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MÄRCHEN<br />
<strong>aus</strong> CDrona-Tagen<br />
1
2
Otto Köhlmeier<br />
MÄRCHEN<br />
<strong>aus</strong> CDrona-Tagen<br />
lese- und vorlesebuch<br />
für kinder von fünf bis hundert<br />
gemeinsam geschrieben von<br />
Otto Köhlmeier<br />
und seinen enkelkindern<br />
katharina und stefan<br />
in zeiten der isolation<br />
3
Alle Rechte vorbehalten<br />
© <strong>2020</strong><br />
Berenkamp<br />
Buch- und Kunstverlag<br />
Wattens<br />
www.berenkamp-verlag.at<br />
ISBN 978-3-85093-414-5<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
4
Inhalt<br />
7<br />
geschätzte leserin und ebensolcher leser<br />
9<br />
das erste märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
lotti, das kätzchen<br />
33<br />
das zweite märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
wolle, das zauberhündchen<br />
45<br />
das dritte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
geli, der jagdgepard<br />
57<br />
das vierte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
die umweltschutzbande<br />
69<br />
das fünfte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
das pferdemädchen<br />
85<br />
das sechste märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
opa und der bär<br />
105<br />
das siebte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
herr herbert, herr helmut und frau helene<br />
5
117<br />
das achte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
hund blecky und bruno, der bär<br />
129<br />
das neunte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
ferdinand feuersalamander<br />
139<br />
das zehnte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
lena und die stiefmutter<br />
151<br />
das elfte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
das waldwiesenh<strong>aus</strong>ener tierkrankenh<strong>aus</strong><br />
163<br />
das zwölfte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
eichi und pipsi<br />
173<br />
das dreizehnte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
oma scheißdinix<br />
187<br />
das vierzehnte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
leo reißt <strong>aus</strong><br />
201<br />
das fünfzehnte märchen <strong>aus</strong> corona-tagen<br />
damals, als corona kam<br />
215<br />
Der Autor & Illustrator<br />
6
geschätzte leserin<br />
und ebensolcher leser!<br />
Diese Geschichten entstanden ab Mitte März im Jahr <strong>2020</strong> oder – anders<br />
<strong>aus</strong>gedrückt: Diese Geschichten sind ein Produkt von <strong>Corona</strong>.<br />
In den coronaverseuchten Tagen, als wir einander nicht mehr sehen<br />
durften und unsere Kinder und Kindeskinder von uns Alten ferngehalten<br />
wurden, da haben Enkeltochter Katharina (7 Jahre), Enkelsohn<br />
Stefan (10 Jahre) und ich, ihr Opa (70 plus), damit begonnen, gemeinsam<br />
eine erste Geschichte zu schreiben. Jemand von uns begann mit der<br />
Geschichte. Und jeden Tag fügte wer anderer einen weiteren Teil zur<br />
Geschichte hinzu. Dazu t<strong>aus</strong>chten wir uns Abend für Abend per Telefon<br />
<strong>aus</strong>, besprachen unsere Geschichte, lieferten da und dort Hinweise,<br />
fragten uns, wie es weitergehen könnte. Am nächsten Tag wieder von<br />
vorn.<br />
So war gesichert, dass wir permanenten Kontakt zueinander hatten<br />
und uns, trotz Trennung, emotional nicht verloren. Dazu kam, dass<br />
uns das Ganze großen Spaß bereitete und sich fantasievoll und kreativ<br />
entwickelte. In der Zwischenzeit ist eine Reihe von Geschichten entstanden,<br />
die hier nachgelesen werden können. Und es werden weitere<br />
Geschichten dazukommen. Denn wir werden, auch wenn <strong>Corona</strong> mal<br />
vorübergehen sollte, weitermachen.<br />
Otto Köhlmeier<br />
im <strong>Corona</strong>-Sommer <strong>2020</strong><br />
7
8
das erste märchen<br />
<strong>aus</strong> corona-tagen<br />
Lotti,<br />
das Kätzchen<br />
lotti, das wundersame kätzchen,<br />
rettete achtundvierzig kühe und<br />
vierundachtzig schweine vor dem<br />
sicheren tod.<br />
9
10
„Miau!“<br />
Es war kaum wahrnehmbar. Aber Katharina hörte es, dieses stille,<br />
jämmerliche Weinen.<br />
„Miau!“<br />
Sie stieg vom Fahrrad, lehnte es gegen den mächtigen Nussbaum<br />
am Rand der Straße und tat ein paar Schritte in die Wiese, in der<br />
ein kleines Tigerkätzchen im Gras saß.<br />
„Vielleicht vom gestrigen Regen? Oder vom Tau frühmorgens?“, fragte<br />
sich Katharina. Jedenfalls klebte das Fell des Kätzchens derart dicht am<br />
Körper, dass Katharina sofort Mitleid mit dem armen Tier bekam, ihre<br />
Jacke <strong>aus</strong>zog, auf den Boden legte, das kleine Wesen auf die Jacke setzte<br />
und dessen Fell mit den Ärmeln der Jacke zu trocknen begann.<br />
Dann nahm Katharina Jacke samt Katzenkind und ging damit zum<br />
Fahrrad. Mit der Jacke polsterte sie den Fahrradkorb <strong>aus</strong>, nahm das<br />
Kätzchen, streichelte ihm über den Rücken und setzte es auf die Jacke.<br />
Sie wollte nach H<strong>aus</strong>e fahren, um es dort weiter zu pflegen und ihm<br />
Milch zu geben.<br />
Kaum saß Katharina auf dem Fahrrad, fielen erste Tropfen vom Himmel.<br />
Die Tropfen wurden mehr, immer mehr. Schließlich schüttete und<br />
stürmte es. Wieder begann das Kätzchen zu miauen, jämmerlich wie zuvor.<br />
Auch Katharina, die keinen Regenschutz mitgenommen hatte, war<br />
schon ziemlich nass; auch sie hätte am liebsten zu Jammern begonnen.<br />
Schließlich hielt sie bei einem H<strong>aus</strong> an und stellte sich unter das Vordach.<br />
Sie wartete, streichelte das Kätzchen und hoffte, dass der Regen bald aufhören<br />
möge. Zwei, drei Minuten stand sie vielleicht dort, als neben ihr<br />
die H<strong>aus</strong>tür aufging und eine alte Frau auf die Straße trat. Alt, sehr alt<br />
war die Frau. Uralt! „Sicher schon hundert“, dachte Katharina.<br />
„Wie heißt du denn?“, fragte die alte Frau.<br />
„Katharina!“<br />
„Katharina, ein schöner Name! Ich heiße Lili. Eigentlich Liliane, aber<br />
alle haben mich immer nur Lili genannt“, erzählte sie. „Und? Ist das<br />
dein Kätzchen?“, fragte sie.<br />
„Nein … doch, jetzt schon“, antwortete Katharina. „Ich hab’ sie ein<br />
Stück dort vorn in der Wiese gefunden.“<br />
Dass sie hungrig <strong>aus</strong>sehen würde, sie ihr etwas Milch geben wolle<br />
und sie doch reinkommen sollen, Katharina und das Kätzchen, sagte<br />
die alte Frau, die sich als Lili vorgestellt hatte.<br />
11
Katharina überlegte kurz. Dann lehnte sie das Fahrrad an die H<strong>aus</strong>mauer,<br />
nahm das Kätzchen <strong>aus</strong> dem Korb und folgte der freundlichen<br />
alten Frau ins H<strong>aus</strong>. Finster war’s im Raum. Eine einzelne Glühbirne<br />
hing von der Decke. In der Ecke stand ein alter Tischherd, in dem Feuer<br />
brannte. „Damit ich heißes Wasser habe“, meinte die Frau. „Setz dich<br />
doch!“<br />
Katharina nahm auf der alten Couch Platz und versank fast bis zum<br />
Fußboden. „Ich hab’ schon einen Namen für das Kätzchen“, sagte sie,<br />
während Lili etwas Milch in ein Schüsselchen gab. „Lotti werde ich sie<br />
nennen. Lotti. Weil sie so frech dreinschaut!“<br />
„Ein guter Name“, murmelte die alte Frau und stellte das Schüsselchen<br />
neben die Couch. Katharina nahm das kleine Kätzchen und setzte<br />
es vorsichtig auf den Fußboden. So schnell konnten das kleine Mädchen<br />
und die alte Frau gar nicht schauen, schon hatte das Kätzchen den Kopf<br />
in der Milchschüssel und leckte und schleckte, dass es eine Freude war.<br />
Katharina und Lili blickten gebannt auf das hungrige Kätzchen. Still<br />
war es im Raum, nur das Schmatzen des Milch trinkenden Kätzchenkinds<br />
war zu hören. Doch plötzlich klopfte es heftig an der Tür. So heftig,<br />
dass das kleine Mädchen und die alte Frau gleichzeitig hochfuhren<br />
und das Kätzchen zu trinken aufhörte, um sich unter der Couch zu verkriechen.<br />
•<br />
Die alte Frau ging zur Tür und öffnete. Draußen standen ein alter<br />
Mann und ein Bub. Katharina kannte die beiden gut, sehr gut sogar.<br />
Aber Lili hatte keine Ahnung, wer die beiden waren. Also schaute sie<br />
den alten Mann und den Buben an und fragte: „Was hätten Sie gern?<br />
Was kann ich für Sie tun!“<br />
„Das ist der Stefan, der Bruder von Katharina, dem Mädchen da“,<br />
sagte der alte Mann. Dabei zeigte er in den Raum hinein, wo Katharina<br />
auf der Couch unter der Glühbirne saß. „Und ich, ich bin ihr alter Großvater,<br />
der Otto-Opa. Wir haben vor dem H<strong>aus</strong> ihr Fahrrad gesehen und<br />
deshalb angeklopft. Wir suchen sie nämlich schon einige Zeit.“<br />
Lili schien zuerst überrascht, lächelte dann aber und meinte: „Es<br />
schaut <strong>aus</strong>, als ob es gleich wieder zu regnen beginnt. Also, kommen<br />
Sie rein!“<br />
12
Der kleine Stefan wollte nicht so recht, blieb stehen und sah seinen<br />
Opa fragend an. Der aber nickte mit dem Kopf und meinte nur „Na,<br />
komm schon“, nahm ihn an der Hand, und gemeinsam gingen sie in<br />
die Küche.<br />
Katharina hatte offenbar ein schlechtes Gewissen. Jedenfalls hielt sie<br />
den Blick auf den Boden gerichtet, als ihr Großvater auf sie zukam. „Du<br />
weißt genau, Katharina, dass du nicht mit fremden Menschen in eine<br />
fremde Wohnung gehen sollst!“<br />
Katharina wagte immer noch nicht, aufzuschauen und dem Opa in<br />
die Augen zu blicken. Da kam ihr die alte Frau zu Hilfe. „Haben Sie<br />
Nachsicht. Es schüttete. Das Kind stand vor der H<strong>aus</strong>tür und war tropfnass.<br />
Und ihr Kätzchen hatte Hunger.“<br />
„Welches Kätzchen?“, fragte der Großvater.<br />
„Was für ein Kätzchen?“, wiederholte fast gleichzeitig der kleine Stefan<br />
die Frage – allerdings an Katharina gerichtet.<br />
„Na, die Lotti!“, rief Katharina und hatte die Betroffenheit ob der<br />
mahnenden Worte des Großvaters schon wieder vergessen. Sie rutschte<br />
von der Couch auf den Boden, schaute unter die alten Polster, griff dann<br />
hinein und holte das kleine Kätzchen hervor.<br />
„Wau!“, rief Stefan. „Süß!“<br />
„Sie heißt Lotti und gehört mir! Ich hab’ sie gefunden, ich ganz allein!“,<br />
rief Katharina und drückte das Kätzchen fest an ihre Brust, als<br />
Stefan es zu streicheln versuchte.<br />
„Die gehört nicht dir, Katharina“, sagte der Großvater. „Du hast sie<br />
zwar gefunden. Aber gehören tut sie jemand anderem. Und der vermisst<br />
sie vielleicht schon. Also sollten wir versuchen, ihn zu finden.“<br />
Wenngleich der Großvater das keinesfalls vorwurfsvoll meinte oder gar<br />
böse wirkte, war Katharina den Tränen nah.<br />
„Nur mit der Ruhe!“, mischte sich die alte Frau Lili ein. „Ich mach’<br />
uns jetzt eine Kanne Tee, vielleicht hört es dann auf zu regnen, und wir<br />
schauen weiter. Mal sehen, vielleicht kannst du es ja doch behalten, dein<br />
Kätzchen.“ Lili nahm Kräuter <strong>aus</strong> einer Dose, gab sie in eine Kanne und<br />
schüttete <strong>aus</strong> dem Topf, der auf dem Herd stand, heißes Wasser darüber.<br />
Dann suchte sie vier Tassen zusammen und stellte sie mit zwei Löffeln<br />
und einer Dose mit Zucker auf das kleine Tischchen.<br />
Katharina und Stefan kosteten kurz und ließen den Tee sofort stehen.<br />
„Salbei“, sagte die alte Frau. „Sehr gesund!“ Aber den beiden wollte der<br />
13
Tee einfach nicht schmecken, soviel Zucker sie auch in die Tassen schütteten.<br />
„Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen. Wir sollten los“, meinte der<br />
alte Otto-Opa der beiden Kinder. „Danke!“, sagte er zur alten Frau.<br />
„Danke!“, sagten auch die Kinder.<br />
„Kommt mich ruhig wieder einmal besuchen“, rief die alte Frau den<br />
dreien hinterher, als diese auf ihre Fahrräder stiegen. „Und passt gut<br />
auf das Kätzchen auf!“<br />
•<br />
Wo genau sie die Katze denn gefunden habe, wollte der Großvater<br />
wissen.<br />
„Beim großen Nussbaum, drüben am Schotterweg“, sagte Katharina.<br />
„Gut. Dann fangen wir mit der Suche dort an“, meinte Otto, der Opa,<br />
und radelte los. Stefan und Katharina mit der kleinen Lotti im Fahrradkorb<br />
folgten ihm.<br />
Beim Nussbaum war weit und breit nichts von einem Menschen oder<br />
einem H<strong>aus</strong> zu sehen. Nur ziemlich weit weg stand ein alter, halb verfallener<br />
Bauernhof. „Fragen wir dort mal nach“, meinte der Großvater.<br />
Der Bauernhof war ziemlich heruntergekommen. Auf den Dächern<br />
der Stallgebäude fehlten etliche Ziegel. Fensterscheiben waren eingeschlagen<br />
und nicht erneuert worden. Überall rostete altes Gerät vor sich<br />
hin. Die Gülle bildete da und dort im Hof Pfützen und versickerte irgendwo<br />
im Erdreich.<br />
„Na, da schaut’s aber <strong>aus</strong>“, meinte der Großvater.<br />
„Es stinkt!“ Katharina hielt sich die Nase zu.<br />
„Ob da wohl noch jemand wohnt?“, fragte Stefan.<br />
Ein paar Hunde mit eingezogenen Schwänzen liefen umher. Aus einem<br />
Teil des Gebäudes hörte man Kühe brüllen und Schweine quietschten.<br />
Aber kein fröhliches Quietschen war das, eher ein von Weh und<br />
Schmerz bestimmtes.<br />
„Hallo!“, rief der Großvater. Und wieder: „Hallo!“ Aber kein menschliches<br />
Wesen zeigte sich. Die drei lehnten die Fahrräder an die H<strong>aus</strong>mauer.<br />
Katharina nahm das Kätzchen <strong>aus</strong> dem Korb und drücke es fest<br />
an ihre Brust. Der Großvater ging voran zur größten Tür im H<strong>aus</strong> und<br />
klopfte – einmal, dreimal, fünf- und sechsmal. Nichts! Er klopfte wei-<br />
14
ter und heftiger von Mal zu Mal – acht-, neun-, zehnmal. Sie wollten<br />
schon zur nächsten Tür gehen, als sie eine Stimme hörten. Ein Fluchen<br />
und Schimpfen war’s. Schließlich wurde die Tür, an die der Großvater<br />
zuvor geklopft hatte, aufgerissen; ein vollkommen verwahrloster Mann<br />
wurde sichtbar. Die Haare standen ihm zu Berg, mehrere Zähne fehlten,<br />
Dreckflecken prangten im Gesicht und am Hals. Er hielt eine Flasche<br />
in der Hand, mit der er herumfuchtelte, während er weiterfluchte und<br />
schimpfte und kaum verständlich fragte, was sie denn wollten, warum<br />
sie ihn störten.<br />
Katharina bekam es mit der Angst zu tun, auch Stefan fühlte sich<br />
nicht mehr wohl in seiner Haut. Doch Großvater blieb ruhig. „Meine<br />
Enkeltochter hat ganz in der Nähe ein kleines Kätzchen gefunden. Wir<br />
wollten nur fragen, ob diese Katze vielleicht ihnen gehört.“ Dabei zeigte<br />
Großvater auf das Kätzchen, das Katharina fest an die Brust gedrückt<br />
hielt.<br />
Der Mann nahm einen kräftigen Schluck <strong>aus</strong> der Flasche, rülpste laut<br />
und heftig und meinte: „Ach ja, eine vom letzten Wurf. Hab’ sie rübergeworfen<br />
ins Feld. Gefällt mir nicht! Tigerkatzen bringen Unglück! Drei<br />
andere hab’ ich in der Jauchegrube ertränkt. Die fressen mich ja arm, die<br />
Sauviecher!“ Wieder tat er einen Schluck. Und wieder rülpste er laut.<br />
„Dann darf ich die Katze behalten?“, fragte Katharina vorsichtig und<br />
kleinlaut.<br />
Der Mann torkelte hin und her, starrte auf das Kätzchen in Katharinas<br />
Armen und brummte dann schwer verständlich: „Gut, sehn Euro,<br />
nein, swanzig Euro, und wir san kwitt!“<br />
Katharina schaute Opa an. Der zog die Brieftasche <strong>aus</strong> der Hose,<br />
nahm einen Zehneuroschein und drückte ihn dem Mann in die Hand.<br />
„Hier! Kannst dir die nächste Flasche Schnaps kaufen. Und jetzt kommt,<br />
Kinder!“<br />
Auf dem Weg nach H<strong>aus</strong>e kamen sie – Katharina, Stefan und der<br />
Otto-Opa – wieder bei der alten Frau Lili vorbei, die vor dem H<strong>aus</strong> die<br />
vom Regen und Sturm angerichtete Unordnung zusammenräumte. Ob<br />
sie Lust auf eine weitere Tasse Tee hätten, fragte sie.<br />
„Nein, danke!“, riefen die Kinder wie <strong>aus</strong> einem Mund. Otto-Opa<br />
erklärte Lili, wo sie den Besitzer des Kätzchens gefunden haben. Und<br />
fragte, ob sie diesen Mann kenne.<br />
15
„Jaja, der Huberbauer“, sagte die alte Frau. Der habe früher schon<br />
gern tief ins Glas geschaut. Und als dann vor drei Jahren seine Frau<br />
gestorben war, sei er <strong>aus</strong> dem R<strong>aus</strong>ch gar nicht mehr r<strong>aus</strong>gekommen.<br />
Aber das gehe doch nicht, meinte der Großvater. Da seien Tiere auf<br />
dem Hof. Kühe und Schweine.<br />
„Und die haben fürchterlich geschrien“, ärgerte sich Stefan.<br />
Und die kleinen Kätzchen, die habe er in die Jauchegrube geworfen,<br />
der Saufbauer, fügte Katharina empört hinzu. So etwas dürfe nicht<br />
sein, das sei doch Tierquälerei, da müsse etwas getan werden, stellte der<br />
Großvater fest. Wenn sie zu H<strong>aus</strong>e seien, werde er sich gleich erkundigen.<br />
Alle bedankten sich nochmals bei Lili für den Unterstand während<br />
des Regens, für die Milch für das Kätzchen und für den Tee. Und dann<br />
radelten sie heimwärts.<br />
•<br />
Zuh<strong>aus</strong>e holten Stefan und Katharina einen kleinen Korb und eine<br />
alte Decke <strong>aus</strong> dem Keller. Im Kinderzimmer stellten sie das Körbchen<br />
neben Katharinas Bett und legten die Decke sorgfältig so, dass Lotti ein<br />
gemütliches und sicheres Plätzchen hatte. „Wir müssen noch Katzenfutter<br />
kaufen!“, rief Katharina. „Und eine Futterschüssel für Lotti brauchen<br />
wir auch!“ Sie setzten das kleine Kätzchen in das weich gepolsterte<br />
Körbchen. Katharina streichelte es zart, bis es zu schnurren begann, die<br />
Augen schloss und einschlief. „Schnell, lass uns ins Geschäft fahren!“<br />
Sie liefen zu Opa ins Wohnzimmer, ließen sich von ihm ein paar Euro<br />
für Futter und Schüssel geben und baten ihn, leise zu sein, weil das<br />
Kätzchen schlafe.<br />
„Beeilt euch!“, rief der Großvater hinterher. Er werde derweil eine<br />
Kanne Tee kochen.<br />
„Aber bitte keinen Salbeitee!“, riefen Katharina und Stefan fast gleichzeitig<br />
und liefen los.<br />
Als die beiden von ihrem Einkauf heimkehrten, saß der Großvater<br />
auf der Couch im Wohnzimmer, hielt mit der einen Hand das Telefon<br />
ans Ohr und mit der anderen Hand streichelte er Lotti, das kleine Kätzchen,<br />
das auf seinem Schoß saß. Dass es gemaunzt und an der Tür gekratzt<br />
und er das Katzenkind deshalb geholt habe, entschuldigte er sich.<br />
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Es wird wohl hungrig sein, meinte Stefan. Dass sie ihm gleich was<br />
zum Fressen richten werde, rief Katharina und s<strong>aus</strong>te in die Küche, <strong>aus</strong><br />
der sie bald mit der neu gekauften Fressschüssel, angefüllt mit Katzenfutter,<br />
zurückkehrte. Sie stellte die Katzenmahlzeit auf den Boden, nahm<br />
die kleine Lotti von Großvaters Schoß und setzte sie neben die Schüssel.<br />
Stefan hatte recht. Lotti war wirklich sehr hungrig. Es knackte und<br />
knisterte und knisterte und knackte. Für ein so kleines Kätzchen biss sie<br />
ganz schön kräftig auf das Trockenfutter ein und hörte gar nicht mehr<br />
auf damit.<br />
Nachdem sie alle drei – Otto-Opa, Stefan und Katharina – Lotti eine<br />
Zeit lang beim Beißen zugeschaut und dem Knacken zugehört hatten,<br />
erzählte Opa, dass er vorher wegen dem Huberbauern und den armen<br />
Tieren am Hof telefoniert und beschlossen habe, die Tiere zu befreien.<br />
„Wie?“, fragte Katharina neugierig.<br />
„Wie?“, wolte auch Stefan wissen.<br />
Der Großvater schenkte <strong>aus</strong> der Kanne drei Tassen Tee – Früchtetee<br />
mit Zitrone und Honig – ein und begann dann zu erzählen. „Ich<br />
kann nicht anders, ich muss einfach. Ich muss die Tiere am Huberhof<br />
befreien. Ich höre immer wieder die brüllenden Kühe, die schreienden<br />
Schweine.“ Er habe vorhin, während Katharina und Stefan einkaufen<br />
waren, mit dem Chef des Tierschutzvereins telefoniert. Mit ihm werde<br />
er sich morgen früh um sechs, solange es noch dunkel sei und der<br />
Huberbauer seinen R<strong>aus</strong>ch <strong>aus</strong>schlafe, auf dessen Hof treffen, um die<br />
Sache gemeinsam anzuschauen.<br />
„Ich komme mit!“, rief Stefan.<br />
„Ich auch!“, rief auch Katharina.<br />
Zwar versuchte der Opa seinen Enkelkindern klarzumachen, dass<br />
die Sache möglicherweise gefährlich werden könnte und sie deshalb lieber<br />
zu H<strong>aus</strong>e bleiben sollten. Aber die beiden ließen sich nicht abbringen.<br />
„Wir kommen mit! Und die Lotti nehmen wir auch mit!“<br />
„Warum die Lotti?“, fragte der Großvater.<br />
„Weil sie sich am Huberhof <strong>aus</strong>kennt und uns vielleicht helfen kann.<br />
Sie hat dort ja die ersten Tage ihres Lebens verbracht und kennt sich<br />
ganz bestimmt gut <strong>aus</strong>.“<br />
•<br />
17
Am nächsten Morgen standen die drei schon um fünf Uhr früh auf.<br />
Stefan und Katharina schlüpften in die Kleider von gestern, schnappten<br />
sich ein Stück Brot und wollten schon los. Der Großvater hielt sie<br />
zurück. Sie mussten sich waschen und die Zähne putzen. So viel Zeit<br />
müsse sein, meinte er.<br />
Mit gottlob nur schwer verständlichem Gemurmel gingen die beiden<br />
Kinder ins Bad, während der Großvater das Frühstück zubereitete.<br />
Das war dann schneller als schnell verschlungen. Katharina nahm Lotti,<br />
und alle vier gingen zu den Fahrrädern. Der Großvater bat sie, noch<br />
kurz zu warten. Er ging in die Werkstatt und kam mit Blechschere, Zange,<br />
Arbeitshandschuhen und einer großen Taschenlampe zurück. „Los<br />
geht’s!“, rief er. „Ich vor<strong>aus</strong>, hinter mir Katharina und am Ende Stefan!<br />
Und dreht die Lichter auf!“<br />
Als sie am Hof vom Huberbauer ankamen, war dort alles trist und<br />
duster. Das Brüllen der Kühe, das Schreien der Schweine waren aber<br />
wieder zu hören – lauter, schrecklicher noch als am Vortag. Wohl deshalb,<br />
weil rundum Nacht herrschte und keine anderen Laute zu vernehmen<br />
waren. Sie stellten die Fahrräder ab. Katharina nahm Lotti <strong>aus</strong><br />
dem Körbchen, setzte das Kätzchen nur kurz auf den Boden, weil sie<br />
den Schal, den sie um den Hals gewickelt hatte, abnehmen wollte; sie<br />
war beim Radfahren ins Schwitzen geraten. Aber kaum stand Lotti am<br />
Boden, rannte sie auch schon davon. „Lotti!“, rief Katharina. Und nochmals:<br />
„Lotti!“<br />
„Psst! Leise!“, raunte der Großvater. Er nahm die Taschenlampe und<br />
leuchtete dem Kätzchen hinterher. So sahen sie gerade noch, wie Lotti<br />
im Gebäude verschwand, <strong>aus</strong> dem das Klagen der Kühe und Schweine<br />
kam. Der Großvater leuchtete weiter Richtung Stall und ging voran.<br />
Hinter ihm Katharina und Stefan. Als sie im Stall waren, klangen<br />
die Schreie der Kühe und Schweine noch lauter, noch erbärmlicher als<br />
zuvor. Der Großvater leuchtete ganz nach hinten im Stall, von wo <strong>aus</strong><br />
Lotti laut miaute. Die drei – Katharina, Stefan und Otto-Opa – eilten im<br />
Schein der Taschenlampe auf das rufende Kätzchen zu. Lotti stand neben<br />
einem kleinen Kalb und leckte über den Kopf des jungen Tiers, das<br />
im Dreck lag und sich kaum mehr rührte.<br />
„Oh, mein Gott!“, murmelte Katharina.<br />
„Du liebe Güte!“, flüsterte Stefan.<br />
18
„Das ist ja …“, knurrte der Großvater, drückte Stefan die Taschenlampe<br />
in die Hand, lief zu dem kleinen Kälbchen, hob es <strong>aus</strong> dem Dreck und<br />
legte es auf einen halbwegs trockenen Platz auf die paar Büschel Heu,<br />
die noch nicht zu faulendem Mist geworden waren.<br />
In diesem Moment hörten sie im Hof draußen ein Auto vorfahren.<br />
Katharina und Stefan zuckten zusammen und sahen ihren Opa an. Sie<br />
bekamen es mit der Angst zu tun. Der Großvater beruhigte sie aber. Das<br />
wird der Mann vom Tierschutzverein sein, meinte er. Er nahm die Taschenlampe<br />
und leuchtete Richtung Stalleingang. Dort stand ein Mann,<br />
der sich die Hand vor die Augen hielt – der Lichtstrahl blendete. „Gruber!<br />
Ich bin vom Tierschutzverein“, rief er. Großvater richtete den Lichtstrahl<br />
zum Kälbchen. Der Herr vom Tierschutzverein kam langsam näher<br />
und war entsetzt über die Tiere, die im Dreck lagen oder standen<br />
und laut und qualvoll schrien.<br />
„Das ist ja schrecklich!“, empörte sich Herr Gruber und drückte dem<br />
Opa und dann auch Katharina und Stefan die Hand. „Wir müssen die<br />
Tiere rasch befreien. Lange halten die das nicht mehr <strong>aus</strong>. Die sterben<br />
alle, wenn wir nichts tun“, stellte er fest.<br />
Der Großvater zeigte auf das Kälbchen, das vor ihnen lag. „Manche<br />
werden wir r<strong>aus</strong>tragen müssen. Die sind nicht mehr in der Lage, selbst<br />
zu gehen.“ Stefan sollte mit Herrn Gruber, dem Mann vom Tierschutzverein,<br />
die rechte Seite des Stalls und Katharina mit Opa die linke … Sie<br />
planten gerade ihre Tierrettungsaktion, als sie von draußen die Sirenen<br />
von Einsatzfahrzeugen vernahmen; gleich darauf huschten Blaulichter<br />
im regelmäßigen Rhythmus durch den Stall und erzeugten eine geradezu<br />
gespenstische Stimmung.<br />
Katharina begann zu weinen. Stefan drückte die Hand seiner Schwester.<br />
Großvater leuchtete wieder zum Stalleingang, wo zwei, drei, vier<br />
Polizisten auftauchten. „Die Taschenlampe runter! Und die Hände<br />
hoch!“, schrie einer von ihnen.<br />
„Ich bin vom TSV!“, rief Gruber. Der Polizist hörte gar nicht hin und<br />
wiederholte: „Taschenlampe runter! Hände hoch! Aber schnell!“<br />
Großvater legte die Lampe auf den Boden. „Hebt die Hände hoch,<br />
Kinder!“ Er versuchte, Ruhe <strong>aus</strong>zustrahlen, um Stefan und Katharina<br />
Sicherheit zu geben. Nichts half. Jetzt weinte auch Stefan.<br />
„Die Hände hoch!“, hallte es wieder durch den Stall in die Schreie der<br />
Kühe und Schweine hinein. Jeder der vier Polizisten hielt eine Taschen-<br />
19
lampe in der Hand und leuchtete auf die vier Menschlein am anderen<br />
Ende des Stalls, die nun alle vier die Hände in die Höhe streckten. Die<br />
Kühe und Schweine brüllten noch lauter als zuvor. Auf die vielen Menschen<br />
im Stall reagierten sie offenbar noch unruhiger. Sie stampften auf<br />
den Betonboden und zerrten an den Ketten, an denen sie hingen. Einer<br />
der Polizisten rief zu den vier Menschlein am anderen Ende des Stalls:<br />
„Was wollt ihr hier? Warum seid ihr hier eingebrochen?“ Wegen der<br />
Schreie der Tiere war er kaum zu verstehen.<br />
Herr Gruber, der Tierschützer, versuchte zu antworten. Sie sollten<br />
sich doch umsehen, die Polizisten. Ob sie denn nicht sähen, wie die Tiere<br />
gequält, wie erbärmlich sie in diesem S<strong>aus</strong>tall gehalten würden. Aber<br />
auch er war in dem Lärm nur schwer zu verstehen. Schließlich brüllte<br />
einer der Polizisten: „R<strong>aus</strong>! R<strong>aus</strong> auf den Hof! Los!“<br />
Zwei der Polizisten machten kehrt, leuchteten Richtung Ausgang<br />
und verließen den Stall, die beiden anderen machten den Mittelgang im<br />
Stall frei. „Los! R<strong>aus</strong> mit euch!“, rief einer von ihnen und fuchtelte mit<br />
der Taschenlampe. Mit erhobenen Händen ging der Großvater voran,<br />
dahinter folgten Katharina, dann Stefan und am Ende der Mann vom<br />
Tierschutzverein. Dicht an Katharina tapste Lotti nach draußen. Ein<br />
Stück weit weg vom Stall, wo die Schreie der Tiere nicht mehr so laut<br />
zu hören waren, sammelten sich alle. Ob sie die Hände runternehmen<br />
dürften, fragte Otto, der Opa.<br />
Die Polizisten sahen einander an, und schließlich sagte einer, anscheinend<br />
der Chef und Oberpolizist: „O. k.!“ Und dann wiederholte er die<br />
Frage, die schon zuvor im Stall gestellt worden war: „Also! Warum seid<br />
ihr hier eingebrochen?“<br />
Herr Gruber wollte antworten: „Also, ich bin der Chef vom heimischen<br />
TSV, ich …“<br />
Da ging die H<strong>aus</strong>tür auf, und im schwachen Schein der Lampen<br />
wurde der Huberbauer sichtbar. Er war in eine alte dreckige Decke gewickelt.<br />
In einer Hand schwenkte er wie am Vortag eine Flasche. Und<br />
wie am Vortag standen ihm die Haare zu Berge. „Endlich, endlich seid<br />
ihr da!“, brabbelte er kaum verständlich. „Ich dachte schon, ihr würdet<br />
überhaupt nicht kommen. Und hatte fürchterliche Angst, die Verbrecher<br />
da könnten mich umbringen.“ Er grinste, zeigte dabei die vielen Zahnlücken<br />
und gestikulierte mit der Flasche Richtung Großvater: „Jetzt bist<br />
dran!“ Dann forderte er die Polizisten auf, diese Gauner festzunehmen<br />
20
und abzuführen. „Bitte, Herr Inspekta, walten Sie Ihres Amts und verhaften<br />
Sie das Gesindel!“<br />
„Ruhig, Huberbauer, ganz ruhig“, sagte der Oberpolizist und erklärte,<br />
dass er schon selbst wüsste, was zu tun wäre, seine Ratschläge also<br />
nicht brauchen würde. Einer der Polizisten ging zum Huberbauer und<br />
drängte ihn zurück ins H<strong>aus</strong>.<br />
Der Chef-Polizist erklärte den beiden Erwachsenen, dass er nicht anders<br />
könne und sie leider verhaften müsse – wegen H<strong>aus</strong>friedensbruch,<br />
Einbruch und gefährlicher Drohung; außerdem seien sie auf frischer Tat<br />
ertappt worden. „Das können Sie kaum leugnen!“ Er gab die Anweisung,<br />
dem Mann vom Tierschutzverein und dem Großvater Handschellen anzulegen<br />
und alle vier – Otto-Opa, den Tierschutzvereinsmann Gruber,<br />
Stefan und Katharina – auf die Polizeidienststelle in der Stadt zu bringen.<br />
„Tut mir leid!“, entschuldigte er sich fast. Als Katharina zu weinen begann,<br />
fragte der Großvater den Polizisten, ob seine Enkeltochter ihr Kätzchen<br />
mitnehmen dürfe. „Na klar“, meinte dieser, „die kann sie natürlich<br />
mitnehmen!“ Dabei lächelte er Katharina sogar freundlich an.<br />
•<br />
Im Polizeirevier begann ein anderer Beamter mit der Befragung.<br />
„Ich bin sieben Jahre alt und gehe in die zweite Klasse“, antwortete<br />
Katharina. „Und der Huberbauer hat dieses Kätzchen einfach <strong>aus</strong>gesetzt.<br />
Es wäre verhungert, wenn ich es nicht gefunden hätte!“ Dabei hielt sie<br />
Lotti fest gegen ihre Brust gedrückt und streichelte ihr übers Fell.<br />
Und Katharinas Bruder, der Stefan, fügte hinzu: „Ich bin zehn Jahre<br />
alt und gehe in die vierte Klasse. Der Huberbauer hat nicht nur dieses<br />
Kätzchen <strong>aus</strong>gesetzt. Er hat drei andere Kätzchen in die Jauchegrube<br />
geworfen und ertränkt!“ Und der Otto-Opa und der Herr Gruber berichteten<br />
dem Polizisten von den Zuständen auf dem Hof des Huberbauern<br />
und von den armen Tieren dort, den Kühen und Schweinen,<br />
und dem armen kleinen Kälbchen, das bald sterben müsste, wenn man<br />
es nicht rasch <strong>aus</strong> dem Stall r<strong>aus</strong>holen würde.<br />
„Gut“, meinte der Polizist, „wir schauen uns das Ganze mal an. Sie<br />
beide …“ – dabei schaute er den Großvater und den Mann vom Tierschutzverein<br />
an – „Sie beide müssen solange hier bleiben. Und ihr zwei,<br />
ihr könnt nach H<strong>aus</strong>e zu euren Eltern!“<br />
21
Katharina und Stefan schauten den Großvater an, der war aber bereits<br />
dabei, dem Polizisten zu antworten: „Das geht nicht. Die Eltern<br />
der beiden sind nicht zu H<strong>aus</strong>e. Sie sind auf einer Konzertreise durch<br />
Amerika. Darum bin ich da, um auf die Kinder aufzupassen.“<br />
„Papa und Mama kommen erst in dreißig Wochen wieder“, ergänzte<br />
Katharina eifrig. „In dreißig Tagen“, verbesserte Stefan.<br />
„Sie sind nämlich Musiker und auf einer Turne!“, fügte Katharina<br />
hinzu. Natürlich meinte sie „Tournee“, aber weil sie nicht genau wusste,<br />
was dieses Wort bedeutete, sagte sie eben „Turne“.<br />
„Dann müssen wir euch beide wohl auch hier behalten“, meinte<br />
der Polizist. „Nein“, sagte der Großvater. „Es gibt da eine sehr nette<br />
Nachbarin, zu der man sie bringen kann und bei der sie gut aufgehoben<br />
sind.“ Er nannte dem Polizisten die Adresse von Lili. Das heißt, er<br />
wusste keine Adresse, meinte aber, dass die Kinder den Weg dorthin<br />
leicht finden würden. Und dass sie den Polizisten, der sie fahren würde,<br />
sicher ans Ziel dirigieren würden. Der Opa drückte seine beiden Enkelkinder<br />
nochmals ganz fest an sich, sagte, dass sie keine Angst haben<br />
müssten, dass er sicher bald nachkommen werde und dass sie der Lili<br />
alles genau so erzählen sollen, wie es war.<br />
•<br />
Lili, die alte Frau, fiel fast in Ohnmacht, als sie vor ihrem H<strong>aus</strong> ein<br />
Polizeiauto vorfahren und halten sah. Und noch mehr schreckte sie sich,<br />
als ein Polizist <strong>aus</strong>stieg, eine Autotür aufriss und die beiden Kinder von<br />
gestern, die Katharina und der Stefan, zum Vorschein kamen. Sie öffnete<br />
die H<strong>aus</strong>tür und wartete. Der Polizist sagte das Wenige, das er zu<br />
sagen hatte, stieg dann wieder in sein Auto und fuhr davon, zurück in<br />
die Stadt.<br />
Lili drängte die beiden Kinder ins H<strong>aus</strong> und fragte, ob sie einen Tee<br />
möchten. „Nein, danke!“, antworteten die beiden wieder fast gleichzeitig.<br />
Schließlich begann Stefan zu erzählen, was passiert war. Das war<br />
nicht leicht, denn immer wieder fiel ihm Katharina ins Wort und ergänzte<br />
da etwas, fügte dort etwas hinzu und sprang immer wieder mal<br />
vom einen zum anderen und vom anderen zum einen. Schließlich war<br />
der alten Frau aber klar, dass die Kinder mit ihrem Großvater heute<br />
Nacht am Hof vom Huberbauer versucht hatten, die Tiere zu befreien,<br />
22
und dabei verhaftet worden waren. Und dass Opa nun im Gewahrsam<br />
der Polizei war. Und dass etwas getan werden müsste.<br />
Während die alte Frau und die beiden Kinder dasaßen und nachdachten,<br />
was sie machen könnten, und man nur das Knistern des brennenden<br />
Holzes im Herd hörte, begann Lotti, das kleine Kätzchen, laut<br />
zu miauen. Miau! Miau! Miau! Sie lief zur H<strong>aus</strong>tür und begann, an ihr<br />
zu kratzen. Katharina lief Lotti hinterher und wollte sie streicheln und<br />
hochheben. Aber Lotti entwischte ihr immer wieder. Immer wieder<br />
kratzte sie an der H<strong>aus</strong>tür und miaute immerzu.<br />
„Was ist denn, Lotti?!“ Katharina war schon recht verzweifelt, als sie<br />
auch von draußen Katzenstimmen hörte. „Miau. Miau. Miau. Miau“,<br />
tönte es in verschiedenen Tonlagen. Katharina sah zu Lili und dann zu<br />
Stefan. „Hört ihr das?“, fragte sie. „Das müssen ganz viele sein!“<br />
Lili erhob sich, ging zur H<strong>aus</strong>tür und öffnete sie. Und flugs war Lotti<br />
<strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> und mitten in einem Rudel von Katzen. Mindestens<br />
zehn mussten das sein. „Was soll denn das?“, fragte Lili mehr sich selbst<br />
denn die Kinder. „Seltsam, seltsam!“<br />
Die Katzen miauten einander gegenseitig zu. Als würden sie eine Beratung<br />
abhalten, gemeinsam einen Plan erstellen, genau so sah es <strong>aus</strong>.<br />
Schließlich kam Lotti zu Katharina gelaufen, schlich zwei, drei, vier Mal<br />
um ihre Beine, hob den Kopf, miaute Katharina zu und lief dann los.<br />
Und die anderen Katzen hinter ihr her.<br />
„Wir müssen ihnen nach!“, rief Lili. „Die Lotti hat dir ein Zeichen gegeben,<br />
Katharina. Ich glaube, die haben etwas vor, die haben einen Plan.“<br />
Natürlich waren die Katzen viel, viel schneller als die alte Frau und<br />
die zwei Kinder. Aber immer wieder, wenn die Tiere weit vor<strong>aus</strong> waren<br />
und der Blickkontakt verlorenzugehen drohte, blieb das Rudel stehen<br />
und wartete, bis die drei Menschlein wieder aufgeschlossen hatten.<br />
Dann gab Lotti neuerlich ein Zeichen im Sinn von „Los! Weiter!“. Bald<br />
war klar, dass der Weg Richtung Huberhof ging.<br />
„Ist euch aufgefallen, dass das alles Tigerkatzen sind, graue Tigerkatzen?“,<br />
fragte Stefan.<br />
„Ja. Die schauen alle <strong>aus</strong> wie Lotti“, meinte Katharina. „Könnte sein“,<br />
schnaufte Lili, schon ziemlich außer Puste, „dass das alles Katzen sind,<br />
die der wüste Huberbauer gequält und misshandelt und dann <strong>aus</strong>gesetzt<br />
hat.“<br />
23
Tatsächlich lief die Katzenschar Richtung Huberhof. Dort warteten<br />
sie kurz auf Katharina, Stefan und die alte Lili. Als die drei endlich dort<br />
waren, rannten sie in den Stall, <strong>aus</strong> dem noch immer die qualvollen<br />
Schreie der Kühe und Schweine zu hören waren. Stefan und Katharine<br />
wollten hinter den Katzen her. Lili hielt sie zurück: „Wartet! Wartet<br />
noch!“ Sie eilte zum Wohntrakt des Hofs, stellte sich bei einem der<br />
Fenster auf die Zehenspitzen und schaute ins H<strong>aus</strong>innere. Sie machte<br />
dies auch bei einem zweiten und dritten Fenster. Dann kam sie zu den<br />
beiden Kindern zurück und meinte, dass die Luft rein sei, dass der Huberbauer<br />
schlafe, tief schlafe, neben ihm stehe eine ganze Batterie von<br />
Schnapsflaschen. „Leerer Schnapsflaschen“, fügte sie noch hinzu.<br />
Lili, Katharina und Stefan liefen in den Stall, wo sich ihnen ein seltsames<br />
Bild bot. Die Katzen rannten quer durch den Stall – dahin, dorthin,<br />
dorthin, dahin. Und es dauerte einige Zeit, bis Lili, Katharina und<br />
Stefan erkannten, was da geschah: Einige der Katzen liefen zu den Kühen,<br />
saugten an deren Eutern und rannten dann mit einem Maul voller<br />
Milch zu dem kleinen Kälbchen, das der Großvater vor ein paar Stunden<br />
<strong>aus</strong> dem Dreck gehoben hatte, und fütterten es. Ein anderer Teil der<br />
Katzen suchten im Dreck des Stalls nach halbwegs trockenem Heu und<br />
Stroh und schleppten es auch zum Kälbchen. Immer wieder schleckten<br />
die Katzen über dessen Rücken und Flanken. Als würden sie ihm Kraft<br />
einhauchen, Lebensmut spenden.<br />
Fasziniert schauten Katharina, Stefan und Lili zu. „Deshalb bist du<br />
losgerannt, Lotti“, meinte Katharina fast tonlos, dies mehr für sich sagend<br />
denn für die anderen. „Die Katzen haben gespürt, dass das Kälbchen<br />
Hilfe braucht“, fielen Stefan die Worte ebenfalls kaum hörbar <strong>aus</strong><br />
dem Mund.<br />
„Ja, ja!“, meinte Lili. „Manche Menschen könnten sich an den Tieren<br />
ein Vorbild nehmen.“<br />
Eine Zeit lang folgten sie stumm dem Geschehen. Dann schlug Stefan<br />
vor, die Kühe loszubinden und die Schweineställe zu öffnen. „Wartet<br />
noch!“, rief Lili, weil sie zuerst den Huberbauern vom Hof locken wollte.<br />
Würde der von den <strong>aus</strong>brechenden Tieren geweckt, würde er gleich<br />
mit Peitsche und Besen zur Stelle sein und nicht nur die Tiere verprügeln<br />
und gleich wieder einsperren. Er würde auch auf sie losgehen und<br />
bei der Polizei anzeigen. Sie hätte auch schon eine Idee, sagte Lili und<br />
erklärte diese in aller Kürze. Dann verließ sie den Stall und ging zum<br />
24
Wohnh<strong>aus</strong> des Gehöfts. Stefan und Katharina stellten sich links und<br />
rechts des Stalltors auf, sodass sie von außen nicht gesehen werden, sie<br />
aber der alten Frau zuschauen konnten.<br />
Lili stellte sich ans Fenster, durch das sie zuvor geblickt hatte, und<br />
klopfte gegen die Scheibe, mehrmals und ziemlich heftig. Weil sich<br />
nichts rührte, begann sie auch noch zu schreien: „He! Huberbauer! Hallo!<br />
He!“<br />
Nach einiger Zeit wurde das Fenster aufgerissen, der Huberbauer<br />
reckte den Kopf ins Freie. Wieder standen ihm die Haare hoch zu Berge.<br />
Die Augen konnte er kaum offenhalten. Er gähnte heftig, ohne sich dabei<br />
die Hand vor den Mund zu halten. und präsentierte so ein riesiges<br />
dunkles Loch mit zwei braungrauen Zähnen. Was sie denn wolle, die<br />
Alte, fragte er unwirsch. Gleichzeitig setzte er die Flasche, die er in der<br />
Hand hielt an den Mund und nahm einen kräftigen Schluck.<br />
Lili fragte, ob der mächtige Nussbaum weit vorn an der Straße, ob<br />
der noch auf dem Grund des Huberhofs stehe.<br />
„Sicher“, prahlte der Bauer, „soweit das Auge reicht, gehört alles mir.<br />
Alles! Verstehst, Alte?“<br />
Aber sicher nicht mehr lang, wenn du so weiter säufst, dachte Lili.<br />
„Dann gehört die Kiste Schnaps, die unterm Baum steht, bestimmt dir.<br />
Oder kann ich sie behalten, weil ich sie gefunden habe?“<br />
Der Huberbauer spuckte den Schluck, den er gerade genommen<br />
hatte, in weitem Bogen <strong>aus</strong>. Lili konnte gerade noch <strong>aus</strong>weichen. „Was<br />
sagst du da? Eine Kiste Schnaps?“ Sein Mund stand offen. Er kratzte<br />
sich am Kopf und schien angestrengt nachzudenken. Wie wohl die Kiste<br />
Schnaps unter den Nussbaum auf seinem Grund und Boden gekommen<br />
war, dürfte er sich gefragt haben.<br />
„Also, darf ich sie behalten, die Kiste?“<br />
„Moment! Moment! Moment! Wart, ich komm’ gleich r<strong>aus</strong>!“ Der<br />
Bauer verschwand vom Fenster. Lili drehte sich zum Stall hin und zeigte<br />
mit dem Daumen nach oben. Gleich darauf stolperte der Huberbauer<br />
<strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong>. In einen alten, dreckigen Morgenmantel gehüllt und<br />
Gummistiefel an den Füßen ging er auf die alte Frau zu und forderte sie<br />
auf, loszugehen und ihm zu zeigen, wo sie den Fund gemacht hatte. Dabei<br />
hielt er Lili die Flasche unter die Nase und bot ihr einen Schluck an.<br />
Lili lehnte dankend ab. „Also, los!“, befahl der Huberbauer und marschierte<br />
voran.<br />
25
Wie <strong>aus</strong>gemacht, warteten Katharina und Stefan etwa fünf Minuten.<br />
Weil sie keine Uhr bei sich hatten, begann Stefan zu zählen. Bei<br />
fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig … erklärte er<br />
seiner Schwester, die ihn verständnislos ansah, dass er für fünf Minuten<br />
langsam bis ungefähr dreihundert zählen müsse. „Zwei-hundertacht-und-neunzig,<br />
zwei-hundert-neun-und-neunzig, drei-hundert“,<br />
zählte Stefan – und: „Los geht’s!“ Die beiden liefen zum anderen Ende<br />
des Stalls, wo sich die Katzen um das Kälbchen kümmerten, es schleckten<br />
und leckten. „Zuerst die Kühe!“, rief Stefan. Gemeinsam begannen<br />
die beiden eine Kuh nach der anderen von den Ketten, mit denen sie an<br />
der Stallwand festgebunden waren, zu befreien. Einige Kühe machten<br />
sich auf den Weg in den Sonnenschein im Freien. Andere blieben im<br />
Stall stehen, weil sie offenbar zu schwach waren. Stefan schickte seine<br />
Schwester ins Freie, frischen Klee und frisches Gras für die geschwächten<br />
Kühe zu holen. Eine von den Kühen stolperte auf das Kälbchen zu<br />
und begann dieses mit ihrer riesigen Zunge abzuschlecken – so lang, bis<br />
es sich mühevoll erhob und zittrig auf den eigenen Beinen stand.<br />
„Das ist sicher die Mutter“, meinte Katharina, die ihre Jacke <strong>aus</strong>gezogen<br />
und mit Gras und Klee gefüllt hatte. Sie fütterte das Kalb und die<br />
im Stall verbliebenen Kühe, gemeinsam mit Stefan dirigierte sie diese –<br />
mit leichtem Nachdruck, aber höchst liebevoll – ins Freie. Dann öffnete<br />
Stefan den Schweinestall. Nach und nach torkelten die Tiere durch den<br />
Stall Richtung Hof. Grau, ja schwarz vor Dreck waren die meisten. Und<br />
manch ein Schwein brach auf dem Weg ins Freie zusammen; Stefan und<br />
Katharina mussten all Kraft aufbieten, die Tiere wieder auf die Beine zu<br />
bekommen.<br />
In der Zwischenzeit waren Lili und der Huberbauer fast schon beim<br />
Nussbaum angelangt. Auf dem Weg dorthin hatten die beiden nicht viel<br />
miteinander geredet. Lili hatte versucht, wenigsten vier, fünf Meter vor<br />
dem Huberbauer zu gehen, weil sie den Gestank nicht <strong>aus</strong>hielt, der <strong>aus</strong><br />
seinem Morgenmantel, seinem Haar, seinem Mund quoll, der mehr einem<br />
Maul glich. Der Bauer sprach mehr mit sich selbst denn mit der<br />
alten Frau. „Eine Kiste Schnaps! Eine Kiste mit zwölf, mit vierundzwanzig<br />
oder gar mit sechsunddreißig Flaschen? Slibowitz? Apfel? Birne?“<br />
Als Lili beim Nussbaum ankam, warf sie die Hände gegen den Himmel<br />
und begann zu jammern. „Oh, mein Gott! Weg! Gestohlen! Diebe,<br />
Gauner! Polizei!“ Trotz des Drecks in dessen Gesicht hätte man sehen<br />
26
können, wie der Huberbauer blass wurde. „Wo? Wo war sie denn, die<br />
Kiste?“, wollte er nach einer Schreckminute wissen. – „Hier! Genau<br />
hier!“ Lili zeigte unter den Nussbaum. „Hier! Und jetzt ist sie weg! Gestohlen!<br />
Irgendwer muss sie gestohlen haben, Huberbauer. Da muss die<br />
Polizei her!“<br />
Zutiefst geschockt tat der Bauer wieder einen anständigen Schluck<br />
<strong>aus</strong> der Flasche, während ihm die alte Frau klarmachte, dass das so<br />
nicht gehe, dass das eine Frechheit sei, dass man einen so ehrenwerten<br />
Mann wie den Huberbauern doch nicht bestehlen dürfe und dass da<br />
die Polizei einschreiten müsse. Als die Flasche des so Bedauernswerten<br />
leer war und trotz mehrerer Versuche nichts mehr hergab, meinte er:<br />
„Richtig! Wahre Worte, Frau! Sehr wahre Worte! Da gehört die Polizei<br />
her!“ Er machte kehrt und torkelte heimwärts zu, um die Polizei zu<br />
verständigen.<br />
Nachdem Stefan und Katharina die befreiten Tiere in alle Himmelsrichtungen<br />
gedrängt hatten, vor allem dorthin, wo die Wiesen grün und<br />
saftig waren, und in jene Richtung, wo bald mal ein Bauernh<strong>aus</strong> zu sehen<br />
war, gingen sie – wie mit Lili vereinbart – über die Felder zu Lilis<br />
H<strong>aus</strong>, um dem Huberbauer nicht zu begegnen.<br />
Lili marschierte auf der Straße zu ihrem H<strong>aus</strong>; und der Huberbauer<br />
war unterwegs zurück zu seinem Hof – mit einer ordentlichen Wut im<br />
Bauch und dem Ziel, den Diebstahl seiner Schnapskiste bei der Polizei<br />
anzuzeigen, die Diebe zur Strecke und den Schnaps in seinen Besitz zu<br />
bringen. Er wunderte sich, dass ihm auf dem Weg eine ziemlich abgemagerte,<br />
total verdreckte Kuh entgegenkam. Er dachte sich aber weiter<br />
nichts dabei, weil er mit seinen Gedanken zu sehr beim Schnaps und<br />
der Frage, ob Apfel oder Birne oder Mischbrand, war. Erst als ihm –<br />
schon fast auf der Höhe seines Hofs – einige Schweine über den Weg<br />
liefen, war ihm die Sache nicht mehr geheuer. Und als er die offene<br />
Stalltür sah und kein Muhen und Quieken zu vernehmen war, ertönte<br />
ein Schrei, den man kilometerweit hörte und der den Menschen in der<br />
näheren Umgebung durch Mark und Bein fuhr. Selbst Katharina und<br />
Stefan und Lili, die in der Zwischenzeit in Lilis Küche saßen, hoben<br />
den Kopf und nahmen – obwohl die H<strong>aus</strong>tür verschlossen war – diesen<br />
ungeheuerlichen Schrei wahr. „Der Huberbauer scheint auch zu H<strong>aus</strong>e<br />
angekommen zu sein“, meinte Lili trocken und goss Milch in zwei grö-<br />
27
ßere Schüsselchen, die sie für Lotti und die zehn anderen Katzen auf<br />
den Fußboden stellte.<br />
•<br />
Der Huberbauer war logischerweise fuchsteufelswild. Nicht nur,<br />
dass ihm eine ganze Kiste Schnaps, die auf wundersame Weise unter<br />
seinem Nussbaum zum Vorschein gelangt und gestohlen worden war.<br />
Da waren auch sämtliche Tiere <strong>aus</strong> dem Stall entflohen. Das waren sicher<br />
dieser komische Großvater von den zwei Fratzen und der vertrottelte<br />
Vogel vom Tierschutzverein, die in den frühen Morgenstunden bei<br />
ihm eingebrochen waren! „Die blöden Polizisten, die haben die beiden<br />
sicher wieder laufen lassen“, murmelte er in seinen dreckigen Bart. „Die<br />
wird mich kennen lernen, die Bagage!“<br />
Er wankte zum halbverfallenen Schuppen, stieg auf den alten Traktor,<br />
startete ihn und ratterte los. Eine ganze Stunde dauerte es, bis er in<br />
der Stadt ankam. Die Menschen staunten nicht schlecht, als der alte, dreckige,<br />
stinkende Traktor vor der Polizeidienststelle anhielt. Und noch<br />
mehr staunten sie, als ein verwahrloster Mann in einem schmutzigen<br />
Morgenmantel und in Gummistiefeln, die Haare zu Berge stehend, vom<br />
Traktor stieg und fluchend und schimpfend und offensichtlich betrunken<br />
in die Polizeistube wankte. „Wo ist euer Chef!“, rief der Huberbauer.<br />
„Ich will mit eurem Boss reden, aber schnell! Was ist?“, krakeelte er.<br />
Dabei stampfte er auf den Boden, dass der Dreck von den Stiefeln fiel.<br />
„Ja, Kreuzteufel noch einmal!“ und „Himmel, Arsch und Friedrich!“,<br />
brüllte er weiter, weil die Polizistin und der Polizist, die hinter ihren<br />
Schreibtischen saßen, ihn – den Mann im Morgenmantel, mit Gummistiefeln<br />
und zu Berge stehendem Haar – verständnislos anstarrten und<br />
dann auf den Dreck am Boden blickten.<br />
Auf das Geschrei des Huberbauern kam durch eine der Türen der<br />
Polizist, der in aller Herrgottsfrüh am Hof des Bauer gewesen war, als<br />
Oberster der vier Polizisten. „Endlich!“, rief der Huberbauer. „Wieso<br />
habt’s ihr Trottel den Alten, den Großvater von den Kindern, und diesen<br />
Deppen vom Tierschutzverein wieder laufen lassen? Diese Saubeutel<br />
haben mir vor einer Stunde eine Kiste Schnaps gestohlen und die Tiere<br />
vom Hof getrieben. Das zeig’ ich an und fordere Schadenersatz – und<br />
wenn ich bis zum Obersten Gerichtshof um mein gutes Recht kämpfen<br />
28
muss! Ihr alle werdet mich noch kennenlernen. Was seid ihr nur für<br />
Lahmärsche?!“ Sicher hätt’ er noch fünf Minuten weitergeschimpft, der<br />
Huberbauer. Aber der Polizist ließ es nicht so weit kommen.<br />
„Jetzt halt endlich den Mund!“, schrie er den Huberbauern mit voller<br />
Lautstärke an. Der erstarrte zur Salzsäule, so heftig trafen ihn die fünf<br />
Wörter. Auch die Polizistin und der Polizist schauten ziemlich belämmert<br />
drein; so hatten sie ihren Chef noch nie erlebt. Der Oberpolizist<br />
öffnete die Tür zum Zimmer, <strong>aus</strong> dem er zuvor gekommen war und<br />
sagte in den Raum: „Kommt mal r<strong>aus</strong>, ihr zwei!“ Der Huberbauer, noch<br />
immer zur Salzsäule erstarrt, öffnete, als würde er Geister erblicken,<br />
langsam den Mund, als der alte Mann von gestern und der Mann vom<br />
Tierschutzverein <strong>aus</strong> dem Zimmer kamen. Mit offenem Mund stand er<br />
da, der Huberbauer, und präsentierte seine beiden Zahnstummel.<br />
„Mund zu!“, befahl der Oberpolizist. „Du stinkst!“<br />
Der Huberbauer schüttelte den Kopf, schloss den Mund und fuhr<br />
sich mit den Händen über die Augen. „Das … das gibt’s doch nicht!“,<br />
sagte er. „Das … das ist doch nicht möglich …“<br />
„… dass ihr vorhin, als wir euch verhört und das Protokoll verfasst<br />
haben, dass ihr zur selben Zeit dem Huberbauern eine Kiste Schnaps<br />
gestohlen und die Tiere von seinem Hof geklaut habt“, lachte der Oberpolizist.<br />
Der Otto-Opa und Herr Gruber, der Tierschützerchef, schauten<br />
einander an, dachten kurz über das Gehörte nach und begannen<br />
schließlich auch zu lachen. Selbst die Polizistin und der Polizist an den<br />
Schreibtischen konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.<br />
„Während wir hier bei euch waren, da sollen wir gleichzeitig den<br />
Huberbauer beklaut haben?“, fragte der Großvater.<br />
„Wir sollen also zur selben Zeit hier und auch drüben bei dir, Huberbauer,<br />
gewesen sein?“, fuhr der Tierschutzmann fort. „Als Geister,<br />
sozusagen?“, lachten sie. „Als Geklonte?“<br />
Dem Huberbauern war gar nicht zum Lachen zumute. Krampfhaft<br />
dachte er nach, ließ die letzten Stunden vor seinem Auge ablaufen. Dass<br />
die beiden, wenn sie seit heute früh in der Polizeistube … dass sie dann<br />
doch unmöglich … wie kam aber dann der Schnaps weg … und die Tiere<br />
… Hatte er sich das alles vielleicht nur eingebildet?<br />
„Was ist jetzt, Huberbauer? Willst eine Anzeige gegen die beiden machen?<br />
Wegen Diebstahl von Schnaps und Vieh?“, fragte der Oberpolizist<br />
und grinste.<br />
29
„Nana“, lallte der Huber geistesabwesend. „Nana“, wiederholte er<br />
fast sprachlos. Er schien plötzlich verwirrt, war gar nicht mehr laut und<br />
polternd wie kurz zuvor. Ohne ein weiteres Wort, den Mund halb offen,<br />
die Augen weit in die Ferne gerichtet, taumelte er wie ein Nachtwandler<br />
<strong>aus</strong> der Polizeistube. Ein paar Minuten saß er auf seinem Traktor, und<br />
mancher Vorbeikommende wunderte sich wahrscheinlich über den verwahrlosten<br />
Mann, der mit offenem Mund auf dem Gefährt saß, stumm<br />
die Lippen bewegte und still vor sich hinmurmelte.<br />
Schließlich wackelte der Huberbauer zurück in die Polizeistube,<br />
stellte sich vor den Oberpolizisten und sagte: „Keinen Tropfen Alkohol<br />
mehr! Nie mehr! Versprochen!“ Dabei hob er drei Finger der rechten<br />
Hand zum Schwur. „Beim Gedenken an meine Selige! Ich schwör’s!“<br />
Dann schaute er den alten Mann, den Großvater, und den Mann vom<br />
Tierschutzverein an: „Verzeihung! Tut mir leid!“<br />
Eine Stunde später traf der Großvater bei Lili ein, vom Oberpolizisten<br />
persönlich dorthin chauffiert. „Opa!“, liefen ihm Stefan und Katharina<br />
entgegen. Hinter den beiden eine Schar von Katzen und Lili, die<br />
alte Frau. In der Küche, in der im Herd noch immer Feuer prasselte,<br />
musste man bei jedem Schritt vorsichtig sein, damit man nicht einer der<br />
Katzen aufs Fell stieg. Die Kinder und Lili erzählten dem Großvater,<br />
was zuletzt alles passiert war. Wie die Katzen sie zum Huberhof geführt<br />
hatten, um das Kälbchen zu retten. Wie Lili den Huberbauern vom Hof<br />
gelockt hatte. Wie Stefan und Katharina die Kühe und Schweine befreit<br />
hatten.<br />
Der Großvater lächelte: „Ah! Jetzt versteh’ ich!“ Und er erzählte, wie<br />
zuvor der Huberbauer zur Polizeidienststelle gekommen und was alles<br />
passiert war. Und dass der Huberbauer schließlich versprochen hatte,<br />
keinen Tropfen Alkohol mehr zu trinken. Nie mehr!<br />
•<br />
Und tatsächlich!<br />
Von dem Tag an, von der Stund’ an, war der Huberbauer trocken!<br />
Und blieb es!<br />
Er begann seine Wohnung zu putzen, den Hof zu säubern.<br />
Hin und wieder schaute Lili, die gutmütige alte Frau, vorbei und half<br />
ihm da und dort.<br />
30
Hin und wieder kamen auch der Großvater und die beiden Kinder<br />
auf Fahrrädern vorbei, das Kätzchen Lotti in Katharinas Körbchen.<br />
Auch sie griffen zu, halfen mit, wo sie konnten.<br />
Und eines Tages schafften sie sogar, den Huberbauer soweit zu bringen,<br />
dass er in die Stadt fuhr und sich Zähne, ein neues Gebiss, machen<br />
ließ.<br />
31
32