections of the Hippocratic Oath in Modern
Medicine. In: World Journal of Surgery. 34.
Jg. 2010/12. S. 3075–3079.
Egler, F.W. (2003): Der hippokratische Eid: Ein
zeitgemäßes Gelöbnis? In: Deutsches Ärzteblatt.
100. Jg. 2003/34–35.
Luck, W. (1962): Hippokratischer Eid für Naturwissenschaftler:
Ein Gespräch mit Dr. Luck (Ludwigshafen).
In: Physikalische Blätter. 18. Jg. 1962/12.
S. 587–591.
Luck, W. (1975): Hippokratischer Eid für Wissenschaftler.
In: Physikalische Blätter. 31. Jg. 1975/06.
S. 275.
Luck, W.; Goubeau J. (1963): Hippokratischer Eid
für Naturwissenschaftler. In: Physikalische Blätter.
19. Jg. 1963/07. S. 330–335.
Matteucci, R.; Gosso, G.; Peppoloni, S.; Piacente,
S.; Wasowski, J. (2012): A Hippocratic Oath
for Geologists? In: Annals of Geophysics. 55. Jg.
2012/03. S. 365–369.
Nittis, S. (1940): The authorship and probable
date of the Hippocratic Oath. In: Bulletin of the
History of Medicine. 8. Jg. S. 1012–1021.
Popper, K. (1969): The Moral Responsibility of the
Scientist. In: Encounter. S. 52–56.
Rotblat, J. (1999): A Hippocratic Oath for Scientists.
In: Science. 286. Jg. 1999/5444. S. 1475.
Vollmann, J. (2017): Keine verbindliche Antwort
auf ethische Probleme. In: Deutschlandfunk Kultur,
02.12.17. Online verfügbar unter: https://
www.deutschlandfunkkultur.de/neuer-hippokratischer-eid-keine-verbindliche-antwort-auf.1008.de.html?dram:article_id=402162
[Zugriff: 14.11.2019].
World Medical Association (2018): WMA Declaration
of Genova. In: www.wma.net, 09.07.18.
Online verfügbar unter: https://www.wma.net/
policies-post/wma-declaration-of-geneva/ [Zugriff:
14.11.2019].
26
Artikel
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
Künstliche Intelligenz
Ein Paradigma wissenschaftlicher
Verantwortung(-slosigkeit)
„Die Entwicklung Künstlicher Intelligenz könnte entweder das
Schlimmste oder das Beste sein, was den Menschen passiert ist.“
– Stephen Hawking (1942–2018)
Mit diesen Worten warnte der berühmte Physiker Hawking
vor der neuen revolutionären technologischen Entwicklung
auf der Web-Summit 2017 in Lissabon. Künstliche Intelligenz
(KI), ihre Entwicklung und ihr zukünftig geplanter
Einsatz scheinen die Wissenschaft, die Politik und die Öffentlichkeit
zu polarisieren. Seit Jahren wird sie in Science-Fiction-Filmen
für die Darstellung apokalyptischer
Endzeitszenarien und Dystopien instrumentalisiert, dabei
besteht eine offensichtliche technikskeptische Tendenz, welche
die irreversiblen und destruktiven Konsequenzen dieser
Technik hervorhebt. Vor diesem Hintergrund scheint der
Begriff „Künstliche Intelligenz“ an sich für viele bereits negativ
geladen und vorbelastet zu sein, zumal es oft assoziativ
für den Kontrollverlust und das damit einhergehende Gefühl
des Ausgeliefert-Seins steht. KI wurde bisher fast ausschließlich
in dem Kontext dieser technikdeterministischen
Zukunftsvisionen und Katastrophenszenarien thematisiert.
Überwachung und Kontrollverlust sind wiederkehrende elementare
Aspekte, die seit Orwell und Huxley zentral für die
Bedrohung des Endes der Menschheit bzw. des Menschseins
stehen. Der umfassende Einsatz von KI in unterschiedlichen
Arbeits- und Lebensbereichen und vor allem der damit befürchtete
Verlust an Arbeitsplätzen navigiert den bisherigen
öffentlichen Diskurs bezüglich der KI.
In diesem Kontext erfährt auch die Technikfolgenabschätzung
eine zunehmende Bedeutung, da mit der KI oft eine
Emanzipierung der intelligenten Systeme und daraus resultierende
irreversiblen Folgen befürchtet wird. Hierbei trägt
das Prinzip der Verantwortung seitens der Wissenschaft eine
betül hisim
Gesellschaftswissenschaft
zentrale Bedeutung. Denn geplant wird eine zunehmende
Delegation von intelligenten Tätigkeiten an Maschinen (vgl.
Brockman 2017: 534). An dieser Stelle gilt der von Armin
Grünwald initiierte Diskurs bezüglich Technikethik als äußerst
signifikant, denn diese umfasst die „ethische Reflexion
auf die Bedingungen, Zwecke, Mittel und Folgen des technischen
Fortschritts“ (Grunwald 2009). In diesem Zusammenhang
bilden Technikkonflikte mit ihren moralischen
Implikationen wichtige Ansatzpunkte und Problemkonstellationen,
die dabei neben der Entwicklung und Nutzung von
gewissen Technologien auch darauf basierende Zukunftsvorstellungen,
Menschenbilder und Gesellschaftsentwürfe
umfassen (Gethmann/Sander 1999). Zumeist fungieren
neue Techniken, Technologien oder Großtechnologien als
Untersuchungsgegenstände für die Technikfolgenabschätzung,
die entweder moralische Fragen aufwerfen, zu deren
Beantwortung die gesellschaftlichen Üblichkeiten nicht ausreichen,
oder die zu moralischen Konflikten führen.
Doch im Kontext der KI ist die Frage nach Verantwortung
von zentraler Bedeutung. Wer wird die Verantwortung tragen,
wenn Dinge schiefgehen, wenn autonome Autos Unfälle
verursachen, wenn Profiler-Algorithmen ethnische Minderheiten
in ihren Kriminalitätsprognosen diskriminieren, wenn
Menschen zum übermäßigen Konsum manipuliert werden?
Die Ausführung von aufwändigen Tätigkeiten seitens intelligenter
Systeme für effizientere Prozessabläufe scheint sich
zwar im ersten Moment harmlos anzuhören. Doch die Verantwortung,
die damit einhergeht, scheint im Rahmen der
KI bisher missachtet zu bleiben und somit eine Verantwor-
27 philou.
tungslücke zu erweisen. Denn im Gegensatz zu Maschinen
trägt der Mensch eine moralische Verantwortung für sein
Handeln und kann gegebenenfalls dafür zur Rechenschaft
gezogen werden. Doch während die menschliche Intelligenz
zu autonomer Bearbeitung gewisser Aufgaben an Maschinen
übertragen werden kann, ist die Übertragung der damit
einhergehenden Verantwortung und moralischen Pflicht
komplizierter als gedacht. Die moralische Urteilskraft ist
zu abstrakt und intuitiv, um in eine Maschine einprogrammiert
werden zu können, daher erscheint die Moralisierung
der KI zunächst nicht realisierbar (vgl. Lenzen 2018: 144).
Zudem sind die negativen Folgen oft nicht ganz kalkulierbar
und selbst abstrakte dystopische Vorstellungen eines
Superalgorithmus lassen sich nicht konkret ausschließen.
Ausgelöst wird dieser Alarmismus von den Informationsasymmetrien,
die zwischen dem Nutzer und den intelligenten
Systemen herrschen und der daraus resultierenden
Intransparenz der Prozessabläufe innerhalb der Systeme (vgl.
Hagendorff 2017: 122). Oft wird in diesem Zusammenhang
auch die tatsächliche Intelligenz dieser intelligenten Systeme
vom Nutzer durchaus überschätzt, wodurch auch das
Gefühl des Ausgeliefert-Seins suggeriert wird.
Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Wissenschaft tatsächlich
eine Verantwortungsbereitschaft im Kontext der
Entwicklung der KI aufweisen kann, insbesondere mit Rücksicht
auf den militärischen Ursprung der KI-Forschung.
Inwiefern könnten Wissenschaftler einer möglichen Zweckentfremdung
der KI für destruktive Ziele entgegensteuern
oder bereits in der Entwicklungsphase diesbezüglich
Maßnahmen ergreifen? Vor allem im Bereich der KI ist
die menschliche Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit oft
umstritten und die Möglichkeit, dass sie sich der menschlichen
Kontrolle entzieht, kann nicht ganz ausgeschlossen
werden. Daher erscheint die Verantwortbarkeit der Entwicklung
dieser Technologie, deren negative Konsequenzen und
Folgeerscheinungen als undurchschaubar und unkalkulierbar
bezeichnet werden, seitens der Wissenschaft und Forschung
äußerst kritisch und lückenhaft. Die ultimative Frage lautet:
„Wie bringt man Maschinen dazu, so zu agieren, dass
dies mit unseren Moralvorstellungen übereinstimmt?“ (vgl.
Lenzen 2018: 142).
Dafür bedarf es der Vergegenwärtigung, dass es immer noch
Menschen sind, die KI entwickeln. Denn Wissenschaftler
und Bürger verfügen gemeinsam über die Macht diese Entwicklung
in eine bestimmte moralbewusste Richtung zu
lenken. Ein wegweisender Ansatz in diese Richtung ist das
Moral Machine Experiment (vgl. Awad et al. 2018). Hierbei
wurden anhand eines Serious Game diverse moralische
Präferenzen aus verschiedenen Ländern weltweit gesammelt.
Hiermit sollte dem Nutzer ermöglicht werden, die
Moralvorstellungen der Maschine der geografischen oder
demografischen Zuordnung entsprechend zu wählen. Dies
war ein Versuch dem Vorbehalt der mangelnden universalen
Moral zur moralischen Programmierung der Maschinen
entgegenzukommen. Denn das Experiment ambitionierte
einen öffentlichen Diskurs bezüglich moralischer Vorstellungen,
der die geografisch oder demografisch auftretende
Differenzen nicht als Hürde, sondern als Chance für eine
einheitliche Durchsetzung moralischer Werte erfasst (vgl.
ebd.: 63). Da Maschinen im Gegensatz zu Menschen ausnahmslos
den Regeln folgen, zur dessen Verfolgung sie programmiert
wurden, lassen sie sich dabei nicht spontan von
Impulsen, Gefühlen oder Instinkten verleiten.
Ein weiterer Schritt in diese Richtung fand in der vom Future-of-Life-Institute
im Jahre 2017 organisierten Asilomar-Konferenz
statt, hierbei wurde ein Leitfaden für eine
wohltätige Entwicklung der KI-Forschung niedergeschrieben
(vgl. Future of Life Institute 2017). In der Konferenz
kamen viele führende und einflussreiche Größen der KI-Forschung
wie Elon Musk und Eric Schmidt zusammen, wodurch
die Konferenz auch eine mediale Aufmerksamkeit
erfuhr. Dies markierte den ersten Schritt der KI-Forschung
im Hinblick auf die Entwicklung der KI anhand moralischer
Richtlinien. Dennoch kristallisierte sich auch in diesem Rahmen
ein mangelnder Konsens über zukünftige Gefahren der
KI heraus (vgl. Lenzen 2018: 245).
Insbesondere im Kontext des militärischen Einsatzes von
KI anhand intelligenter Waffen und autonomen Drohnen
ist die Frage nach der Moral äußerst bedeutend. Selbst der
Akt des Tötens könnte durch die Entpersonalisierung und
Automatisierung, die diese intelligente Technik ermöglicht,
der Verantwortung entzogen werden. Letztlich impliziert
28
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
eine Entscheidung auch zugleich eine Verantwortung über
dessen Folgen und Konsequenzen. Doch wenn wir Maschinen
die Entscheidung über menschliches Leben lassen, wird
die Kluft zwischen Ethik und Technik nicht mehr zu überbrücken
sein. Hierbei kommt der Wissenschaft eine große
Verantwortung zu, da sie die Forschung und Entwicklung an
intelligenten und autonomen Waffentechnologien zurückweisen
oder zumindest einschränken könnten. Denn sobald
diese Technologien entwickelt werden, ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sie ungenutzt bleiben, sehr gering (vgl. Bauman/
Lyon 2013: 110). Dennoch ist die Situation nicht ganz so
aussichtslos wie sie häufig dargestellt wird. Die Entscheidungsgewalt
über Leben und Tod wird nicht an Maschinen
delegiert, denn die Algorithmen, die darüber entscheiden,
werden von Menschenhand programmiert. „Auch wenn sie
lernen, lernen sie nach Regeln, die von Menschen bestimmt
wurden“ (Grunwald 2018). Die Verantwortung bleibt und
sollte auch zukünftig beim Menschen bleiben, nur wird dies
in Zukunft im Kontext der KI eine unterschiedliche Akteurskonstellation
und Prozessdynamik annehmen müssen.
Somit stehen wir im Bereich der KI vor einer großen Herausforderung
in Bezug auf Moral, Verantwortung, Datenschutz,
Sicherheit und Freiheit (vgl. Lenzen 2018: 159). Die
Öffentlichkeit scheint im Hinblick auf die Gegenwart der
KI vom Alarmismus und daraus resultierenden dystopischen
Vorstellungen der Autonomie und Kontrollverlusten geplagt
zu sein. Daher sind die Forderungen nach gemeinwohlorientierter
Regulierung der Technikentwicklung seitens Politik
und Recht nicht überraschend. Schließlich bedarf die
Wahrung moralischer Grundsätze in der Zukunft der KI
einer erfolgreichen Kooperation zwischen Politik, Gesellschaft
und Wissenschaft, die sich gemeinsam um eine gemeinwohlorientierte
Technikentwicklung bemühen. Denn
wenn das Streben nach technischem Fortschritt die Ethik
und Moral besiegt, wird die Entwicklung der KI alles andere
als das Beste sein, was den Menschen je passiert ist.
Awad, E.; Dsouza, S; Kim, R.; Schulz, J.;
Henrich, J.; Shariff, A.; Bonnefon, J.-F.;
Rahwan, I. (2018): The Moral Machine
experiment. In: Nature. 563(7729). S. 59–64.
Bauman, Z.; Lyon, D. (2013): Daten, Drohnen,
Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung.
Berlin: Suhrkamp, 4. Auflage 2018.
Brockman, J. (Hg.) (2017): Was sollen wir von
Künstlicher Intelligenz halten? Die führenden
Wissenschaftler unserer Zeit über intelligente
Maschinen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch.
Future of Life Institute (2017): Die KI-Leitsätze
von Asilomar. Online verfügbar unter: https://
futureoflife.org/ai-principles-german/ [Zugriff:
01.11.2019].
Gethmann, C. F.; Sander T. (1999): Rechtfertigungsdiskurse.
In: Grunwald A. et al. (Hg.):
Ethik in der Technikgestaltung. Berlin: Springer
Verlag. S. 117–151.
Grunwald, A. (2009): Zum Handlungsbegriff in
Technikphilosophie und Technikethik. In: www.
widerstreitsachunterrricht.de, Ausgabe 12, März
2009.
Hagendorff, T. (2017): Das Ende der Informationskontrolle:
Zur Nutzung digitaler Medien jenseits
von Privatheit und Datenschutz. Bielefeld:
transcript Verlag.
Lenzen, M. (2018): Künstliche Intelligenz. Was
sie kann & was uns erwartet. München: C.H.
Beck.
29 philou.
Artikel
Die Underdogs der
Verantwortungsträger
Julia Kreklau
Bauingenieurwesen
Bauwerke werden oftmals als selbstverständlich wahrgenommen
und doch spielen sie eine so zentrale Rolle in unserem
Leben. Seit bereits etlichen Jahren in der Menschheitsgeschichte
werden sie überall auf der Welt geschaffen. Sie begleiten
uns fortwährend und ohne sie wäre ein Leben, wie wir
es kennen, nicht möglich. Denn seit jeher dienen sie einem
ganz bestimmten Zweck: Sie schützen uns vor den äußeren
Witterungseinflüssen, sie symbolisieren Sicherheit und
bieten einen Rückzugsort, ein Heim. Doch mit der gleichen
Selbstverständlichkeit, mit der wir ihnen in unserem Alltag
begegnen, empfinden wir auch ihre Funktionalität – ohne zu
bemerken, dass wir ihnen damit ein großes Vertrauen entgegenbringen;
in die Tragfähigkeit und letztendlich in den
Schutz, den sie uns versprechen. Dieses Vertrauen in unsere
Bauwerke bedeutet aber gleichzeitig auch ein Vertrauen
in die Ingenieure und Architekten. Denn letztendlich sind
Bauwerke nichts anderes als ein Ausdruck des menschlichen
Schaffens.
Worin besteht also die Verantwortung der Menschen, die
für den Bau unserer Gebäude zuständig sind und wie weit
reicht diese?
In dem Verantwortungsbereich der Bauingenieure liegen vor
allem Konzeptionierung und Planung, Bau und Betrieb, Organisation
und Erhalt – sowohl von Gebäuden als auch von
Infrastrukturen (vgl. Schaumann 2014: 106f.). Dabei sind sie
Spezialisten in ihrem Fach und setzen sich auf Ebene der
Technik mit rational erfassbaren Angelegenheiten auseinander
(vgl. Scheffler2019: 5). Inhaltlich geht es dabei meist
um die Erfüllung von technischen Anforderungen. In der
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates
zur Festlegung harmonisierter Bedingungen für die Vermarktung
von Bauprodukten werden dafür einige Grundanforderungen
an Bauwerke definiert, welche bei normaler
Instandhaltung und über einen wirtschaftlich angemessenen
Zeitraum zu erfüllen sind (vgl. Europäisches Parlament
und Rat 2011: 33).
Daraus ergibt sich eine große Verantwortung, der gerade
auch im Zeitalter der Technik und Digitalisierung eine hohe
Bedeutung zukommt. Denn im Einklang mit dem stetigen
Wandel, besonders auf Ebene der Wissenschaft und Technik,
werden unsere Gebäude immer komplexer. Daraus ergeben
sich hohe technische Standards, die eine perfekte Ausführung
sowie ein besonderes Maß an Fachwissen erfordern (vgl.
VÖV Rückversicherung KöR: 1). Dies führt zudem dazu,
dass sich die Anforderungen an die Bauwerke und zeitgleich
auch die Aufgabenfelder – und damit der Verantwortungsbereich
– der Bauingenieure stetig ändern bzw. erweitern.
Doch der Verantwortungsbereich im Bauingenieurwesen
darf sich nicht nur auf die technische Ebene beschränken,
denn er geht ganz klar darüber hinaus. Von besonderer Bedeutung
ist zum Beispiel auch die Lebensdauer der Bauwerke,
ein wesentlicher Aspekt im Kontext von Nachhaltigkeit.
Denn Bauingenieure müssen sich bewusstmachen, dass sie
mit ihren Arbeitsergebnissen das Erscheinungsbild unseres
Planeten mitgestalten und diesen langfristig prägen bzw.
verändern.
30
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
3. Hygiene, Gesundheit und Umweltschutz
Im Hinblick auf die zunehmenden und
4. Sicherheit und Barrierefreiheit bei der Nutzung
aktuellen Debatten über Klimaschutz und
Umwelt und in einer Zeit, in der das Verständnis
für Nachhaltigkeit immer weiter 6. Energieeinsparung und Wärmeschutz
5. Schallschutz
in den Fokus der Aufmerksamkeit der Gesellschaft
rückt, kann sich auch die Bau-
7. Nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen
branche diesem Thema nicht mehr entziehen. Doch neben
den augenscheinlichen Auswirkungen, die das Bauen selbst
und im Anschluss der Betrieb von Gebäuden auf unsere
Umwelt bzw. die Natur hat, wird oft eine ganz wesentliche
Dimension übersehen: der Mensch. Das Problem ist oft eine
irreführende Auffassung des Begriffes „Umwelt“. Im vorliegenden
Kontext soll die Umwelt als ein den Menschen
einschließender Begriff verstanden werden. Denn das Bauwesen
tritt in Interaktion mit seinem gesamten Umfeld, d.h.
der Natur genauso wie dem Menschen.
Bauingenieure sind an der Erstellung von unveränderlichen,
festgeschriebenen Strukturen beteiligt, welche sich langfristig
auf Gesellschaft und Ökologie auswirken (vgl. Scheffler
2019: 4). Friedrich Rapp erkannte dazu passend, dass
die bei der rationalen Ausübung von technischen Berufen
entstehenden Ergebnisse, wie es auch im Bauingenieurwesen
der Fall ist,
Grundanforderungen an Bauwerke
1. Mechanische Festigkeit und Standsicherheit
2. Brandschutz
„oftmals ohne Rücksicht auf die darüberhinausgehenden Resultate
in den Strom des sozialen und kulturellen Geschehens
entlassen [werden], wo sie ihre eigene, über die ursprüngliche
Zielsetzung hinausführende, unkontrollierte und vorher
nicht absehbare Wirksamkeit entfalten“ (Rapp 1993: 34).
Demnach ist der Forderung nach Nachhaltigkeit der Bauwerke
ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit zu schenken
(vgl. Schaumann 2014: 108).
Dafür gibt es bereits verschiedene Ansätze zur Beurteilung
der Nachhaltigkeit von Gebäuden, welche das Verständnis
des Nachhaltigkeitsbegriffes (basierend auf dem Brundtland
Bericht 1987) durch die Inklusion der Dimension ‚Mensch‘,
bestätigen. Gemeint ist hier die soziale Verantwortung.
Biskaya-Brücke
Vom Ingenieur und Architekt Alberto
Palacio Elissague entworfen. Die Biskaya-
Brücke wurde 1893 eröffnet und ist somit
die älteste Schwebefähre der Welt. 2006
wurde sie als Weltkulturerbe von der
UNESCO anerkannt.
Foto: Cristina García Mata
31 philou.
Konzentriert man sich also auf den Menschen, dem die Bauwerke
letztendlich gewidmet sind, erscheint es logisch, dass
sich mit seiner Entwicklung auch die Bauwerke entwickeln
und sich den ändernden sozialen, gesellschaftlichen, kulturellen
Gegebenheiten und Lebensbedingungen anpassen
müssen. Der Menschen verbringt aktuell bis zu 90% seiner
Zeit in Bauwerken (vgl. Lemaitre 2017: 6). Das heißt
Bauwerke sind also in eines jeden Menschenleben nahezu
dauerhaft präsent und gestalten somit unseren Alltag, unser
Berufsleben – sie sind ein Zuhause. Demnach können
und sollten sie nicht nur als reine Nutzobjekte empfunden
werden.
Bauwerke prägen unsere Gesellschaft und sind durch unsere
Kultur geprägt, sie lassen Rückschlüsse auf unsere Geschichte
zu und sind Teil einer bevorstehenden Zukunft. Der
Bauingenieur Volker Hahn ist überzeugt, dass ein Gemeinschaftsgefühl
sogar erst durch Bauwerke entstehen kann und
folglich ohne sie ein Gemeinwesen auseinanderstrebt (vgl.
Hahn 2000: 10). Wenn der Menschen aufgrund von Bauwerken
ein Gemeinschaftsempfinden entwickelt bzw. verspürt,
wird auch von einer sogenannten „Baukultur“ gesprochen.
Dazu gibt es zahlreiche Beispiele, in denen Bauwerke beispielsweise
zu Kulturgütern werden. Am bekanntesten sind
wahrscheinlich die Ruinen der ehemaligen Stadtfestung in
Akropolis oder das Kolosseum in Rom. Kulturgüter befinden
sich aber nicht nur in Ländern wie Griechenland oder
Italien, sie befinden sich meist auch in unmittelbarer Nähe,
so wie z.B. der Elisenbrunnen in Aachen. Die Existenz solcher
Bauwerke währt dabei über ihren ursprünglichen Zweck
hinaus (vgl. Schaumann 2014: 108).
Dennoch muss zunächst immer ein Grundstein für dieses
erweiterte Verständnis der Bauwerke gelegt werden, welcher
auch gleichzeitig eine notwendige Bedingung für die Nutzung
durch den Menschen ist: die Sicherheit. Aus Sicht der
Technik wird diese Anforderung meist anhand des Begriffs
der „Standsicherheit“ beschrieben und ist ein ganz wesentlicher,
wenn nicht sogar der bedeutendste Bereich der Verantwortung
im Bauingenieurwesen. Dies wird auch in der
Bauproduktenverordnung bestätigt:
„Bauwerke müssen als Ganzes und in ihren Teilen für deren
Verwendungszweck tauglich sein, wobei insbesondere der
Gesundheit und der Sicherheit, der während des gesamten
Lebenszyklus der Bauwerke involvierten Personen Rechnung
zu tragen ist.“ (Europäisches Parlament und Rat 2011: 33)
32
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
Durch ihre Unabdingbar- und Erforderlichkeit gehört die
Standsicherheit damit zweifelsfrei zu den Grundanforderungen
an Bauwerke. Die Pflicht, die sich daraus ergibt, sollte
aber nicht nur auf rein technischer Ebene, sondern auch –
oder vor allem – als Pflicht gegenüber den Menschen verstanden
werden. Hier wird deutlich, dass technische und
soziale Ansprüche im Bauingenieurwesen nicht klar voneinander
abzugrenzen sind, sondern miteinander korrelieren.
Die Notwendigkeit und Folgenschwere bei Missachtung der
Pflicht der Sicherheit zeigen aktuelle Geschehnisse, wie z.B.
der Brückeneinsturz in Genua am 13. August 2018. Leider
ist das nicht der einzige Fall, in dem es zum Versagen der
Standsicherheit eines Bauwerks kommt, wodurch das Leben
von Menschen gefährdet oder sogar beendet wird. Solche
Baukatastrophen mit ihren gravierenden Folgen, der Gefährdung
menschlichen Lebens, geschehen immer wieder
überall auf der Welt.
Im Nachgang erscheint es sinngemäß, die Berufsbezeichnung
bzw. den Titel „Bauingenieur“ auszutauschen und ihn
durch die aus dem angelsächsischen Raum stammende Bezeichnung
„ziviler Ingenieur“ zu ersetzen. Dadurch wird
doch viel eher ihre Aufgabe beschrieben, „die natürliche
Umwelt in aller Umsicht planmäßig und absichtsvoll zum
Zwecke eines guten, bequemen und sicheren Lebens zu formen
und umzugestalten“. Denn genau das beschreibt den
zivilen Belang, dem ebendiese mit ihrem Beruf nachkommen.
(vgl. Scheffler 2019: 8)
Wir stellen fest, dass die Verantwortung, die mit dem Beruf
der zivilen Ingenieure einhergeht, eine sehr umfassende
und vielfältige Verantwortung ist. Sie darf nicht auf den
technisch-fachlichen Bereich begrenzt werden. Vielmehr
bedarf es eines Verständnisses seitens der zivilen Ingenieure
für ökologische und soziale Wirkungsbereiche, da
sie durch ihr Wirken direkten Einfluss auf unsere Umwelt,
Gesellschaft und Natur nehmen. Dementsprechend
sollten sie sich immer mit den gesellschaftlichen und ökologischen
Ansprüchen und Auswirkungen ihrer Schöpfungen
auseinandersetzen. Zum Schluss bleibt uns als Nutzer
der Bauwerke nur zu hoffen, dass unsere zivilen Ingenieure
stets mit Umsicht sowie neuen Denkweisen und erweiterten
Zielsetzungen praktizieren (vgl. Scheffler 2019: 5f.).
Denn sie „haben einen wesentlichen Anteil an der technischen
Entwicklung der Welt, tragen aber auch große Verantwortung
an der Schädigung der natürlichen Umwelt.“
(VDI, UNESCO, WFEO 2000: 16)
Europäisches Parlament und Rat (2011):
Bauproduktenverordnung. In: Amtsblatt der
europäischen Union.
Hahn, V. (2000): Einführung. In: Der
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Lemaitre, C. (2017): Sinnvoll wohnen. In:
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en/profiles/434ff880f16c-alle-publikationen/
editions/wohnen-der-zukunft-vernetzt-hochwertig-effizient/pages
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Schaumann, P. (2014): Verantwortung im zivilen
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Ingenieurinnen und Ingenieuren. Wiesbaden:
Springer VS. S. 105–112.
Scheffler, M. (2019): Moralische Verantwortung
von Bauingenieuren. Wiesbaden:
Springer Verlag.
Verein Deutscher Ingenieure (VDI), United
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Organisation (UNESCO) und der World
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Hannover.
VÖV Rückversicherung KöR (2016): Berufshaftpflicht
Architekten/Ingenieure.
World Commission on Environment and
Development (1987): Our Common Future.
New York: Oxford University Press.
33 philou.
Artikel
Vertrauen ist
gut,
Kontrolle ist
besser?
Merle riedemann
Medizin
In Deutschland sind Gentests ohne begründeten Verdacht
verboten – außer in der Schwangerschaft. Warum ist das so
und welche Verantwortung ergibt sich daraus? Ab wann ist
ein Kind krank und wo ist die Grenze zur Gesundheit? Ist
es in Ordnung, Eltern ein Leben mit einem beeinträchtigen
Kind zuzumuten, weil sie sich einen Test nicht leisten
konnten? Ist es legitim, ein Baby einem Test zu unterziehen,
von dem es keinen eigenen Vorteil haben wird?
Im Folgenden soll deshalb die Verantwortung der einzelnen
Akteure, also der Eltern, des Arztes, des Staats sowie
der Unternehmen, welche nicht-invasive Pränataltests vertreiben,
näher beleuchtet werden.
Neben den standardmäßigen Vorsorgeuntersuchungen in der
Schwangerschaft werden weiterführende Untersuchungen,
bei Risikoschwangeren und bei Hinweisen auf eine Komplikation,
von der Krankenkasse übernommen. Untersuchungen
auf den Wunsch der Eltern hin, müssen als sogenannte
IGEL (Individuelle Gesundheitsleistung) selbst bezahlt werden.
Zu den beliebtesten IGEL in der Schwangerschaft zählt
das Ersttrimester-Screening zur Führerkennung von Trisomie
21 (Down-Syndrom). Dabei werden mit zwei Laborwerten
(ß-HCG und PAPP-A) im mütterlichen Blut, dem
Alter der Mutter und der Nackenfaltentransparenz (die Dicke
des Nackens über der Halswirbelsäule) 90% der Babys
mit Down-Syndrom identifiziert, bei einer falsch-positiv
Rate von 5% (vgl. Nicolaides et al. 2005). Bei einem positiven
Befund wird eine Fruchtwasserpunktion (Amniozentese)
oder Biopsie des Mutterkuchens (welcher entgegen seines
Namens aus Gewebe des Fötus besteht) zur Sicherung der
Diagnose durchgeführt. Die Fruchtwasserpunktion wird bei
allen Schwangeren über 35 Jahren auch von der Krankenkasse
bezahlt, ohne dass vorher ein Ersttrimester-Screening
passiert ist. Ein großer Nachteil der Punktion ist, dass sie in
etwa 0,3% (vgl. Beta et al. 2018) zu einer Fehlgeburt führt,
weshalb nicht-invasive Pränataltests (NIPT) aufgrund ihrer
einfachen Durchführung und der Zuverlässigkeit des
Ergebnisses immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Für einen NIPT wird einer schwangeren Frau üblicherweise
ab der neunten Schwangerschaftswoche Blut abgenommen,
in welchem immer auch DNA des Fötus vorkommt,
und diese auf Chromosomenstörungen hin untersucht.
Nicht-invasive Pränataltests sind erst seit wenigen Jahren
auf dem Markt und werden von unterschiedlichen Herstellern
angeboten. Bei dem PraenaTest etwa, dem derzeit umfangreichsten
NIPT auf dem Markt, wird der Fötus nicht
nur auf Trisomie 21 (Down-Syndrom), sondern auch auf
Trisomien und Monosomien aller anderen Chromosomen
getestet, sowie auf Fehlverteilungen der Geschlechtschromosomen/Intersexualität,
bei einem negativen Vorhersagewert
von 99,68% (vgl. Lifecodexx 2019). NIPTs stellen
damit eine quasi risikolose, schmerzarme und praktisch genauso
zuverlässige Methode wie eine Fruchtwasserpunktion
dar, ein Baby pränatal auf bestimmte Erbkrankheiten
zu testen. Ein Nachteil ist jedoch der hohe Preis, welcher
bei mehreren hundert Euro liegt und bisher von den Eltern
übernommen werden muss. Auch deshalb gibt es in der
letzten Zeit Bestrebungen, die Krankenkassen zur Übernahme
der NIPTs zu verpflichten, um auch weniger zahlungskräftige
Familien am medizinischen Fortschritt teilhaben
zu lassen und nicht durch potentiell gefährliche Untersuchungen
zu benachteiligen (vgl. Ärzteblatt 2019a, 2019b).
34
Verantwortung,
Technik & Wissenschaft
Einerseits sind diese Tests eine deutliche Verbesserung zu
den vorherigen Möglichkeiten, andererseits stellt sich auch
die Frage, ob umfangreiche genetische Tests standardmäßig
vorgenommen werden sollten.
Alle Eltern wünschen sich ein gesundes Kind und eine bestmögliche
Versorgung schon vor der Geburt. Viele können
sich vielleicht vorstellen ein Kind zu bekommen, welches
nach der Geburt einige Zeit im Krankenhaus verbringen
muss, aber mit der Aussicht, das ganze Leben auf ein beeinträchtigtes
Kind auszurichten, das eventuell nie selbstständig
werden wird, fühlen sie sich häufig überfordert. Oft
entscheiden sich Mütter und Väter deshalb für eine Pränataldiagnostik,
um so früh wie möglich Klarheit zu haben.
Trotzdem liegt es auch in ihrer Verantwortung, kritisch zu
hinterfragen, ob sie alle Möglichkeiten der Pränataldiagnostik
nutzen möchten und welche Folgen sich für sie aus
einem möglicherweise unerfreulichen Testergebnis ergeben.
Informationen zur Diagnostik erhalten Eltern meist vor allem
über ihren Arzt, dessen Intention der optimale Gesundheitszustand
seiner Patienten sein sollte. Menschen
ohne medizinische Vorbildung verbinden das Wort „Trisomie“,
welches das Vorhandensein von drei statt normal zwei
gleichartigen Chromosomen beschreibt, meist ausschließlich
mit dem Down-Syndrom. Je nachdem welches Chromosomenpaar
betroffen ist, können die Folgen von Trisomien
allerdings von „kaum/nicht-beeinträchtigt“ bei einem Klinefelter-Syndrom,
bis „todkrank“ bei einer Trisomie 18 reichen.
Deshalb ist es absolut unerlässlich, dass der behandelnde
Arzt, als medizinischer Experte, seine Patienten vollumfänglich,
allgemein verständlich und neutral über pränataldiagnostische
Testverfahren aufklärt. Weiterhin sollte der
Arzt sich selbst genau über die diagnostische Sicherheit der
Tests informieren und den Eltern korrekte Angaben dazu
machen, denn viele Ärzte überschätzen die Nützlichkeit von
präventiven Screenings deutlich. (vgl. Wegwarth et al. 2012)
Zudem sollten sie auch darauf hinweisen, dass die Patienten
ein Recht auf Nichtwissen haben und nicht aus monetären
Gründen möglichst viele Untersuchungen empfehlen.
Ärzte sind in der Verantwortung, NIPTs als Verbesserung
der bestehenden Pränataldiagnostik zu nutzen und nicht als
Patentlösung für alle Eltern.
Während der Schwangerschaft finden
üblicherweise alle vier Wochen
bis zur 32. Schwangerschaftswoche
und danach bis zur Geburt alle zwei
Wochen Untersuchungen statt, um sicherzustellen,
dass es Mutter und Kind
in der Schwangerschaft gut geht. Dabei
werden standardmäßig Blutdruck
und Gewicht gemessen, sowie eine
Urinprobe auf Krankheiten wie etwa
Blasenentzündungen und Nierenprobleme
hin untersucht. Ab dem sechs-
Hersteller von NIPTs sind
ten Schwangerschaftsmonat wird der
Unternehmen, deren Hauptanliegen
die Bedienung der Blutarmut frühzeitig zu erkennen und
Hämoglobinwert bestimmt, um eine
Wünsche der Kunden ist, um in der fortgeschrittenen Schwangerschaft
der Puls des Kindes mit einem
so die Gewinne zu maximieren.
Dennoch sind auch sie sowie die Lage des Kindes bestimmt.
Kardiotokogramm (CTG) gemessen,
dafür verantwortlich ihre Produkte
nicht als einfache Blut-
Die Schwangere wird zudem einmalig
auf Infektionskrankheiten und Diabetes
hin getestet und um die zehnte,
tests zu vermarkten, welche zwanzigste und dreißigste Schwangerschaftswoche
werden Ultraschal-
jede Schwangere in Anspruch
nehmen sollte und so ihre Bedeutung
zu verharmlosen. Zuluntersuchungen
durchgeführt. (vgl.
Gemeinsamer Bundesausschuss 1985)
dem sollten Medizinunternehmen ihre Tests nicht nur so
entwickeln, dass sie möglichst viele Krankheiten erkennen,
sondern vor allem Richtung Sensitivität und Spezifität hin
optimieren, um die größtmögliche Sicherheit des Ergebnisses
zu gewährleisten.
Die Regulierung medizinischer Diagnostik ist die überwiegende
Verantwortung des Staates, welcher die bestmögliche
Gesundheitsversorgung seiner Bürger im Sinne hat. Gleichzeitig
kommt dem Staat eine gewisse Rolle als Wächter der
Moral zu Gute, in der er ethisch fragwürdige Entwicklungen
in der Gesellschaft verhindern sollte. Der Staat hat auch die
Aufgabe, Menschen vor sich selbst zu schützen, etwa durch
das Gendiagnostik-Gesetz, in dem unter anderem festgelegt
ist, dass zu einem Test immer eine genetische Beratung vorher
und nachher stattfinden muss oder dass ein Arbeitgeber
keine Gentests als Einstellungsuntersuchung durchführen
darf. Gleichzeitig muss der Staat aber auch gewährleisten,
dass alle Bürger, unabhängig von ihrem Einkommen, Zugang
zu modernster Medizin und damit auch genetischer
Pränataldiagnostik haben.
Im September 2019 beschloss der gemeinsame Bundesausschuss,
dass der NIPT für die Trisomien 21, 18 und 13 ab
2020 eine Kassenleistung wird, eine Entscheidung, die viel
diskutiert wurde (vgl. Gemeinsamer Bundesausschuss 2019).
Würden NIPTs, welche auf alle numerischen Chromosomenstörungen
und gegebenenfalls weitere Gendefekte testen,
als reguläre Vorsorgeuntersuchung etabliert, bestünde
eindeutig die Gefahr, dass der Druck auf Eltern ein gesundes
Kind zur Welt zu bringen, noch größer würde. Auf die
35 philou.
Spitze getrieben gar, dass es die Anbieter von Pränataltests
durch die Auswahl der Krankheiten, die getestet werden, in
der Hand hätten, wie groß die Abweichung von einem „normalen“
Zustand sein darf, damit ein Kind nicht als „krank“
deklariert wird. Um dem vorzubeugen, hat der Bundesausschuss
gleichzeitig mit dem Beschluss der Kostenübernahme
durch die Krankenkasse auch festgelegt, dass der NIPT
nur im begründeten Einzelfall bei einem erhöhten Risiko
für eine Trisomie, ab dem 35. Lebensjahr, übernommen
wird. Weiterhin soll er als verbesserte Version des Ersttrimester-Screenings
eingesetzt werden und nicht als Ersatz
invasiver Diagnostik. Auch in Zukunft dürfen die NIPTs
nur von Gynäkologen durchgeführt werden, die eine Zusatzqualifikation
zur „Fachgebundenen genetischen Beratung“
absolviert haben und ausdrücklich nur mit ausführlicher
Beratung der Schwangeren. Der Bundesausschuss fordert
auch, dass die Eltern explizit darauf hingewiesen werden,
dass es ein Recht auf Nichtwissen, auch auf Teilergebnisse
eines NIPTs gibt. Es liegt daher in der Verantwortung der
Mediziner, umfassende Aufklärungsgespräche durchzuführen,
Wahrscheinlichkeiten und Risiken von Testverfahren
korrekt darzustellen und keinen Druck in eine bestimmte
Richtung auszuüben, damit die Eltern eine informierte
selbstständige Entscheidung treffen können.
Ärzteblatt (2019a): Nicht invasive molekulargenetische
Tests werden in bestimmten
Fällen Regelleistung, 19.09.2019. Online verfügbar
unter: https://www.aerzteblatt.de/
nachrichten/106130/Nichtinvasive-molekulargenetische-Tests-werden-in-bestimmten-Faellen-Regelleistung
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Ärzteblatt (2019b): Pränatale Bluttests: Bundestag
diskutiert über mehr als nur die Frage
der Kassenleistung, 11.04.2019. Online
verfügbar unter: https://www.aerzteblatt.de/
nachrichten/102326/Praenatale-Bluttests-Bundestag-diskutiert-ueber-mehr-als-nur-die-Frage-der-Kassenleistung
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Beta, J.; Lesmes-Heredia, C.; Bedetti, C.;
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38
Verantwortung &
Gesellschaft
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Verantwortung
DIN ISO 26000
Gesellschaftliche Verantwortung beschreibt die Verantwortung
einer Organisation für die Auswirkungen
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Verhalten.
Zentrales Merkmal gesellschaftlicher Verantwortung ist
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Der Begriff ‚gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen‘
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ist den meisten Personen geläufiger als ‚gesellschaftliche
Verantwortung‘.
Im Bewußtsein seiner
Verantwortung vor Gott und
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Europa dem Frieden der
Welt zu dienen, hat sich das
Deutsche Volk kraft seiner
verfassungsgebenden Gewalt
dieses Grundgesetz gegeben.
Präambel des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland
39 philou.
Opener
Verant[wort]ung
Erst denken, dann schreiben
cristina garcia mata
technik-kommunikation
Was einen Schriftsteller ausmacht, ist nicht die Handlung
des Schreibens selbst, sondern die Fähigkeit, die scheinbar unwichtigen
Dinge der Unklarheiten des Lebens zu abstrahieren.
Dies unterscheidet ihn von all den Menschen, die reden
und erzählen und vielleicht auch viel zu sagen haben, diese
Dinge aber nie aufschreiben und zu einem Text verarbeiten.
Der Publizistikwissenschaftler spricht an dieser Stelle von
einer Berufung dazu: Man müsse „ein impulsives Sendungsbewusstsein
und die Triebkräfte publizistischen Wollens
verspüren“ (Dovifat 1967: 33). Somit wird der Schriftsteller
zum Lehrer, Kritiker und Kommentator unserer Gesellschaft:
Jemand, der andere Menschen dazu bringt, auf sich
selbst zu schauen und reflektiert zu handeln. Das Wort ist
seine Waffe und das Papier sein Schlachtfeld – und genau
dort liegt seine Verantwortung.
In der Gruppe der Schriftsteller finden sich jedoch verschiedene
Kategorien von schreibenden Menschen, deshalb
konzentriert sich dieser Text auf die Verantwortung des Journalisten,
die in den Zeiten der Fake News häufig in Frage
gestellt wird.
Journalisten erfüllen für die demokratische Gesellschaft
grundlegende Aufgaben: Sie recherchieren, selektieren, bearbeiten
und veröffentlichen Informationen in Form von
Nachrichten, Beiträgen oder Reportagen. Sie moderieren
das Zeitgespräch der Gesellschaft. Durch ihre Interpretationen
und Kommentare tragen sie zur Meinungsbildung bei.
Im Kern geht es im Journalismus um das Recht zur freien
Meinungsäußerung, „woraus sich Journalisten und Journalismus
legitimieren und wofür sie eine Verantwortung übernommen
haben“ (Boventer 1984: 381). Für den Journalisten
ist daher die Meinungsäußerungsfreiheit nicht nur ein Individualrecht,
sondern auch ein Lebensziel, das durch Praxis
erreicht werden soll. In der Verantwortung des Journalisten
liegt es, sich ein Herz zu fassen und sowohl über die Stärken
als auch die Schwächen der eigenen Gesellschaft zu reden.
Dabei geht es um den Mut über das zu schreiben, worüber
man lieber nichtmal sprechen würde; den Mut, zu fragen,
was viele nicht beantworten möchten; den Mut zu kritisieren,
sich zu positionieren, zu kämpfen und sich manchmal
auch zu irren.
Falsch zu liegen, bedeutet jedoch für einen Journalisten, dass
sein Fehler viele verschiedene Menschen erreicht: Die totale
Präsenz der Medien hat Journalisten versehentlich selber
mächtig gemacht. Nicht umsonst werden die Medien
als „vierte Gewalt“ bezeichnet (Schulz 2000). Darum ist die
Verpflichtung zur Wahrheit in Bereichen wie dem Journalismus
und wissenschaftlichem Publizieren durchaus wichtig.
Der Journalist hat die Verantwortung, seinen Gegenstand
zu erforschen bzw. zu recherchieren. Dabei muss er sogar
sich selbst erforschen, nämlich den Gegenstand seines Artikels.
In diesem Sinne bedeutet Schreiben auch Denken.
Und allein schon daran zu denken, dass das Geschriebene
gedruckt wird, fordert die Erkenntnis, dass man als Journalist
für die Folgen und Wirkungen von Recherche und Veröffentlichung
verantwortlich ist. Letzendlich gibt es „kein
Tun ohne Täter, keine journalistische Wirkung ohne einen
Handelnden“ (Boventer 1984: 414). Dennoch sollte nicht
vergessen werden, dass der Journalist im Ballwechsel mit
dem Leser agiert: Auch unsere Gesellschaft müsste für einen
verantwortungsvollen Umgang mit den (Massen-)Medien
sensibilisiert werden und eine mehr
oder weniger kritische Lesehaltung
einnehmen.
Die Frage der Verantwortung beim
journalistischen Arbeiten verweist
schließlich auf die personale Verantwortung,
welche sowohl Handlungen
als auch Einstellungen betrifft.
Die Aufgabe des Journalisten umfasst
dabei, Denken und Tun – in
diesem Fall Schreiben – nach selbst
Boventer, H. (1984): Ethik des
Journalismus. Zur Philosophie
der Medienkultur. Konstanz:
Universitätsverlag.
Dovifat, E. (1967): Zeitungslehre.
2 Bände. Berlin: De Gruyter.
6. Auflage 1976.
Schulz, A. (2000): Der Aufstieg
der „vierten Gewalt“. Medien,
Politik und Öffentlichkeit
im Zeitalter der Massenkommunikation.
Historische Zeitschrift
270: S. 65–97.
ermittelten, rational begründeten Maßstäben auszurichten.
Und natürlich auch für die daraus entstehende Folgen und
Wirkungen einzustehen, zumindest soweit der eigene Handlungsspielraum
reicht.
40
Artikel
Verantwortung & Gesellschaft
Quo vadis,
Gesellschaft?
Schule in der Verantwortung: Bedeutung der
politischen Bildung
Yannik Achenbach
Lehramt Englisch/Sozialwissenschaften
Ein Gespenst geht durch Europa – das Gespenst des Rechtspopulismus.
Ein aktueller Blick in die Tageszeitungen und
Nachrichten genügt, um von diversen Ereignissen Notiz
zu nehmen, die unsere gegenwärtige Gesellschaft vor besondere
Herausforderungen zu stellen scheint. Verwiesen
sei an dieser Stelle auf die im Allgemeinen zunehmenden
rechtsextremistischen Tendenzen innerhalb Europas
und der damit einhergehenden Diffamierung von Zugewanderten,
die Verunsicherung der Bevölkerung und das
Erstarken von rechtsextremem Gedankengut sowie im Umkehrschluss
die Gefährdung der demokratischen Grundordnung.
In Deutschland sind es rechtsextremistisch motivierte
Anschläge wie in Halle oder das Attentat auf den Politiker
Lübcke, die keiner weiteren Erläuterungen bedürfen und
auf die aktuelle Brisanz verweisen. Diese Tendenzen weisen
offenkundig auf Handlungsbedarfe hin, deren Aufarbeitung
und Diskussion es bedarf. Mehr denn je stellt deshalb die
Partizipation der Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen
und in der Gesellschaft sowie das Eintreten und die Verantwortungsübernahme
für die Demokratie eine elementare
Bedingung dar, um diese Anforderungen zu bewältigen.
Der Institution Schule kommt als Primärsystem von Sozialisations-
und Erziehungsprozessen für die Bürgerinnen und
Bürger von morgen ein besonderer Stellenwert zu. Zum einen
um auf die aktuellen Tendenzen kompetent zu reagieren
und die Schülerinnen und Schüler zur Entfaltung der
individuellen Potentiale zu befähigen. Zum anderen aber
auch, um Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen zur
Lebensbewältigung und Teilnahme in der Gesellschaft, wie
auch zur politischen Partizipation auszustatten. Von ihrer
Aufgabe zur Erhaltung der demokratischen Verfasstheit der
Bundesrepublik Deutschland zeugt die zuletzt veröffentlichte
Empfehlung der Kultusministerkonferenz. Aus dieser geht
hervor, dass Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden
sollen, sich mit politischen und gesellschaftlichen Konflikten
kompetent auseinandersetzen zu können und dazu angeregt
werden, für Demokratie, Menschenrechte und Frieden einzutreten.
Diese Aufgabe stellt in Anbetracht der angeführten
Gegenwartsdiagnosen ein zentrales Momentum von Schule
dar. Im Besonderen stellen die Partizipation und die Verantwortungsbereitschaft
aller ein besonderes Charakteristikum
für eine beständige und lebhafte Demokratie dar. „Ziel
der Schule ist es daher […] Werthaltungen und Teilhabe
zu fördern sowie zur Übernahme von Verantwortung und
Engagement in Staat und Gesellschaft zu ermutigen und zu
befähigen“ (KMK 2018: 4). Neben den Zielen der Schulen
als solches kommt der schulischen politischen Bildung im
besonderen Maße der Stellenwert zu, die Schülerschaft mit
entsprechenden Kompetenzen zu versehen, um als mündige
Bürgerinnen und Bürger Verantwortung in und für die
Gesellschaft zu übernehmen. Die politische Bildung in der
Schule leitet junge Heranwachsende dazu an, ihre zugesprochene
Position des mündigen Bürgers oder der mündigen
Bürgerin in der Gesellschaft zu ergreifen. Diese Form
der Teilnahme kann nur gelingen, wenn eine individuelle
politische Kompetenz entwickelt wird, die zur Teilnahme
an politischen Angelegenheiten befähigt (vgl. Scherr 2010:
303). Das Primat der Mündigkeit meint im Kontext der
politischen Bildung, dass Schülerinnen und Schüler fähig
sind, sich mit Politik und Gesellschaft eigenständig auseinanderzusetzen,
um in der Gemeinschaft eigenverantwortlich
und selbstwirksam handeln zu können (vgl. Autorengruppe
Fachdidaktik 2016: 15). Die Schule leistet somit durch die
Kompetenzentwicklung einen Beitrag, um politische Mündigkeit
bei den Schülerinnen und Schülern herbeizuführen.
Der Mündigkeitsbegriff geht dabei mit dem Ideal des aktiven,
informierten Bürgers einher, der für sich und ande-
41 philou.
re in der Gesellschaft Verantwortung übernimmt und sich
selbständig durch das eigene Tätigwerden in den Diskurs
einbringt. Die aktive Teilhabe ist gekoppelt an Reflexionsfähigkeit
und die Bildung von Urteilen, um auf entsprechende
Situationen eingehen zu können (vgl. Reinhardt 2018: 17).
Diesem Anliegen hat sich die politische Bildung verpflichtet.
Gesellschaftliche Mündigkeit, die soziale und politische
Mündigkeit umfasst, erweist sich somit als Lebensbewältigungsstrategie,
die den Schülerinnen und Schüler ermöglicht,
als Subjekt der Umwelt eigenverantwortlich Entscheidungen
zu fällen und eine entsprechende Haltung in der
Gesellschaft einzunehmen.
Somit ist der Mündigkeitsbegriff eng an den Begriff der
(demokratischen) Verantwortung gekoppelt, der impliziert,
sich zur Einhaltung der demokratischen Grundwerte zu
verpflichten. Die Schülerinnen und Schüler werden dazu
angeleitet, etwas für Andere und das Allgemeinwohl zu tun,
sich einzusetzen, durch eigenes Handeln Verantwortung zu
übernehmen und für einen friedfertigen Umgang einzustehen.
Sie müssen vernehmen, dass ihr eigenes Handeln eine
Wirkung erzielen kann, dass ihr Wissen und Können in
der Gesellschaft benötigt wird. Nur durch die gemeinsame
Verantwortungsübernahme sind die gesellschaftspolitischen
Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen. Dazu bedarf
es jedoch auch der kritischen Auseinandersetzung mit
den aktuellen gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen. Die
politische Bildung in der Schule darf nicht dazu verkommen,
den Status Quo allzu plakativ darzustellen und Sündenböcke
zu suchen. Rechtsextremes Gedankengut ist schon längst
salonfähig geworden und in der Mitte der Gesellschaft tief
verankert. Den Schülerinnen und Schülern muss benötigtes
Wissen vermittelt werden, das sie zur Problemlösung bemächtigt
und sie dazu befähigt, sich selbst einzubringen und
politisch aktiv zu werden. Politisches Engagement muss in
diesem Zusammenhang dann zwangsweise mit politischem
Lernen einhergehen, aktuelle Gegebenheiten müssen einer
Struktur- und Sachanalyse unterzogen werden, Lösungsstrategien
ausgearbeitet und im öffentlichen Diskurs artikuliert
werden (vgl. Nonnenmacher 2010: 460). Das kann
Schule und vor allem politische Bildung nur bewerkstelligen,
wenn sie zum einen an Alltagserfahrungen und den
Problemen der jungen Heranwachsenden anknüpft, um damit
einen lebensweltlichen Zugang zu gewährleisten. Davon
ausgehend muss in diesem Zusammenhang dann aber
auch auf gesellschaftspolitische Ursachen der Problemlagen
eingegangen werden (vgl. Schmiederer 1971: 52). Zum anderen
hat sich die politische Bildung der Urteilsbildung zu
verpflichten. Im Unterricht müssen Kontroversen Gegenstand
politischer Auseinandersetzung sein. Dabei kommt
der Gewichtung von unterschiedlichen Argumenten unter
Berücksichtigung von analytischen und normativen Urteilen
zur Beurteilung eines Problemaufrisses ein besonderer
Stellenwert zu. Die politische Bildung in der Schule hat
somit den Auftrag den Schülerinnen und Schülern die Bedeutung
politischer Gegebenheiten für das eigene Leben
zu vergegenwärtigen und sie dazu zu befähigen, begründete
politische Urteile zu fällen (vgl. Massing 2017: 118). Und
im Zeitalter der Fridays for Future Bewegung, der Fluchtbewegung
und der Radikalisierung, dürfte es an konfliktreichen
Zuständen, die zur kritischen Auseinandersetzung im
Unterricht anregen, nicht fehlen.
Wenn die heutigen Schülerinnen und Schüler, die Bürgerinnen
und Bürger von morgen, bereits in der Schule mit den
entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden, um aktuelle
Konflikte kritisch zu reflektieren und dazu angeleitet
werden, Verantwortung auf der Basis eines friedlichen Miteinanders
zu übernehmen, kann den gegenwärtigen Tendenzen
Einhalt geboten werden. Dann kann das Miteinander in
der Gesellschaft funktionieren und kommt dem Politikverständnis
von Hannah Arendt nah, das davon ausgeht, dass
42
Verantwortung & Gesellschaft
sich Politik auf der Pluralität, also der Vielfalt der Menschen,
gründet (vgl. Arendt 1993: 9). Und für diese Vielfalt gilt es
sich einzusetzen. Genauso wie für die Unversehrtheit aller
Menschen in unserer Gesellschaft. „Der Sinn von Politik ist
Freiheit“ (ebd.: 28). Diese Freiheit sollte die Handlungsmaxime
darstellen. Freiheit bedeutet nicht, dass ein jeder ohne
Rücksicht auf Verluste tun und machen kann was er will,
sondern dass allen in der Auseinandersetzung mit den Anderen
die Möglichkeit zuteilwird, sich eine eigene Meinung
zu bilden und sich im öffentlichen Raum zu betätigen, damit
eine gemeinsame Welt gestaltet und verändert werden kann.
Das (friedliche) Zusammenleben steht aktuell vor der Gefahr,
in ein Pulverfass aus Angst, Hass und Diffamierung
überzugehen, das bei dem nächsten Funken zur Explosion
führen kann. Es gibt sie aber auch, die Hoffnung, die Hoffnung
auf ein respektvolles Miteinander in der Gesellschaft.
Dafür sind alle Bürgerinnen und Bürger gefordert, mit ihrem
eigenen Handeln für eine bessere Gemeinschaft einzustehen
und Verantwortung für demokratische Grundwerte
zu übernehmen. Die aktive Teilnahme und Teilhabe können
eine Veränderung erwirken, wenn wahrgenommen wird, dass
die Gesellschaft aktiv mitgestaltet werden kann. Demokratie
ist und bleibt auf den einzelnen Bürger und die einzelne
Bürgerin angewiesen und bedarf der ständigen Beteiligung.
„Allen Beschwörungen ‚unserer Demokratie‘ in Sonntagsreden
zum Trotz, ist Demokratie nicht Wirklichkeit, sondern
bleibt nach wie vor Aufgabe“ (Salomon 2012: 127).
Arendt, H. (1993): Was ist Politik? Fragmente
aus dem Nachlaß. München: Piper Verlag.
Autorengruppe Fachdidaktik (2016): Was ist
gute politische Bildung? Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen
Unterricht. Schwalbach/Ts.:
Wochenschau Verlag.
Massing, P. (2017): Kompetenzorientierung in
der schulischen politischen Bildung. In: Achour/
Gill (Hg.): Was politische Bildung alles sein kann.
Einführung in die politische Bildung. Schwalbach/Ts.:
Wochenschau Verlag. S. 115–127.
Nonnenmacher, F. (2010): Analyse, Kritik und
Engagement – Möglichkeiten und Grenzen
schulischen Politikunterrichts. In: Lösch/
Thimmel (Hg.): Kritische Politische Bildung.
Ein Handbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau
Verlag. S. 459–471.
Reinhardt, S. (2017): Politik Didaktik. Handbuch
für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen
Verlag.
Salomon, D. (2012): Demokratie. Köln: PapyRossa
Verlag.
Scherr, A. (2010): Subjektivität als Schlüsselbegriff
kritischer politischer Bildung. In: Lösch/
Thimmel (Hg.): Kritische Politische Bildung. Ein
Handbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
S. 303–315.
Schmiederer, R. (1971): Zur Kritik der Politischen
Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik
des politischen Unterrichts. Frankfurt am Main:
Europäische Verlagsanstalt.
Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister
der Länder in der Bundesrepublik
Deutschland (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand
und Praxis historisch-politischer Bildung in
der Schule. Beschluss der Kultusministerkonferenz
vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018.
Online verfügbar unter: https://www.kmk.org/
fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2009/2009_03_06-Staerkung_Demokratieerziehung.pdf
[Zugriff: 12.11.2019].
43 philou.
Artikel
Auch soziale Medien
wollen erziehen –
die Frage ist nur:
Wohin erziehen sie?
Christina Krüger
Soziologie
Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Einblick in die Ergebnisse
einer qualitativen Untersuchung, in deren Rahmen sowohl
Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen als auch eine
Kinderärztin zum Sozialisationseinfluss der sozialen Medien
befragt wurden.
Instagram, Facebook, WhatsApp, Snapchat – soziale Medien
sind heutzutage in aller Munde und erfreuen sich großer
Popularität. In Deutschland verbringen die Nutzer_innen
durchschnittlich 64 Minuten täglich mit der Verwendung
sozialer Netzwerke. Vor allem bei Heranwachsenden sind
sie besonders beliebt: So nutzten im Jahr 2018 etwa 66% der
10- bis 15-Jährigen und 89% der 16- bis 24-Jährigen soziale
Medien (vgl. Rabe 2019). Dabei erfüllen sie für die Heranwachsenden
eine Reihe von Funktionen: Neben Kontaktund
Kommunikationsmöglichkeiten bieten sie weiterhin
unter anderem die Möglichkeit zur Orientierung, Selbstdarstellung
und Generierung von Selbstwert (vgl. Krüger
2019: 33–39). Die Verwendung sozialer Medien übt demnach
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die (soziale)
Entwicklung heranwachsender Kinder und Jugendlicher
aus, der jedoch häufig den Nutzer_innen sozialer Netzwerke
selbst nicht bewusst ist. Eine Konsequenz dieses Einflusses
ist eine erhöhte Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät,
wie erste Untersuchungen von Sidani et al. (2016) und
Mabe et al. (2014) zeigen. Doch wer ist verantwortlich für
diese Entwicklung?
Jede_r, der bzw. die soziale Medien nutzt, ist Teil eines
Wechselspiels von Beeinflussung: Man wird nicht nur
durch das Nutzungsverhalten anderer beeinflusst, sondern
das eigene Nutzungsverhalten beeinflusst gleichwohl andere
Nutzer_innen der Plattform. Die Ursache für diese wechselseitige
Beeinflussung kann in der Sozialisationswirkung
gesehen werden, die jede Handlung in den sozialen Medien
ausübt. Hurrelmann (1998) erklärt Sozialisation als „den
Prozeß, durch den der Mensch [...] zur sozialen, gesellschaftlich-handlungsfähigen
Persönlichkeit wird, indem er in gesellschaftliche
Struktur- und Interaktionszusammenhänge
(in Familien, Gruppen, Schichten, usw.) hineinwächst“ (ebd.:
275). Die Sozialisation ist demnach eng mit der Internalisierung
von „gesellschaftlichen Werten, Normen und Handlungsanforderungen“
(ebd.: 276) verbunden: Der Mensch
lernt nicht nur die entsprechenden Werte kennen, er lernt
im Laufe des Sozialisationsprozesses auch, diese anzuwenden
(vgl. ebd.).
Normen, Werte und Handlungsanforderungen werden in
den sozialen Medien laufend an die Nutzer_innen vermittelt.
Eine der befragten Therapeutinnen erklärt, Aussehen habe
in den sozialen Medien „allererste Priorität“ (E2: 79), wobei
sie den Erwartungen, welche an Frauen gestellt würden,
kritisch gegenüberstehe (vgl. ebd.: 313ff.). Grund dafür sei
die Betrachtung der Frau als „Ware“ (ebd.: 315), die einem
Mann lediglich gefallen könne, wenn sie diese speziellen Erwartungen
erfüllte (vgl. ebd.: 313–316). Ein zweiter Wert,
der vermittelt wird, ist Leistung: „Wer hat wieviel wovon?“
(ebd.: 87f.). Soziale Medien suggerierten, man bekomme lediglich
dann soziale Anerkennung, wenn man folgende Anforderungen
erfülle: „[D]u musst schön sein, du musst dünn
sein“ (E7/E8: 208), „[d]u musst beliebt sein, du musst hunderttausend
Freunde haben, du musst reich sein“ (ebd.: 212).
Neben der Vermittlung von Normen, Werten und Erwartungen
spielen Vorbilder eine zentrale Rolle für den Sozialisationsprozess,
auch oder gerade im Kontext sozialer
Medien. Der Peergroup als wesentlichem Element jugendlicher
Sozialisation kommt auch in den sozialen Medien eine
wichtige Bedeutung zu. Die sogenannten Influencer_innen
stellen dagegen ein neues, jedoch in seinem Einfluss nicht
zu unterschätzendes Element dieser speziellen Sozialisationsinstanz
dar, wie in den Interviews deutlich wurde. Eine
Interviewpartnerin vermutet nicht nur, dass der Erfolg der
44
Verantwortung & Gesellschaft
Influencer_innen anziehend auf die Heranwachsenden wirke
(vgl. E3: 158ff.), sondern dass viele von ihnen darin ein
eigenes Ziel sähen: „Ich glaube wirklich, dass es hier einige
Kinder und Jugendliche gibt, die als Berufswunsch Influencer_in
haben“ (ebd.: 160f.). Eine andere Therapeutin fasst
die anziehenden Eigenschaften folgendermaßen zusammen:
„Die sind so schön, die sind so erfolgreich, denen gelingt alles
sofort, die können sich sehr gut darstellen, die haben viele
Follower“ (E7/E8: 369ff.).
Doch nicht nur ihre Vorbilder beeinflussen die Heranwachsenden
in den sozialen Medien: Sechs der acht befragten
Expertinnen sind der Meinung, dass auf entsprechenden
Plattformen Realität nicht nur abgebildet, sondern vor allem
verzerrt wird. Eine Therapeutin glaubt, dass in den sozialen
Medien eine beschönigende Form der Realität dargestellt
würde (vgl. E7/E8: 163). Speziell für Instagram beschreibt
eine andere Therapeutin einen ähnlichen Eindruck, wobei
sie darauf verweist, dass auch pädagogisches Fachpersonal
von dieser Beschönigung nicht auszunehmen sei: „Auch Profis,
die immer mit Kindern arbeiten, die zeigen sich da so
schick, so gestylt, dass da sehr leicht der Eindruck entstehen
kann: Meine Welt ist Tag und Nacht, 24 Stunden, wahnsinnig
spektakulär, aufregend und toll, aber nicht gezeigt wird, wenn
ein Problem da ist. Und wie ich mich mit diesem Problem
auseinandersetzen muss“ (E1: 130–133). Eine der Therapeutinnen
erklärt: „[Es] werden auch nur tolle Ereignisse
geliked oder gepostet. Als wäre das Leben immer nur toll und
super“ (E7/E8: 198f.).“
Alle sechs Expertinnen, die eine Verzerrung der Realität in
den sozialen Medien wahrnehmen, sehen darin auch eine
Gefährdung der Heranwachsenden. Eine von ihnen glaubt,
durch den täglichen Konsum dieser Verzerrungen würde
die eigene Wahrnehmung ebenfalls verzerrt (vgl. E7/E8:
180–183), was sie als besonders gefährlich für Heranwachsende
einstuft, die bereits mit einer Essstörung zu kämpfen
haben, „weil das eine verzerrte Darstellung ist, die [s]ie da
Tag für Tag in sich aufsaugen und die jeden Tag immer extremer
wird“ (ebd.: 192f.). Eine weitere Therapeutin sieht
vor allem eine Gefährdung selbstunsicherer Jugendlicher:
Diese „verlieren dann [...] den Zugang zur Realität, dass
das Leben keine Seifenoper ist“ (ebd.: 199f.). Beschrieben
wurden außerdem gestörte Selbstwirksamkeitserfahrungen,
beispielsweise in Bezug auf das eigene Äußere: „Man jagt
immer einem Körperbild hinterher, das man nicht erreichen
kann, was nicht mal möglich ist teilweise“ (E6: 164f.).
Wenngleich es sich hierbei um eine stark verkürzte Darstellung
einzelner Untersuchungsergebnisse handelt, so wird
dennoch deutlich, dass die Verantwortung für die gestiegene
Prävalenz von Essstörungen durch soziale Medien nicht
einer einzelnen Person oder Personengruppe zuzuweisen ist.
Vielmehr tragen alle Nutzer_innen sozialer Medien gleichermaßen
Verantwortung, und das (auch) unabhängig von ihrer
Followerzahl. Wie auch die befragten Expertinnen betonen,
ist der Einfluss der Influencer_innen, bedingt durch deren
teils enorme Reichweiten, nicht zu unterschätzen. Doch
das Grundprinzip, nach welchem soziale Medien funktionieren,
„die schönen Dinge des Lebens“ mit dem sozialen
Umfeld zu teilen, fernab zeitlicher und geografischer Grenzen
– diesem Prinzip folgen wir alle. Denn schließlich kann
die Bestätigung, die wir auf diesem Weg erhalten, auch einen
guten Zweck erfüllen: Sie kann unseren Selbstwert stärken.
Wichtig ist jedoch immer das Bewusstsein, dass jede
Nutzung sozialer Medien, wie auch immer diese Nutzung
im Einzelfall aussehen mag, andere Menschen nachhaltig
beeinflussen kann. Wie wir diesen Einfluss dann gestalten
wollen, liegt in unserer Verantwortung.
E1/E2/E3/E7/E8 (2019): Interview mit Kinderund
Jugendpsychotherapeutin. Eigene Erhebung
im Rahmen der Masterarbeit „Zum Einfluss sozialer
Medien auf die Prävalenz von Essstörungen in der
Pubertät“.
Hurrelmann, K. (1998): Einführung in die Sozialisationstheorie.
Über den Zusammenhang von Sozialstruktur
und Persönlichkeit. Weinheim und Basel:
Beltz Verlag.
Mabe, A. G.; Forney, K. J.; Keel, P. K. (2014): Do
you “like” my photo? Facebook use maintains eating
disorder risk. In: International Journal of Eating
Disorders. 47. Jg. 2014/05 (Special Issue: Eating
Disorders in Adolescents). S. 516–523.
Krüger, C. (2019): Zum Einfluss sozialer Medien
auf die Prävalenz von Essstörungen in der Pubertät.
Masterarbeit. Aachen: RWTH.
Rabe, L. (2019): Ranking der Länder mit höchster
durchschnittlicher Nutzungsdauer von Social Networks
weltweit im Jahr 2018 (in Minuten pro Tag).
Online verfügbar unter: https://de.statista.com/
statistik/daten/studie/160137/umfrage/verweildauer-auf-social-networks-pro-tag-nach-laendern/
[Zugriff:
02.11.2019].
Sidani, J. E.; Shensa, A.; Hoffman, B.; Hanmer,
J.; Primack, B. A. (2016): The Association between
Social Media Use and Eating Concerns among U.S.
Young Adults. In: Journal of the Academy of Nutrition
and Dietetics. 116. Jg. 2016/09. S. 1465–1472.
45 philou.
Artikel
Once Upon a Time…
There was
Responsibility
Verantwortung in der Filmkunst
Kunst und Unterhaltungsmedien, wie beispielsweise Filme,
können bestimmte, aktuell gesellschaftlich relevante Problemstellungen
behandeln – sie reproduzieren jedoch oftmals
bereits Bekanntes, wie gesellschaftliche Stereotype, anstatt
diese herauszufordern. Zum Beispiel waren im Jahr 2017 lediglich
in 14 von 109 veröffentlichten Filmen LGBTQ-Repräsentationen
vorzufinden. Damit kam es gleichzeitig zu
einer Abnahme der Diversität von Repräsentation in der
Filmindustrie (vgl. GLAAD 2018). Folglich nahm die Repräsentation
geläufiger Stereotypen 2017 wieder zu. Durch
diese anhaltende Reproduktion von Stereotypen können
diese nur schwer überwunden werden; aber woran soll sich
eine jüngere Generation orientieren, wenn sie keine positiven
Vorbilder repräsentiert sieht? In einer Zeit universeller
Vernetzung und schnelllebiger Kommunikation kann
es schwerfallen, sich gegen diesen Gruppendruck zu stellen.
Wenn auch in anderen Zusammenhängen, zeigten Zimbardo,
Maslach und Haney (1999) sowie Milgram (1964)
bereits, dass Gruppendruck Verhalten auslösen kann, das
inkongruent zu der eigenen Identität steht, und dass die
Verantwortung für dieses Verhalten anderen Personen zugeschrieben
werden kann.
Zieht man die Analogie zur Filmkunst, werden die Schaffenden
zur Autorität des jeweiligen Films. Demnach wären
sie zunächst in der Verantwortung für den Film, den sie kreieren.
Anderseits konsumieren die Zuschauer_innen diesen
Film und befinden sich somit am rezeptiven Ende dessen
Lebenszyklus. Daher könnte ebenso argumentiert werden,
dass die Zuschauer_innen am Ende die Verantwortung dafür
tragen, welche Interpretationen oder neue Verhaltensweisen
sie einem Film entnehmen. Im Folgenden wird beispielhaft
luisa maulitz
PSYCHOLOGIE
anhand von Quentin Tarantinos Once Upon a Time…In Hollywood
(2019) die Frage diskutiert, welche Personengruppe,
Schaffende_r oder Zuschauer_innen, die Verantwortung für
die geschaffene Filmkunst tragen sollte.
Once upon a Time…In Hollywood (2019) ist Quentin Tarantinos
neuester und neunter Film, da Kill Bill Vol. 1 (2003)
und Vol. 2 (2004) als ein Film zu zählen sind. Once Upon a
Time…In Hollywood begleitet einen Schauspieler, Rick Dalton,
und seinen ehemaligen Stuntman und Freund, Cliff
Booth, in Hollywood in den 1960er Jahren. Im Laufe des
Films trifft Cliff Booth auf eine junge Frau, die ihn auf eine
Ranch führt. Anhand der Namen der Charaktere und des
Settings der Ranch lässt sich ableiten, dass es sich hierbei um
die Anhänger_innen Charles Mansons handelt, sofern dem
oder der Zuschauer_in Details über die damaligen, tatsächlichen
Ereignisse bekannt sind (vgl. Chaney 2019). Charles
Mansons Anhänger_innen versuchen später in Rick Daltons
Nachbarhaus, in welchem die schwangere Sharon Tate lebt,
einzubrechen, um diese zu töten. Sie verwechseln jedoch die
Häuser und werden von Cliff Booth und Rick Dalton selbst
„savagely beaten“ (Di Placido 2019). Die entsprechenden
Szenen werden optisch sehr explizit, bis hin zu überzogen
gewaltsam dargestellt. Im Gegensatz zu der Schwere der
präsentierten Gewalt steht Sharon Tate, die das Bild einer
fröhlichen, gut gelaunten und nahezu unschuldigen aufstrebenden
Schauspielerin vermittelt (vgl. Di Placido 2019). Sie
scheint nicht zu ahnen, was ihr ursprünglich zustoßen soll.
Eine mögliche Interpretation des Films beinhaltet Rick
Dalton und Cliff Booth als typische sowie beliebte Hollywood-Helden,
während Sharon Tate Hollywood selbst,
46
Verantwortung & Gesellschaft
Frauen als Inkarnation des Bösen noch verstärken und bestätigen
(vgl. Chaney 2019).
Folglich scheint Tarantino sich nicht dafür verantwortlich
zu sehen, dass seine Gesellschafts- und Filmkritik auch als
solche wahrgenommen wird. Gemäß Banduras Theorie zum
Modelllernen (Bandura 2000) könnten Zuschauer_innen
nun lernen, dass die porträtierte Gewalt erfolgreich eingesetzt
wurde. In einer (potentiell) bedrohlichen Situation
könnte auf ein ähnliches Verhalten zurückgegriffen werden,
ähnlich der Kontroverse zu Gewalt darstellenden Videospielen.
Anderson, Gentile und Buckley (2007) fanden Hinweise,
dass ein gewaltsames Auftreten innerhalb der Spiele
sowohl zur Steigerung von aggressivem Verhalten als auch
der Minderung von prosozialem Verhalten führte.
oder aber die Zuschauer_innen repräsentiert. Obwohl die
Helden Gewalt ausüben, ohne eine kritische Selbstreflexion
folgen zu lassen, bleiben die Zuschauer_innen blind
gegenüber der Implikation dieser Gewalt. Eine weitere mögliche
Interpretation des Films ist, dass Tarantino selbst Hollywoods
glorifizierte Gewalt kritisiert und aufzeigen möchte,
was hinter den vermeintlichen Helden Hollywoods steht: „It
could be argued that Tarantino’s violence […] is a more honest
display than the bloodless punch-ups and murders we’re
accustomed to on the screen,“ (Di Placido 2019).
Eine Einordnung, insbesondere der letzten Szenen, wird
durch mangelndes Wissen um die zugrunde liegenden, tatsächlichen
Ereignisse erschwert. Was bleibt, sind Gewalt
ausübende Protagonisten, mit welchen sympathisiert werden
soll. Die kritische Auseinandersetzung obliegt allein den
Zuschauer_innen, da sie innerhalb des Films nicht erfolgt
(vgl. Chaney 2019). Der Film impliziert, dass die Gewalt
aufgrund der eigentlichen Intention der Täter_innen gerechtfertigt
sei: „[…] whether or not this is problematic is
up to the viewer“ (Di Placido 2019). Darüber hinaus streitet
Tarantino ab, das Drehbuch in Zusammenhang mit aktuellen,
politischen Ereignissen in den U.S.A. geschrieben
zu haben, wobei es kaum möglich erscheint, entsprechende
Parallelen nicht zu sehen (vgl. Chaney 2019). Er überlässt
es den Zuschauer_innen selbst, mit seiner Filmkunst das
Richtige oder das Falsche anzustellen. Es wird vielmehr das
Gegenteil einer kritischen Reflexion vermittelt: „The violence
in this scene is played for laughs“ (Chaney 2019). Anstatt
einer Hinterfragung gängiger Hollywood-Stereotype könnte
ein Film wie Once Upon a Time…In Hollywood sowohl die
Bilder eines heroischen Mannes, einer naiven jungen Frau und
Anhand des Beispiels Once Upon a Time…In Hollywood
(2019) konnten mögliche Konsequenzen einer Verantwortungsabgabe
des Regisseurs oder der Regisseurin an die
Zuschauer_innen identifiziert werden. Als Regisseur und
Drehbuchautor ist in diesem Fall Quentin Tarantino maßgeblich
als Schaffender und somit als Verantwortlicher des
Films zu sehen. Anstatt aber die Verantwortung zu übernehmen,
wird diese an die Konsument_innen weitergereicht.
Da dieser Film auch außerhalb der U.S.-amerikanischen
Kultur Zuschauer_innen findet, erscheinen negative Folgen
der Verantwortungsabgabe wahrscheinlich. Durch die
Untermauerung der Hollywood-Stereotype durch Tarantinos
fehlenden, letzten Schritt der Gesellschaftskritik, bleibt
diese lediglich eine vage Vermutung, anstatt ein Anlass zum
Nachdenken zu sein. Potentielle Negativfolgen dessen reichen
von der Reproduktion und damit Untermauerung von
Stereotypen in der Gesellschaft bis hin zu einer gesteiger-
47 philou.
Anderson, C. A.; Gentile, D. A.; Buckley, K. E.
(2007): Violent Video Game Effects on Children
and Adolescents: Theory, Research, and Public
Policy. New York: Oxford University Press.
Bandura, A. (2000): Die sozial-kognitive Theorie
der Massenkommunikation. In: Schorr,
A. (Hg.): Publikums- und Wirkungsforschung.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
S. 441.
Blass, T. (1999): Obedience to Authority: Current
Perspectives on the Milgram Paradigm.
Mahwa, New Jersey: Psychology Press.
ten Wahrscheinlichkeit von aggressivem oder gewaltsamem
Verhalten. Dies sollte einem Regisseur mit der Reichweite
Tarantinos bewusst sein.
Infolgedessen muss im Zuge eines verantwortungsvollen
Handelns in der Filmkunst und -branche beachtet werden,
dass die eigene Intention vermittelt wird, ohne die aktive
Auseinandersetzung und Autonomie der Konsument_innen
zu unterwandern. Im Rahmen dessen sollten sich insbesondere
Regisseur_innen und Drehbuchautor_innen mit möglichen
Konsequenzen einer konträren Interpretation seitens
der Zuschauer_innen auseinandersetzen und deren bewusst
sein. Möchte sich ein_e Regiesseur_in kritisch mit einem
gesellschaftlich relevanten Thema auseinandersetzen, sollte
dies auch tatsächlich erkennbar im Rahmen des Films
passieren. Insbesondere glorifizierte (und übertriebene)
Darstellungen ohne beispielsweise negative Konsequenzen
für die Protagonist_innen könnten eher die Interpretation
hervorrufen, dass das Glorifizierte auch zu dem von den
Protagonist_innen gewünschten Erfolg führt. Wenn dies
wiederum von den Zuschauer_innen bedenkenlos übernommen
wird, werden gesellschaftlich relevante Themen nicht
kritisch hinterfragt, sondern verfestigt. Daher ist es unabdingbar,
dass die Verantwortung in der Filmkunst der Gesellschaft
gegenüber auch von den Filmschaffenden selbst
übernommen wird.
Chaney, J. (2019): On the Troubling Subtext of
Once Upon a Time in Hollywood. In: Vulture,
09.08.2019. Online verfügbar unter: https://
www.vulture.com/2019/08/once-upon-a-time-inhollywood-and-its-troubling-subtext.html
[Zugriff:
18.11.2019].
Di Placido, D. (2019): The Many Controversies
Of ‘Once Upon A Time In Hollywood,’
Explained. In: Forbes, 23.08.2019. Online verfügbar
unter: https://www.forbes.com/sites/
danidiplacido/2019/08/23/the-many-controversies-of-once-upon-a-time-in-hollywood-brokendown/
[Zugriff: 18.11.2019].
GLAAD (2018): 2018 GLAAD Studio Responsibility
Index. In: GLAAD. Online verfügbar unter:
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Milgram, S. (1964): Group pressure and action
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69. Jg. 1964/02. S. 137–143.
Schorr, A. (2000): Publikums- und Wirkungsforschung.
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Tarantino, Q. (2019): Once Upon a Time…In
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Zimbardo, P. G; Maslach, C.; Haney, C.
(1999): Reflections on the Stanford Prison Experiment:
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In: Blass, T. (Hg:), Obedience to Authority:
Current Perspectives on the Milgram Paradigm.
Mahwa, New Jersey: Psychology Press.
48
Artikel
Verantwortung & Gesellschaft
Wa(h)re
Verantwortung
Thomas sojer
Theologie (Graz)
Ist Verantwortung käuflich? Ärzt_innen, Pilot_innen, Regierungsmitglieder,
Richter_innen und CEOs in Leitungsfunktionen
beziehen ein höheres Gehalt als ihre
Mitarbeiter_innen in untergeordneten Positionen. Weithin
gilt, dass mehr Verantwortung im Job ein höheres Gehalt
verlangt und dieses in der öffentlichen Wahrnehmung
auch rechtfertigt. (vgl. Preisendörfer 1988: 78) Der Beitrag
wirft deshalb Fragen auf, welche Logiken hinter dem direkten
Verhältnis von berufsbezogener Verantwortung und
Gehaltseinstufung stehen, und diskutiert mögliche Konsequenzen,
die derartige Kurzschlüsse mit sich bringen. Ist für
eine Übernahme beruflicher Verantwortung der finanzielle
Faktor einmal zum vorrangigen Kriterium geworden, so die
These des Beitrags, verkommen öffentliche Vertrauensstrukturen
zur Frage des Preises: Dann müssen wir uns fragen,
ob wir uns mehr auf jene Verantwortungsträger_innen verlassen
können, deren Arbeit finanziell besser vergütet wird.
Gleichzeitig birgt dieser Primat des Geldes Gefahren, Verantwortung
nicht nur zu einer bezahlbaren Handelsware
zu etablieren, sondern im Umkehrschluss auch Verantwortungsmissbrauch
und Korruption als lukrative Kaufoption
einzuführen. Innerhalb eines solchen Szenarios folgt das leitende
Prinzip der Verantwortungsfunktion nicht mehr vorranging
einer ethischen, sondern einer finanziellen Maxime.
Verantwortung, die etwas wert ist
Im Kontext von Gehaltseinstufungen meint Verantwortungsfunktion
eine professionsbezogene Entscheidungsvollmacht.
Diese unterscheidet sich von der Fülle alltäglicher
‚selbstverständlicher‘ Verantwortungsrollen: Als Staatsbürger_innen,
als Familienmitglieder, im Sportverein, im gemeinsam
benützten Stiegenhaus oder in der U-Bahn. Wir
versuchen diesen Verantwortungsrollen ohne finanzielle Vergütung
nachzukommen, weil wir sie als ‚selbstverständlich‘
annehmen, mit anderen Worten, weil sie natürlicher Teil
unseres Selbstverständnisses als Staatsbürger_innen, Familienmitglieder
und U-Bahn-Fahrer_innen, etc. sind. Anders
gestaltet sich das mit dem durch den Job erzeugten
und ‚nicht selbstverständlichen‘ Übermaß an Verantwortung:
Diese von Berufs wegen notwendige Übernahme von
Verantwortung, die nicht zu unserem natürlichen Selbstverständnis
als Person gehören, begründet eine Ökonomisierung
von professionsbezogenen Entscheidungspositionen.
(vgl. Blümle 1975: 67) Kurzum: Wer mehr Verantwortung
trägt, soll und darf besser verdienen. Diese Form der arbeitsvertraglich
vereinbarten Verantwortungsfunktionen
entsteht aus im Einzelfall nicht frei gewählten Entscheidungssituationen
und damit einhergehend einer außergewöhnlichen
Entscheidungspflicht und Zusatzbelastungen,
die alltägliche Formen der Verantwortung und das eigene
Selbstverständnis als Teil der Gesellschaft im Regelfall weit
überschreiten: Ärzt_innen, Pilot_innen, Regierungsmitglieder,
Richter_innen und CEOs tragen aufgrund ihrer Profession
erhöhte Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit
und den ihnen Anvertrauten und finden sich mit einem
viel größeren Haftungspotential konfrontiert als Mitarbeiter_innen
in untergeordneten Positionen.
Beispielsweise häufen sich seit Jahrzehnten Fälle, in denen
Mediziner_innen von Patient_innen und Angehörigen für
misslungene Behandlungen bzw. vermeintliche Fehlentscheidungen
gerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden.
(vgl. Bergmann/Wever 1999: 2) Zur Feststellung, ob
strafbare Behandlungsfehler vorliegen, müssen die Mediziner_innen
nachweisen, durchgehend das standardmäßige
medizinische Protokoll und die vorgegebenen Maßnahmen
leitliniengerecht befolgt zu haben. (vgl. Tombrink 2006:
137) Die zunehmend strengeren Regulierungen im medizinischen
Bereich werfen dann aber wiederum die Frage
auf, ob diese zusätzliche ‚Entscheidungsgewalt‘ letztlich gar
nicht aktiver Natur ist und die Institutionalisierung finanziell
abgegoltener Verantwortungspositionen in Wahrheit
eine Distribution von Haftung darstellt, die zur Identifizierbarkeit
gesellschaftlicher Sündenböcke dient.
Schließlich stehen wir als Gesellschaft vor der Frage, ob
dieses reziproke Verhältnis von finanzieller Vergütung und
Entscheidungsvollmacht auf einem Konzept von Verant-
49 philou.
wortung oder einem Konzept von Haftung aufbauen soll.
Ein Konzept der Haftung definiert sich nämlich ausschließlich
darüber, beim Versagen einer vereinbarten Verantwortung
Schuld eindeutig zuordnen zu können. Wer ist am
Ende verantwortlich für die beiden Flugzeugabstürze der
Boeing 737 Max? Die Piloten? Die CEOs von Boeing? Wer
ist verantwortlich für die Herztransplantation mit tödlichem
Ausgang? Der leitende Operateur oder die diesem übergeordnete
Klinikdirektorin? Das Konzept ‚Haftung‘ birgt
dabei eine nicht sofort erkennbare Gefahr, weil sie das Gegenteil
zu den ‚selbstverständlichen‘ Verantwortungsfunktionen
im privaten Raum darstellt: Unsere ‚selbstverständlichen‘
Verantwortungsrollen, z.B. als Elternteil gegenüber unseren
Kindern, als Ersthelfer am Unfallsort, oder als ökologische
Fußgänger auf unserem Planeten, suchen primär keine Sündenböcke,
sondern verstehen Verantwortung als die notwendige
und fundamentale Grundhaltung des menschlichen
Zusammenlebens. Kurzum: Sie sind wesentlicher Teil unseres
Selbstverständnisses als Menschen. Wenige Menschen
werden im Ernstfall nur aus Angst, wegen unterlassener Hilfeleistung
strafrechtlich verfolgt werden zu können, Erste
Hilfe leisten. Das Konzept der Haftung als alleinigen Handlungsmotor
– wer muss zum Schluss den Kopf hinhalten?
– pervertiert den Grundsatz der Verantwortung als wesentlicher
Teil des eigenen Selbstverständnisses innerhalb der Gesellschaft.
Haftbarkeit wird dann nicht mehr vom sozialen
Fundament einer jedem Menschen obliegenden ‚Pflicht für
den Anderen‘, sondern vom Risiko der Strafe im Fall des
Versagens her gedacht.
Deshalb plädiert dieser Beitrag für die zivilgesellschaftliche
Notwendigkeit, professionsbezogene Entscheidungsgewalt
als eine Erweiterung der ‚selbstverständlichen‘ Verantwortung
zu denken und eine finanzielle Besservergütung als den
symbolischen Ausdruck eines erweiterten ‚Selbstverständnisses‘
innerhalb der Gesellschaft zu lesen. Dazu dient als konkretes,
geläufiges Beispiel: Die Öffentlichkeit erwartet von
einer Lehrperson, dass diese während eines Schulausflugs
nicht nur auf eigene Schulkinder, sondern als eine Person
mit öffentlicher Verantwortung, d.h. mit einem erweiterten
Selbstverständnis als Verantwortungsträger_in, gegebenenfalls
ebenso auf fremde Kinder achtet. Evolutionsbiologisch
stellt ebendiese Erweiterung von Fürsorge vom eigenen, unmittelbaren
‚Stammeskreis‘ und ‚Rudel‘ auf die anderen einer
erweiterten Gruppe den Grundstein komplexer, sozialer
Lebensformen und Entwicklungen dar (vgl. Sumser 2016:
120f.).
Die Gefahr der Ökonomisierung von professionsbezogenen
Verantwortungsfunktionen besteht schließlich darin, dass der
alles vergleichbar und austauschbar machende Wert ‚Geld‘ in
beide Richtungen Wert zu- und abzusprechen vermag: Ursache
und Wirkung können sich austauschen. Dann kommt
es zur Rückkopplung im öffentlichen Diskurs, nämlich, dass
Verantwortungsträger_innen, eben, weil diese besser bezahlt
werden, mit höherer Haftbarkeit und Schuldanfälligkeit beladen
werden müssen.
Eine neue Kultur der Verantwortung als
erweitertes Selbstverständnis
Demgegenüber – so der Appell dieses Beitrags – benötigen
wir als Gesellschaft ein Bewusstsein, wie professionsbezogene
Verantwortungsfunktionen ‚selbstverständliche‘ Verantwortungsrollen
im Alltag notwendig erweitern. Dieser
darf jedoch in keiner Weise dazu dienen, die Pathologien
ökonomisierter Verantwortungsfunktionen, z.B. astronomisch
anmutende CEO-Gehälter, in irgendeiner Weise zu
legitimieren. Vielmehr kann eine wirksame Kritik der bestehenden
Missstände allein in einer Rückbesinnung auf Verantwortung
als Frage des eigenen Selbstverständnisses, privat
und im Job, bestehen. Unser öffentliches Bewusstsein für
professionsbezogene Verantwortung muss sich daher wieder
auf die Übernahme eines erweiterten Verantwortungshorizonts
einzelner für die Gemeinschaft richten. Diese zusätzliche
‚Bürde‘ darf und soll dann auch zusätzlich vergütet
werden, denn allein aufgrund dieser Verantwortungsübernahme
Einzelner im Bereich des Allgemeinwesens kann
Gesellschaft als solche überhaupt existieren.
Bergmann, K. O.; Wever, C. (1999): Die Arzthaftung:
Ein Leitfaden für Ärzte und Juristen. Berlin:
Springer.
Blümle, G. (1975): Theorie der Einkommensverteilung.
Eine Einführung. Berlin: Springer.
Preisendörfer, P. (1988): Die schwere Last der
Verantwortung – Ideologie oder Realität? In:
Pragmatische Soziologie: Beiträge zur wissenschaftlichen
Diagnose und praktischen Lösung gesellschaftlicher
Gegenwartsprobleme. Wiesbaden:
Springer VS. S. 77–81.
Sumser, E. (2016): Evolution der Ethik. Der
menschliche Sinn für Moral im Licht der modernen
Evolutionsbiologie. Berlin: De Gruyter.
Tombrink, C. (2006): Die Arzthaftung für schwere
(„grobe“) Behandlungsfehler. In: Arzthaftungsrecht
– Rechtspraxis und Perspektiven. Berlin: Springer.
S. 115–138.
50
Artikel
Verantwortung & Gesellschaft
Glaube, Hoffnung, Liebe
Über Hiob, Nihilismus und Verantwortung
Caner dogan
Soziologie (Heidelberg)
Wir Modernen haben den Sinn für den Sinn verloren. Die
großen Erzählungen sowie Gott haben ihre Kraft, uns zu
leiten, uns zu halten, verloren. Spätestens seit der Katastrophe
des 20. Jahrhunderts, der industriellen Vernichtung
von Menschen in der Schoah, muss man davon ausgehen,
dass jegliche Moral, jegliche Ethik und jede ernstzunehmende
Theologie sich gehörig fragen muss, was eigentlich
noch ihr Gegenstand ist. Wozu irgendetwas tun, wenn die
Geschichte uns mit unschlagbarer Beweiskraft zeigt, dass
das Menschliche durch menschliches Handeln mit einem
Mal aus der Welt geschaffen werden kann? Die klassische
Antwort der Theodizee, dass alles seinen Zweck hat, dass
Gottes Wege unergründlich sind und letztlich alles dem
Guten, der Heilsgeschichte diene, ist schlichtweg zynisch
geworden. Was also können wir uns in einer scheinbar von
Gott verlassenen Welt noch erhoffen? Wofür sollten wir uns
in einer Welt, die sich immerzu unserer Verfügung entzieht,
verantwortlich zeigen? Sollten wir nicht hoffen dürfen können,
damit uns der Funke der Hoffnung zur Verantwortung
bewegen kann? Nur bleibt die Frage: was hoffen? Einen Hinweis
auf die Antwort zu diesen Fragen finden wir, wenn wir
uns der Geschichte von Hiob zuwenden. Hiob ist uns ein
unzeitgemäßer Zeitgenosse, der geradezu modern anmutet,
weil er den Abgrund des Nihilismus, die „vollendete Sinnlosigkeit“
(Hannah Arendt), erfährt.
Hiob, ein rechtschaffener und frommer Mann in einem
fremden Lande namens Uz, erfährt eine kaum vorstellbare
Prüfung Gottes. Zerstört wird ihm all sein Besitz, seine
Kinder holt der Tod und zuletzt überkommt unsägliche
Krankheit seinen Körper. Hiob wirft sich zu Boden und
antwortet: „Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner
Mutter; nackt kehre ich dahin zurück. / Der HERR hat
gegeben, der HERR hat genommen; / gelobt sei der Name
des HERRN.“ (Hi 1, 21) Einzig seine Frau bleibt ihm und
spricht: „Hältst du immer noch fest an deiner Frömmigkeit?
51 philou.
Segne Gott und stirb!“ (Hi 2, 9) Wie recht sie doch hat. Das
Leben des Hiob ist offensichtlich aussichtslos. Gott scheint
ihn verlassen zu haben und er will ihn noch segnen. Hiob
reagiert wütend: „Wie eine Törin redet, so redest du. Nehmen
wir das Gute an von Gott, sollen wir dann auch nicht
das Böse annehmen?“ (Hi 2, 10) Befremdlich klingt die
Antwort eines Frommen, der im Moment zuvor Gott gesegnet
hat. Sollen wir denn das Böse in Gott annehmen? Im
theologischen Diskurs wurde diese Frage unter anderem mit
dem Tun-Ergehen-Zusammenhang (Klaus Koch) verhandelt.
Klaus Koch kommt aufgrund philologischer Untersuchungen
zu alttestamentarischen Schriften zu dem Schluss,
dass Gott weniger als richtende Instanz verstanden werden
sollte, sondern die Handlungen der Menschen bloß vollendet
und sich die Menschen dann gewissermaßen in ihrer
Tat befinden (vgl. Koch 1991: 81). Damit zieht Schlechtes,
Schlechtes mit sich und Gutes wiederum Gutes. Jede Tat
wird so zum Schicksal und das, was auf die Tat folgt, ist kein
Ergehen, keine Strafe, keine Belohnung. Dieses Schicksal
und seine Ursachen zu erkennen, ist uns nicht immer möglich,
da Gottes Weisheit die unsere weit übersteigt (vgl. Koch
1991: 98). Damit endet aber die Geschichte Hiobs nicht
und es ist geradezu vermessen, sie zu lesen als sei er verantwortlich
für sein Leid. Was kann Verantwortung für Hiob
also noch heißen?
Nach sieben Tagen des Leids zieht er Gott vor den Gerichtshof,
wohlwissend, dass es keinen Schiedsrichter, keinen
Dritten, zwischen ihnen geben kann (vgl. Hi 9, 32–33).
Er erkennt die Sinnlosigkeit seines Leids, bleibt sich seiner
Unschuld sicher und verlangt eine Anklageschrift. Welche
Hoffnung soll man mit Gott noch haben, wenn er uns
doch offensichtlich aufgegeben hat? „Wozu Licht für den
Mann auf verborgenem Weg, / den Gott von allen Seiten
einschließt?“ (Hi 3, 23) Wesentlich nun in unserem Zusammenhang
ist, dass sich Hiob nicht von Gott abwendet,
obwohl Gott ihn scheinbar fallen lassen hat. Hiobs Klage
ist kein Bruch. Ganz anders seine Freunde, die ihm tröstend
zur Seite stehen wollen, aber ihm seine eigene Sündhaftigkeit
und Unwissenheit vor Gott vorwerfen: „Wer Unrecht
pflügt, / wer Unheil sät, der erntet es auch… Ist wohl ein
Mensch vor Gott gerecht, / ein Mann vor seinem Schöpfer
rein?“ (Hi 4, 7; 17) Wenn er nur einsähe, dass er unrechtmäßig
gehandelt hat, dann sähe er auch den Sinn seiner
Prüfung: seine Schuld am eigenen Leid. Es war Kant, der
darauf hinwies, dass der Verdienst Hiobs darin liegt, dass
er wahrhaftig spricht:
„Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der
Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen,
und der Abscheu, Überzeugungen zu heucheln, wo man
sie doch nicht fühlt, vornehmlich vor Gott.“ (Kant 1966: 119)
Hiob ist unschuldig. Seine Freunde, die ja durchaus gute
Absichten hegen, sind im Grunde Ideologen, die aus der
Allmacht und Allwissenheit Gottes Hiobs Unzulänglichkeit
ableiten. Nicht zu klagen und alles so hinzunehmen
wie es einem geschieht, das ist die eigentliche Sünde, weil
man so Gott aus der Welt befördert. In der Fremde haben
die Freunde den Gott Israels vergessen, nämlich Jahwe, den
Befreier und Bundesgenossen Israels, zugunsten eines Gottes,
der herrschend und allmächtig über den Menschen waltet.
Im Prolog der Geschichte wird aber deutlich, dass sie
gar nicht von der Allmacht Gottes handelt. Ganz im Gegenteil
wird Gott von Satan, einem der „Gottessöhne“ (Hi
1, 6) herausgefordert, Hiob zu prüfen, ob er wirklich fromm
sei oder nicht doch nur Götzen folge, die ihm geben, was
ihm guttue. Die Klage Hiobs ist eben die Bekräftigung des
Bundes, der in dem Glauben an die Güte Gottes gründet.
Diese Welt kann nicht Gottes Wille sein. In Hiobs Klage
offenbart sich so die Abhängigkeit Gottes von seinem Gegenüber
als Bundesgenossen. Dass Gott anwesend sein kann,
wird abhängig von der Kraft derjenigen, die an ihn glauben.
Gott wird durch sie in die Anwesenheit gerufen. Hiobs Klage
findet einen bemerkenswerten Nachklang bei Jesus, dessen
letzte Worte am Kreuz waren: „Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15, 34) Die Klage ist
die Erinnerung an den ursprünglichen Bund mit Gott im
Einklang mit dem eigenen Gewissen.
Nach Nietzsche ist gerade dieses Gewissen eine Fehlentwicklung
des Menschen. Das Gewissen wendet sich gegen
das Leben, indem es unseren „Instinkt der Freiheit“ (Nietzsche
1999: 132), unseren „Willen zur Macht“ unterdrückt.
Bedingung für das Gewissen ist das Gedächtnis. Zivilisationsgeschichtlich
ist das Gedächtnis maßgeblich in dem
Sinne, dass es Versprechen möglich macht und dadurch Bedingung
für Bündnisse und Verträge ist. Im Rahmen dieser
52
Verantwortung & Gesellschaft
erinnerten Bindungen können wir verantwortlich gemacht
werden, nämlich als diejenigen, die ein Versprechen eingegangen
sind. Nach Nietzsche ist gerade aber das Gedächtnis
nihilistisch, weil es sich gegen das Leben wendet und
im Grunde „Willen zum Nichts“ (ebd.) ist. Nietzsches freier
Mensch ist ein von jeglicher Bindung befreiter Mensch,
der Kraft seines Willens heute dies, morgen jenes tut und
sich nicht von den Ketten seines Gewissens zurückhalten
lässt. Wesentlich für ihn ist das Vergessen. Wesentlich aber
für Verantwortung ist die Erinnerung an das Versprechen.
Verantwortung ist immer eine Antwort auf eine Anklage.
Dabei geht es viel weniger um die eigentliche Tat, sondern
um die Person, die klagt und damit das Versprechen aktualisiert.
Sie betrifft die Beziehung, die ich zu meinen Mitmenschen
habe. Wir werden verantwortlich nicht dafür,
was wir tun, sondern dafür, den Faden der Beziehung zum
Anderen nicht reißen zu lassen. Versprechen, Wahrhaftigkeit
und Verantwortung gehören damit zusammen. Verantwortung
ist nun wesentlich: dem Anderen Treue halten;
Treue ist das Festhalten an der Wahrheit einer Beziehung.
„[W]enn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand,
ganz und gar wesenlos.“ (Arendt 2002: 39) Und die
Möglichkeit zur Beziehungsstiftung wäre suspendiert.
Adorno, T. W. (1980): Gesammelte Schriften.
Band 4. Minima Moralia. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Arendt, H. (2002): Denktagebuch. 1950 bis
1973. Erster Band. München: Piper.
Arendt, H. (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung
zu Fragen der Ethik. München: Piper.
11. Auflage 2016.
Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und
Neues Testament. Stuttgart: Herder 2016.
Kant, I. (1966): Werke VI. Schriften zur Anthropologie,
Geschichtsphilosophie und
Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft.
Koch, K. (1991): Spuren hebräischen Denkens.
Beiträge zur alttestamentlichen Theologie.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.
Nietzsche, F. (1999): Sämtliche Werke.
Band 6. Stuttgart: Mundus Verlag.
Somit wird Verantwortung Bedingung dafür, dass wir uns
die Welt zur Heimat machen und in ihr „Wurzeln schlagen“
(Arendt 2016: 85) können. Das bedeutet auch, dass
unsere Klage, unser Rechtsanspruch unerfüllt bleiben kann.
Menschliche Beziehungen sind kein Geben und Nehmen,
kein Geschäftsverhältnis, sondern freie Stiftungen. Menschlichkeit
zeigt sich dann, wenn wir im Verhältnis zum Anderen
auf unseren Rechtsanspruch verzichten. Gerade der, dem
Leid zugefügt wurde, sieht sich dieser Entscheidung ausgesetzt.
Adorno bemerkte einmal über den leidenden Liebenden:
„Ihm geschah unrecht; daraus leitet er den Anspruch
des Rechts ab und muß ihn zugleich verwerfen, denn was
er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen. In solcher Not
wird der Verstoßene zum Menschen.“ (Adorno 1980: 185)
Am Ende der Geschichte Hiobs tritt Gott auf. Er wird sich
nicht rechtfertigen für das, was er zugelassen hat. Aber Hiob
fordert auch nicht mehr sein Recht ein. Es reicht ihm die
Gewissheit der Anwesenheit des Anderen. Was bleibt, ist
nicht Wahrheit, nicht Wissen, sondern Sinn.
53 philou.
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Im Namen der gesamten Redaktion bedanken wir uns herzlichst
bei dem Rektor der RWTH, allen Dekanen und Dekaninnen,
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Diese Ausgabe und die vorigen Ausgaben der philou. können
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Ausblick: Ausgabe 10
zukunft
Wir feiern in diesem Jahr nicht nur das 150-jährige Jubiläum der
RWTH, sondern auch die zehnte Ausgabe der philou.!
Unter dem Motto „Thinking the Future“ wurde das Zukunftskonzept
der Universität formuliert: „RWTH 2020: Meeting
Global Challenges. The Integrated Interdisciplinary University
of Technology“. Weiterhin verpflichtet sich die Universität zu
verschiedenen Werten – einer der Grundsteine dieser Werte ist
die Wissenschaft: „Sie ist das Werkzeug, die Welt zu verstehen
und zu erklären sowie die Herausforderungen der Zukunft zu
gestalten“. In Anlehnung daran möchten auch wir Zukunftsfragen
stellen:
Was sind globale und zukünftige Herausforderungen unserer
Zeit? Welche Auswirkungen haben die Handlungen im 21. Jahrhundert
auf das Leben in der Zukunft? Unter welchen Bedingungen
kann es eine lebenswerte Zukunft geben? Was bedeutet
Zukunft denken? Und was ist überhaupt Zukunft?
Mit diesen und vielen weiteren Aspekten soll sich die nächste
Ausgabe beschäftigen – dabei geht es um einen interdisziplinären
und inneruniversitären Diskurs.
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