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#9 Verantwortung

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wortung oder einem Konzept von Haftung aufbauen soll.

Ein Konzept der Haftung definiert sich nämlich ausschließlich

darüber, beim Versagen einer vereinbarten Verantwortung

Schuld eindeutig zuordnen zu können. Wer ist am

Ende verantwortlich für die beiden Flugzeugabstürze der

Boeing 737 Max? Die Piloten? Die CEOs von Boeing? Wer

ist verantwortlich für die Herztransplantation mit tödlichem

Ausgang? Der leitende Operateur oder die diesem übergeordnete

Klinikdirektorin? Das Konzept ‚Haftung‘ birgt

dabei eine nicht sofort erkennbare Gefahr, weil sie das Gegenteil

zu den ‚selbstverständlichen‘ Verantwortungsfunktionen

im privaten Raum darstellt: Unsere ‚selbstverständlichen‘

Verantwortungsrollen, z.B. als Elternteil gegenüber unseren

Kindern, als Ersthelfer am Unfallsort, oder als ökologische

Fußgänger auf unserem Planeten, suchen primär keine Sündenböcke,

sondern verstehen Verantwortung als die notwendige

und fundamentale Grundhaltung des menschlichen

Zusammenlebens. Kurzum: Sie sind wesentlicher Teil unseres

Selbstverständnisses als Menschen. Wenige Menschen

werden im Ernstfall nur aus Angst, wegen unterlassener Hilfeleistung

strafrechtlich verfolgt werden zu können, Erste

Hilfe leisten. Das Konzept der Haftung als alleinigen Handlungsmotor

– wer muss zum Schluss den Kopf hinhalten?

– pervertiert den Grundsatz der Verantwortung als wesentlicher

Teil des eigenen Selbstverständnisses innerhalb der Gesellschaft.

Haftbarkeit wird dann nicht mehr vom sozialen

Fundament einer jedem Menschen obliegenden ‚Pflicht für

den Anderen‘, sondern vom Risiko der Strafe im Fall des

Versagens her gedacht.

Deshalb plädiert dieser Beitrag für die zivilgesellschaftliche

Notwendigkeit, professionsbezogene Entscheidungsgewalt

als eine Erweiterung der ‚selbstverständlichen‘ Verantwortung

zu denken und eine finanzielle Besservergütung als den

symbolischen Ausdruck eines erweiterten ‚Selbstverständnisses‘

innerhalb der Gesellschaft zu lesen. Dazu dient als konkretes,

geläufiges Beispiel: Die Öffentlichkeit erwartet von

einer Lehrperson, dass diese während eines Schulausflugs

nicht nur auf eigene Schulkinder, sondern als eine Person

mit öffentlicher Verantwortung, d.h. mit einem erweiterten

Selbstverständnis als Verantwortungsträger_in, gegebenenfalls

ebenso auf fremde Kinder achtet. Evolutionsbiologisch

stellt ebendiese Erweiterung von Fürsorge vom eigenen, unmittelbaren

‚Stammeskreis‘ und ‚Rudel‘ auf die anderen einer

erweiterten Gruppe den Grundstein komplexer, sozialer

Lebensformen und Entwicklungen dar (vgl. Sumser 2016:

120f.).

Die Gefahr der Ökonomisierung von professionsbezogenen

Verantwortungsfunktionen besteht schließlich darin, dass der

alles vergleichbar und austauschbar machende Wert ‚Geld‘ in

beide Richtungen Wert zu- und abzusprechen vermag: Ursache

und Wirkung können sich austauschen. Dann kommt

es zur Rückkopplung im öffentlichen Diskurs, nämlich, dass

Verantwortungsträger_innen, eben, weil diese besser bezahlt

werden, mit höherer Haftbarkeit und Schuldanfälligkeit beladen

werden müssen.

Eine neue Kultur der Verantwortung als

erweitertes Selbstverständnis

Demgegenüber – so der Appell dieses Beitrags – benötigen

wir als Gesellschaft ein Bewusstsein, wie professionsbezogene

Verantwortungsfunktionen ‚selbstverständliche‘ Verantwortungsrollen

im Alltag notwendig erweitern. Dieser

darf jedoch in keiner Weise dazu dienen, die Pathologien

ökonomisierter Verantwortungsfunktionen, z.B. astronomisch

anmutende CEO-Gehälter, in irgendeiner Weise zu

legitimieren. Vielmehr kann eine wirksame Kritik der bestehenden

Missstände allein in einer Rückbesinnung auf Verantwortung

als Frage des eigenen Selbstverständnisses, privat

und im Job, bestehen. Unser öffentliches Bewusstsein für

professionsbezogene Verantwortung muss sich daher wieder

auf die Übernahme eines erweiterten Verantwortungshorizonts

einzelner für die Gemeinschaft richten. Diese zusätzliche

‚Bürde‘ darf und soll dann auch zusätzlich vergütet

werden, denn allein aufgrund dieser Verantwortungsübernahme

Einzelner im Bereich des Allgemeinwesens kann

Gesellschaft als solche überhaupt existieren.

Bergmann, K. O.; Wever, C. (1999): Die Arzthaftung:

Ein Leitfaden für Ärzte und Juristen. Berlin:

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