05.10.2020 Aufrufe

Wahres , Schnurren , Anekdoten , alles nur Theater

Der alles auf den Punkt bringt Wir schlagen Michael Beckers fünftes Buch auf. Ein neues „Vorhang auf” für die zweite Bühne, die der großartige Schauspieler seit anderthalb Jahrzehnten wählt, um sich zu artikulieren. Auf der ersten hat er über 200 Rollen gespielt, Menschen verkörpert, die nicht immer seiner Weltanschauung, seinen Idealen entsprachen.

Der alles auf den Punkt bringt
Wir schlagen Michael Beckers fünftes Buch auf. Ein neues „Vorhang auf” für die zweite Bühne, die der großartige Schauspieler seit anderthalb Jahrzehnten wählt, um sich zu artikulieren. Auf der ersten hat er über 200 Rollen gespielt, Menschen verkörpert, die nicht immer seiner Weltanschauung, seinen Idealen entsprachen.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Michael Becker

Wahres ,

Schnurren ,

Anekdoten ,

alles nur Theater

Illustrationen von Meinhard Bärmich




Michael Becker

Wahres , Schnurren , Anekdoten ,

alles nur Theater


Der alles auf den Punkt bringt

Wir schlagen Michael Beckers fünftes Buch auf. Ein

neues „Vorhang auf” für die zweite Bühne, die der

großartige Schauspieler seit anderthalb Jahrzehnten

wählt, um sich zu artikulieren. Auf der ersten hat er

über 200 Rollen gespielt, Menschen verkörpert, die

nicht immer seiner Weltanschauung, seinen Idealen

entsprachen. Er hat sie, „positive” oder „negative” Helden,

immer bis zur Erschöpfung, mit Hingabe, Empathie

und Originalität gezeichnet, porträtiert, auf den

Punkt gebracht. Etwas auf den Punkt zu bringen - das

ist wohl seine Art. So Stellung zu beziehen und Haltung

einzunehmen, dass ein jeder weiß, woran er mit

ihm ist. Einer, der die Gerechtigkeit liebt, besonders

die soziale; einer, dem Antisemitismus, Rassismus,

Chauvinismus zutiefst zuwider sind. Und er bringt

es auf den Punkt: „Es ist der ganze geldgierige und

menschenverachtende Kapitalismus, der die Menschheit

aufzufressen droht.” Michael Becker schreibt, wie

sein Charakter ist, ehrlich, direkt, geradeaus. Welches

Genre wäre dafür besser geeignet als die Anekdote,

die Schnurre, die genau auf das Ziel, die Pointe, zusteuern.

Wo die Geschichte nur lustig ist und keine

Pointe aufweist, da schließt sie Becker mit seiner aufhellenden

Meinung ab. Zwei Dinge fallen auf: Wir erfahren

etwas über sehr bekannte Künstler und er wirft

zuweilen auf sympathische Weise ein ironisches Licht

auch auf sich selbst. Bringen wir jetzt selbst mal etwas

auf den Punkt. Was für ein Mensch! Was für ein

Schauspieler! Was für ein Schreiber! Nein, machen

wir einen großen Punkt: Schriftsteller.

Klaus Wilke, Cottbus, 2017


Wahres ,

Schnurren ,

Anekdoten ,

alles nur Theater

Michael Becker - Autor

Meinhard Bärmich - Grak



ausmachen

Im Fernsehen lief die Aufzeichnung der „Umsiedlerin“

von Heiner Müller. Ich spielte mit. Da meine

Mutter mich nie im Cottbuser Theater gesehen hatte,

freute ich mich, dass sie nun bereit war, sich die Fernsehaufzeichnung

der Inszenierung mit mir gemeinsam

anzuschauen. Nach wenigen Minuten kündigte sie

ihre Bereitschaft mit den Worten: „Woll’n wir doch

ausmachen und ins Bett gehen, die sind so laut.“

hängen

Ich erfreute meine Kollegen auf den Theaterproben

immer wieder mit dem Satz: „Wenn ich nicht presse,

hauch’ ich. Wenn ich nicht hauche, drück’ ich. Wenn

ich nicht drücke, häng’ ich.“ Sobald ein Schauspieler

nicht weiter weiß, seinen Text vergessen hat, also

stockt, sagt man, er hängt, ist hängen geblieben.

nachlassen

Wenn eine Probe wieder mal gar nicht lief, durch welche

Umstände auch immer ins Stocken geriet, sagte

der Kollege Gottfried G.: „Natürlich arbeiten wir wieder

nach der Methode: schwach anfangen und dann ganz

stark nachlassen.“

8


9


sterben

In dem Stück „Cyrano de Bergerac“ lag ich als Christian

auf der Vorbühne, ganz nah beim Publikum, und

sollte sterben. Im Hintergrund Schlachtgeräusche,

Kanonenschüsse, Pulverdampf. Über mich gebeugt

Roxane, den entscheidenden, alles aufklärenden Brief

Cyranos in meiner Brusttasche ndend. Ich bäumte

mich mit letzter Kraft auf und entspannte dann meinen

Körper, sackte in mich zusammen. Ich war tot. So

spielt man Sterben. Dabei enteuchte mir ein Furz,

ein hörbarer. Die Darstellerin der Roxane erstarrte,

eisige Stille im Publikum, dann ein erlösendes, krachendes

Gelächter. Roxane las unter Tränen den

Brief. Ich schüttelte mich beim Versuch, mein Lachen

zu unterdrücken. Die Bühnentechnik hüllte uns in

Nebel aus der Nebelmaschine, um die Peinlichkeit

zu kaschieren. Aber der Nebel kurz nach dem Furz

veranlasste das Publikum erneut zu Lachstürmen.

Der Vorhang musste fallen. Er hätte es an dieser Stelle

aber auch sowieso getan.

spielen

Eine olle Kamelle, die man aber immer wieder erlebt.

Schauspieler sitzen während einer Vorstellung in der

Theaterkantine und unterhalten sich. Plötzlich fragt

einer, ob die Kollegen auf der Bühne schon spielen

10


würden. Ein Kollege stellt den Lautsprecher, der den

Verlauf des Spiels auf der Bühne akustisch wiedergibt,

lauter. Alle konzentrieren sich für einen Augenblick

auf den Lautsprecher. Dann: „Sie spielen. Sie sprechen

schon unnatürlich.“

springen

Der Inspizient, der den gesamten Ablauf hinter der

Bühne regelt und in sämtlichen Lokalitäten bis hin

zu den Toiletten des Bühnenhauses zu hören ist, ruft

durch den Lautsprecher: „Herr Becker, bitte zur Bühne.“

Sekunden später: „Bitte sofort kommen!“ Kurz danach:

„Mensch, wo bist du denn? Komm jetzt!!!“

Einen Augenblick darauf: „Kannst’ in der Kantine

bleiben, die Kollegen sind gesprungen.“ Gesprungen

heißt am Theater, man ist im Text ohne den fehlenden

Schauspieler weiter gegangen.

handlungsunfähig

Das Handy war erst kurz auf dem Markt. Ich konnte

noch nicht richtig damit umgehen. Wir saßen im berühmten

Züricher Schauspielhaus in der Generalprobe

eines Stückes über die Russenmaa in der Schweiz.

Plötzlich klingelte ein Handy im Zuschauerraum,

mein Handy. Alles drehte sich empört zu mir um.

11


Ich versuchte vergebens im Dunkeln mein Handy abzustellen.

Ich war vor Aufregung handlungsunfähig

und drückte wahllos auf allen möglichen Knöpfen des

Handys herum. Der Zufall ließ es endlich schweigen.

Ich hätte in den Boden versinken wollen. Ausgerechnet

hier, wo die große Therese Giese, Gustav Knuth

und der berühmte Wolfgang Heinz einmal wirkten

und dann sowas… Seitdem ging ich nie wieder mit

meinem Handy in eine Theatervorstellung.

du nicht

Der Regisseur Alejandro Quintana machte nach einer

Probe in der Kantine Kritik mit dem Ensemble. „Ihr

dürft alle ruhig etwas mehr chargieren, Kollegen.“

„Du nicht“, setzte er energisch nach. „Du nicht, Lothar!!!“

Lothar war ein Schauspieler, von dem es hieß, er sei

zu lange am Dessauer Theater engagiert gewesen.

Seine spezielle Spiel- und Sprechweise war eher für

Sportstadien geeignet als für eine Kammerbühne.

Das Dessauer Theater ist ein Riesenhaus mit 1200

Zuschauerplätzen.

improvisieren

Die Souffleuse Helga J. war in einer „Ruhe, wir stürzen

ab“-Vorstellung völlig entnervt. Die Schauspieler

12


Oliver B. und Siegfried W. improvisierten auf Teufel

komm raus. Das Publikum liebt sowas. Die Souffleuse

knallte schließlich ihr Soufflierbuch zu und sagte für

das Publikum gut vernehmbar: „So, jetzt sag ich gar

nichts mehr.“ Ein Riesenlacher, das Publikum raste,

tosender Applaus für die Souffleuse.

können

Die gleiche Souffleuse, eine andere Vorstellung. Ich

hing, hatte einen Generalhänger. Ich sah meine Souf-

euse ehend an. Sie blätterte hektisch in ihrem Souf-

ierbuch, hatte sie doch nur auf mein Spiel geachtet.

Ohne die Textstelle im Buch gefunden zu haben,

raunte sie mir schließlich völlig hilos zu: „Das hast

du doch immer gekonnt, Micha.“

text

Die Probe zu „Helena“ eskalierte. Der Schauspieler

W. D. L. unterbrach sein Spiel mit den Worten: „So

kann ich nicht arbeiten!“ Er wollte von der Souffleuse

kein Wort gesagt bekommen. Er könne schließlich seinen

Text, beharrte er. Das Gegenteil aber war der Fall.

Ständig hing er und fauchte die Souffleuse an: „Na,

gib’ schon. Text! Text!“ Die Souffleuse, die vor dem

Kollegen ob seiner Schikanen Angst hatte, brach in

13


Tränen aus. Sie bekam einen Heulkrampf und wurde

vom Regisseur von der Bühne geführt. Alle Darsteller

folgten dem Paar. Man musste mit dem Schlimmsten

rechnen. Nach der Pause kamen alle wieder zurück

auf die Bühne. Der Schauspieler und die Souffleuse

lagen sich in den Armen wie ein Liebespaar. Die Probe

ging weiter, als sei nichts geschehen.

stimmen

Bei einer Probe, kurz vor der Premiere, brannte mal

wieder die Luft. Die als hysterisch bekannte Darstellerin

der Helena befand sich schon in transzendenten

Sphären. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, keiner

wagte zu atmen, gleich würde sie abheben ins All.

Da unterbrach sie völlig unerwartet, wedelte mit den

Armen wie ein Kolibri und sagte immer wieder den

epochalen Satz: „Ich höre Stimmen, ich höre Stimmen,

ich höre Stimmen“. Der Regisseur unterbrach

die Probe. Alle gingen amüsiert in die Kantine.

briefträger

Im Dresdner Großen Haus lief „Minna von Barnhelm“.

Ich hatte als junger Schauspielstudent die Ehre, den

Feldjäger zu spielen, eine Übernahme. Eine Übernahme

ist, wenn man für einen erkrankten Kollegen

14


dessen Rolle kurzfristig übernimmt, für ihn einspringt.

Das sollte mein erster großer Auftritt in diesem

ehrwürdigen Theater werden, und das wurde er auch.

Der Regisseur K. D. K. probierte diesen Auftritt mit

mir auf der Probebühne 3. „Sie treten auf, machen

eine zackige Grußerweisung, Sie salutieren, Sie nehmen

aus der linken Stulpe Ihrer Uniform den Brief und

übergeben ihn an Tellheim.“ Am Abend der Vorstellung

saßen alle meine Mitstudenten im Publikum,

ohnehin war der Zuschauerraum in Dresden damals

immer ausverkauft. Ich stampfte in meiner Garderobe

und übte das Salutieren. Ich war wahnsinnig aufgeregt.

Letzter Blick in den Garderobenspiegel. Ich sah

fantastisch aus, Uniform, Dreispitz, ein wunderschöner

Feldjäger. Durchruf vom Lautsprecher. „Herr Becker

bitte zur Bühne!“ Ich stapfte los. Auftritt, Grußerweisung.

Ich salutierte, setzte den Dreispitz ab, stampfte

drei Mal, ngerte den Brief aus der Stulpe des linken

Ärmels und hielt ihn Tellheim unter die Nase. Ich

hatte aber keinen Brief in der Hand, spielte sozusagen

mit Luft, beziehungsweise mit vorgestelltem Gegenstand.

Tellheim erstarrte. Alle Anwesenden blickten

mich an, erstarrten ebenfalls. Der Brief, der Brief,

wo war der Brief? Ich hatte alles richtig gemacht.

Nur hatte ich vergessen, den betreffenden Brief, der

auf dem Requisitentisch lag, abzuholen und ihn mir

in die Stulpe zu stecken. Das hatte man mir nicht

15


gesagt. Woher sollte ich denn das auch wissen? Die

Zeit schien still zu stehen, die Welt hielt den Atem

an. Nacheinander gingen Tellheim, Minna, Franziska

und Just von der Bühne ab. Ich stand da, machte

das verabredete Salutieren für mich alleine und ging

völlig verdattert ab. Hinter der Bühne Riesengelächter.

Alles stürzte zum Requisitentisch und holte den

Brief. Die Darsteller traten wieder auf, die Geschichte

nahm ihren gewohnten Lauf. Ich hatte meinen allerersten

großen Theaterauftritt versaut. War das mein

Ende als Schauspieler? Nein! Das ganze Theater lachte

über den Briefträger ohne Brief. Ich war über Nacht

berühmt geworden. Der Darsteller des Tellheim J. Z.

erzählte die Anekdote sogar im Fernsehen. Ich hatte

Angst, dass nun die ganze Welt über mich lacht. Aber

ich bekam sofort eine weitere kleine Rolle bei dem

Regisseur K. D. K. Man glaubte, ich sei eine ganz aus

gekochte Nudel. Dabei war ich einfach nur ein kleiner,

unwissender, verunglückter Feldjäger.

moschno

Wir gastierten mit „Urfaust“ in Moskau. Ich fungierte

als Dolmetscher. Der Regisseur R. D. richtete die Vorstellung

ein. Nicht nur, dass wir uns nicht mehr einkriegten

darüber, dass alle Bühnentechniker während

des Aufbaus der Kulissen mit brennenden Zigaretten

16


über die Bühne, durchs ganze Theater liefen, nein, wir

wurden immer wieder erneut geschockt. In der Maske,

dem Raum, in welchem die Darsteller vor jeder Vorstellung

geschminkt werden, rauchte man ebenso. Auf

dem Beleuchterstand rauchte man selbstverständlich

auch. Doch eben dort vollzog sich für den Regisseur

und mich ein Wunder, ein Russisches Wunder. Eine

kleine, moppelige Frau im bunten Sommerkleid mit

Haarnetz auf dem Kopf, unter dem Lockenwickler

drapiert waren, entpuppte sich als das, was bei uns Beleuchtungsmeisterin

hieße. Sie nahm alle angesagten

Beleuchtungsstimmungen, Lichtwechsel, Blacks usw.

entgegen, ohne sich was aufzuschreiben. Natürlich

rauchte sie ebenfalls und nickte alle Ansagen ab: „Da,

charascho, moschno (Ja, gut, geht)“. Eine Katastrophe

war vorprogrammiert. Die Vorstellung begann. Außer

in der Maske wurde nun nirgends mehr geraucht, oh

Wunder. Unsere Beleuchtungsfee erschien im langen

Brokatkleid, Locken in voller Pracht, ohne Haarnetz,

knallrot geschminkte Lippen, riesige Ohrringe, eine

Wolke von Rosenparfüm der Marke Krasnaja Ploschtschadch

umschwebte sie. So begab sie sich auf ihren

Beleuchterstand, zwinkerte uns zu und rief: „Pajechali,

Ktschortu! (Auf geht’s! Toi toi toi!)“. Die Vorstellung

lief reibungslos. Alles stimmte. Ein einziges Wunder.

Ein Russisches Wunder.

17


18


wunder

In der „Urfaust“-Aufführung spielte ich in Auerbachs

Keller den Siebel und Gretchens Bruder Valentin. Da

wir in Moskau gastierten und ich als einziger richtig

Russisch konnte, hatte ich mir als freundliche Geste

ausgedacht, einen Fluch Valentins auf Russisch zu

sprechen. Das tat ich auch und sagte zum Schluss des

Monologs: „Jolki, Seljonie!“ (Das bedeutet so viel wie,

Grüne Neune!) Das Publikum klatschte frenetisch,

die Geste kam an. Meine Kollegen waren natürlich

irritiert. Dann Schlussapplaus, wir wurden mit Blumen

überschüttet, ein weiteres Russisches Wunder.

hände

Im „Sommernachtstraum“ von Shakespeare am

Dresdner Staatstheater spielte ich einen Elf, den Senfsamen.

Regie führte K. D. K. Der Kostümbildner

hatte schottische Gnome im Kopf, als er die Elfen in

Ganzkörpertrikots steckte. Nur die Hände und die

Gesichter waren von Stoff unbedeckt. Wir waren über

und über mit Wurzeln, Blättern und Rinde, alles aus

gestaltetem Schaumgummi überzogen, wurden zu

Waldgnomen in Grün, Braun und Schwarz. Die Gesichter

und Hände waren entsprechend geschminkt.

Meine Großmutter und meine Eltern besuchten eine

Vorstellung. Mein Vater war zum ersten und gleich-

19


zeitig letzten Mal im Theater. Oma, die auch noch

nie im Theater war, arbeitete sich in der Pause bis zur

Künstlerkantine durch. Wie sie das geschafft hat, frage

ich mich bis heute. Sie ging auf den Schauspieler, der

den Theseus und gleichzeitig den Oberon gespielt hatte,

wie ich es später einmal am Bautzener Theater und

danach am Staatstheater Cottbus tat, zu und sagte:

„Sie hab ich schon im Fernseher gesehen! Da ham ’se

gesungen. Een Milchmann. Und der Michael ist mein

Enkelsohn.“ Der Schauspieler W. D. war sehr amüsiert

und erzählte es mir später einmal. Als ich meine

Eltern nach der Vorstellung fragte, wie sie sie fanden,

meinten sie, dass sie nichts verstanden hätten von der

Handlung. Aber eines hätte sie doch gefreut. Sie hätten

mich sofort auf der Bühne erkannt. An meinen

Händen. Ich liebte meine Eltern in diesem Augenblick.

augen

Als ich am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau

engagiert war, meinem ersten Engagement, trieb ich

noch Leistungssport und trainierte regelmäßig im

Zittauer Stadion. Beim Versuch im Hochsprung von

Schere auf Fosbury Flop zu wechseln, riss meine rechte

Achillessehne und ich wurde im Zittauer Krankenhaus

operiert. Ich lag schon im Vorbereitungsraum

20


vor dem OP auf einer Bahre, war völlig abgedeckt mit

diesen grünen OP-Tüchern, auf dem Kopf eine Haube,

nur meine Augen waren noch zu sehen. Da beugte

sich eine OP-Schwester über mich, wie einst Roxane

sich über Christian beugte. Sie war ganz in Grün mit

Haube und Mundschutz, sodass ich ebenfalls nur ihre

Augen sehen konnte. Sie schaute mich an und fragte:

„Sind Sie der Murieta?“ Ich hauchte benebelt: „Jaaa...“.

Dann wurde ich von ihr in den OP geschoben. Zwei

Jahre vor diesem Ereignis spielte ich unter der Regie

von H. F. am Dresdner Schauspielhaus diesen Murieta.

Ich tanzte eine Quecka, den chilenischen Nationaltanz,

der von dem berühmten Choreografen Patricio

Bunster choreograert worden war. Die OP-Schwester

hatte mich tatsächlich nur an meinen Augen wiedererkannt.

Das war ein schöner Augenblick, oder wie

Manne Krug sang: „Es war nur ein Moment, als ich

in deine Augen sah...“

theaterleute

Der beliebte Schauspieler Uwe M. war, wie es nicht

selten passiert, zu früh an sich, der Welt und dem

Theater verzweifelt, weswegen er immer mehr trank

und starb. Bei seiner Beerdigung standen viele Kollegen

am Grab und trauerten um ihn. Aus der noch

offenen Grube, in die er soeben gefahren war, sprang

21


plötzlich eine Maus. Sie rettete ihr Leben, rannte um

selbiges quer durch die Trauergäste in ein Gebüsch

hinein. Bewegung ging durch die Menge. Lachen

oder weinen war hier die Frage. Eine Freundin des

Toten rief auf die Stelle deutend, an der die Maus

verschwunden war: „Seht mal, das war Uwe! Uwes

Geist!“ Gelächter. Theaterleute. Uwe hätte sich gefreut

und mitgelacht!

irgendwas

In dem Stück „Gäste“ von Oliver Bukowski sagt die

Mutter der Braut am Hochzeitstisch zu ihrer Tochter,

die man aufgefordert hatte, ein paar Worte an den

Bräutigam zu richten: „Wenn dir nichts einfällt, sag

irgendwas auf. Irgendetwas. Meinetwegen ein Weihnachtsgedicht!“

Dieser Text wird, seit wir das Stück

gespielt haben, immer wieder mal bemüht. Sobald ein

Kollege sich schweißtriefend vor Angst im ernstesten

Klassiker vom Zuschauer abwendet und einem Mitspieler

zuüstert: „Ich hänge. Was muss ich sagen?“,

kann es passieren, dass dieser bösartige Kollege antwortet:

„Siehe Bukowski.“ Bei einer solchen oder

einer ähnlichen Gelegenheit mag der Theaterspruch

entstanden sein „Nur ein toter Kollege ist ein guter

Kollege.“

22


23


willi

Die Schauspielerin Usch S. erzählte, dass bei der Beerdigung

des Bühnentechnikers Willi Biese zwei fürchterliche

Dinge passierten. Eine alte Souffleuse stand

am offenen Grab von Willi und warf vor Aufregung

statt des mitgebrachten Sträußchens ihren Regenschirm

auf den Sarg. Die Trauergäste, fast nur Theaterleute,

konnten sich das Lachen nicht verkneifen. Ein

beherzter Kollege versuchte den Schirm aus der Grube

zu angeln, es gelang ihm, aber das Gelächter wurde

noch größer. Als der Redner dann verkündete, dass

Willi vielleicht einmal als Blümchen auf die Erde

zurückkäme, war es ganz aus. Willi liebte vor allem

Bierblumen. Seit dieser Beerdigung und bei allen

folgenden Beerdigungen in Künstlerkreisen dachten

viele immer an diesen Spruch: „Siehst du ein Blümchen

auf der Wiese, nimm’s als ’nen Gruß von Willi

Biese.“ Theaterleute sind schrecklich!

alter trick

Neulich passierte es mir leider wieder mal, dass ich in

einem Stück, in dem ich eigentlich immer textsicher

war, plötzlich nicht mehr wusste, was ich sagen sollte.

Ich hatte einen Hänger. Es entstand eine kleine Pause,

die Souffleuse raunte mir den Satz deutlich vernehmbar

zu. Ich dachte: „Nun sage ich ihn auch nicht mehr.

24


Das fällt noch mehr auf.“ Die Pause war für den Zuschauer

deutlich zu lang, eben ein Hänger. Da ging

ein lieber Kollege mit seinem Text weiter. Ich schaute

ihn vorwurfsvoll an. Er hatte die Situation gerettet.

Aber ich wette, dass alle Zuschauer gedacht haben,

dass der Kollege den Hänger gehabt hat. Alter Trick.

Was ganz Gemeines.

arschloch

In „Lügenmaul“ von Goldoni stand ich bei Rosel,

meiner Lieblingsinspizientin. Sie ist wie ich an einem

14. Mai geboren. Wir quatschten. Ich sah auf die Szene

und sagte: „Da hängt einer!“ „Nee“, sagte Rosel, „Du

spielst schon! Du wärst jetzt dran gewesen“. Meine

Partnerin trippelte von der Bühne ab zum Inspizientenpult

auf mich zu, nahm mir die Hutschachtel ab,

die ich ihr hätte bringen sollen und zischte: „Arschloch!“

Sie trippelte schnurstracks auf die Szene zurück,

spielte ohne mich weiter und sagte: „Aaah, da

kommt ja mein Hut zu mir!“. Lacher im Publikum.

Dann wollte ich noch auftreten, doch Rosel hielt mich

zurück: „Jetzt bleibste hier. Sie haben dich übersprungen.“

Sie waren in der Handlung ohne mich weiter

gegangen. Rosel und ich setzten unser Gespräch fort,

gleich war Pause.

25


locken

In „Cyrano de Bergerac“ spielte ich den schönen

Christian, in den Roxane verliebt ist. Eigentlich liebt

sie aber die Seele und den Geist Cyranos in der Hülle

des schönen Christian. Ich sah sehr gut aus, war wie

ein Musketier angezogen. Weißer Spitzenkragen, lange

blonde Locken unterm Federhut, lange Lederstiefel,

große Stulpen an den Ärmeln, ebenfalls aus Spitze.

Alles Spitze. Im Publikum waren vor allem weibliche

Teenies stets begeistert von diesem Christian. Eines

Abends sagte die Regieassistentin zu mir: „Beim

Pförtner wartet ’ne Schulklasse auf dich, fast nur

Mädchen. Sie wollen ein Autogramm von dir, sind

ganz heiß auf dich.“ Ich beeilte mich, Autogramme

geben kannte ich nur vom Kino. Verschwitzt, das Gesicht

noch verschmiert von der Vaseline, mit der sich

Schauspieler nach der Vorstellung abschminken,

hetzte ich erwartungsvoll zur Pforte. Natürlich hatte

ich meine blonden Locken, meine Perücke, in der

Maske auf einem Holzkopf zurückgelassen, wo ihn

die Maskenbildnerinnen für den nächsten Auftritt

frisieren konnten. Schon damals war mein Privatschädel

kahlgeschoren, wie er es heute noch immer ist. So

erschien ich vor den Mädchen, die auf den schönen

Christian mit Locken warteten. Sie beachteten mich

in keinster Weise. Der Pförtner sagte schließlich: „Das

isser.“ Die Mädchen verschwanden. Wahrscheinlich

26


fühlten sie sich betrogen. Ich gab nicht ein einziges

Autogramm und war grenzenlos traurig. Man liebt

das Schöne, und wenn’s nur schöner Schein ist.

kackärschchen

Die Probe zog sich in die Länge. Der Regisseur Dieter

R. redete seit gefühlten Stunden auf die Schauspielerin

Petra B. ein. Er konnte sich ihr nicht verständlich

machen. Alle anderen Darsteller schauten schon auf

ihre Uhren. Als der Regisseur dann kniend zu seiner

Darstellerin sagte: „Kackärschchen, spiel es einfach

heller!“, meinte es ein Beleuchter auf der Beleuchterbrücke

besonders gut und gab mehr Licht. Der Regisseur

kriegte einen Tobsuchtsanfall. Die Probe wurde

abgebrochen.

rotkäppchen

Der Regisseur H. F. war zuckerkrank und stark übergewichtig,

bekam schlecht Luft und konnte kaum

noch gehen. Auf den Proben wurde er von seiner

Frau Ille F. immer mit Obst, Stullen und einem heißen

Getränk aus der Thermoskanne versorgt. Sie erschien

zu jeder Probe mit ihrem Picknickkorb, wurde

hinter vorgehaltener Hand Rotkäppchen genannt.

Während einer Endprobe unterbrach der Regisseur die

27


Darsteller: „Wartet! Ich komme mal hoch.“ Er versuchte

sich aus seinem Theatersessel zu erheben. Er

kam aber nicht hoch, gab schließlich auf und ließ

sich schwer schnaufend wieder in den Sessel zurück

plumpsen. Er sagte resigniert: „Spielt weiter. War gut

so.“

otto

Der Zittauer Theaterpförtner Otto Smeilbiedel war

einmalig. Er lebte allein. Er trug nie Strümpfe. Seine

Leibwäsche schien lange, sehr lange keinen Waschzuber

gesehen zu haben. Er saß in seiner kleinen, klebrigen

Pförtnerloge, die dringend einer Überholung

bedurft hätte. Zwischen den Zähnen befand sich immer

ein kleiner Zigarrenstummel. Otto rauchte kalt.

Wenn er das Glasfensterchen seiner Loge nach oben

schob, es arretierte, um so mit der Umwelt besser in

Kontakt treten zu können, entströmte seiner Kemenate

ein betäubender Duft. Man trat unwillkürlich

einen Schritt zurück. Fantasiebegabt durfte man da

nicht sein. Der Duft war einfach niederschmetternd.

Otto sprach Dialekt. Eine Mischung aus Oberschlesisch

und Böhmisch. Es wurde behauptet, dass Otto

aus der „Tscheche“ stammte. Unvergesslich bleibt mir

seine Lache in Erinnerung, die er nach fast jedem

Satz positionierte. Sie war zwischen dem Meckern

28


eines Ziegenbocks, einem wiehernden Gaul oder einer

jaulenden Katze angesiedelt. Ziegenbock trifft es wohl

am besten, auch den Geruch betreffend. Dazu machte

er immer die gleiche Bewegung mit seinem Daumen

der rechten Hand, eine obszöne Geste, eine eindeutige

Geste. Eines Tages stand die berühmte Pianistin

Annerose Schmidt mit ihrem Rollkoffer vor Otto

Smeilbiedels Pforte. Sie war vom Bahnhof zu Fuß ins

Theater gekommen, um abends ein Klavierkonzert

zu geben. Otto schob sein Fensterchen nach oben.

Sie trat ein Stück zurück. Otto Smeilbiedel begrüßte

sie mit den Worten: „San sie de Klavierspielrin aus

Leipzsch?“ Otto setzte seine Geste und eine Lachsalve.

Die Klavierspielerin aus Leipzig, Annerose Schmidt,

die verdiente Künstlerin des Volkes, war stark beeindruckt.

Wir Theaterleute liebten Otto Smeilbiedel aus

vollem Herzen.

regen

Endprobe „Sommernachtstraum“ in Dresden. Die

zwei Liebespaare irren durch den Wald. Die Bühne

ist vollkommen leer. Sie laufen und springen über die

Bühne, immer hin und her. Sie suchen sich, iehen

sich und suchen sich wieder. Die Darsteller sind ganz

in Weiß gekleidet. Die Frauen tragen dazu weiße,

riesige Seidentücher, die herrlich attern, ein einziger

29


30


Elfenreigen in Weiß. Unwillkürlich muss man an das

Ballett Schwanensee denken. Auf einmal begann es

zu regnen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es regnete.

Es regnete wirklich. Es regnete schwarzes Wasser!

Ein herrliches Bild. Alle auf und hinter der Bühne

und das Regieteam im Zuschauerraum waren von

diesem fantastischen Effekt fasziniert. Was war geschehen?

Der Regisseur W. D. K. schrie: „Stopp! Was

war das?“ Das war die versehentlich in Gang geratene

Regenanlage der Bühne, die bei einem Brand

zum Einsatz kommen müsste. Die Darsteller waren

schwarz, der Teppich war schwarz, alles triefte. Ein

Wunder war geschehen, ein nicht gewolltes Theaterwunder.

Ein unbezahlbares Theaterwunder! Kostüme

und Bühnenteppich waren unwiderruich dahin

und mussten ersetzt werden.

männlein

Der bekannte Schauspieler, das Mitglied des ZK der

SED H. P. M., sollte in Schwerin in der berühmten

„Faust“-Inszenierung von Christoph S. eine Rolle

für einen erkrankten Kollegen übernehmen. Einer

Schauspielerdynastie zugehörend war H. P. M. vor

Jahren auch Professor und Direktor an der Schauspielschule

in Berlin gewesen. Einer seiner ehemaligen

Schüler war der Schauspieler T. H., der nun in

31


der „Faust“-Inszenierung sein Partner auf der Bühne

werden sollte. Die Vorstellung rückte näher. Per

Durchruf wurde der junge Schauspieler zu dem großen

Meister in die Garderobe gebeten. Er klopfte an

und wurde hereingerufen. Ein kleines, auf ein Minimum

geschrumpftes Männlein, schweißgebadet, vor

Angst schlotternd, stand vor ihm. H. P. M. wisperte

ängstlich seinem einstigen Schüler zu: „Bitte, bitte,

bitte lieber T., können wir den Text nochmal durchgehen?

Ich weiß kein einziges Wort mehr.“ Sie sprachen

ihren Text nochmal durch. Die Übernahme war dann

okay.

wofür noch

Eben dieser Schauspieler und Schauspielschuldirektor,

H. P. M., übernahm für einen erkrankten Kollegen

eine Sprecherziehungsunterrichtsstunde an besagter

Schauspielschule. T. H. war sein Schüler. Der

Professor betrat den Unterrichtsraum. Er hatte Tränen

in den Augen, schien sehr verzweifelt zu sein.

T. H. war auf Schreckliches gefasst. Er rechnete mit

einem Todesfall. „Was“, fragte H. P. M. den verblüfften

Schauspielschüler, „was sollen wir machen, wenn

der Kommunismus aufgebaut ist? Was sollen wir dann

tun? Wofür sollen wir dann noch kämpfen?“ Der

Schauspielschüler war sprachlos. Bis heute.

32


springen

Schwerin. Probe zu „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers,

Regie Christoph S. Die Szene spitzte sich zu. Der Einfall

des Regisseurs war es, dass die große Drehbühne

sich immer schneller dreht und die Figuren, die Schauspieler,

im wahrsten Sinne des Wortes herausgeschleudert

werden. Diese Szene wurde oft probiert. Wer einmal

auf einer Drehbühne gestanden hat und von ihr

abgesprungen ist, weiß, wie gefährlich dieses Unterfangen

werden kann. Jedenfalls waren alle Darsteller

bereits abgesprungen, herausgeschleudert worden, aus

der Mitte an den Rand. Die Drehbühne hatte volles

Tempo, höchste Stufe der Geschwindigkeit. Nur eine

einzige Darstellerin war noch auf der Drehscheibe verblieben,

die älteste Schauspielerin des Ensembles. Hilflos,

von Angst geschüttelt, stämmte sie sich mit ihren

dünnen Beinchen gegen die Fliehkraft. Sie sah ihr Ende

kommen, war nicht in der Lage abzuspringen. Sie hatte

Todesangst! Der Regisseur Christoph S. schrie laut, erbarmungslos:

„Springen! Frau Nürnberg! Springen!!!“

Die Schauspielerin hat den Sprung überlebt.

glück

Im Görlitzer Stadttheater gaben wir ein Brechtprogramm

für Kinder. Lieder, Gedichte, Geschichten,

Anekdoten, kleine Szenen. Der Titel des Programms

33


war „Fliege, iege, kleiner Drache“, nach einem dreistrophigen

Brechtgedicht. Dieses dreistrophige

Brechtgedicht war vertont, der Titelsong des Brechtprogramms.

Wir saßen im Halbkreis auf der Bühne

auf Stühlen. Unser Pianist begann mit dem Vorspiel.

Ich trat vor an die Rampe und sang: „Fliege, iege

kleiner Drache“, dann hing ich schon. Nach der ersten

Zeile wusste ich nicht, wie es weiter geht. Das

Lied hatte drei Strophen! Ich überlegte kurz, aber

überlegen kann man das nicht nennen. Ich stand

einfach blöde da. Den Kollegen, insbesondere dem

Pianisten, stockte der Atem. Dann vollendete ich

das eigentlich dreistrophige Lied mit den vier dürren

Worten: „Und bring uns Glück.“ Ich verbeugte mich.

Das Publikum klatschte. Meine Kollegen guckten

sehr nster, während ich mich selbstbewusst wieder

auf meinen Platz zurückbegab, als hätte ich etwas

ganz Großes vollbracht.

na und

Der berühmte Schauspieler Wolfgang H. drehte.

Sein Filmregisseur sagte zu ihm: „Wölferl, bleib am

Tisch, sonst sieht man dich im Off“. Wolfgang H.

antwortete: „Dann sieht man mich eben im Off“.

34


35


niemals

Landestheater Halle. Der Oberspielleiter P. S. zu dem

Schauspieler R. G.: „Mir ist Rolf Ludwig besoffen lieber

als du nüchtern“. So etwas vergisst ein Schauspieler

nie, bis zu seinem Tode nicht. Sowas vergisst man niemals.

stark

Im Stück „Familie Jowialski“ von Fredro sollte ich

eine winzig kleine Rolle übernehmen. Wir probierten

das kurz. Ich, der an diesem Theater viele große Rollen

gespielt hatte, nahm die Sache auf die leichte Schulter.

Am Abend der Vorstellung trete ich auf, halte inne,

trete wieder ab, ohne ein einziges Wort gesagt zu

haben. Publikum, Regisseur und Kollegen waren

stark beeindruckt von mir.

zugenommen

Wir spielten in Branitz Sommertheater-„Volpone“.

Der heutige Intendant des Senftenberger Theaters

Manuel S. hatte das Stück inszeniert. Es war ein gelungener

Theaterspaß vor bezaubernder Kulisse. Nach

den Theaterferien trat meine Lieblingsgarderobiere

Gudrun Mattusch auf mich zu und sagte folgenden

36


bedeutungsschweren Satz: „Michachen, ich muss dir

melden, du hast zugenommen. Ich muss dein Kostüm

in die Schneiderei geben, sonst platzt es dir noch auf

der Bühne.“ Ich liebe Gudrun. Für mich ist sie im

Theaterbetrieb immer eine Sonne gewesen, Zuverlässigkeit,

Reinheit, Treue. Sie war immer mir der am

nächsten stehende Mensch. Danke, liebe Gudrun.

Vielen Dank auch für die Mützen und Socken, die du

mir im Laufe der Jahre gestrickt hast.

rache

In der Kammerbühne lief „Maria Stuart“ von Schiller.

Ich sah mir meine Kollegen an. Die Inszenierung ge-

el mir nicht. Das langgestreckte Bühnenbild fand ich

unmöglich. Die Spielweise abscheulich. Ein Kollege

aus dieser Inszenierung war dem Alkohol erlegen. Ich

musste seine Rolle übernehmen und noch viele Male

spielen. Das war die Rache für meinen Hochmut.

davongekommen

Wir spielten „Käthchen von Heilbronn“ von Kleist. Ich

war der Kaiser, der Wormser Kaiser, die Schlüsselgur,

eine gewaltige Erscheinung, gewaltiger Auftritt, gewaltige

Wirkung. Premiere. Ich wurde aus dem Schnürboden

auf einer goldenen Gondel herabgelassen.

37


38


Purpurner Samt umhüllte mich. Die Gondel setzte

auf. Ich entstieg ihr, warf den Mantel ab, mit Grandezza

ab, ging vor an die Rampe, wollte meinen Monolog

beginnen, der alles aufklärt. Ein Handy im Publikum

klingelte. Irritation bei Publikum und Darsteller.

Mir wurde schwarz vor Augen. Grandioser Auftritt,

jetzt Leere im Kopf. Völlige Leere. Die Souffleuse saß

direkt vor mir in der ersten Reihe. Nach gefühlten

Stunden erreichte ihr Zischen mein Ohr. Ich kam

Gott sei Dank wieder in meinen Text rein, wusste

wie’s weiter geht. Ich schmetterte meinen Monolog.

Er lief wie Öl. Prasselnder Applaus. Nochmal davon

gekommen, gerade so. Scheiß Handys.

kesse Sohle

Das Cottbuser Staatstheater gastierte mit „Lustige

Witwe“ in Potsdam, der Residenzstadt. Ich hatte die

Aufgabe, mich mit einem weißen Oldtimer einmal

um das Theater fahren zu lassen, meinem Chauffeur

den Befehl zu geben anzuhalten, auszusteigen, an dem

spalierstehenden Publikum vorbei, von meiner Gattin

begrüßt ins Theater zu schreiten. Wir betraten das

Foyer, ließen uns von den Zuschauern beklatschen.

Meine Frau und ich forderten jeweils einen Partner

auf zum Tanzen. Wir legten eine kurze, kesse Sohle

aufs Parkett. Dann küsste ich meine Gattin, die zu-

39


künftige Witwe. Sie wurde von der amerikanischen

Sängerin Anna Sommerfeld verkörpert, mit der ich

mich privat hervorragend verstand. Ich el um, war

tot. Das war mein Part. Das Stück konnte beginnen.

Nach Cottbus zurückgekehrt hing im Schaukasten

unseres Theaters die Potsdamer Pressekritik zu dieser

Inszenierung. Das übliche Blabla, ganz entscheidend

aber das Foto. Darauf war ich mit einer Statistin tanzend

in Großaufnahme zu sehen, ich, der tote Grund

für das Spektakel. Selten so viel für so wenig kassiert.

alptraum

Am Cottbuser Staatstheater hatte ich das Vergnügen,

in drei „Räuber“-Inszenierungen besetzt worden zu

sein. In der letzten Inszenierung bestand die Bühne

aus riesigen Bücherregalen, die rechts und links standen

und sich vom Portal bis tief in den Bühnenhintergrund

V-förmig verjüngten. Die Regale waren aus

Metall. Wir Räuber stürmten vom Bühnenmagazin

auf die Bühne, warfen uns mit vollem Schwung auf

die Regale. Dann lagen wir, hockten wir, sprangen

wir, je nach Begehr, auf ihnen herum. Die Regale

waren unser Zuhause. Am Schluss des Stückes elen

alle in sich zusammen und bildeten eine Ruinenlandschaft.

Eine schöne Idee. Die Konstruktion der Regale

war äußerst kompliziert. Splinte konnte man aus dem

40


Off per Strippe herausziehen und die Regale so zum

Einsturz bringen. Eines der Regale aber war bereits zu

Beginn der Vorstellung entsichert, durfte also keinesfalls

besprungen werden, wenn man nicht das Zusammenkrachen

aller riskieren wollte. Generalprobe. Wir

rannten auf die Bühne. Zielsicher stürzte ich mich auf

gerade eben dieses verbotene Regal. Es krachte mit

allen anderen Regalen zusammen. Die Probe musste

unterbrochen, alles mühsam wieder hergerichtet werden.

Zweiter Versuch. Krampfhaft hatte ich mir das

Regal gemerkt, das für mich tabu war. Zielgerichtet

sprang ich ein zweites Mal wieder in genau dieses Regal.

Die Regisseurin E. H. war einem Tobsuchtsanfall

nahe. Ich spielte mit dem Gedanken mich umzubringen.

Alles wurde zurückgebaut. Wir traten wieder auf.

Diesmal landete ich im richtigen Regal. Ein Albtraum

war vorüber.

nerven

An der Dresdener Semperoper hatte ich die große

Ehre, den „Klassischen Ballettabend“ moderieren zu

dürfen. Mir wurde ein Frack auf den Leib geschneidert.

Ich betrat die Bühne im Dunkeln. Eine Daunenfeder

el aus dem Schnürboden auf die Bühne herab.

Ich ng sie auf, war von einem Punktscheinwerfer beleuchtet

und begann mit: „Wo auch immer die Rede

41


42


sein wird von klassischem Ballett, es wird die Rede

sein von Schwanensee. Guten Abend, meine Damen

und Herren, und willkommen zu einer Begegnung

mit dem klassischen Tanz.“ Ich verbeugte mich würdevoll,

Applaus, nahm am Proszenium auf einem kostbaren

Stuhl Platz. Vor mir ein Tischchen mit einem

Weinglas, einer Kerze und meinem Text. Dann plauderte

ich zwischen den einzelnen Ballettnummern

über Choreografen, Komponisten und Tänzer, die zu

den jeweiligen Auftritten in Bezug standen. Vor der

Pause hatte ich wieder in die Bühnenmitte zu treten,

das letzte Stück anzusagen und beim Inspizienten abzugehen.

In der Premiere ging ich ab, in Richtung Inspizient,

verfehlte ihn jedoch. Einen Meter links vom

Inspizienten landete ich in der Vorhanggasse. Dort angekommen

bemerkte ich, dass es von hier kein Entrinnen

gab. Da stand ich eingewickelt von gefühlten tausend

Metern Samtstoff am falschen Platz und wartete

ab, bis das vor der Pause letzte Tanzstück zu Ende war.

Als sich danach der Vorhang schloss, bekam ich wieder

Luft und konnte nun hinter jetzt geschlossenem

Vorhang abgehen. Der Inspizient und die Assistentin

schauten mich an, als wäre ich dem Hades entronnen.

Sie hatten mich vermisst, sich nicht vorstellen können,

wo ich nach meinem letzten Text vor der Pause abgeblieben

war. Es sind eben immer wieder die Nerven.

Augen auf bei der Berufswahl.

43


ersetzbar

In der alten Kammerbühne in Cottbus, in der einmal

die Freimaurerloge beheimatet war, spielten wir an

die hundertmal „Einer og über das Kuckucksnest“.

Eines Tages erschien der Schauspieler Siegfried W.

nicht zur Vorstellung. Was tun? Zufällig war der junge

Kollege Axel R. im Publikum, um sich diese Vorstellung

anzusehen. Kurzerhand zitierte man ihn zur

Bühne, er bekam das Kostüm des nicht erschienenen

Kollegen übergeholfen und wurde so auf die Bühne

geschubst. Sobald das Licht zwischen den Szenen

ausging, instruierte man ihn für die nächstfolgenden

Szenen. Der Abend verlief völlig normal. Vom Publikum

gab es keinerlei Reklamationen. Da sag mir einer, man

wäre nicht ersetzbar.

stilbruch

In eben dieser Kammerbühne lief das Stück „Vatermord“

von Alfred Bronnen, ein expressionistisches

Stück. Jedes naturalistische Requisit würde den Stil

brechen. Ich spielte den Vater und hatte an einer zwischen

den Türpfosten angebrachten Eisenstange kopfunter

zu hängen. Nicht nur, dass mir die Kniekehlen

immer sehr wehtaten, hatte ich doch einen längeren

Monolog zu kaprizieren, nein, mir widerfuhr dazu

noch ein peinliches Malheur. Ich hing, diesmal im

44


wahrsten Sinne des Wortes, kopfunter und memorierte

meinen Monolog. Die Schwerkraft meldete sich

aus dem verborgenen Dunkel meiner Hosentaschen

und gebar eine Zigarettenschachtel der Marke Kenton

Grün, Mentholzigaretten, wie sie Altkanzler Schmidt

rauchte, nebst quietschgelbem Plastikfeuerzeug.

Beides folgte der Schwerkraft und el unter mir zu

Boden. Das Publikum war irritiert. Wenig später

brach es in schallendes Gelächter aus.

leicht und frei

Ich war Student der Schauspielschule „Hans Otto“ in

Leipzig und ahnte noch absolut gar nichts von dem,

was mich später am Theater erwartete, war unwissend

und dadurch leicht und frei wie ein Vogel. Mein

Freund Stefan, mit dem ich bei den Grenztruppen der

DDR diente, in Zarrentin am Schalsee, hatte einen berühmten

Vater. Er war am Berliner Ensemble Dramaturg,

führte Regie und war für viele Brechtausgaben,

die vorwiegend bei Suhrkamp in Frankfurt am Main

herausgegeben wurden, verantwortlich. Durch meine

Freundschaft zu Stefan wurde ich auch mit Werner

Hecht, seinem Vater, bekannt. Er lud mich zur „Mutter“-Premiere

ein. Regie führte Ruth Berghaus. Werner

eröffnete mir, dass er selbst hoch im Rang Platz nehmen

müsse, da die Premiere vollständig ausverkauft

45


46


sei. Ich solle warten, bis eventuell eine Karte zurückgegeben

würde, um überhaupt rein zu kommen. Da

ich am Berliner Ensemble, schon in der Zeit, als ich in

Beeskow am Gymnasium war, circa 10 Inszenierungen

gesehen hatte, kannte ich das Haus zumindest so gut,

dass ich wusste, wie man unbemerkt in die Parkettseitenloge

kommt. In dieser Loge schwebe noch der Geist

von Brecht, heißt es. Von dort aus hätte er Vorstellungen

beobachtet. Gelegentlich soll er die Gardine der

Loge auch zugezogen haben. An besagtem Premierenabend

schlüpfte ich in eben diese Loge, die merkwürdigerweise

unbesetzt war. Kess schaute ich in den Rang

hoch und winkte Werner zu. So genoss ich das Ereignis

von dieser bedeutenden Stätte aus. Folgerichtig nahm

ich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt,

natürlich auch an der Premierenfeier teil. Heute wäre

es mir peinlich, uneingeladen bei einer Premierenfeier

in einem fremden Theater zu erscheinen. So forderte

ich damals völlig locker Ruth Berghaus zum Walzer

auf, rockte mit Jutta Hoffmann und fühlte mich unter

den Stars - und das waren Stars - pudelwohl. Ich

erinnere mich noch, dass Barbara Brecht-Schall, die

in der Inszenierung nicht besetzt war, wie eine Blöde

mit so einem modernen, kleinen Westfotoapparat

fotograerte. Heute besitze ich selbst so einen Fotoapparat

und fotograere stets und ständig, alles und

jeden, am meisten aber mich selbst.

47


zwei christkinder

„Coriolan“ von Shakespeare am Berliner Ensemble.

Ich wandle in der Stückpause durchs Foyer. Eine Tür,

die das Foyer von der Hinterbühne trennt, öffnet sich

und Helene Weigel erscheint im Kostüm der Volumnia,

die sie in dieser Inszenierung spielte. Im Kostüm!

Das ist außergewöhnlich. Ein ungeschriebenes

Theatergesetz verbietet das eindeutig. Was konnte der

Grund sein für Helene Weigels Auftreten im Kostüm?

Die große Weigel schritt auf eine exotisch aussehende

Dame zu. Beide Frauen elen sich in die Arme,

begrüßten sich sehr herzlich. Wer war die fremde

Dame? Ich umkreiste das Paar, sodass ich das Gesicht

der Unbekannten sehen konnte. Sofort erkannte ich

die Schauspielerin Samoilowa, die große Samoilowa.

Ich kannte sie aus dem berühmten Film „Die Kraniche

ziehen“. Jetzt fühlte ich mich, als wäre das Christkind

höchstpersönlich durch den Raum geschwebt.

Ach, eigentlich waren es ja sogar zwei Christkinder.

Und was für welche. Und ich durfte dabei sein.

ohrfeigen

Am Cottbuser Theater wurde „Romeo und Julia“

gegeben. Ich war Mercutio, der noch vor der Pause

stirbt. Eine ganz tolle Rolle. Er ist ein Luftikus, leicht,

frech, schön, jung, übermütig, stirbt durch Zufall und

48


verabschiedet sich von dieser schönen Welt, als würde

es ihm nichts bedeuten. Er scherzt und stirbt. Dann

ist Pause. Wir probierten bei der Regisseurin Hella

Müller diese Szene. Der Sterbemonolog war schon

im Kasten, wie wir sagen. Aber wie sollte die tödliche

Verwundung stattnden? Mein Kollege Axel Reppenhagen

spielte den mich töten müssenden Tybalt. Wir

fochten. Bühnenfechten ist selten überzeugend. Wir

ließen es fallen. Wir probierten es mit Pistolen. Auch

das war albern. Schließlich, dem guten alten Gesetz

des Weglassens folgend, spielte sich der Vorgang dann

so ab: Wir standen uns gegenüber, Auge in Auge. Ich

knallte ihm eine, eine schallende Ohrfeige. Er stutzte.

Er ohrfeigte mich zurück. Ich stutzte. Ich backpfeifte

ihn erneut. Er stutzte erneut, zog seinen Dolch und

stach mich ab. Völlig unspektakulär. Es ging um fast

nichts. Ein paar Ohrfeigen, einer ist tot.

kostümprobe

Für die „Othello“-Inszenierung wurden wir von

Renée Hendrix eingekleidet. Anprobe in der Herrenschneiderei.

Renée probierte mit mir einen Militärmantel,

einen langen, weißen, sehr schönen Militärmantel.

Die Anprobe zog sich in die Länge. Man

muss sich vorstellen, dass der Schauspieler, in dem

Fall ich, auf einem kleinen Podium steht, von manns-

49


50


großen Spiegeln umgeben. Die Kostümbildnerin

fummelt abwechselnd mit der Gewandmeisterin und

einigen Assistentinnen am Schauspieler, das heißt

natürlich am Kostüm des Schauspielers herum. Die

Anprobe begann um 14 Uhr, 15.30 Uhr endete sie.

Alle waren sichtlich genervt, nur die Kostümbildnerin

nicht. Vorstellung. Wir Soldaten stürzten in unseren

Uniformmänteln und den dazugehörigen Uniformmützen

auf die Bühne, entledigten uns der Mützen

und Mäntel. Die ganze Kledage og in alle möglichen

Ecken der Bühne. Das eigentliche Spiel begann. Und

dafür habe ich eine gefühlte Woche auf dem Podium

in der Herrenschneiderei gestanden. Soviel Aufwand

für so wenig Effekt. Oder?

pirouetten im heizungskeller

Spielorte. Da kommt schon was zusammen. Ich habe

mich als Tom Sawyer im Zittauer Gebirge vom Felsen

abgeseilt. Ich war im Heizungskeller des Staatstheaters

Cottbus der Einbalsamierer, der Lenin zu

restaurieren versuchte. Ich habe auf diversen Freilichtbühnen

gespielt, begleitet von Vogelgezwitscher,

von überiegenden Flugzeugen, Straßenlärm und

Kindergeschrei. Auf dem Herrenklo im 2. Rang des

Staatstheaters Cottbus spielte ich den Monolog „Das

verschluckte Auge“. Die Auslastung im Heizungs-

51


keller und im Herrenklo war immer 100 Prozent. Es

passten nur circa zwanzig Zuschauer rein. Ich habe

als schwarzer Jesus in „Testament des Hundes“ im

Bühnenhimmel gehangen. Ich schwebte nicht selten

auf Gondeln sitzend, mal aus dem Bühnenhimmel auf

die Bühne herab, mal quer über die Bühne, von links

nach rechts, von rechts nach links. Ich habe vor dem

Eisernen Vorhang gespielt, manchmal hinter dem Eisernen

Vorhang. Die Zuschauer saßen dann auf der

Hinterbühne. Ich habe auf der Unterbühne gespielt.

Ich bin mit Hubgeräten mal aus dem Unterbühnenbereich

zur Bühne heraufgefahren worden. Ein anderes

Mal wurde ich heruntergefahren. Ich bin mal zu

Fuß gekommen, mal auf einem Fahrrad, während der

ganzen „Tapferes Schneiderlein“-Inszenierung rollte

ich als Einhorn in einem Rhönrad über die Bühne.

Ich konnte damit sogar Pirouetten drehen. Ich stand

auf Rollschuhen und auf Stelzen. Einmal stürzte ich

mit meinen Stelzen. Es war in „A Christmas Carol“.

Gott sei Dank ist mir nichts dabei passiert. Ich wurde

auf die Bühne getragen oder gefahren. Ich fuhr selbst

mit einem Motorrad auf die Szene. Mehr geht doch

kaum. Ach ja. Letztens bin ich im Sommertheater im

Kasernenhof bei der Inszenierung „Der tolle Tag oder

Figaros Hochzeit“ als Gärtner mit Skiern aufgetreten.

Jeder Gärtner weiß natürlich, dass das an die Füße

geschnallte Bretter sind, mit denen man die Saat in

52


den Boden tritt. Wollen wir mal schauen, ob noch

was Verrücktes dazu kommt.

carmen für arme

Bei einer der berühmten „Zonenrand Ermutigungen“,

einer genialen Erndung von Christoph Schroth,

spielten wir unter anderem „Gundling“ von Heiner

Müller. Die Geschichte von dem kleinen Flötisten

Fritz, seiner Liebe zu Katte und dem ganzen Drumrum.

Eine wundervolle Inszenierung von Alejandro

Quintana. Ich durfte die Schwarze Witwe spielen.

Schwarzer Tüllrock, Perücke, Diadem, Carmen für

Arme. Wir alle hatten unheimlich viel Spaß bei den

Proben. Ein Detail aber bleibt mir unvergesslich.

Der von mir geschätzte Kollege W. K. war bekannt,

nein, berüchtigt, für seine Schlitzohrigkeit, seinen

Schwejkschen Humor. Unser Regisseur Alejandro bat

den Schauspieler, sehr behutsam mit einer Pauke umzugehen.

Sie wäre sehr teuer und man hätte ihn gebeten,

den Darsteller, der diese Pauke schlägt, dringend

darauf hinzuweisen. Eigentlich hätten wir es wissen

müssen, weil wir unseren Kollegen W. K. kannten.

Dennoch war sein Beitrag zu dem Thema Behutsamkeit

mit der Pauke dann wieder epochal. Er trat auf.

Mit Pauke. Drosch drauf. Die Pauke war unwiederbringlich

hin. Für immer.

53


okay chef

Christoph Schroth bat den Kollegen W. K. die Bühne

schneller zu überqueren. Der Schauspieler fragte den

Regisseur: „Schneller, Chef? Okay!“ Das Wort Chef

war für den Regisseur ein Reizwort. Deshalb benutzte

es der Schauspieler auch bei diesem Regisseur so oft

er konnte. Nach dieser Anweisung ging der Schauspieler

betont langsam über die Bühne. Schroth unterbrach

die Szene: „Herr K., ich sagte, überqueren Sie

die Bühne schneller!“ Der Schauspieler antwortete:

„Ach so, Chef, schneller!“. Er ging zurück zu seiner

Ausgangsposition, betrat die Bühne betont würdevoll

und schritt langsam, ganz besonders langsam, der an

deren Seite entgegen. Pause. Schroth hätte diese Pause

ein „Deutsches Loch“ genannt. Jetzt aber brüllte er

unmissverständlich: „Ich habe eindeutig schneller

gesagt, Herr K.!“ Der Schauspieler antwortete würdevoll,

wie er geschritten war: „Okay Chef, weiß Bescheid.“

probenzeit

Der Regisseur Peter K., dessen berühmte Inszenierungen

ich am Berliner Ensemble einst mit großer

Bewunderung kennenlernen durfte, erzählte, als er

bei uns in Cottbus als Gast „Kirschgarten“, „Steinkes

Rettung“ und „Der Hauptmann von Köpenick“

54


inszenierte, folgende Anekdote: Paryla inszenierte

in Berlin. Die Probe zog sich hin. Ein lebendiges

Pferd war auf der Bühne und hatte eine bestimmte

Reaktion zu zeigen. Das Pferd erfüllte diese Forderung

nicht. Es scheute. Es schien sich gänzlich zu verweigern.

Der Regisseur saß im Zuschauerraum und

begann sich langsam, aber stetig, aufzupumpen. Er

war unter Zeitdruck. Der Premierentermin saß ihm

im Nacken. Schließlich platzte Paryla die Geduld. Er

stürzte auf die Bühne, schnaufend vor Verzweiung

und Wut, kniete vor dem Gaul, faltete seine Hände

und raunte dem Tier zu: „Das geht alles von meiner

Probenzeit ab!“

ohnmacht

Ich wurde vom Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/

Zittau durch Oberspielleiter Dietrich Zimmermann,

ohne vorspielen zu müssen, nach Bautzen an das

Deutsch-Sorbische Volkstheater engagiert. Das war

für mich ein Glücksfall. Um meine zukünftigen Kollegen

schon einmal kennenzulernen, besuchte ich

mehrere Vorstellungen. Einmal fuhr ich zur Premiere

„Tartuffe“. Die Premiere lief, die Applausordnung

folgte. Eine Hauptdarstellerin war die Schauspielerin

Edith S. G., die ich in der darauffolgenden Zusammenarbeit

außerordentlich schätzen lernte. Sie verbeugte

55


56


sich bei der Premiere, el um, war offensichtlich in

Ohnmacht gefallen. Die Zuschauer reagierten erschrocken.

Ich vermutete, den Theaterzauberzirkus

einigermaßen kennend, dass das auch Teil der Inszenierung

gewesen sein konnte. Bei der Premierenfeier

aber erfuhr ich, dass diese tapfere, zukünftige Kollegin

vor der Premiere erfahren hatte, dass sich ihre

einzige Tochter in Prag von der Wenzelsbrücke in

die Moldau gestürzt hatte und ertrunken war. Ein

altes Theatergesetz sagt, dass einem Darsteller vor

einer Vorstellung niemals ein Telegramm oder eine

anderweitige Information, welcher Art auch immer,

zugestellt werden darf. In diesem Falle wurde dieses

Gesetz offensichtlich gebrochen.

das bärtchen

Als ich am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/

Zittau engagiert war, erzählte mir meine Lieblingsmaskenbildnerin

Margittel folgende Geschichte: Ein

Operettenbuffo, der immer äußerst knapp zur Vorstellung

erschien, sprang kurz in die Garderobe, og durch

die Maske auf die Bühne und schon war er dran. Das

hatte Margittel geärgert. So kurz vor der Vorstellung

kam sie dadurch selbst unter Druck und war immer

in Angst versetzt, ob der Buffo überhaupt erscheinen

würde. Er hatte die unsägliche Angewohnheit, sein

57


bereitliegendes Oberlippenbärtchen unter die Nase

zu kicken und davon zu schweben. Margittel hatte es

vorher immer mit Mastix bestrichen. Ein Klebstoff,

mit dem alle Bärte und Perücken auf das Gesicht oder

die Kopfhaut geklebt werden. Eines Tages brach das

Böse aus ihr heraus. Margittel war eine wirklich außerordentlich

liebenswürdige Person. Trotzdem war ihre

Geduld eines Tages am Ende. Sie strich das Oberlippenbärtchen

des Buffos wie immer mit Mastix ein, sodass

er es ugs unter seine Nase kicken konnte, wo es dann

zuverlässig klebte. Aber diesmal fügte sie ein wenig

mitgebrachte Hundescheiße dazu. Der Buffo kam,

kickte das Bärtchen unter seine Nase, wie gewohnt,

trat auf. Völlig konsterniert benutzte er jede Gelegenheit,

mit seinen Kollegen zu kommunizieren. Immer

wieder fragte er, ob sie auch den Geruch nach Scheiße

festgestellt hätten. Die Kollegen verneinten, nicht wissend,

was er eigentlich meinte. Margitta stand an der

Seite der Bühne und freute sich riesig. Sie hoffte, dass

der Buffo daraus Konsequenzen zog. Keiner weiß, ob

das jemals geschah.

monster

Zum Thema Scheiße fällt mir folgende Geschichte ein.

Meine Kollegin Antje Weber war mit mir am Cottbuser

Staatstheater engagiert. Sie und ihr Mann Nils, den

58


59


ich als Kleinkind im Kinderwagen beaufsichtigte, als

seine Mutter im Dresdner Zwinger Ballettserenaden

tanzte, besuchten mich eines Tages in Lieberose. Die

Kinder von Antje und Nils tobten in meinem Garten

herum. Wir redeten und redeten und redeten, wie immer,

worüber wohl, über Theater. Irgendwann kamen

die Kinder ins Haus und setzten ihre Freudensprünge,

die sie im Garten in völliger Freiheit vollführt hatten,

nunmehr in meiner Behausung fort. Sie sprangen

munter mit ihren Schuhen auf meiner Sesselgruppe

und meinem Sofa herum, als sei es das Natürlichste

von der Welt. Ich wusste, dass es sinnlos ist, jungen

Eltern nahe zu bringen, dass dies ungewöhnlich sei.

Das käme einer Bankrotterklärung ihrer Erziehung

gleich. Also schaute ich zu, war hinreichend verzweifelt,

machte aber gute Miene zum bösen Spiel. Die

Kinder tobten und hopsten wie die Irren. Plötzlich

schaute mich meine Kollegin Antje an und sagte:

„Entschuldige Micha, aber hier stinkt’s nach Scheiße.“

Ich war schockiert. Das Gehopse der Kinder hatte ich

schon lange satt. Aber ich brachte es nicht in Zusammenhang

mit diesem Geruch. Die Monster tobten und

sprangen weiter und immer weiter. Antje und Nils

schnüffelten wie ich um uns herum und versuchten

zu eruieren, woher der Geruch käme. Wir schauten

uns an, niemand traute niemandem und plötzlich war

es klar! Die Kinder hatten sich beim Toben im Garten

60


frische Hundescheiße ganz fest in ihre Schuhsohlen

eingetreten. Meine Sesselgruppe und mein Sofa waren

nun, wie wir feststellten, gründlichst damit imprägniert.

Später versuchte ich mit Lösungsmitteln

und Waschmitteln, Aromen, Febrezeduftstoffen, sogar

mit Bügeleisen, den Gestank aus den Polstern zu

entfernen. Es gelang nicht. Seitdem stank es in meinem

Haus nach Hundescheiße. Schließlich schenkte

ich die Sesselgruppe und das Sofa meinem Nachbarn

Bernd, der diese vom Leben gezeichneten Möbel in

seiner Sommerküche zum Verweilen aufstellte.

alles nur theater

Der berühmte Schauspieler H. P. M. sollte den Teiresias

in „Antigone“ übernehmen. Ein Kollege war erkrankt.

Ich selbst habe diese Rolle am Staatstheater

Cottbus gespielt und weiß um die Schwierigkeit dieser

Figur. Teiresias ist ein Seher, ein blinder Seher. Er

tritt erst zum Schluss des Stückes auf und hat nur einen

einzigen Dialog, nur eine einzige Chance sich bei

den Zuschauern einzuprägen. Eine kurze Rolle. Eine

wichtige Rolle. Eine sauschwere Rolle! Du trittst auf

und trittst ab. Du kannst nichts wieder gut machen,

du hast nur diese eine Chance. In der Übernahme trat

H. P. M. von seinem Blindenführer, einem Knaben,

geleitet, auf die Bühne an die Rampe. Seine Hand griff

61


in die Tasche des Kostüms und holte den Zettel hervor,

auf dem der Text stand. Der Blinde las seinen gesamten

Text vom Spickzettel ab. Dann steckte er ihn

bedeutungsschwanger in seine Tasche zurück, schloss

seine Augen wieder und übergab sich ganz dem Begleiter,

dem Knaben. Beide gingen würdevoll von der

Szene.

kurt böwe

Ich habe wenig in meinem Leben mit Film zu tun gehabt,

einmal aber richtig! Konrad Herrmann führte

Regie in dem Film „Rublak - Die Legende vom vermessenen

Land“. Ich spielte die Rolle des Brigadiers

bereits am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen

und wurde dort von Konni für die Rolle in seinem

Film entdeckt. Für mich war diese Begegnung bedeutend.

Ich kam mit Kurt Böwe zusammen, den ich

mit meinem Trabbi oftmals zum Dreh abholte. Ich

durfte die Schauspielerin Doris Thalmer mit Wein

versorgen, als wir Darsteller in Weißwasser in einem

Arbeiterwohnheim übernachteten, indem es keinerlei

Möglichkeiten gab, nach den Dreharbeiten etwas zu

trinken. Bei diesen Raketen des Films und Theaters

mitzuhalten hatte ich Mühe. Ich könnte viel darüber

erzählen. Etwas ist mir besonders in Erinnerung

geblieben. Kurt Böwe, der an Theatern und im Film

62


so tiefe Spuren hinterlassen hatte, war plötzlich mein

Partner. Ich war sehr aufgeregt in Gegenwart dieses

Giganten. Deshalb überraschte mich etwas, als Kurt

Böwe mit mir einmal eine Filmszene spielte. Ich hatte

meinen Text drauf. Kurt Böwe nicht. Wir spielten die

Szene zusammen und er sagte immer, wenn er den

Text nicht wusste: „Wir sprechen Texte, Texte, Texte.“

Ich ging im Dialog weiter. Das Ganze wirkte für

mich, als absolutem Greenhorn im Filmgeschäft, absurd.

Beim Nachsynchronisieren erkannte ich, dass

das nicht nur geht, sondern niemals jemand bemerken

wird, sollte ein Darsteller beim Originaldreh seinen

Text nicht können. Vorausgesetzt, der Schauspieler ist

ein Pro wie Kurt Böwe. Ich war nicht der Einzige,

der Probleme hatte. Kurt Böwe hatte auch welche.

luis trenker

Der Schauspieler Kurt Böwe war ein hoch studierter,

kluger Mann. Verkörpert hat er Rollen, die sehr bodenständig

waren. Ich liebte Kurt Böwe. Ich verehre

ihn noch immer. Seine Darstellung im Film und auf

der Bühne bleibt unvergesslich. Als ich mit ihm zusammentraf

bei „Rublak“, erzählte er mir folgende

Anekdote: Er war in Halle engagiert und spielte den

Faust. Böwe saß nach der Probe auf einer Bank in der

Nähe des Hallenser Theaters, hatte sein Textbuch auf

63


den Knien und ging seinen „Faust“ nochmal durch.

Ein alter Mann setzte sich zu ihm. Böwe memorierte

leiser. Dem Mann el aber auf, dass da etwas für ihn

Ungewöhnliches vor sich ging. Schließlich fragte er:

„Sind Sie Schauspieler?“ Böwe antwortete: „Ja.“ „Was

machen Sie?“, fragte der Mann. Böwe antwortete:

„Faust, Goethes Faust.“ Der Mann schaute ihn ungläubig

an: „Faust? Goethe?“ Böwe: „Ja.“ Der Mann in

fürchterlichstem Hallensisch: „Luis Trenker, das war

een Schauspieler!“

ganz zart

Christoph Schroth inszenierte am Staatstheater Cottbus

„Die Umsiedlerin“ von Heiner Müller. Die Inszenierung

war epochal. Wir waren mit Luvos Heilerde, die

in Wasser zu Pampe angerührt wurde, eingeschmiert.

Von Kopf bis Fuß. Die Kostüme waren spärlich, nur

Zeichen, großartig. Für Kostüm, Maske und Bühnenbild

war Lothar Scharsich, einer der Besten seiner

Zunft, verantwortlich. Ich spielte den Ketzer und

mehrere andere kleine Rollen. Aber am meisten ans

Herz gewachsen war mir die Figur des Ketzers. Ein

grobgehauenes Holzpferd stand in der Mitte der Bühne,

die eine Arena war. Großes, freies Feld, ein herrlicher

Raum für Schauspieler. Auf diesem Pferd stand ich,

nur mit einem Lendenschurz bekleidet. Die Szene

64


dauerte, ich stieg ab vom Pferd, schlug mit schwerem

Eisenhammer auf einen bestimmten Punkt des Holzgefährtes,

es krachte zusammen. Eine Konstruktion

der Bühnentechnik ermöglichte diesen Vorgang. Ich

spielte die Szene sehr gern. Sie endete damit, dass ich

mich erhängte. Das Wertvollste aber war mir eine andere,

ganz bestimmte Stelle im Stück. Wir Schauspieler

standen zu Beginn der Vorstellung, noch für das

Publikum unsichtbar, hinter weißen Holztüren. Der

Abend begann damit, dass das gesamte Ensemble die

Nationalhymne der DDR sang, a cappella. Schroth

wollte, dass die Hymne ganz zart, leise, nur ahnbar

begonnen wurde. Ein Schauspieler durfte die Hymne

anstimmen, als Erster, in von Schroth gewünschter

Zartheit. Dieser Schauspieler war ich. Ich fühlte mich

geadelt. Danke, Christoph Schroth.

duschen

Ich hatte die Freude, in der Uraufführung „London,

Lübbenau, L. A.“ von Oliver Bukowski mit meiner

Kollegin Cornelia J. zu spielen. Danach kamen

wunderbare Rollen in „Gäste“, „Steinkes Rettung“,

„Lakoma“, alles Stücke von Bukowski. „Ich habe

Bryan Adams geschreddert“, in der Inszenierung von

Mario Holetzeck, wurde ein ganz hervorragender

Abend in Cottbus. Ich war leider nicht besetzt. Es gab

65


keine Rolle in meinem Alter. Zum 70. Jahrestag der

Neuen Bühne Senftenberg wurde die Uraufführung

„Birkenbiegen“ von Bukowski gegeben. Ein schöner

Abend. Bukowski gehört zu meinen Lieblingsautoren

der Gegenwartsdramatik. In „Lakoma“ spielte ich die

Hauptperson, einen Mann, der sich aufgrund dessen,

dass er aus Lakoma, seiner Heimat, vertrieben wurde,

mit Benzin übergoss und verbrannte. Dazu wurde

ich völlig nackt, ganzkörperlich schwarz geschminkt

mit löslicher Wasserschminke. Dieser Vorgang des

Schminkens war eine Meisterleistung meiner Maskenbildnerin

und langjährigen Freundin Briggi. Es

musste sehr schnell gehen und der Effekt, dass da eine

verkohlte Leiche stand, sollte überzeugen. Das Stück

an sich war sehr kurz. Als wir uns verbeugten, schien

das Publikum jedes Mal irritiert, es erwartete einen

zweiten Akt. Aber das war schon der Stückschluss.

Umso erzählenswerter, nde ich, ist die Tatsache,

dass ich nach der Vorstellung länger in der Dusche

stand, um mich von der schwarzen Farbe zu befreien,

als das Stück dauerte. Die mit mir nach getaner

Arbeit duschenden Techniker lachten sich über mich

jedes Mal halb tot. Immerhin habe ich meine Technikjungs

jedes Mal nackt sehen dürfen. Meine Bettwäsche

zu Hause aber war lange noch gezeichnet von der

schwarzen Farbe. Kunst fordert eben Opfer.

66


hässlicher klotz

Wir gastierten mit „Hamlet“ in Winterthur in der

Schweiz. Die Spielstätte war ein moderner Theaterbau

mit Fahrstühlen, hochtechnisch, funktionell, aber ein

hässlicher Klotz, wenn man an unser wunderschönes

Jugendstiltheater in Cottbus denkt. Kompliziert

war die Benutzung der Fahrstühle. Obwohl wir oft in

Winterthur gastierten, habe ich das System nie ganz

verstanden. Ich stieg aus und war nie da, wo ich hinkommen

wollte. Mein Kollege Olli B. el der Sache

auch zum Opfer. Er betrat den Fahrstuhl, um auf

die Bühnenebene zu gelangen, stieg aus und war in

der falschen Etage. Wir Schauspieler auf der Bühne

warteten auf Olli. Er spielte den König. Seine Königin

stand in der Mitte der Szene. Rosenkranz und

Güldenstern lagen vor der Königin bäuchlings auf

dem Theaterboden, alle in Erwartung des Königs. Er

kam nicht. Nach gefühlten Stunden war er immer

noch nicht da. Raunen im Publikum. Der Fehler war

erkannt. Da ng die Königin wie ein Marabu an mit den

Armen zu wedeln und erfand Texte. Immer aufgeregter

rief sie: „Mein König, wo seid Ihr? Mein König. Mein

König, wo bleibt Ihr, mein König? Mein König, wo

seid Ihr?“ Rosenkranz und Güldenstern, einer von

beiden war ich, schüttelten sich vor Lachen und

waren froh, dass sie mit den Gesichtern nach unten auf

der Bühne lagen. Das irritierte die Königin noch mehr.

67


68


Die Frequenz ihres Flügelschlags nahm zu. Endlich

erschien König Olli: „Ach, hiiier seid Ihr!“ Diese

Worte benutzt Olli seitdem immer wieder, wenn er zu

spät zu einer Probe kommt. So wurden diese Worte

zu geügelten Worten. „Ach, hiiier seid Ihr!“

der sattel

Im schweizerischen Winterthur zeigten wir „Die

Zähmung der Widerspenstigen“, inszeniert von meinem

Lieblingsregisseur Alejandro Quintana. Olli B.

spielte wiedermal King, ich war Grumeo, sein Diener.

Höchstselbst hatte ich eine geniale Idee! Auf meinen

Schultern war ein Pferdesattel platziert, auf dem

Olli saß. So betraten wir die Bühne. Der King, reitend

auf seinem Pferd, dem Knecht, mir. Alejandro

war begeistert von dem Vorschlag. Ich kriegte einen

sau-schweren Lederpferdesattel auf meine Schultern

gelegt. Olli setzte sich, von einer Leiter im Hintergrund

der Bühne absteigend, darauf. Alejandro fand das Bild

so stark, dass er uns vom Magazin des Theaters, also

von ganz ganz hinten, in geradem Gang bis vor zur

Rampe sehen wollte. In meinem Mund, dem Pferdemaul,

war die Kandare aus Eisen. King Olli, die Zügel

in der linken Hand, mit der rechten elegant Zigarette

rauchend. Ich trug knallenge, rot-schwarz-gestreifte

Hosen und ein Lederwams. Auf dem Kopf ein

69


knallrotes Tuch, gebunden, wie es Piraten taten.

Im Ohr trug ich eine Kreole. Johnny Depp war ein

Scheißdreck dagegen! Noch heute danke ich der Kostüm-

und Bühnenbildnerin Gundula M. für dieses

geile Kostüm. Ich war damals 83 Kilo schwer. Olli garantiert

schon 99. Auf meinen Schultern also ein vielleicht

10 Kilo schwerer Pferdesattel, dazu das schwere

Ding von King. Als wir direkt vor den Zuschauern an

der Bühnenrampe angekommen waren, endlich stehen

blieben, konnte ich nicht mehr. Jedes Mal hatte

ich auf diesem elend langen Gang gezweifelt, ob ich

überhaupt jemals dort ankommen würde. Oft habe

ich Olli angeeht, seinen Monolog schneller anzufangen,

damit ich sein Gewicht nicht unendlich lange

ertragen müsse. King Olli aber ließ sich Zeit, rauchte

auch nach Ankunft an der Rampe noch genüsslich

und tätschelte mit seiner linken Hand liebevoll

mein verzerrtes Gesicht mit der Kandare im Maul.

Ich hasste ihn in diesem Augenblick. War das noch

Olli, mein Lieblingskollege, vor dem ich stets den Hut

zog? Wir waren also in Winterthur. In der Mitte der

Bühne angekommen ging es hier absolut nicht mehr

weiter. Ich warf King Olli ab, indem ich mich nach

links neigte. Er glitt elegant vom Sattel und stand da,

ganz King. Ich hatte beim Abwerfen des Sattels und

der Scheißkandare nicht an die Lederriemen gedacht,

die über mein rechtes Ohr in der Art ratschten, dass

70


mir die Kreole aus dem Ohrläppchen gerissen wurde.

Ich blutete wie ein Schwein. Nicht umsonst wird

einem am Ohr oder am Finger Blut abgenommen,

weil es da so gut kommt. Der Bühnenboden war eine

einzige Blutlache. Die Requisite kam mit einem Eimer

und wischte um uns herum das Blut weg. Ich bekam

einen Wattebausch, um ihn gegen das Ohr pressen

zu können. Der Abend verlief aber ansonsten normal.

In der Zeitungskritik am nächsten Morgen war

zu lesen, dass das Cottbuser Staatstheater nicht vor

Naturalismen, vor spritzendem Blut auf der Szene,

zurückschreckte. Ich kann es jedem, der mir meine

Geschichte nicht glaubt, beweisen. Mein rechtes Ohrläppchen,

das Loch für den Ring und der inzwischen

zwar verheilte, aber noch sichtbare Schlitz existieren

tatsächlich. Seit diesem Auftritt in Winterthur bin ich

ein Schlitzohr, im wahrsten Sinne des Wortes.

wortbrüchig

Im Stück „Der Geizige“ von Molière spielte ich den

Diener La Flèche. Regie führte Alejandro Quintana.

An einer bestimmten Stelle des Stückes holte dieser

La Flèche eine Schriftrolle von beträchtlichem Ausmaß

aus seiner Tasche. Dann verlas er dem Geizigen,

was ihn die Hochzeit kosten würde. Er sagte ihm,

wie viele hunderte von Metern Stoff gekauft werden

71


müssten, welche Schmuckstücke und Accessoires,

eine gewaltige Liste von Kostbarkeiten eben. Im Stück

liest der Diener alles von einer endlosen Papierrolle

ab. Aber der Text gleicht eben einem langen Monolog.

Ich fragte Alejandro, ob ich dann in der Vorstellung

auch von der Rolle ablesen dürfe, oder den Text auswendig

können müsse. Er antwortete: „Nein, nicht

auswendig.“ Ich, der es ohnehin nicht so mit Text hat,

war erleichtert. Flugs bastelte ich mir ein Requisit,

diese Rolle, und präparierte sie mit dem Text. Eine

Probe lief besser als die andere. Schließlich hatte ich

beim Ablesen der vielen, vielen Worte ein Tempo erreicht,

dass Alejandro auf die Bühne kam, seine Hand

zärtlich auf meine Schultern legte und zu mir sagte:

„So, jetzt ohne. Du packst das.“ Für mich brach eine

Welt zusammen. Mein Lieblingsregisseur war wortbrüchig

geworden.

sicher ist sicher

„Minna von Barnhelm“ in Cottbus. Regie führte

Christoph Schroth. Ich spielte zum zweiten Mal in

meiner Laufbahn den Feldjäger. Diese Rolle gab ich

zu Beginn meiner Karriere schon als Student am

Dresdner Staatstheater. Meinen Debütauftritt hatte

ich damals verpatzt. Seither war ich der Briefträger

ohne Brief. Ob Christoph Schroth diese Geschichte

72


zu Ohren gekommen war, kann ich nicht beweisen.

Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass er sich einen

Spaß mit mir machen wollte. Wir haben darüber

nie gesprochen. Ich spielte den Feldjäger und bekam,

oh Wunder, eine Papprolle gewaltigen Ausmaßes in

die Hand. Diese Papprolle war mit Leder überzogen

und hatte eine Verschlusskappe, ebenfalls aus Leder.

Die Hülse, wie sie Architekturstudenten oder Maler

verwenden, um großächige Papiere eingerollt zu

transportieren, beinhaltete den alles entscheidenden

Brief, der Tellheim als Offizier rehabilitiert. Dramaturgisch

ist dieser Brief tatsächlich von großer Bedeutung

im Stück. Und vielleicht haben Regisseur und

Bühnenbildner, Lothar Scharsich, nur der Bedeutung

des Briefes Größe verschaffen wollen durch so ein

monströses Gerät. Aber möglicherweise war diese

ein Meter zehn lange Granate nur so groß, damit ich

nicht wieder vergaß, sie mit auf die Bühne zu bringen.

Sicher ist sicher.

karriereknick

Das berühmte Stück „Purpurstaub“ von O’Casey

hatte mich als junger Mann in der Inszenierung von

Regisseur Simmgen am Berliner Ensemble fasziniert.

Bis heute sehe ich das Stück, die Bühne, die Darsteller

vor mir. In Cottbus spielte ich in „Purpurstaub“

73


74


den Basil Stoke, einen durchgeknallten Großkotz, der

mit seinem Kumpel ein Schloss beziehen will. Ständig

trug er ein riesiges Portrait von sich, in Öl gemalt, mit

goldenem, schwerem Bilderrahmen, wie eine Monstranz

vor sich her. Es gab nur wenige Auftritte ohne

diesen Schinken. Selbstverliebt sah er sich immer

wieder auf dem Bild an. Dorian Gray betrachtete sich

im Spiegel. Das Bild hatte gewaltige Ausmaße, Basil

Stokes Narzissmus entsprechend, ein Theaterzeichen.

Gemalt worden war es von Horst Leiteritz, der auch

für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich war.

Wenngleich ich auch nie ein Schloss beziehen würde,

aus nanziellen Gründen auch gar nicht könnte, entdecke

ich doch immer wieder Ähnlichkeiten mit der

Selbstverliebtheit dieser Bühnengur. Ich habe ein

Haus in Lieberose. Dort wurde meine Großmutter 89

Jahre alt. Bis zu ihrem Tode benutzten wir beide das

Trockenklo mit Herzchen. Es war ein luftiges Gehäuse,

durch das im Winter der Schnee stiebte und im

Sommer die Würmlein unter einem zu sehen waren.

Dort verweilte man, wenigstens ich, nur die allernötigste

Zeit. Ein gruseliger Ort, vom Duft und den

Fliegen ganz zu schweigen. An der Rückwand dieses

Klos, Sie werden es nicht glauben, stand das große,

von Horst Leiteritz gemalte Ölbild des Basil Stoke.

Ich konnte im wahrsten Sinne des Wortes behaupten,

dass ich gelegentlich auf mich schiss. Dieses Gemälde

75


hatte ich, als die Inszenierung abgesetzt worden war,

gegen üssige Naturalien meinen Kollegen aus dem

Malsaal abgehandelt. Und nun erlebte das Bild einen

so erniedrigenden Karriereknick.

verraten

In „Wunschpunsch“ von Michael Ende führte Sewan

Latchinian Regie. Das Ganze ereignete sich in Cottbus

im Haus der Bauarbeiter. Wie oft in Kinderstücken,

gab es die Guten und die Bösen. Ich war der Böse,

Benedictus Made. Die Guten waren zwei liebenswerte

Tiere. Eines der Viecher war ein Rabe und hieß Jacki

Krackel, das andere war der Kater Maurizio di Mauro.

Das Kostüm des Katers war so schwer und so warm,

dass der Darsteller in ihm immer fast kollabierte. In

der Pause befreite man ihn kurzzeitig aus diesem Gefängnis,

trocknete ihn ab, fächelte ihm Luft aus Ventilatoren

zu, föhnte ihn von allen Seiten, so dass er

leidlich erholt in die zweite Runde gehen konnte. Der

Darsteller dieser Figur war der grazile, wunderbare

Schauspieler Matthias B. An einer bestimmten Stelle

des Stückes versteckten sich beide Tiere in einem

Müllcontainer und baten die Kinder im Zuschauerraum,

ihr Versteck nicht zu verraten. Benedictus

Made trat auf, der Böse. Er suchte die Guten. Ohne

aufgefordert zu werden, brüllten die Kinder, der

76


ganze Saal: „Da sind ’se!“, und zeigten auf den Container.

Sie verrieten die Guten. Bei Benedictus Made,

dem Bösen, klatschen sie wie die Verrückten. Sie liebten

das Böse. Hatten wir was falsch gemacht?

befriedigt

Hella Müller inszenierte „Garage“ im Haus der Bauarbeiter.

Ich war frisch engagiert und stolperte so

langsam ins Cottbuser Ensemble. Meine Rolle machte

mir Spaß, ich fand meine Kollegen wunderbar, das

Bühnenbild war fantastisch, ganz in Gelb, riesengroße

Giraffen, einfach toll! Mit mir spielte eine Schauspielerin,

die mir von Anfang an dadurch auffiel, dass

sie mir missel. Sie nörgelte, schien immer auf dem

Pfad der Beleidigten, der Falschverstandenen zu wandeln.

Sie war blasiert, nicht hübsch, zickig, einfach

eine blöde Kuh. Die Atmosphäre zwischen uns war

dementsprechend aufgeladen. Was würde passieren?

Ich erwartete Schlimmstes. Eines Tages baute sie sich

vor mir auf und brüllte mich an: „Herr Becker, Sie

betonen alles falsch. Alles! Verstehen Sie mich, Herr

Becker?“ Ich war baff. Bald erfuhr ich, dass diese Kollegin

im gesamten Ensemble verhasst war. Ich war tief

befriedigt.

77


canossagang

Am Deutsch-Sorbischen Volkstheater Bautzen inszenierte

Heinz-Uwe Haus, eine DDR-Regieberühmtheit,

als Gast „Die Hilfeehenden“ von Euripides,

ein Stück, das heute auf allen Bühnen gespielt werden

müsste. Ich gab König Adrastos. Eingekleidet

waren wir von einem chilenischen Kostümbildner.

Sehr archaische, farbige, kräftige, ungewöhnliche

Kostüme. Wir trugen Masken. Antikes Theater. Die

Proben verliefen für mich schlecht. Irgendwann war

ich so zu, dass der Regisseur mich umbesetzte. Ich

hatte hier Mackie Messer 38 Mal mit großem Erfolg

gespielt! Nun saß ich da, ein Häufchen Elend,

hatte das Gefühl überhaupt nichts mehr zu können.

Eine besondere Nuance war, dass ich stets bei den

Proben zu erscheinen hatte und dem Kollegen, der

mich ersetzen sollte, zusehen musste. Jeder Tag ein

Canossagang. In der Zeit habe ich viel getrunken.

Ich glaubte, dass mir das über den Schmerz helfen

würde. Jähe Wendung. Der Regisseur bat mich zu

einem Gespräch. Er entschied, dass ich die Rolle

doch spielte. Der Kollege auf der Bühne, der gerade

noch meine Rolle probierte, musste wegtreten. Da

braucht’s ein dickes Fell.

78


abseilen

Frisch engagiert traf ich mit meinem Schauspieldiplom

in der Tasche in Jonsdorf auf der Felsenbühne

ein. Sie gehört zum Theater Görlitz/Zittau, an das

ich nun engagiert war. Mein erstes Engagement

und gleich eine Hauptrolle! Ich sollte den Tom in

Mark Twains „Tom Sawyers Abenteuer“ spielen. Mir

schwebten Monologe vor, ich wollte Ausbrüche geben,

wollte textlich brillieren, eine wunderschöne Rolle

hinlegen. Die regieführende Oberspielleiterin Anne

Eicke begrüßte mich, stellte mich dem Ensemble und

dann Herrn Krause vor. Herr Krause war ein Bergsteiger.

Frau Eicke eröffnete mir, dass ich die nächsten

Tage mit ihm verbringen würde. Wozu? „Sie lernen

von ihm das Beklettern von Felsen und das Abseilen

von selbigen.“ So befand ich mich mit Herrn Krause

im Zittauer Gebirge, in Jonsdorf und seilte mich von

Felsen ab, bis ich es einigermaßen konnte. Das war

der Anfang meiner Schauspiellaufbahn.

allergie

Am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz/Zittau gab

es einen Regisseur und eine Souffleuse, die ein Paar

waren. Sichtlich ineinander verliebt, schienen sie eine

etwas eigenartige, aber harmonische Beziehung zu leben.

Der Mann hieß Lothar, und ich spielte einmal

79


unter seiner Regie im Stück „Sonnenblumeninsel“ den

Kellermann. Trauti, seine Geliebte, war mir besonders

nahe. Wir mochten uns. Sie hatte eine einzigartige

Gabe. Sie war gütig wie eine Heilige. Lothar, ihr Geliebter,

litt zunehmend unter Atemnot. Man meinte,

er hätte eine Allergie. Worauf war er allergisch? Trauti

hatte schulterlange, knallrote Haare. Die Geschichte

klingt nach der Kurzgeschichte „Das Geschenk der

Weisen“ von O. Henry! In der Geschichte, einer Geschichte

von der ganz großen Liebe, opferte die Frau

ihre langen Haare für ein Weihnachtsgeschenk, das

sie ihrem Mann macht. Wie die Geschichte ausgeht,

müssen Sie unbedingt nachlesen. Lothars Allergie,

stellte sich heraus, kam von den wunderschönen, langen,

roten Haaren seiner Trauti. Er reagierte allergisch

auf seine Geliebte. Ist das nicht schrecklich?

schade

Im Zittauer Theater wurde „Die Glückskuh“ von

Hermann Essig gegeben. Ein Volksschwank, in dem

eine Bühnenkuh aufzutreten hatte. Die wurde vom

Berliner Ensemble geliehen. Sie war das Produkt des

großen Bühnenbildners Eddie Fischer und spielte

in der bekannten „Purpurstaub“-Inszenierung von

Hans-Georg Simmgen mit. Ich hatte diese Kuh als

junger Mann schon gesehen. Jetzt hatte ich die Ehre,

80


mal das Hinterteil und mal das Vorderteil der Kuh zu

geben. Jedenfalls steckten in dem Monstrum immer

zwei Schauspieler. Diese konnten einiges in ihr veranstalten

und taten es auch. Wenn man, für das Publikum

unsichtbar, in der Kuh schwitzend, an Strippen

zog, konnte diese Kuh mal mit dem rechten, mal mit

dem linken Augenlid blinzeln. Die Kuh konnte ihr

Maul auf und zu machen, mit den Zähnen blecken

und die Zunge rausstecken. Der Hintermann konnte

per Strippenzug mit dem Schwanz wedeln, ihn sogar

aufstellen. Der Unterleib dieser Kuh war zwar mit Riemen

verschließbar, jedoch gab es, für das Publikum

unsichtbar, Lücken im Stoff, so dass ein wenig Luft

an die Darsteller in der Kuh gelangen konnte. Neben

der Hauptrolle in diesem Stück spielte ich, wie gesagt,

immer wieder mal die Kuh, mal hinten und mal vorne.

Wie Schauspieler nun einmal sind, entwickelte

sich im Laufe der Vorstellungsreihe Schreckliches,

zum Vergnügen des Publikums aber Großartiges.

Mal streckte ich meine linke Hand durch den Unterleib

der Kuh, sodass ich eine Zitze des Euters erfassen

konnte und mich sozusagen selbst molk. Auf offener

Bühne! Jedes Mal Riesenlacher. Als ich dann einmal

mit meiner rechten Hand von innen durch das Kuhmaul

den Zuschauern zuwinkte, war’s aus. Ich wurde

zum Intendanten bestellt und verwarnt, diese derben

Späße zu unterlassen. Schade.

81


82


sonnis rose

Meine Antrittsrolle in Bautzen am Deutsch-Sorbischen

Volkstheater war Winston in „Die Insel“ von

Fugard. Regie führte Dietrich Zimmermann. Er war

ein großer Künstler und Menschenführer. Ich habe

ihm in einem meiner Bücher eine eigene Geschichte

gewidmet. Die Premiere fand statt und war ein Erfolg.

Das Publikum klatschte, war begeistert. Die Inszenierung

spielte sich auf der Probebühne des Theaters

ab. Die Leute saßen um uns herum. Die Zelle, in der

das Stück spielte, wurde von einem Kreidekreis angedeutet.

Wir waren dem Zuschauer sehr auf die Pelle

gerückt. Das hatte einen großen Reiz, für beide Seiten.

Bei der Verbeugung kam eine schöne junge Frau

auf mich zu, übertrat den Kreidestrich und legte mir

eine Rose zu Füßen. Ich freute mich wie Bolle. Das

kannte ich nicht. Doch, das kannte ich! Aber aus der

Sowjetunion. Da gab es sowas. Die Zuschauer huldigten

dort ihren Künstlern nach jeder Vorstellung und

überschütteten sie mit Blumen. Die schöne Frau in

Bautzen war Sonni, eine Tänzerin aus Dresden, die

nach der Palucca-Schule bei Tom Schilling an der

Komischen Oper in Berlin tanzte und mit meinem

damaligen Lebenspartner Thomas eng befreundet

war. Danke Sonni.

83


das einhorn

In Bautzen sollte ich im Stück „Das tapfere Schneiderlein“

das Einhorn spielen. Regie führte Rita Hladik,

deren Ehemann, Peter Hladik, ein Schauspieler am

Berliner Ensemble war. Da kam etwas Besonderes

auf mich zu. Rita Hladik war besonders. Sie war eine

schöne, schwarzhaarige Frau, die einen langen, kräftigen

Zopf trug. Ihre Augen waren pechschwarz. Sie

wirkte auf mich wie ein Wesen aus einer anderen

Welt. Ihre Idee war es, das Einhorn im Weihnachtsmärchen

ausschließlich in einem Rhönrad agieren zu

lassen. In was für einem Rad? So fuhr ich dann nach

Dresden, um von der Deutschen Rhönradmeisterin

persönlich trainiert zu werden. Diese begleitete in

Bautzen dann auch die Endprobenphase. Was sich in

der Praxis auf der Bühne später alles abspielte, will

ich hier nicht beschreiben. Aber es funktionierte. Ich

stand, oder hing, in diesem Rhönrad, trug ein graues,

hautenges Dress, auf der Stirn eine gewaltige Möhre.

Das Einhorn. Es funktionierte. Tatsächlich. Aber

fragen Sie mich nicht, wie.

zille

In meiner Geburtsstadt Lieberose hatte ich einen

Freund, den ich schon aus Dresdner Zeiten kannte. Er

schrieb gelegentlich Kritiken für Theater. Später war

84


er Kulturminister in der Modrow-Regierung. Einmal

waren mein damaliger Lebenspartner Mike und ich

unter den vielen Gästen, die er zu seinem Geburtstag

in sein frisch bezogenes altes Haus eingeladen hatte.

Der bekannte Maler Rainer Zille, der Direktor an der

Kunsthochschule Dresden war, befand sich auch unter

den Gästen. Sie sehen, dass es sich bei diesem Zille

nicht um Heinrich gehandelt haben konnte. Dieser

Zille, von dem ich ein wunderschönes Bild besitze,

war ein Unikum. Zu Mikes Geburtstag war er bei uns

Gast und mischte die Geburtstagsgesellschaft kräftig

auf. Eine untersetzte, dickliche Person. Er trug einen

brauen Leinenkaftan, der bis zum Boden reichte,

dazu eine Tupiteka. Zille sah aus wie ein Kameltreiber

und sprach dazu reinstes Sächsisch. Er war uneitel bis

dort hinaus, hatte viel Humor, war ein richtig sympathischer

Kerl, ein herrlicher Sachse, eine Persönlichkeit.

Bei der Fete des Kulturministers war er auch

dabei. Die Gäste waren fast ausschließlich Künstler,

Garderobe entsprechend. Viele trugen das berühmte

„Brechtsche Grau“ bis hin zu ganz frischen Schwarztönen.

Der Gastgeber trug russische grünlich-graue

Militärunterwäsche. Clowns unter sich. Nun kam der

Clou der Veranstaltung. Das reichlich angesäuselte

Publikum ergoss sich auf dem Hinterhof des Hauses.

Man blickte auf eine Balustrade, die wie eine Bühne

wirkte. In der Mitte die Tür zum Hof, sie öffnete sich.

85


Eine schöne weibliche Person stand im Türrahmen.

Sie trug ein langes, knallrotes Abendkleid. Einer griechischen

Göttin gleich, stand da etwas, was hierher so

ganz und gar nicht hinzupassen schien. Die Lichtgestalt,

auf die jetzt alle Augen gerichtet waren, sonderte

erste Texte ab, die ihrem Outt entsprechend gehoben

waren. Die Künstlermischpoke erstarrte. Zille ergriff

als Erster das Wort und sagte in schönstem Sächsisch:

„Nu, meene Kleene, lass erscht mal een Fortz.

Denn kommste runda.“ Pause. Dann grölte die Bande,

unmanierlich, wie sie nun einmal war. Der Erzengel

in Rot versteinerte. Er schien die Welt nicht zu

verstehen.

assisi

In Cottbus stand ein besonders Stück auf dem Spielplan.

Schauspieler, Tänzer und Musiker sprachen kein

Wort. Thema und Mittelpunkt dieser Performance

war ein großer Heiliger, der Franz hieß. Sein Nachname

ließ auf seinen Heimatort schließen. Die stückbetreuende

Dramaturgin hatte einen akuten S-Fehler,

das heißt, sie konnte das S nicht so aussprechen, wie

es ausgesprochen werden möchte. Dieser S-Fehler

machte sie sympathisch. Menschen ohne Fehler, perfekte

Menschen, sind langweilig. Auf die Frage, wo

der nächste Urlaub hingehen würde, antwortete sie

86


aber mit einem Satz, der für S-Fehlermenschen verboten

sein müsste. Sie sagte: „Ich fahre diesen Sommer

nach Assisi.“ 5 Mal S. Einfach süß.

namen

In dem russischen Stück „Eine Dummheit macht

auch der Gescheiteste, oder wie man Karriere macht“

von Ostrowski spielte ich die Hauptrolle. An einer bestimmten

Stelle des Stückes wurde ich nach meinem

Namen gefragt. Ich wusste ihn nicht. Da war etwas,

was nicht zu beschreiben war. Jedenfalls half mir der

Partner mehrmals aus, indem er sagte: „Sie sind doch

der…“. Als ich in Cottbus später mit meinem Kollegen

Fiete Jantzen sprach, der mich 1985 an das Cottbuser

Theater engagiert hatte, und ihm von dieser Geschichte

erzählte, verblüffte er mich. Er sagte, dass ihm das

genauso passiert wäre, als er diese Rolle am Freiberger

Theater spielte, immer an der gleichen Stelle wie

mir. Es muss an etwas gelegen haben, was nicht mit

uns Darstellern zu tun hatte. Höchstwahrscheinlich

dann mit dem Autor. Sehr wahrscheinlich sogar. Darüber

waren wir beide uns einig. Vollkommen einig.

Sie können mich totschlagen, mir fällt dieser Name

schon wieder nicht ein. Schuld hat Ostrowski.

87



www.beckergeschichten.de

Erschienen im Eigenverlag

Printed in Germany

1. Auage 2017

Alle Rechte vorbehalten:

Michael Becker (Text)

Meinhard Bärmich (Illustrationen)

Brigitte Duhra (Buchgestaltung)

Druck: Druckzone GmbH & Co. KG, Cottbus

ISBN 978-3-00-056196-2




Theater! Mannigfaltig werden da

Assoziationen geweckt! Eine besondere

Welt in der wirklichen? Musentempel.

Laune, Lust, Leidenschaft.

Zum Niederknien. Anbetenswert.

Erkenntnisgewinn. Ein Spielplatz,

um Vieles auf den Punkt zu bringen.

Spielkunst. Novalis meinte: Spielen

ist Experimentieren mit dem Zufall.

Welch wundervoll-kuriose Zufälle

konnte Michael Becker in seinem

wunderbaren Beruf, seiner Berufung

erleben! Und wie Recht hat Voltaire,

wenn er sagt: Das Theater bildet

mehr als ein dickes Buch. Stimmt es,

was ein deutsches Sprichwort meint:

„Das Spiel zeigt den Charakter?“

Allen, die sich Michael Beckers

5. Buch zu Gemüte führen, wünsche

ich genussvolles Schmunzeln und

mehr! Schließlich darf man dabei

Shakespeare gedenken, der in „Wie

es Euch gefällt“ zu bedenken gab:

Die ganze Welt ist Theater.

Gudrun Hibsch, Cottbus, 2017

9 783000 561962

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!