#9 Verantwortung
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Verantwortung & Gesellschaft
erinnerten Bindungen können wir verantwortlich gemacht
werden, nämlich als diejenigen, die ein Versprechen eingegangen
sind. Nach Nietzsche ist gerade aber das Gedächtnis
nihilistisch, weil es sich gegen das Leben wendet und
im Grunde „Willen zum Nichts“ (ebd.) ist. Nietzsches freier
Mensch ist ein von jeglicher Bindung befreiter Mensch,
der Kraft seines Willens heute dies, morgen jenes tut und
sich nicht von den Ketten seines Gewissens zurückhalten
lässt. Wesentlich für ihn ist das Vergessen. Wesentlich aber
für Verantwortung ist die Erinnerung an das Versprechen.
Verantwortung ist immer eine Antwort auf eine Anklage.
Dabei geht es viel weniger um die eigentliche Tat, sondern
um die Person, die klagt und damit das Versprechen aktualisiert.
Sie betrifft die Beziehung, die ich zu meinen Mitmenschen
habe. Wir werden verantwortlich nicht dafür,
was wir tun, sondern dafür, den Faden der Beziehung zum
Anderen nicht reißen zu lassen. Versprechen, Wahrhaftigkeit
und Verantwortung gehören damit zusammen. Verantwortung
ist nun wesentlich: dem Anderen Treue halten;
Treue ist das Festhalten an der Wahrheit einer Beziehung.
„[W]enn es Treue nicht gäbe, wäre die Wahrheit ohne Bestand,
ganz und gar wesenlos.“ (Arendt 2002: 39) Und die
Möglichkeit zur Beziehungsstiftung wäre suspendiert.
Adorno, T. W. (1980): Gesammelte Schriften.
Band 4. Minima Moralia. Reflexionen
aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am
Main: Suhrkamp.
Arendt, H. (2002): Denktagebuch. 1950 bis
1973. Erster Band. München: Piper.
Arendt, H. (2007): Über das Böse. Eine Vorlesung
zu Fragen der Ethik. München: Piper.
11. Auflage 2016.
Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und
Neues Testament. Stuttgart: Herder 2016.
Kant, I. (1966): Werke VI. Schriften zur Anthropologie,
Geschichtsphilosophie und
Pädagogik, Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft.
Koch, K. (1991): Spuren hebräischen Denkens.
Beiträge zur alttestamentlichen Theologie.
Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag.
Nietzsche, F. (1999): Sämtliche Werke.
Band 6. Stuttgart: Mundus Verlag.
Somit wird Verantwortung Bedingung dafür, dass wir uns
die Welt zur Heimat machen und in ihr „Wurzeln schlagen“
(Arendt 2016: 85) können. Das bedeutet auch, dass
unsere Klage, unser Rechtsanspruch unerfüllt bleiben kann.
Menschliche Beziehungen sind kein Geben und Nehmen,
kein Geschäftsverhältnis, sondern freie Stiftungen. Menschlichkeit
zeigt sich dann, wenn wir im Verhältnis zum Anderen
auf unseren Rechtsanspruch verzichten. Gerade der, dem
Leid zugefügt wurde, sieht sich dieser Entscheidung ausgesetzt.
Adorno bemerkte einmal über den leidenden Liebenden:
„Ihm geschah unrecht; daraus leitet er den Anspruch
des Rechts ab und muß ihn zugleich verwerfen, denn was
er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen. In solcher Not
wird der Verstoßene zum Menschen.“ (Adorno 1980: 185)
Am Ende der Geschichte Hiobs tritt Gott auf. Er wird sich
nicht rechtfertigen für das, was er zugelassen hat. Aber Hiob
fordert auch nicht mehr sein Recht ein. Es reicht ihm die
Gewissheit der Anwesenheit des Anderen. Was bleibt, ist
nicht Wahrheit, nicht Wissen, sondern Sinn.
53 philou.