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Blauer Mond September

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Jutta Schlott

Zu Fuß durch die Mecklenburgische Schweiz

BLAUER MOND SEPTEMBER

Ein Tagebuch

Wiesenburg Verlag


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar

1. Auflage 2016

Wiesenburg Verlag

Postfach 4410 • 97412 Schweinfurt

www.wiesenburgverlag.de

Alle Rechte bei der Autorin

Foto der Autorin: Peter Festersen

Buchgestaltung: Brigitte Duhra • www.duhra.de

ISBN 978-3-95632-395-9


ERSTER TAG

Donnerstag, 10. September

Neben den Schienen liegt eine tote junge Ratte. Der Kopf blutig. Die Krallen zierlich gekrümmt,

als bitte sie um etwas.

Ich könnte sie fotografieren. Es scheint mir pietätlos. Picasso hätte sie gezeichnet oder gemalt;

aus dem Gedächtnis. Nichts von Picasso, bitte ich mein Gedächtnis. Ein Jahr lang habe ich fast

nur an ihn und über ihn gedacht. Das Manuskript ist abgeschlossen. Für eine kurze Weile will

ich mir den Meister vom Leibe halten.

Zwölf Tage ohne Pflichten liegen vor uns. Mit der Bagage für die kleine Auszeit – zwei Rollis,

zwei Rucksäcke und die Provianttasche – warten Friderico und ich auf dem Schweriner Bahnhof

auf unseren Zug ins östliche Mecklenburg, nach Teterow.

Der Zug hat Verspätung, eine Viertelstunde. Nichts zum Aufregen, das Übliche. Friderico schreitet,

die Wartezeit zu überbrücken, den Bahnsteig ab. Einmal rauf, einmal runter und retour.

Routine-Sicherheitsgriffe in den Rucksack: Handy, Fahrkarte, Geld und Geldkarte – alles da. Im

Rucksack steckt auch die Versandtasche mit “Spaniens Himmel“, meinem Tagebuch auf Picassos

Spuren. Das Manuskript, das Typoskript, der Ausdruck. Kurz vor Mitternacht war ich mit der

Korrektur fertig. Der zwölften, der achtzehnten? Es mußte die letzte sein, wenn das Buch in diesem

Jahr erscheinen soll.

Verlegerin Frau Dr. Krempien hat sich angeboten, den Text zu lektorieren. Mehr als ein Freund-


schaftsdienst. Ein generöses Angebot. Mein Verlag beschäftigt keinen Lektor, der die Arbeit leisten

könnte, müßte. Was in meinen Korrekturkräften lag, hatte ich getan, für ein freundliches

Anschreiben reichte die Kraft nicht mehr. Muß in den nächsten Tagen erledigt werden.

Ich taste nach dem Schlüsselbund in meiner Jackentasche, die Schlüssel für Bristow.

Schlüsselübergabe war gestern. Rike und Camü gehört das Bootshaus am Malchiner See, wo

wir uns einquartieren dürfen. Sie hatten in Hamburg zu tun und haben sich via Berlin zu einem

Abstecher nach Schwerin entschlossen: Um uns die Schlüssel zu bringen und für einen Gang

über die BUGA.

Wie verabredet, warten Friderico und ich vorm Eingang in Schloßnähe. Mein Handy klingelt.

Rike meldet Malheur mit dem Auto, die Frontscheibe ist raus. Sie müssen zu einer Werkstatt in

Süd, dem alten Industriegebiet der Stadt. Um etwa eine Stunde werden sie sich verspäten.

Friderico und ich zücken unsere Dauerkarten für die BUGA und drehen eine Runde durch den

alten Burggarten am Schloß, durch den Grüngarten, ein Lenné-Entwurf. Flüchtige Blicke auf

die Resultate gärtnerischer Mühe der Jetztzeit. In den vergangenen Wochen habe ich viele Male

Gäste von auswärts über das Gelände geführt. Freunde, Bekannte, Verwandte. Mit zwiespältigen

Gefühlen. Der Event steht im Mittelpunkt, die Show. Nicht Pflanzen als Teil der Natur. Ich bin

altmodisch, gewiß. Und heute bin ich eigentlich schon weg.

Anfang September, aber nur ein paar Grad über Null. Die Besucher rings ums Schweriner Schloß

tragen dicke Anoraks, die jungen Leute haben ihre Kapuzen hochgeschlagen.

Wir traben zurück zum Eingang, die Stunde ist um. Noch ein halbes Stündchen, dann erscheint


das Paar. Rike winkt und strahlt. Eine Augenweide, wie immer. Kurzes, tailliertes Kostüm, freches

Hütchen auf den roten Haaren. Camü, sportlich zurückhaltend, trotzdem elegant. Schöner

Anblick, die beiden.

Für einen BUGA-Rundgang reicht die Zeit nun nicht mehr, aber für einen Kaffee.

Wenn es euch nur nicht zu kalt ist, meint Rike und reicht mir das Schlüsselbund über den Tisch.

Auf dem Dachboden steht ein Radiator, aber wenn man ihn anstellt, fliegt meist die Sicherung

raus.

Tagsüber latschen wir durch die Gegend und abends wärmt uns der Wein, versuche ich die Jüngere,

die fast meine Tochter sein könnte, zu beschwichtigen.

Schnelles, intensives Gespräch. Wir sehen uns selten. Rike und Camü haben sich eine Zwischenheimat

in der Schweiz eingerichtet. Die wichtigsten Neuigkeiten sind ausgetauscht. Das Paar

schwirrt davon. –

Eine schrille Lautsprecherstimme verkündet die Ankunft des verspäteten Zuges auf Bahnsteig

Eins. Wohl um den Fraß zu sichern, hatte sich eine Krähe neben der toten Ratte niedergelassen.

Jetzt streicht sie ab.

Friderico eilt herbei und greift seinen Anteil am Gepäck.

Die Waggons sind fast leer. Keine Reisezeit mehr, die Urlauber an die Ostseeküste treibt. Nach

zehn Minuten Fahrt, in Bad Kleinen, steigen wir um und hieven unsere Bagage am gegenüberliegenden

Gleis ins Triebwagenfahrzeug. Eine uralte Huddel, die zwischen Lübeck und Szczecin

verkehrt.


Im vorderen Wagen sitzen Grüppchen junger Polen. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Ein

Pärchen im Jeanslook, Schulter an Schulter gelehnt. Sie schlafen.

Auch hier ist Platz genug. Eine Stunde Fahrt. Ich versuche, an nichts zu denken, nur die Landschaft

mit den Augen aufzunehmen. Es regnet. Dicke Tropfen prasseln. Rechterhand gleitet der

nördlichste Zipfel des Schweriner Sees vorbei.

Auf dem Bahnsteig in Bützow versucht ein Mann, sich einen Autoreifen auf den Rücken zu balancieren.

Ob es gelingt, bleibt ungeklärt, der Zug zuckelt weiter.

Güstrows Silhouette mit Schloß, Post und Dom erscheint vorm Fenster. Priemerburg, Lalendorf.

Nach Station Wokern lichtet sich der Himmel, die Wolken werden heller, sie reißen auf.

Kurz vor Teterow wirft die Sonne erste Strahlen über die triefnassen Weiden, die Wiesen. Auf

drei Pferde unter einer Pappel.

Der Bahnhof in Teterow – eine einzige Baustelle. Wir schlurren mit dem Gepäck durch knöcheltiefen

Kies. Die Fenster des Bahnhofsgebäudes sind in der unteren Etage mit Sperrholzplatten

vernagelt. Von den gußeisernen Säulen, die das Vordach tragen, blättert Farbe. Die Treppen bröckeln.

Grob gesprayte Graffitis auf den Klinkersteinen. Eitermale jugendlichen Frustes.

Unser Taxi – wie seit Jahren vorsorglich beim Unternehmen Schalk bestellt – steht auf der Straßenseite

parat. Meist fährt uns der Senior-Chef. Ein stattlicher, selbstbewußter Herr um die

Siebzig, eloquent, weltgewandt. Teure Jeans und edle Lederjacke. Heute wartet er im labbrigen

Trainingsanzug neben dem Wagen. Ein mürrischer, alter Mann. Knappe Begrüßung. Das Gepäck

verschwindet im Kofferraum.


Ich frage den Mißgelaunten, was mit dem Bahnhofsgebäude werden wird.

Weiß doch keiner, was hier wird, knurrt der Chauffeur. Sind alles mal Schmuckstücke gewesen.

Die Post steht seit sechs Jahren leer.

Der Bahnhof, ein solider Bau in neoklassizistischem Stil, wurde in den sechziger Jahren des

neunzehnten Jahrhunderts eingeweiht und mit ihm die Strecke über Malchin nach Neubrandenburg.

Zur Eröffnung erschienen beide Mecklenburgischen Großherzöge, der aus Schwerin

und der aus Strelitz. Ein Spitzentermin. Teterow war wichtiger Industriestandort: Waggonfabrik,

Brikettfabrik, Drahtzaunfabrik, Zuckerfabrik…

Wir steuern mit dem Taxi den nächsten Supermarkt an. Gleich um die Ecke, im Innenhof zwischen

Backsteinhäusern. Herr Schalk parkt den Mercedes neben der Getränkebude und läßt den

Zähler laufen. In den Vorjahren hatte er ihn kulant fixiert, wenn der Wagen stand.

Konzentrierter Einkauf. Wir müssen alles in Wagen packen, was wir für die Zeit im Bootshaus

brauchen. Im Domizil am See gibt es kilometerweit keine Gelegenheit, sich mit gekaufter Nahrung

zu versorgen. Wenn wir etwas vergessen, müssen wir es entbehren oder uns nach Teterow

aufmachen.

In das Gebäude des Supermarktes ist eine andere Kette eingezogen. Den vorbereiteten Zettel

können wir trotzdem abarbeiten: Nudeln, Reis, Butter, Milch und Brot, viel Brot.

Salz und Zucker sind höchstwahrscheinlich in Rikes Hütte vorhanden. Wenn nicht, wäre ihr

Fehlen fatal. Ab in den Wagen. Auch Essig und Öl, gekörnte Brühe. Kartoffeln, Porree, Sellerie,

Möhren. Knoblauch und Kohlrabi, Quark. Mandarinen in der Dose. Hühnerfleisch als Konser-


ve. Würstchen, Bohnen, Erbsen. Weißen Wein und roten. Salzgebäck, Schokolade.

Friderico und ich verstauen den Einkauf in zwei großen Obstkisten, die sich stapeln lassen.

Schalk Senior bricht seinen Schwatz mit einem Bekannten ab und hilft uns beim Einladen. Alles

Betrug in den Supermärkten, läßt er seiner schlechten Laune weiter freien Lauf. In der Werbung

stand Halbes Kilo Schweinehack – aber vierhundert Gramm sind bloß drin!

Er schlängelt den Wagen durch die Innenstadt, schlägt die Straße in Richtung Waren ein.

Was macht der Bergring? frage ich.

Geht grad noch so, sagt er, etwas weniger muffelig.

Sein Großvater, was uns Unternehmer Schalk bei vorjährigen Fahrten wissen ließ, bürgte in den

zwanziger Jahren mit seinem Vermögen für Bau und Betrieb der Teterower Bergringbahn. Mit

allem, was er besaß – mit Haus und Hof und Konto.

Die Rennen auf der größten Natur-Grasbahn Europas waren ein Ereignis in der DDR – nicht nur

für die Motorradfans im Norden. Während der Pfingstfeiertage pilgerten Zehntausende junger

Leute in die Kleinstadt. Der Wettkampf war international ausgeschrieben, bis 1972 starteten

auch Sportler aus dem westlichen Ausland.

Manchen Herbeigereisten ging es vielleicht nicht zuerst um Sport. Die Rennen brachten in den

Alltag der an äußeren Ereignissen nicht eben reichen Republik einen Hauch von Abenteuer, von

Freisein. Mit Zelten, Planen und Rucksäcken ausgerüstet, schlugen die meisten ihr Quartier im

Freien auf. Waschen unter der Pumpe und Anstehen vor der Würstchenbude. Dabeisein war

alles. Speedway! ein Zauberwort. Auch meinen jüngeren Bruder zog es magisch an.

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Herr Schalk wiederholt die Story vom Großvater. Er selber sei mit dem Bergring aufgewachsen:

Ich gehör dazu, solange ich denken kann.

Mit seiner Frau stellt er seit Jahrzehnten die Starterlisten zusammen. Jetzt habe er nach fünfzig

Jahren Engagement die Schnauze voll. Geht nur noch um Geld, schließt er.

Aus dem Regenmorgen ist ein heller Spätsommernachmittag geworden. Hinter der Stadt öffnet

sich der Ausblick nach Norden. Kilometerweit Mecklenburgische Schweiz. Teiche und Seen,

Bauschwolken, Gänseschwärme, schräges Licht. Ein Götterblick. Man könnte gläubig werden.

Unter dem endlos hohen Himmel wirken die Menschenwerke – die Siedlungen, Fabrikschornsteine,

Schulen, Kirche, Autohäuser – zufällig und vorläufig. Spielzeug, das ein Zeitenhauch wieder

verwehen kann.

Gemächliche Fahrt. Hinter einer Straßenbiegung taucht Glasow auf. Zwei Kilometer bis nach

Bristow, unserm Ziel.

Das Ortseingangsschild. Die Kirche linkerhand, rechts die Altneubauten. Durchs Dorf hindurch.

Über ein Stückchen Kopfsteinpflaster. Wir sind da.

Ich steige aus dem Wagen, öffne das Schloß an der Schranke, die Unberechtigten die Einfahrt

zur Bootshausanlage verwehrt. Das Taxi rollt ein paar Meter, hält vor dem Treppchen, das zu

Rikes Tür führt. Der Fahrer stellt den Motor aus.

Stille. Stille. Stille. Der Malchiner See blinkert uns entgegen. Ein Windstoß fährt in die Weiden

und Erlen am Ufer. Sie wispern.

Ausladen. Zahlen. Mit Taxi-Chef Senior den Rückfahrtstermin vereinbaren. Ordentlich die

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Schranke schließen, nachdem der Mercedes davongeruckelt ist.

Auf die Terrasse gehen. Den Blick genießen. Friderico zückt sein Fernglas, um nach den Seeadlern

Ausschau zu halten.

Erster Impuls: Hier sitzen bleiben und nichts, nichts tun. Nur gucken. Das ratternde Gehirn, das

weiter um Picasso rotiert, abschalten. Alles hat jetzt Zeit.

In die Proviantkisten haben wir außer zwei, drei Konserven kein Obst gepackt. Ich verlasse mich

darauf, daß an den Wegrändern die Pflaumenbäume tragen. Daß wir uns Äpfel im verwilderten

Schloßgarten aufsammeln können, daß die Birne am Marstall keiner umgehauen hat, die

Holunderbeeren reif sind und die Schlehen auch.

Ich räume die Vorräte in Schränke und Regale. Friderico bezieht die Betten. Schwalbenschwärme

zwitschern Kommentare.

Kleine Abendrunde nach Bristow. Vor dem Ort wirft eine riesige Pappel ihren Schatten bis auf

die Dächer der Kuhställe. Simple Zweckbauten aus Wellblech und Beton, etliche Jahrzehnte alt.

Die Schiebetore stehen offen. Die Ställe leer. Die glücklichen Kühe fressen auf der Sommerweide.

Ich spähe nach dem Schuppen mit der individuellen Ingelore auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Er existiert. In unserem ersten Bristower September hatte ich anhand eindeutiger Indizien

herausgefunden, daß dort eine Kuh gehalten wird: Melkschemel, Melkeimer, Kanne. Bürsten

zum Scheuern der Gefäße, sauber ausgewaschene Lappen. Heu hinter der Bodenluke. Vor

dem Stall Strohbündel, seitwärts ein sorgsam geschichteter Misthaufen mit Forke.

Abends sahen wir manchmal hinter der offenen Stalltür das Hinterteil von Ingelore, wie ich sie

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getauft habe.

Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften

gab es in der

DDR in unterschiedlichen Eigentumsformen.

Die Genossenschaftler

– viele Frauen waren dabei – brachten

variable Anteile ein. In den LPG

vom Typus Eins war es ausschließlich

der Boden, bei Variante Zwei

inklusive der Maschinen, bei der

dritten Version gehörte die ganze

Wirtschaft samt Vieh dazu. Trat

man einer Genossenschaft des Ersten

Typs bei, konnte man eigene,

individuelle Schweine, Kühe, Gänse halten. Mann und Frau konnte sie verkaufen und beachtliche

Sümmchen dazuverdienen.

LPG-Bäuerin Typ I sucht handwerklich begabten Partner, las man damals in den Kontaktanzeigen.

Das versprach dem Bewerber eine gute Partie, der Inserentin Hilfe auf dem Hof.

Die Existenz der individuellen Ingelore am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts bleibt

ein Mysterium. Vielleicht hält sie jemand, der im Kuhstall gegenüber gearbeitet hat und immer

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sein eigenes Tier hielt. Vielleicht jemand, der weiter ganz frische, reine Milch genießen möchte,

keine gepanschte aus der Industrie.

Kühe sind im Zeitalter der Massentierhaltung Nutzvieh, nichts weiter.

Im alten Ägypten wurde die Göttin Hathor in Tempeln verehrt und angebetet. Hathor erschien

in Gestalt einer Kuh. Sie war die Göttin der Schönheit, der Mutterliebe und des Sexus. Wie in

allen Legenden, die lange erzählt werden, variieren ihre segensreichen Funktionen. Auch Tanz

und Musik sollen unter ihrem Schutz gestanden haben. Im Roman von Joseph und seinen Brüdern

übernahm Thomas Mann die Bewunderung für das prächtige Tier. Schön wie eine Kuh. –

In meinem Kindheitsort Friedrichshagen, wohnten wir, seit unser Vater die Stelle als Neulehrer

angetreten hatte, im alten Küsterhaus. Auf der anderen Straßenseite lag ein stattlicher Bauernhof.

Vom Fenster unseres Kinderzimmers aus betrachteten wir Geschwister, was sich gegenüber

tat.

Wir guckten zu, wenn die Bäuerin mit den Mädchen, den angestellten Hilfen, zum Melken ging.

Die Milch wurde mit den Händen aus den Eutern in die Eimer gestrippt, die vollen Eimer in

Kannen gegossen. Über den Kannen lag ein feines Sieb, um Unreinheiten oder Insekten auszufiltern.

Im Sieb blieb cremiger Schaum zurück. Wir schlichen mit den Nachbarkindern in den

Stall und schabten mit bloßen Händen die süße, duftende Sahne heraus. Ein unvergleichlicher

Genuß, ein verbotener.

Ihr steckt euch mit TBC an! wurden wir verwarnt. Tuberkulose scherte uns nicht. –

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In der Dorfmitte von Bristow sind die Container für Altglas und Papier verschwunden. Der

Briefkasten steht noch an seinem Platz und wird einmal am Tag geleert, konstatiere ich beruhigt.

Ein ausgemauerter Ententeich und der Sportplatz bilden das Zentrum des Angers. Zwei Jungen

kicken mit buntem Gummiball. Sie grüßen artig.

Vor drei Jahren, kurz vor den Kommunalwahlen, hingen entlang der Straße an jedem Laternenmast

Plakate von der NPD. Keine andere Partei hatte sich aufgemacht, in der spärlich besiedelten

Gegend auf Stimmenfang zu gehen.

Das Wahllokal, im Kindergarten eingerichtet, gab es nicht mehr. Wer sein Recht in Anspruch

nehmen wollte und kein Auto hat – viele Menschen haben hier kein Auto – muß die vier Kilometer

ins benachbarte Bülow und die vier Kilometer zurück zu Fuß oder mit dem Fahrrad bewältigen.

Sonntags verkehren keine Busse. Die NPD bot damals jedem an, sie oder ihn zur Wahlurne

zu fahren.

In diesem Jahr wird der Bundestag gewählt. Wir sehen im ganzen Dorf nur drei identische Plakate.

Dreimal derselbe Sozialdemokrat.

Vor dem Backsteingebäude neben der Kirche brechen zwei junge Frauen mit einer Schar herausgeputzter

kleiner Mädchen, fünf an der Zahl, zu einer Feier auf. Die eine Frau, dunkelhaarig,

füllig, von mittelmeerischem Äußerem, trägt eine Orchidee durch die Dämmerung, die andere

einen Supermarkt-Strauß. Sie streben zu einem Haus auf der gegenüber liegenden Straßenseite.

Kräftiger Duft von Gegrilltem steigt dort auf.

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Hektisches Klingeln in unserem Rücken. Eine Vier- oder Fünfjährige, Basecape mit Schirm im

Nacken, überholt uns. Sie schlingert mit dem Rad auf das Grüppchen zu.

Komm nicht so dicht! Komm nicht so dicht! schreit sie lauthals.

Wackelnd und schwankend, aber ohne jemand zu touchieren, meistert sie die riskante Passage.

Vorm nächsten Gartenzaun wartet ein kräftiger junger Mann. Er stoppt die Fahrt des Base-Käppis

und hebt das Mädchen vom Rad. Anhalten lernst du morgen, sagt er zu ihr.

Tach ok, sagt er zu uns.

Ein Speedway-Fahrer rattert heran, kurz vor uns schwenkt er auf einen Feldweg ein. Behelmter,

zartgliedriger Jüngling. Knallroter Ganzkörper-Dreß, sein Gefährt in Grellpink. Er gibt Gas

und legt sich vor der grünen Wiese fast in die Waagerechte. Exzellentes Motiv! Der Fotoapparat

liegt im Bootshaus.

Wenig Veränderung in drei Jahren: Ein Einfamilienhaus samt Nebengelaß wurde in Ferien-

Apartments umfunktioniert. Ein Vertreter für Rechtsschutz-Versicherungen bietet seine Dienste

an.

Um den Dorftümpel schnattern wie eh und je die Enten. Gänse und Ganter zischen uns an. Anser

anser, ihre wilden Verwandten, fliegen irgendwo draußen in Schwärmen über die Äcker. Zu

sehen sind sie nicht. Nur ihre Rufe tönen aus wechselnden Richtungen.

Die Laternen gehen an. Niemand mehr auf der Straße. Fledermäuse flattern über unseren Köpfen.

Lautloser, pfeilschneller Flug.

Auf dem Rückweg setzen wir beiden späten Wanderer uns auf die Holzbank unter der Pappel am

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Kuhstall. Die Sonne ist versunken, das Abendrot verglimmt. Seit an Seite spähen Philemon und

Baucis in die Dämmerung. Auf der Wiese gegenüber sagen sich zwei Katzen und zwei Krähen

Gute Nacht.

Kulinarisch:

Außen:

Pellkartoffeln mit Kräuterquark

Salat aus geraspelten Äpfeln und Kohlrabi mit gehobelten Mandeln

Pfirsichspalten mit selbstgemachtem Eierlikör

In Wismar und Bremen demonstrieren Werftarbeiter für den Erhalt ihrer Betriebe.

Rührender Slogan: “Wir sind die Schiffahrt!“ EU-Kommissar Verheugen

eilt herbei und äußert, daß er um jeden einzelnen Arbeitsplatz kämpfen werde.

Sarkastischer Kommentar eines Journalisten: Ja. Mit unseren Steuergeldern.

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ZWEITER TAG

Freitag, 11. September

Von der großen Weide vor dem Bootshaus segeln gelbe Blättchen aufs Wasser. Früh halb sieben.

Diffuses Licht. Die Sonne schwebt noch hinterm Horizont. Tautropfen im Spinnengeweb auf der

Terrasse.

Nine Eleven, Erinnerungstag. Am 11. September 2001, dem Unglücksdatum, sollte der dreizehnjährige

Johann, einer meiner Enkelsöhne, von Moskau zurück nach Berlin fliegen. Er hatte an

einem Schüleraustausch teilgenommen.

Übers Autoradio, auf dem Weg zum Flughafen, erfahren Johanns Gast-Eltern von der Katastrophe.

Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York werden weitere Attentate

auf den internationalen Flugverkehr befürchtet. Wie überall auf der Welt ist in Scheremetjewo

bei Moskau, dem zweitgrößten Flughafen Rußlands, der Flugverkehr eingestellt worden.

Erste Reaktion der beiden Moskauer: Du rufst sofort zuhause an! Egal, was es kostet.

Als ich Johanns Mutter, Tochter Stefanie, anrufe, hat sie gerade die erlösende Nachricht bekommen.

Alles geht gut, alles geht gut! Wir versichern es uns noch einmal und noch einmal.

Beschwörungsformeln gegen die Angst.

Ich schalte das Handy aus und nehme meine Umgebung wieder wahr. Ich stehe auf dem “Platz

der Luftbrücke“ in Berlin, in Tempelhof. Ich bin auf dem Weg zu einer Vorstandssitzung des

VS Brandenburg, des Schriftstellerverbandes, im Haus der Buchdrucker in der Dudenstraße. Ich

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stehe vor einem Obststand.

Zwei Kilo für Preis von einen, spricht der türkische Verkäufer mich an und guckt konsterniert,

als ich mich auf einen Stapel Kisten fallen lasse.

Er ist da! sendet einen Tag später Tochter Stefanie per SMS frohe Botschaft in die familiäre

Runde. Vierundzwanzig Stunden später als geplant, aber heil und wohlbehalten, landet Johann

in Berlin. –

Friderico erscheint gähnend auf der Terrasse. Das Mini-Radio krächzt in den Morgen.

Im NDR wird genüßlich ein Versprecher von Helmut Kohl kolportiert. Er ist zwar nicht mehr

Bundeskanzler, aber immer noch zur prominenten Ausschmückung von offiziösen Veranstaltungen

gut. Bei der Einweihung einer Brücke hat er von sich gegeben: Sie möge dazu beitragen,

daß die Menschen leichter zustande kommen.

Mal Radio, mal Stille. Fernsehfreie Zeit. Friderico, dem Frühstücksmacher, mißlingt der Morgen-Kaffee

im ungewohnten Kannenmaß. Auch der zweite Versuch, einen “anständigen“ Kaffee

zu brauen, schlägt fehl. Trinken wir eben braune Brühe. Später fällt uns ein, wir hätten den Wasserhahn

in der Küche wohl ein Weilchen laufen lassen sollen, da er lange nicht benutzt wurde.

Heiß scheint nach den vielen, vielen kalten Tagen die Sonne auf den Frühstückstisch. Keine Termine,

keine Eile. Wir haben alle Zeit der Welt, bestätigen wir einander mehrmals. Wir müssen

gar nichts.

Im Mittelgeschoß von Rikes Hütte – darüber gibt es noch einen begehbaren Dachboden – richte

ich mir mein Schreibtischprovisorium ein. Ein Möbelchen von unten nach oben getragen, eine

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Leuchte herbeigeschafft.

Rechte Seite: Briefumschläge, Briefmarken. Gekörntes Papier von Clairefontaine, mein Adreßbuch,

der Jahreskalender. Ersatzbrille. Wasserglas mit Schreibutensilien in die Mitte. Ein Bündel

Kassenbelege, die ich als Kladdezettel benutze, daneben.

Linkerhand: Universal-Notizbuch von Reclam “Record your ideas“, für Freundin Heidi zum Geburtstag

gedacht. Eine unbezahlte Rechnung, gestern früh aus dem Briefkasten gezogen.

Ursula Heukenkamps Report über ihre Ausflüge vom Bootshaus in die Mecklenburgische

Schweiz. Umschläge mit meinen Bristow-Fotos aus den Jahren 2004, 2005, 2006.

Ein Brief von Sigrid, der Malerin aus Guben. Zwei kurze Texte einer jungen Frau. Sie will sich an

einem Wettbewerb beteiligen und hat mich um Urteil gebeten.

Frederico betrachtet mein Tun. Du wolltest doch gar nichts machen, lästert er.

Immerhin habe ich den Schleppi, wie unsere Berliner Kinder den Laptop nennen, zuhause gelassen.

Meine Notizen schreibe ich mit Bleistift in ein Blanko-Schulheft von der Wernsdorfer

Papierfabrik.

Zum vierten Mal dürfen Friderico und ich in Rikes Hütte die Seele baumeln lassen. Als Dankeschön

hat sie sich schon vor Jahren ein paar Zeilen von einer richtigen Schriftstellerin gewünscht.

Bisher habe ich mich gedrückt und als Gegengabe lieber einen Kalender mit meinen Bristow-

Fotos gebastelt. Und war in Erklärungsnöten. Die Leseprobe eines Stückes sei ja für Schauspieler

auch noch keine Inszenierung, dazwischen liegt der mühevolle Weg – hatte ich es mit einem

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Vergleich aus dem gemeinsamen Metier von Rike und Friderico versucht…

Ich bin keine Tagebuchschreiberin! Schon gar nicht im Urlaub. Tagebuch ist Arbeit. Einfach

hinschreiben, was passiert oder nicht passiert, nützt gar nix. Es ist wie mit Traum-Notaten: Die

starken Erlebnisse des Unterbewußten muß man nicht aufzeichnen, sie bleiben ohne schriftliche

Fixierung im Gedächtnis. Bei den Leichten, Flüchtigen, die skurril oder seltsam sind, und die

man deshalb nicht vergessen will, stellt sich beim Wiederlesen des Notierten meist keine Emotion

oder Erinnerung ein.

Tagebuchschreiben, unbestritten, schärft die Wahrnehmung. Und verstärkt den Druck permanenter

Selbstkontrolle.

Dem Manuskript mit den Spanischen Notizen habe ich ein Zitat August von Goethes, dem Goethe-Sohn

vorangesetzt. Er beklagt sich 1830 im Tagebuch seiner Italienreise, daß er zwar Nachricht

und Rechenschaft von jedem Tag dort gebe, es ihm aber oft sauer werde zu schreiben, da

man dadurch Zeit verliert und das Leben nicht genießen kann. Recht hat er!

Mich zwickt noch andere Skepsis: In den vergangenen Jahren habe ich “vieltausendmal“ den

Malchiner See und alle Schönheit ringsum betrachtet. Der Originaleindruck, der allererste, von

keiner späteren Bedenklichkeit modifizierte, den Altmeister Goethe für so wichtig hielt (wie ich

nach ihm) läßt sich nicht reproduzieren.

Außerdem widerstrebt mir das Aufschreiben zum Zwecke der späteren Lesbarkeit für andere.

Vielleicht, unbewußt, schleichen sich Zensur-Mechanismen ein.

Tages-Notizen habe ich geschrieben, wenn ich ahnte, mein Gedächtnis würde nicht alles Erlebte

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speichern können: Während der Irak-Reise mit Rainer Kerndl 1986, mein Aus-Flug in ein Land

im Krieg.

Zwei Jahre später: Recherche-Fahrt in den Westen Deutschlands, zu den frühen Lebensorten

Heinrich Vogelers, an dessen Biographie ich damals arbeitete. Von vier Wochen in Ungarn gibt

es Aufzeichnungen. Der Ost-Berliner Kinderbuchverlag hatte mich Anfang der Achtziger mit

einem Stipendium nach Budapest geschickt.

Die bereisten Länder waren für die meisten DDR-Bewohner kaum erreichbar. Ich empfand Verpflichtung,

anderen, die es wissen wollten, meine Er-Fahrungen mitzuteilen.

Tempores mutantur – die Zeiten haben sich sehr geändert. Auch rund um den Malchiner See

klügeln die Touristenbüros Strategien aus, Erholungswillige herbeizulocken. Im Internet sind

Kunstkurse und Ranger-Wochenenden buchbar. Naturfreunde werden mit dem Vorkommen

von Moorfröschen und Weißwangengänsen angefüttert. Kein Ort mehr, nirgends, der unbeschrieben

wäre. –

Friderico ist nach oben gestiegen, um mit dem Fernglas den Kirchturm von Basedow auszuspähen.

Er stichelt wieder: Du arbeitest ja doch!

Ein Auftragswerk, antworte ich.

Aha, sagt Friderico. Kopfschüttelnd steigt er nach unten.

Auf den Kassen-Bon eines Technik-Marktes notiere ich: Kein Lied mehr nach meinem zu singen,

es führt keine Brücke ins Dorf – eine Verszeile von Sergej Jessenin, einem meiner lyrischen Lieblinge.

Der Schreibtisch ist eingeweiht!

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In der Küche wende ich mich Vergänglichem zu und sortiere die Kräuterbüschel aus dem Schweriner

Garten. Vom Majoran, dem Roten und dem Thai-Basilikum, von Rosmarin und Salbei

werden die Blättchen abgezupft und in einem Körbchen getrocknet.

Petersilie, Liebstöckel, Zwiebelgrün und Schnittknoblauch kommen ins Wasserglas. Dill ins

Tiefkühlfach. Estragon, die Zitronenmelisse, Thymian, Minze und Fenchelkraut werden in angefeuchtetes

Pergamentpapier geschlagen, so bleiben sie im Kühlschrank ein paar Tage frisch.

Friderico sieht mir zu bei der Kräuterei: Wollen wir uns einen Fisch holen?

Hechte, Barsch und Zander wachsen vor uns im See. Der Fischer von Wendischhagen am nördlichen

Ufer zieht sie an Land.

Der Weg zwischen Bristow und Wendischhagen hebt sich über und senkt sich zwischen zwei

Hügeln am Malchiner See. Eine einspurige, mit Betonpisten ausgelegte Strecke, beidseitig von

dichten Hecken gesäumt. Vor drei Jahren war der Weg noch eine Allee. Die hohen, breitkronigen

Pappeln sind abgehauen. Ihre Stümpfe – groß wie Tischplatten – ragen aus dem Teppich von

Gräsern, Beifuß und Brennnesseln.

Gleich am Anfang des langgestreckten Straßendorfes liegt das weitläufige Anwesen des Fischers.

Ich betrete es vorsichtig, nach allen Seiten spähend. Zwei Schäferhunde wachen hier. Wer mit

dem Auto kommt, wird kaum beachtet. Wir Fußgänger signalisieren Ungewohntes und Gefahr.

Das Duo stürmt mit schnellen Sprüngen heran. Es bellt uns wütend oder wachsam an.

Heute bleibt es still. Nur einer der Ajaxe läuft in mäßigem Tempo auf uns zu. Er gibt pflichtgemäß

Laut, so daß ich mich nur wenig fürchte. Der Fischer steckt den Kopf aus einem Schuppen

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und ruft seinen Wächter zurück.

Ihr kommt zu spät, sagt der Mann mit der Gummischürze. Alles weg.

Was Geräuchertes?

Auch nicht. Zum Wochenende holen die Gaststätten alles ab. Er klopft dem Hund beruhigend

auf die Flanke.

Forelle könnt ihr haben.

Forelle, aus Zuchtanlagen dazugekauft, will ich nicht. Forelle ist langweilig am Malchiner See.

Und nächste Woche, frage ich.

Kommt man morgen früh wieder, sagt er, nachdem er sich erinnert hat, wo unser Ferienquartier

liegt. Sind ja bloß vier Kilometer.

Verspöttelt er uns Fußgänger?

Der Hund beschnüffelt meine Knie, faßt den Aufschlag meiner Jeans. Wo ist denn der andere,

erkundige ich mich, scheinbar ungerührt von der Annäherung.

Den gibt’s nicht mehr. Das Gespräch ist beendet.

Ohne Fisch im Gepäck treten wir den Rückmarsch an. Der Hohlweg nach Bristow nimmt uns

wieder auf. Er könnte ein Lehrpfad für natürliche Hecken sein. An den Schlehen sitzen fast

kirschgroße Früchte. Der Schwarze Holunder hat seine Dolden gesenkt. Leuchtend rote Hagebutten

an den Heckenrosen. Daneben, sanfter in der Farbe, die kleinen Fruchtstände des Weißdorns,

Mehlbeeren genannt. Wenn der Hunger groß war, wurden sie getrocknet, von den Kernen

befreit und wie Mehl verwendet. Großmutter Emma hat es in den kargen Nachkriegszeiten

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Marmeladen beigemischt.

Knorrige Apfelbäume, die sich selber

angesiedelt haben, ragen über

die Sträucher. Ihre Früchte, kaum

größer als ein Tennisball, dafür

balsamisch duftend und von paradiesischem

Aroma. Sie fallen ins

Dickicht der Hecken oder den Autofahrern

vor die Räder.

Pfaffenhütchen und Brombeeren.

Wilder Hopfen. Pflaumen, die späten

blauen, in Überfülle.

Bertolt Brecht dichtete: Nimms von

den Pflaumen im Herbste, wo reif

zum Pflücken sind und haben Furcht

vorm großen Sturm und Lust aufn kleinen Wind… Ein Lied aus dem Stück “Schweyk im Zweiten

Weltkrieg“.

Ich hörte es, als Zehnjährige vielleicht, von meinen Eltern. Sie hatten das Gedicht vom Kleinen

Wind als Zeitungsabdruck gelesen und stritten darüber, ob ein Dichter so lax mit Sprache umgehen

dürfe. Sie, die beiden Großstädtischen, die der Krieg aus Stettin ins ländliche Mecklenburg

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verschlagen hatte, mühten sich, den Schulkindern Hochdeutsch beizubringen.

In den fünfziger Jahren war in den Dörfern das Niederdeutsche noch als allgemeine Umgangssprache

lebendig. Die Kinder kannten kein anderes Sprachvorbild. Wie sie es von den Erwachsenen

hörten, dehnten sie auf nördliche Art die Vokale und verschliffen die Wortendungen nach

Herzenslust. Brechts Text lief dem pädagogischen Streben meiner Eltern nach Sprachkultur,

nach Sprechkultur, zuwider – verstand ich später.

Die deftigen erotischen Anspielungen, wenn das Lyrische Ich, ein Mädchen, ihren Liebsten bittet,

nicht so geschwind wie ein Sturm zu sein, sondern wie so´n kleiner Wind… Die Pflaumen

wolln ja so vom Baum, wolln aufm Boden liegen, verstand ich dann auch.

Von den Pflaumen dieses Herbstes sammle ich ein bescheidenes Quantum in ein Beutelchen

und ein paar Schlehen dazu.

In Bristow herrscht schläfrige, nachmittägliche Ruhe. Niemand zu sehen, kein Auto fährt. Wie

vom Himmel gefallen, taucht vor uns eine obskure Gestalt auf. Wir sehen sie von hinten. Kahlgeschoren,

stiernackig, fett. Eindeutig tätowiert. Schlagring am Gürtel. Klischee von einem Neu-

Nazi.

Zu Fuß und allein, als hätte ihn jemand zu Strafe mitten auf der Dorfstraße ausgesetzt, wirkt er

schutzlos. Ein Riesenbaby, das früh aus dem Uterus kroch. Das Handy des Fleischklopses klingelt.

Er sucht hektisch in den Seitentaschen seiner Uniform. Das Maschinchen verstummt, bevor

er es gefunden hat. Das bringt ihn vollends um Machtgebaren und Herrscherpose.

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Als wir den Stiernackigen überholen, fällt sein Handy aus der Hosentasche auf den Asphalt. Mir

scheint, es scheppert höhnisch.

Abends auf der Terrasse sehen wir den Schwalben zu. Sie sammeln sich für ihren Flug nach Afrika,

zur Sahara. Vor uns, über dem See, teilen und vermischen sich die Schwärme nach Regeln,

die wir nicht erkennen. Es dämmert. Gemessenen Flügelschlags streift an unserer Terrasse der

Fischadler vorbei. Hell leuchtet seine Unterseite in der Abendsonne.

NACHSATZ: Nach Nine Eleven hatten viele Menschen das Bedürfnis, den unschuldigen Opfern,

den Hinterbliebenen der Anschläge in New York, ein Zeichen der Solidarität zu geben.

Auch die Brandenburger SchriftstellerInnen wollten helfen. Der Vorstand der Gewerkschaft

organisierte eine Lesung der Brandenburger Autorenschaft. Die Potsdamer Friedenskirche am

Grünen Gitter erbaten wir uns als Ort. Der Pfarrer ließ uns freundlich ein. Der Zuspruch war

groß, alle Mitwirkenden beteiligten sich ohne Honorar.

Die Eintrittsgelder wollten wir den Kindern und Witwen der New Yorker Feuerwehrleute spenden,

die bei den Einsätzen ums Leben gekommen waren. Unsere Skepsis, ob das Geld wirklich

bei den Betroffenen jenseits des Großen Teiches ankommen würde, war beträchtlich.

Anke Jonas, die Geschäftsführerin, nahm Kontakt auf und bemühte sich, die Summe direkt auf

ein Gewerkschaftskonto der Feuerwehrleute zu überweisen. Nach einigen Wochen konnte sie

gute Nachricht melden: Ein Dankschreiben aus New York war in Berlin eingetroffen.

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Kulinarisch:

Außen:

Kammsteak mit grünen Bohnen und Salzkartoffeln

Gurken-Weißkohl-Salat

Birnen in Rotweinsoße mit Rosinen

Opel ist verkauft worden. Zweckoptimismus in den Nachrichten und

Kommentaren. Reminiszenzen der Polit-Prominenz an Nine Eleven:

Wer war wo. Viel Eitelkeit.

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DRITTER TAG

Samstag, 12. September

Im Halbschlaf nehme ich ein Geräusch wahr. Eine Säge kreischt in den Morgen. Eine Tischkreissäge.

Sie ruft Erinnerungen ans winterliche Friedrichshagen wach. Frostiges Wetter. Die robuste Säge

wird vorm Bauernhof gegenüber aufgestellt, ihr Stand überprüft. Stabilisierende Keile unter die

Füße aus Stahl geschoben.

Auf der Schleppe, einem flachen Kasten mit Kufen, werden Stämme und Äste herangeschafft.

Ein Pferd zieht sie vom Hühnerauslauf, wo sie gelagert waren, zum Sägeplatz.

Holz machen war Sache der Männer. Sie hoben die schweren Stämme auf und schoben sie dem

kreisenden Sägeblatt vor die Zähne. Geübte Ohren wollten unterscheiden können, ob das Messer

durch Buche, Birke oder Eiche schnitt.

Uns Kindern war respektvoller Abstand zum Sägeplatz geboten. Die Arbeit verlangte höchste

Konzentration. Falls sich ein Stamm verkantete, gerieten Finger und Hände in Gefahr. Das Sägeblatt

rotierte ohne Schutz in der Platte.

Die elektrische Säge wanderte, der geteilten Kosten wegen, auf den Gehöften reihum. Crescendo

oder Decrescendo je nach Entfernung des Maschinengesangs. Tagelang lagerte der Duft von

frisch geschnittenem Holz und Sägespänen überm Dorf.

Vor mir, im Morgenlicht, glänzt der Malchiner See. Aber das innere Auge sieht das Dorf Fried-

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richshagen. Sieht, im Zustand der Fünfziger Jahre, den Bauernhof gegenüber. Das Storchennest

auf dem First. Die Hundehütte vorm Tor. Den Pferdestall, den Kuhstall, den Milchbock…

Ich lebe von meinen Erinnerungen, antwortete ein zwanzig Jahre älterer Kollege auf meine Frage,

womit er beschäftigt sei. Der Satz hat mich erschrocken. Sollte ich in seinem Alter, nichts

mehr neu, nichts unverhofft mehr erleben können? Deprimierende Vorstellung.

Nach dem Frühstück eilen Friderico und ich zum zweitenmal zum Fischer. Die Morgennebel

liegen wie leichte, sacht bewegte weiße Tücher über den Wiesen. An den Grasspitzen glänzt Tau.

Die Säge, noch immer, kreischt in Intervallen.

Kurz vor Wendischhagen, wo der Feldweg von Glasow einbiegt, trabt linkerhand die Kuhherde

zum Wasserwagen. Ein paar der vierbeinigen Schönheiten aus dem Tempel Hathor halten ein

und sehen unserem Geschwindschritt mit groß bewimperten Augen zu.

Heute kommt beim Fischer gar kein Hundetier herangesprungen. Wir sind zur rechten Zeit

vor Ort. Zander oder Hecht stehen zur Wahl. Ich nehme Hecht, meinen Lieblingsfisch aus den

Süßgewässern. Ein Exemplar von mittlerer Größe, gut einen halben Meter lang. Ausgenommen

und geschuppt liegt er parat.

Am liebsten bereite ich die Fische selber vor. Beim ersten Fischkauf in Wendischhagen hatte ich

darauf bestanden, den Fisch ungeschuppt mitzunehmen. Ausnehmen gerne, die Abfälle müssen

ja irgendwo bleiben. Sie in die Mülltonne zu schmeißen, ist mir zuwider und unter den Erlen

beim Bootshaus vergraben, ziehen sie die Katzen an.

Das Selber-Schuppen in der Miniküche verwandelte die Kochzeile in ein Schuppenparadies.

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Sie verbreiteten sich überall. Auf dem Fußboden, an den Wänden, am Wasserkocher klebten sie,

auf dem Herd, am Schrank, im Schrank. Am Silberkettchen um meinen Hals.

Friderico lädt sich das geschuppte Tier im Rucksack auf den Rücken. Wir traben gen Bristow

retour. Auf Höhe des Aussichtsturmes überholt uns der Fischer im Auto und hupt uns einen

Gruß zu.

Rechterhand, gelehnt an einen Pflaumenbaum, ragt eine Leiter aus der Hecke. An ihrem Fuß ein

Mann um die Siebzig, auf den Sprossen eine etwas jüngere, rundliche Frau.

Wär´ doch schade drum, sagt der Mann, als wir näher kommen. Es klingt verlegen, als hätten

wir das Paar beim Wildern in fremden Gefilden ertappt.

Ich erwidere, wir hätten uns gestern auch was gepflückt, und außerdem könne man mit den

Zentnern, die an den Bäumen hängen, ganze Kompanien mit Pflaumenmus versorgen. Die Frau

steigt von der Leiter.

Tolle Früchte, sagt sie. Die guten alten Sorten. Die schmecken einfach besser. Und das Mus und

die Marmelade! Pflaumenkuchen und Pflaumenknödel mach ich auch.

Knödel kann ich nicht, werfe ich ein.

Hab ich auch nicht gekonnt, meint sie. Ich bin ja von hier. Aber Schwiegermutter, die hat mir

noch alles beigebracht.

Wir stammen aus Sudetenland, ergänzt der Mann. Jetzt sind wir in Malchin. Schon lange.

Auch Friderico und ich geben Auskunft, woher wir kommen.

Schwerin als Heimatort beruhigt die beiden sichtlich. Die meisten Herbstwanderer, die die Ge-

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gend um den See erkunden, kommen aus westlichen Gefilden. Vielleicht hatte das Paar Bedenken,

altbundesrepublikanische Menschen könnten insgeheim argwöhnen, es würde die Herbstpflaumen

aus blanker Armut einsammeln. Der stattliche Kombi, in den die vollen Stiegen wandern,

spricht ohnehin dagegen. Mit guten Wünschen für unsere Bristower Zeit gesegnet, ziehen wir

davon.

Mäßige Eile ist geboten. Wir wollen den Verkaufswagen erwischen, der einmal in der Woche, am

Samstag, in der Bristower Dorfmitte erscheint.

Ich dachte, uns hinlänglich mit Brot eingedeckt zu haben. Schon am dritten Tag sehe ich: Es

wird nicht reichen. Bei unseren Gängen können wir nicht damit rechnen, auf eine Kneipe oder

ein anderes gastliches Haus zu treffen. Wasserflasche und Proviantbüchse sind immer im Rucksack.

Der Brotbedarf doppelt so hoch wie zuhause.

Auf der Bank vor dem Altneubau in Bristow sitzen jeden Abend Frauen in ehrwürdigem Alter.

Mal drei, mal zwei, mal eine. Gestern Abend waren es zwei. Ich schicke Friderico vor, um zu

erkunden, ob der Verkaufswagen noch kommt. Und wenn ja, wann.

Meistens kommt er halb eins. Manchmal schon früher. Und manchmal später, antwortete salomonisch

die eine. Seid mal halb zwölf hier, dann kriegt ihr ihn bestimmt, sagte die andere.

Elf Uhr, als wir jetzt am Sportplatz vorbeigehen. Philemon und Baucis sputen sich. Schnellen

Schritts zum Bootshaus. Der schöne Hecht wird im Kühlschrank verwahrt. Hurtig zurück ins

Dorf. Elf Uhr vierzig, als wir Bristows Mitte wieder erreichen.

Der Konsum ist noch nicht da, sagt eine der Ehrwürdigen von gestern Abend, als wir herbeieilen.

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Er steht immer an der Bushaltestelle, fügt sie hinzu und leert ihr Eimerchen Kartoffelschalen in

die Bio-Tonne vorm Haus.

Friderico und ich setzen uns auf die Bank im Wartehäuschen. Schwalben huschen übers Pflaster.

Mit aufgeblasenem Schwimmring geht ein Junge in Richtung See. Ein mittelaltes Touristenpärchen

in zünftiger Radlerausrüstung – Sturzhelme, Regionalkarte am Lenker, Wasserflaschen in

den Satteltaschen – folgt ihm. Ein Trecker mit Anhänger tuckert vorbei. Das sind die Ereignisse

der ersten halben Stunde.

Auf die Idee, uns etwas zum Lesen mitzunehmen, sind wir nicht gekommen. Ich sortiere alte

Kassenzettel aus dem Portemonnaie. Friderico summselt vor sich hin.

Wir beschließen, jeweils einzeln eine kleine Runde zu drehen. Gemeinsam den Ort zu verlassen,

trauen wir uns nicht. Der Wagen könnte weiterfahren, wenn niemand auf ihn wartet. Friderico

schlendert über den Friedhof an der Kirche, gleich gegenüber der Haltestelle. Ich schlage auf

meiner Tour die andere Richtung ein.

In der Straßenkurve wächst eine Kaukasische Flügelnuß, in mitteleuropäischen Breiten meist in

Parks zu bewundern. In Schwerin, im Grüngarten unweit des Schlosses, stehen sehr prächtige,

weit ausladende Exemplare von Pterocarya fraxinfolia. Sie bestimmen das Bild der Anlage.

Auf unserem Hof in der Apothekerstraße, wo wir fast zwanzig Jahre wohnten, beschattete ein

hoch gewachsener Baum dieser Art, weit über hundert Jahre alt, die rückseitigen Balkone.

Die Hinterhöfe waren einst Gärten. Vor der Uferbebauung reichten sie bis an den Pfaffenteich,

den kleinen innerstädtischen See, der Hamburger Binnenalster vergleichbar.

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In der Apothekerstraße residierten Hofapotheker und andere Betuchte. Vielleicht hatte einer

der Anwohner arrangiert, daß ein Flügelnußstämmchen aus der Schloßgärtnerei hier im Hof

wurzeln konnte.

Als wir in die Schelfstadt zogen, war die Gegend zum Nachtjackenviertel verkommen. Majestätisch,

mit breiter Krone überragte die stattliche Kaukasierin die morschen Dächer ringsum. Das

Juwel der Hinterhöfe.

An einem Samstag Ende der Siebziger Jahre rückte ein Drei-Mann-Kommando an, um die Riesin

zu fällen.

Wer es bestellt hatte, blieb unklar. Ich debattierte mit den Männern. Ich beschwor sie, daß einzig

und allein der Baum das verfallende und verrottete Karree liebenswert mache – daß er Schatten

spende und die Luft sauber halte, daß die Meisen, Kleiber und die Amseln ihn als Lebensraum

brauchen. Ich bettelte und bat. Ich fluchte. Sie blieben ungerührt und wiesen einen Schein vor,

der ihr Vorhaben legitimierte.

Beim Baum-Mord zuzugucken, hätte ich nicht ertragen. Ich floh irgendwohin. Tochter Stefanie

und Sohn Felix, beide noch Kinder, wollten bleiben.

Nach zwei Stunden kam ich zurück. Der Baum stand unversehrt. Die Männer waren dabei, mit

ihrer Gerätschaft abzuziehen. Ich murmelte ein paar Worte des Dankes oder der Erleichterung.

Ja, wissen Sie überhaupt, was Ihre Kinder zu uns gesagt haben! empörte sich einer.

Sie hatten, berichteten sie, auf dem Balkon Position bezogen und bei jedem Handanlegen des

Kommandos aus Leibeskräften gebrüllt: Baummörder! Baummörder! Baummörder!

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Und sie so in die Flucht geschlagen.

Der Sanierungswut Anfang der Neunziger Jahre fiel die Flügelnuß dann doch zum Opfer. Wir

haben es nicht mit ansehen müssen. Friderico und ich lebten in Cottbus. Die drei, nun erwachsenen

Kinder, waren nach Berlin ausgeflogen.

Bei einem Nostalgiespaziergang in diesem Frühjahr haben wir gemeinsam ihre ehemaligen Kindergärten

inspiziert. Die Schulen, die Spielplätze. Unseren alten Hinterhof. Ein zartes Zwei-Meter-Stämmchen

hat sich aus dem verwitterten Baumstumpf des Storaxes hervor gereckt. Wir

nahmen es als Hoffnungszeichen. –

Ich kehre zu Friderico zurück und fotografiere am Bushäuschen, das seit Jahren zusehends zerfällt,

die Graffitis. An der Rückwand, unterm zerschlissenen Wellblechdach: Bristow ~ Böhse

Jungs und Mädchen.

Vorne, unter den ausgeschlagenen Fenstern: DRUTN-LAND, auf der anderen Seite: Deutsch!

Alle von derselben ungelenken Hand.

Ein Mann in Arbeitsklamotten und knöchelhohen Schnürschuhen nähert sich der Bushaltestelle.

Er trägt einen prall gefüllten Rucksack, in dem leere Flaschen scheppern. Er fragt, ob er sich

in unserer temporären Bleibe auf dem dritten Sitz niederlassen kann. – Na klar.

Ob wir auch warten. – Ja, wir warten.

Vorsichtiges Abtasten: Was das fürn Wetter dieses Jahr ist. Erst zu kalt und dann so heiß. Ob wir

Urlauber sind. - Sind wir.

Urlauber ist okay, sagt er. Pause. Schier endloses Schweigen.

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Kommen Sie ausm Westen? hakt er nach. Oder kann man reden, wie einem der Schnabel gewachsen

ist! – Wir outen uns als Ossis.

Ich bin Heinz, sagt er und reicht mir die Hand. Auch Friderico und ich stellen uns vor.

Ich bin Schlosser, fährt er fort. Und. Und. Und. Maschinenschlosser. Aufm Bau bin ich auch gewesen.

Und. Und. Und… An jede Information, die Schlosser Heinz uns zukommen läßt, hängt

er sein unvermeidliches Und-Und-Und an.

Er spricht es mit dem müden Duktus eines Menschen, der schon viel zu viel hat sagen müssen.

Der weiß, daß alles schon viel zu oft gesagt wurde. Er spricht es mit dem Duktus eines Menschen,

der weiß, daß auch die Zuhörer alles schon viel zu oft gehört haben. Er spricht es mit

dem Duktus eines Mannes, der dazu verdammt ist, trotzdem alles wieder und wieder sagen zu

müssen...

Unter dem maroden Dach des Wartehäuschens vernehmen wir die Suada eines mecklenburgischen

Landmannes über seine gute vergangene Zeit: Wenn du mal ´ne Baugenehmigung gebraucht

hast – für ´ne Garage oder so, hatte man immer ´n Freund, der einem eine besorgen

konnte. Trecker? Kein Problem. Wenn du selber keinen hattest, hattest du ´n Kumpel, der einen

hatte.

Bei der Rübenkampagne war jeden Herbst Not am Mann. Wenn sie mich gefragt haben: Heinz,

kannst ´ne Schicht dranhängen? Hab ich ´ne Schicht dran gehängt. Und. Und. Und.

Motorengeräusch. Nicht der ersehnte Wagen. Die junge Frau von mittelmeerischem Aussehen,

die eine Orchidee durchs Dorf trug, zieht auf knallrotem Buggy an unserem Wachposten vorbei.

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Die Postfrau im gelben Auto kommt, fährt zum Briefkasten und leert ihn.

Zwei Stunden sind um.

Vielleicht kommt er heute gar nicht, spricht Heinz, gelassen, frei von Fatalismus, die allgemeine

Befürchtung aus. Auf nix mehr is Verlaß.

Heinz ist kein Alkoholiker, aber sicher jemand, der gern mal einen hinter die Binde gießt, einen

zwitschert, einen abhakt, einen kippt, einen nippt, einen abbeißt, einen zur Brust nimmt. Unerschöpflich

ist die Sprache im Erfinden von Umschreibungen für den Alkoholgenuß. Und. Und.

Und.

Friderico und ich beschließen, um vierzehn Uhr die Zelte abzubrechen. Noch zehn Minuten.

In der neunten Minute preschen zwei Jungen auf Fahrrädern herbei. Der Verkaufswagen, eine

weiße Fata Morgana, biegt um die Ecke. Die zierliche Fahrerin steigt aus und öffnet die Tür.

Bißchen später heute, sagt sie.

Von allen Seiten kommen Kunden. Männer und Kinder, keine Frau.

Der Wagen ist begehbar. Mit allem ausgestattet, was das Alltagsherz begehrt. Friderico und mir

wird höflich der Vortritt gelassen, wir sind ja Utlänners, wie in Mecklenburg die Fremden heißen.

Die Männer kaufen Bier, Kräuterschnaps und Klaren. Die Kinder Kekse, Süßigkeiten, Sticker.

Wir packen Schwarzbrot und Mischbrot ins Körbchen. Nach der langen Wartezeit finde ich es

unangemessen, nur das Notwendige zu erwerben. Ich lege zwei Plastebrettchen dazu. Werbeträger

eine Margarine-Marke, die es anderswo sicher umsonst gibt. Zwei unsäglich kitschige,

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himmelblaue Bergseelandschaften zieren ihre Vorderseiten. (Sie sind noch heute im Gebrauch.)

Die Wochenendausgabe vom Nordkurier, einer Regionalzeitung, komplettiert den Einkauf.

In unserem Domizil blättere ich sie durch und finde eine Kolumne meiner Freundin und Kollegin

Ditte Clemens. “Wundersames Leben“ heißt die Reihe. Ditte schreibt unter dem Titel Speckig,

aber heiß geliebt über Kuscheltiere und andere Lieblinge: Ich habe auch so etwas Zerliebtes, von

dem ich mich nicht trennen mag. Mein Kuscheltier hat viele und mächtige Gebrauchsspuren. Es ist

die Reclam-Ausgabe “Die Zeit fährt Auto“ mit Gedichten von Erich Kästner.

Von einem Foto lächelt mich die seit Studententagen vertraute jüngere Gefährtin an.

In Decken eingehüllt und mit dicken Socken an den Füßen, kann man es auch spät abends auf

der Terrasse am Bootshaus aushalten. Friderico entlockt dem Weltempfänger, welch sinnreiches

Wort, die Original-Übertragung der Last Night of the Proms.

Vor Jahren studierte die Tochter von Schweriner Freunden zwei Semester in London. Wir Alten

saßen beim Grillabend bei ihnen im Garten am Kalkwerdering, als die Studentin aus England

herbeigeflogen kam. Sie hatte am Wochenende Last Night live erlebt und schwärmte.

Durch Zufall war Friderico, der “Programmgestalter“ für Funk und Fernsehen, vorher mitunter

auf das Konzert gestoßen. Seit jenem Grillabend versuchen wir jedesmal, aus der Ferne mit dabei

zu sein.

Vor über hundert Jahren hatte ein Robert Newman die Idee, mit Sommerkonzerten Menschen

zu gewinnen, die sonst nicht in klassische Konzerte gingen. Kleine Kartenpreise und eine zwang-

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lose Atmosphäre sollten sie herbeilocken. Essen, Trinken und Rauchen (!) waren ausdrücklich

erlaubt.

In diesem Jahr hat die BBC einen Wettbewerb für junge Komponisten ausgeschrieben. Die vier

besten Stücke werden uraufgeführt. Die Musizierenden sind zwischen vierzehn und achtzehn

Jahren jung.

Ganz zum Schluß, der gemeinsame Gesang vom Publikum im Saal, in den Sälen, in vielen Parks,

auf Plätzen in Great Britannia : Should old acquiantance be forgot and never brought to mind?

Erinnerungsträchtige Melodie.

“Auf der Penne“, der Erweiterten Oberschule im norddeutschen Städtchen Grevesmühlen lernten

wir beim verehrten Englischlehrer Doktor Müller dieses Lied von Abschiedsschmerz und

Traurigkeit. Textfassung Robert Burns.

Im Juni 1963 hatten die Examinierten im sprachlichen und im naturwissenschaftlichen Zweig

alle Prüfungen ohne Ausnahme bestanden. Wie damals üblich, wurde die Zeit bis zur Zeugnisübergabe

und Schulentlassung mit Arbeitseinsätzen überbrückt, was auch ein kleines Taschengeld

einbrachte.

Beide Klassen fuhren jeden Tag in eine nahegelegene Landwirtschaftliche Genossenschaft, um

bei den Frühjahrsarbeiten zu helfen. Wir fingen zeitig an, um sechs Uhr wohl. So konnten wir

vor der Mittagshitze aufhören, die Tage waren außergewöhnlich heiß.

An einem der frühen Morgen wurden wir zum Hacken und Verziehen von Zuckerrüben be-

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ordert. Einer der Bauern, die uns betreuten, ließ die Bemerkung fallen, eigentlich sei es ja vergebliche

Liebesmüh, die Rüben würden wegen des kargen Wuchses durch die Trockenheit am

nächsten Tag sowieso untergepflügt.

Wir waren empört. Scheinarbeiten wollten wir nicht und Arbeitstherapie brauchten wir nicht.

Wir weigerten uns weiterzumachen.

Die Weigerung wurde der Schulleitung gemeldet. Die Schulleitung erschien mit mehreren Personen.

Die Kreisleitung – der FDJ? der Partei? – erschien mit mehreren Personen. Der Vorsitzende

der Genossenschaft kam. Große Aufregung.

Wir hätten einen Streik angezettelt. Ich gehörte zu den “Verhandlungsführern“ der Klassen. Wir

beschworen die Aufgebrachten, daß wir nicht die Arbeit an sich verweigerten, sondern nur die

unsinnige Arbeit. Jede sinnvolle, produktive Aufgabe würden wir sofort in Angriff nehmen. Die

Aufregung legte sich nicht. Das Wort “Klassenfeind“ fiel.

Die Bauern hörten dem Disput auf freiem Feld schweigend und eher belustigt zu. Als ich einen

von ihnen fragte, ob er sich die Aufregung erklären könne, murmelte er: Is ja heut nu mal der

Siebzehnte Juni, nich?

Wir wurden verdächtigt, Rebellion gegen Staat und Regierung angezettelt zu haben. Nach dem

Vorbild des “1953er Volksaufstandes“, wie das östliche Aufmucken und seine Niederschlagung

in den westlichen Medien genannt wurde.

In den nächsten Tagen folgten Gruppen- und Einzelgespräche, die Verhörcharakter trugen. Wir

waren tief gekränkt und enttäuscht von unseren Lehrern, wir fühlten uns beleidigt. Schließlich

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verlief alles im Sande. Wir hatten bestanden, die Zeugnisse waren geschrieben. Nachträglich von

der Schule schmeißen konnte man uns kaum.

Der Abiturball mit den Pädagogen, den Eltern und Offiziellen ging wie alljährlich über die Bühne.

Bei der internen Fete, dem kleinen Abschied entre nous, wollten wir keinen Pauker sehen.

Usus war, außer dem Klassenlehrer die “Lieblinge“ einzuladen. Durchaus ein SympathieTest.

Wir hatten uns in einer Turnhalle eingemietet. Gegen Mitternacht klopfte es an die Tür. Draußen

standen fünf, sechs unserer Lehrer,

Lehrerinnen. Sie sagten nichts,

sie fragten nichts, sie positionierten

sich in einer Reihe und imitierten

den “Tanz der kleinen Schweine“.

Der Tanz der Kleinen Schweine war

eine Parodie auf den Tanz der Kleinen

Schwäne, aus dem klassischen

Ballett “Schwanensee“, Musik Peter

Tschaikowski. Die Jungen unserer

Abiturklassen hatten ihn einstudiert

und manchmal zum Gaudi der

ganzen Schule in der Großen Hofpause

aufgeführt.

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Die Geste der pädagogischen Abgesandten sagte: Wir sind auf eurer Seite. Mehr Entschuldigung

brauchte es nicht. Wir waren gerührt und ließen unsere Teacher ein. (Unter welchem Druck

auch sie gestanden haben mochten, ahnten wir damals nicht.)

Sie blieben höflich eine Stunde, dann gingen sie gemeinsam wieder. Bevor sie gingen, stellten sie

sich auf und stimmten an: Should old acquiantance be forgot and never brought to mind…Wir,

ihre ins Leben entlassenen Schützlinge, stimmten mit ein.

Kulinarisch:

Außen:

Hecht in Zitronen-Sahne-Soße mit Estragon; Porreegemüse und Kokosreis

Grüner Salat mit Zitronen-Walnußöl-Dressing

Birnen und Bananen (frisch) mit Vanillesoße

Auf einem Münchener S-Bahnhof wird ein Mann in mittleren Jahren, Dominik

Brunner, von zwei Halbwüchsigen zu Tode geprügelt oder getreten. Er hatte Jüngere

gegen die Gewalttäter schützen wollen.

In Berlin, auf dem Potsdamer Platz, demonstrieren zwanzigtausend Menschen

unter dem Motto: Freiheit statt Angst – stoppt den Überwachungswahn.

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VIERTER TAG

Sonntag, 13. September

Rainy day. Morgendliches Donnergrummeln in der Ferne. Fünf Minuten später gießt es wie aus

Kannen. Bleiern, lang hingestreckt, liegt der See. Rücken eines großen grauen Tieres. Grau in

vielen Schattierungen. Farbe der Sanftmut und Gelassenheit.

Ein Sonnenstrahl bricht durch die Wolken. Der See leuchtet auf. Stahlblau, metallisch. Fanal aus

Licht.

Wieder Regen. Er zerklüftet das Wasser. Das Schilf legt sich in die Waagerechte. Niederschlag ist

ein treffendes Wort. Die nassen Weidenschnüre vor der Terrasse schütteln Tropfen ab, die Erlen

triefen.

Behaglicher Zustand, unterm Reetdach geborgen zu sein. Häuslicher Tag. Ich setze Apfelsaft an

und Pflaumenmus auf. Friderico, im Rollkragenpullover vorm Fenster, liest Henning Mankells

“Die fünfte Frau“.

Vor jedem Ausflug von Philemon und Baucis findet der – längst ritualisierte – Disput statt, wie

viele Bücher mit auf die Reise dürfen. Wir müssen sie ja schleppen. Friderico tendiert zur Bibliothek

mittleren Ausmaßes und mindestens ein Kunstkalender muß dabei sein. Von Gewicht

leichte Bücher-Taschenbücher, argumentiere ich. Und daß wir erfahrungsgemäß sowieso kaum

zum Lesen kommen.

Ich inspiziere Fridericos Lektüre: Außer dem Krimi hat er die Insel Taschenbuchausgabe von

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Schillers Sämtlichen Gedichten ins Regal gestellt, Erste Ausgabe 1999. Dazu Hermann Bang

“Exzentrische und stille Existenzen“, 281. Band; Sammlung Dietrich Leipzig 1964. Ein Suhrkamp

Taschenbuch von 1996: Michael Foucaults “Wahnsinn und Gesellschaft – Eine Geschichte

des Wahns im Zeitalter der Vernunft.“

Nur vier Bücher für elf Tage. Ich bin wohl zu streng gewesen!

Mein Stapel ist unvergleichlich größer. Ein Hümpel mit Büchern, die ich als Jury-Mitglied lese.

Autoren-Gewerkschaft ver.di vergibt alle zwei Jahren ihren Preis, diesmal für Kinder- und Jugendliteratur.

Ich bin entsetzt, wie viel literarischer Schrunz und Schrott sich unter dem Eingereichten

befindet. Eine Wohltat der sprachlich schöne, irritierende Text von Juli Zeh “ Das Land

der Menschen“. Wundersame Illustrationen von Wolfgang Nocke.

Der Picasso-Komplex, meine zweite Abteilung: Jaime Sabartés “Erinnerungen und Gespräche“.

Die Erinnerungen des Kunsthändlers Ambroise Vollard. Ein einfach gehefteter Katalog einer Picasso-Plakat-Ausstellung

im Wismarer Rathaus wegen seiner übersichtlichen, wenn auch nicht

immer ganz korrekten Auflistung der Lebensdaten.

Das fulminante Werk “Picasso und der Nationalsozialismus“ von Michael Carlo Klepsch.

Gedichte von Hölderlin. Gedichte von Else Lasker-Schüler. Nummer 29 in der Kiepenheuer-Bücherei,

Lizenzausgabe vom Kösel-Verlag München 1967. Das Buch hat mir jemand gleich nach

seinem Erscheinen zu meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Der Jemand war Jürgen

aus Chemnitz. Ich kenne die Schrift, aber in meinem Gedächtnis ist kein Fünkchen Erinnerung

an einen Jürgen oder einen Geburtstag in Chemnitz gespeichert. Seine Widmung, ein Zitat

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der Lasker: Du bist ganz aus Gold. Alle Lippen halten den Atem an.

Zwei Bücher von Kollegen. Reinhard Stöckel, den ich aus unsere Cottbuser Zeit kenne, hat mit

über fünfzig Jahren den Durchbruch geschafft. Ich hatte mich, leider ohne Erfolg, für seinen

Text eingesetzt. Gerade ist der “Lavagänger“ im AufbauVerlag erschienen. Stöckel hat mir ein

signiertes Exemplar geschenkt. Jetzt will ich es noch einmal als Buch lesen.

Von Eberhard Panitz “Spielplatz in D“. Die Gabe einer Freundin, die weiß, daß ich den Verfasser

kenne. Eine zeitlang, als junge Frau, kannte ich den Verfasser gut. Wir trafen uns auf Konferenzen,

manchmal besuchte ich ihn in Berlin, in seiner Wohnung nahe der Warschauer Brücke. In

einem der Zimmer hing ein Original von Wolfgang Mattheuer, ein Frauenakt. Ein Bild von intensivem

Rot. Mit meinem damaligen Demokratie-Verständnis war es durchaus nicht vereinbar,

daß der verehrte Ältere das Gemälde durch Privatbesitz der Allgemeinheit entzog.

Panitz ging mit mir in Ausstellungen, in Aufführungen des Berliner Ensembles. Als Mann vom

Film nahm er mich zu Pressevorführungen mit. Heute weiß ich, er wollte der jungen Lehrerin

aus Kuchelmiß den Blick auf die Welt ein wenig weiten.

Panitz fuhr einen sehr ansehnlichen Wagen, Anfang der Siebziger einen klimatisierten! Ich genoß

die Fahrten. Nach Oranienburg, ins Schloß. Mal zu seiner Datscha am südlichen Rand von

Berlin. Er kutschte mit mir nach Treptow, eine Buchhandlung im Visier. Suchte im Regal mit

den Reclam-Bändchen. Eins zog er heraus, zahlte, drückte es mir vor der Tür in die Hand und

sagte: Das könnte was für dich sein.

Das Büchlein, ein Sammelband, hieß “Zwei im Dezember“, von Jurij Kasakow, dem russischen

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Dichter. 1927 ist er geboren, nach fünfundvierzig Jahren war sein Leben schon vorbei. Ich las

seine Texte. Ich las sie immer aufgeregter. Die Erzählung “Herbst in den Eichenwäldern“ sprach

geradewegs aus meiner Seele.

Panitz, der meine Manuskripte kannte, hatte mit sicherem Instinkt erfaßt, wonach ich im literarischen

Ausdruck suchte. Ich begriff nach der Lektüre von Kasakow, daß ich nicht nach imaginären

“Helden“ fahnden mußte, um Geschichten zu erzählen.

Meine Protagonisten wurden Menschen, die ich kannte, mit denen ich lebte. Die Tapferen, die

Verzagten, die Verliebten, die Verbohrten, die Solidarischen. Die Bäuerinnen in der Genossenschaft

kamen in den Text. Mein Schuldirektor. Eine Verkäuferin. Und in jenen Jahren vor allem

die Kinder meiner Klasse, die ich ins Herz geschlossen hatte. Im Umgang mit ihnen habe ich gelernt,

wie wunderbar verschieden die Menscherln sind und wie schwer es ist, gerecht zu urteilen.

Eine Schule fürs Leben, auch für mich.

Am Interimsschreibtisch sehe ich die Texte der jungen Autorin durch. Genaue Beobachtungen

aus dem Berliner Alltag. Eine eigene Schreibe kündigt sich an, eigene Sicht auf Dinge und Verhältnisse.

Atmosphärisch dicht. Gut zu lesen. Mit Bleistift notiere ich, sparsam, Bemerkungen an

den Rand. Ein paar freundliche Zeilen dazugelegt.

Was zu erledigen war, habe ich getan. Ich kann mich nicht mehr davor drücken, das Anschreiben

zu meinem Manuskript “ Spaniens Himmel – Eine Reise auf den Spuren Picassos“ für Frau

Dr. Krempien fertig zu machen. Es ist nicht das Anschreiben, das sich als unüberwindbarer Berg

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vor mir auftürmt. Es ist die irrationale Furcht, den Text in die Welt zu schicken. Das Manuskript

ist die Vorlage für mein zwölftes Buch. Die Verträge sind unterschrieben, es wird gedruckt werden.

Routinevorgang, eigentlich.

Meine latente Angst, imaginärer Leserschaft nicht gerecht zu werden, habe ich zu akzeptieren

gelernt. Vor Kritik fürchte ich mich nicht. Wirkliche Kritik weiß ich zu schätzen und die ungerechte,

zu allen Zeiten meist ideologische, einzuordnen. Ich fürchte mich vor mir selber, vor der

fatalen Option, am Eigentlichen vorbeigeschwatzt zu haben.

Bei Spaniens Himmel kommt panische Angst dazu, Peinlichkeiten zu verbreiten. Zum erstenmal

habe ich ICH gesagt, wenn ich gemeint war – journalistische Äußerungen stehen auf einem

anderen Blatt. Auch im Verhältnis zu Friderico, der als (literarische) Person mitspielt, ließ sich

Privates kaum vermeiden.

Ich könnte die Entscheidung rückgängig machen und den Text in den Orkus schmeißen. Aber

wie dann den eigentlichen Text zu Picasso angehen? Und den muß ich schreiben! Selbstverdikt,

dem ich nicht entkomme. Rücknahme wird nichts bessern und mich mit doppelter Schmach

belasten. Zum Versagen kommt die Feigheit.

Den verregneten See vor Augen, der sich von nichts als Wind rühren läßt, kann ich nicht mehr

nachvollziehen, was mich getrieben hat, die Reisenotizen zu veröffentlichen. Geltungsdrang! Eitelkeit!

werfe ich mir vor. Weg vom Schreibtisch, bloß weg!

Ich tigere vor den Bootshäusern auf und ab. Regen rinnt mir über Kopf und Körper. Das Wasser

quitscht in den Schuhen. Komische Alte, die gegen sich selber tobt.

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Ein Satz von Gerhard Wolf taucht in meinem Gehirn auf. Er steht als Widmung in einem Buch

für Brigitte Reimann in der Bibliothek des Neubrandenburger Literaturzentrums. Ich habe in

der Hand gehabt. Der Satz lautet: Liebe Brigitte, da hilft kein Jammern und kein Schrein - das

Werk, es will geschrieben sein.

Ende des Selbstmitleids. Zurück ins Haus, zurück an den Schreibtisch. Die drei Zeilen verfaßt,

das Manuskript in die Versandtasche eingetütet, adressiert, frankiert. Fertig.

Geht doch! wie der Volksmund munter meint.

Spuck mal drauf, sage ich zu Friderico. Simpler Glücks-Aberglaube.

Picasso wurde, was seine Arbeit betraf, selten von Selbstzweifeln geplagt. Sein Credo: Ich suche

nicht, ich finde! Die Zeit in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vielleicht ausgenommen.

Picasso war unentschlossen, welche Stadt für ihn Lebensort werden sollte: Barcelona

oder Paris. Auch München kam ins Kalkül.

Die Zeit vor den großen Ausstellungen, vor dem großen Geld. Die Zeit vor dem übergroßen,

dem nie versiegenden Erfolg. Er wird ihn bis zum Tod begleiten und bedrängen.

Picassos Ängste waren subtiler Art, aus spanischem Volksglauben gespeist. Abgeschnittene Fingernägel

mußten in Schächtelchen verwahrt werden. Nur Eugenio Arias, Freund und Friseur,

durfte ihm die Haare schneiden. Jede Veränderung in seiner Umgebung bereitete Picasso Pein.

Abgelagerter Staub beruhigte ihn als Zeichen der Unversehrtheit.

Am späten Nachmittag werden die Rieselvorhänge über dem See lockerer. Friderico schultert

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sein Fernglas. Aufbruch

nach Bristow. Heute ist der

zweite Sonntag im September

und Tag des Offenen

Denkmals. Vielleicht werden

wir auch hier zum Sehen

eingeladen.

Jack Lang, französischer

Kulturminister, initiierte

Anfang der achtziger Jahre

diese Sonderbesichtigungen.

Schon beim Auftakt strömten Besucher in Scharen. Alle europäischen Länder ließen

sich inspirieren.

Seit Mitte der Neunziger – wenn Fridericos Spielplan am Cottbuser Theater es zuließ – machen

wir uns auf, um der September-Einladung zu folgen. Ein faszinierender Reiz geht von den Besichtigungen

aus. Nur den einen Tag gibt es, um anzugucken, was sonst im Verborgenen bleibt.

Geheime Orte tun sich auf, selbst wenn sie sich in öffentlichen Gebäuden befinden. Nur ein einziges

Mal durften wir zwischen den Dachkonstruktionen von Schloß Sanssouci herumkriechen.

Nur ein einziges Mal ließen die alten Keller der alten Stadt Torgau das Häuflein der Neugierigen

ein.

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Im sächsischen Freiberg, auf Schloß Freudenstein, haben wir Räume betreten, in denen während

der napoleonischen Besatzung verwundete junge Franzosen auf Genesung hofften. Spuren der

Beschriftung, für die Soldaten zur Orientierung angebracht, waren noch an Wänden lesbar. Das

Schloß wurde 2001, bei unserem Besuch, restauriert. Über einer der geborgenen Türen hing ein

Jutesack. Dokument aus meinem Geburtsjahr, aufgestempelt: H. Verpfl. 1944. Vielleicht Heeresverpflegung

– viele Kriege später?

Den Malchiner See im Rücken, am Kuhstall und an der Behausung der Individuellen Ingelore

vorbei, schlendern wir bis zur Dorfmitte. Ich stecke die Nachricht für die Autorin in den Briefkasten

und lasse den Umschlag mit meinem Manuskript hinterher plumpsen. Finito!

Vor dem Sportplatz klettert eine Handvoll Touristen aus ihren Autos.

Sie blättern in Reiseführern und erkunden, was einmal ein Gutshof war. Seit langem ist der Platz

von der asphaltierten Straße zerschnitten. Das Gutshaus brannte Anfang des zwanzigsten Jahrhundert

ab. An seine Stelle wurde – vielleicht in den siebziger Jahren – der Neubaublock gesetzt,

vor dem nun abends die ehrwürdigen Weiber tagen. Fast die Hälfte der Wohnungen steht leer.

Die Alten sterben weg und die Jungen mögen nicht bleiben.

Das barocke Kirchlein ist schon verschlossen, aber die Tür zum Taubenturm steht offen und lädt

zum Besichtigen ein. Der Rundbau, die oberen Etagen aus Ziegeln, der Sockel aus Feldsteinen,

wurde 1891 gebaut. Von wem, weiß ich nicht. Zierbögen. Fensterschlitze.

Ein Stall fürs Geflügel. Drei Stockwerke. Ganz oben für die Tauben, ganz unten für die Enten.

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Von dort konnten sie gleich in den angrenzenden Teich plumpsen. Vielleicht gab es zum mittleren

Geschoß eine Hühnerleiter.

Im Haus fürs Federvieh kann man eine sympathisch bescheidene Ausstellung mit Schautafeln

und Fotos besichtigen. Taubenrassen: Türkentauben, Ringeltauben, Hohltauben. Die prächtigen

Spanischen Erdbeeraugen.

Eine andere Abteilung der Exposition informiert über: Die Taube in Kultur, Kunst und Volksglauben.

Natürlich darf Picasso in der kleinen Galerie nicht fehlen. Neun Reproduktionen mit

der Friedenstaube. Der Meister läßt mich nicht entkommen.

Auf dem Schild vorm Eingangstreppchen heißt das Taubenhaus heute wunderlicherweise Dornröschenturm.

Egal. Ein architektonisches Unikum, das den Zeichen des Verfalls ringsum Widerstand

entgegensetzt.

Die Wände der Feldsteinscheune nebenan hat ein Meister zusammengefügt. Farben und Strukturen

ebenso harmonisch wie kontrastreich. Pfauenaugen wärmen sich auf den Steinen. Weinbergschnecken

kleben an schattigeren Stellen. Aber, aber: Das Dach ist in sich zusammengefallen.

Nur ein paar Sparren ragen noch. Das Tor verrottet.

Zum Ensemble der Gutsanlage gehören das Verwalterhaus, der Speicher und der Marstall. Im

Verwalterhaus befanden sich in früheren Jahren Kindergarten und Hort. Temporär als Wahllokal.

Jetzt sieht das Gebäude nicht mehr aus, als würde es jemand nutzen.

Den imposanten vierstöckigen Speicher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zieren Gestaltungselemente

der Renaissance.

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Aufgesetztes Türmchen, Amphoren. Im Seitenflügel ein großes, grün gestrichenes Scheunentor,

Flaschenzüge über den oberen Klappen. Der Speicher ist ein Haus zum Wohnen geworden. Blumen

in Kästen und Kübeln. Kinderspielzeug. Ein Auto.

An den Giebel des Marstalls klammern sich die Reste eines Storchennestes. Die straßenseitige

Wand ist mit einem Falada oder Fallada geschmückt, einem Pferdekopf.

Im Märchen von der Gänsemagd haben die Bibliothekare Wilhelm und Jacob Grimm die Geschichte

des sprechenden Pferdes Falada aufgeschrieben.

Seiner Besitzerin, einer Königstochter, wird von einer ihrer Untergebenen übel mitgespielt. Im

Laufe der Geschichte wird Falada der Kopf abgeschlagen. Auf Bitten der verleumdeten Königstochter

nagelt der Schinder, wie der Schlachter bei den Grimms noch heißt, den Kopf über ein

Tor. Durch das Tor treibt die zur Magd degradierte Prinzessin morgens und abends ihre Gänseschar.

Sie spricht zum Pferdekopf: O Falada, da du hangest … Er antwortet klangvoll: O Jungfer Königin,

da du gangest …

Der Fall wird aufgeklärt, die Intrigantin splitternackt in ein Faß gesteckt, das inwendig mit spitzen

Nägeln beschlagen ist; zwei weiße Pferde werden davor gespannt, die sie Gasse auf, Gasse

ab zu Tode schleifen. Zum glücklichen Ende heiratet die rehabilitierte Königstochter den jungen

Königssohn und beide beherrschten ihr Reich in Frieden und Seligkeit.

Berückend und brutal wie alle echten Märchen. Über den Verbleib des sprechenden Pferdekopfes

wird nichts berichtet.

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Warum montiert man (nachgebildete) Pferdeköpfe an Stallwände? frage ich mich nicht zum

erstenmal. Als Warnung, falls es einem heutigen Gaul einfallen sollte, auch mal das Maul zum

Sprechen aufzumachen? Falada sei ein treues Tier gewesen, heißt es. Wird einem dafür der Kopf

abgeschlagen? Mir fehlt die Phantasie!

Der Falada in Bristow ist doppelt elend dran. Sein Kopf besteht nur noch aus einem großen Loch

mit Ohren.

Am Marstall vorbei nehmen wir die kleine Anhöhe zur Straße nach Bülow unter die Füße. Weiter

Blick. Ein Kranichpaar stolziert übers umgebrochene Feld. Seine Schreie, Trompetenstöße,

hallen übers Land.

Das Licht hat seine heitere Sommerlichkeit verloren. Sanfte, satte Farben, mattere Kontraste.

Lange Schatten. Der Herbst setzt Zeichen. Stoppeln ringsum. Starenschwärme, gefiederte Wolken,

queren das Bild.

Sonne und Regen wechseln bis in den Abend. Ein Regenbogen baut sich auf. Fällt, ein Leuchtstab

aus Muranoglas, am Basedower Ufer in den See.

Kulinarisch:

Entbeinte Hähnchenschenkel in Currysoße, gedünstete Zucchini, Salzkartoffeln

Gurkensalat mit Joghurtdressing

Pflaumen in rotem Weinsud

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Außen:

Im Lößnitztal bei Radebeul sind zwei historische Schmalspurbahnen zusammengestoßen,

über fünfzig Verletzte. Merkwürdige Methoden der Selbstverstümmelung

erfinden sich die Menschen.

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl treffen Frau Merkel und Herr Steinmeyer

zum Duell aufeinander, um Wählerstimmen für sich zu gewinnen.

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FÜNFTER TAG

Montag, 14. September

Im Morgengrauen werde ich von stetigem, beharrlichem Klopfen geweckt.

Das Bootshaus, von dem Rike einen Teil erworben hat, wurde für vier Parteien gebaut. Rike ist

noch nach Jahren die Neue. Alle anderen verleben seit Jahrzehnten den Urlaub, den Sommer,

mit Malchiner See-Blick. Mitte September ist selten jemand hier, manchmal kommen die unmittelbaren

Nachbarn. Ein älteres Paar, das auf unsere Fragen bereitwillig Auskunft gibt und

uns gern was aus der Stadt mitbringt. Sie pflegen mit Sorgfalt das Gelände, das zum Bootshaus

gehört. Die Blumenrabatten, die Pflanzkübel, den Rasen… In diesem Jahr haben wir sie noch

nicht gesehen.

Es klopft wieder. Leise, fordernd. Ich stehe auf, gucke auf die Terrasse und vor die Tür. Kein

Mensch, keine Nachbarn. Kein Tier. Nichts als Nebel ringsum.

Ich setze mich nach draußen. Wieder Klopfen, dann Schaben. Ich lausche. Ich suche: Das Klopfen

rührt von den Booten her, die unterm Haus vertäut sind und in der großen Stille mit leichtem

Pochen an die Pfähle stoßen.

Das Geräusch hat mich aus einem Traum geholt. Ich habe mich selber gesehen; seitwärts in einem

Spiegel, der mein Gesicht wiedergab: Ältlich, verdrossen, gequältes Lächeln. So kenne ich

mich. So mag ich mich nicht.

Ich weiß, meine Manuskript-Ängste sind noch nicht ausgestanden. Zu den irrationalen kom-

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men die berechtigten, ob das Buch überhaupt wahrgenommen wird. Ob wenigstens in zwei, drei

überregionalen Zeitungen eine Rezension erscheint. Lektor Burkhard H., der meine Heinrich-

Vogeler-Biografie in den achtziger Jahren betreute und Anfang der neunziger zu einem großen

westdeutschen Verlag wechselte, sagte bitter: Wir machen keine Literatur, wir machen Bücher.

Bücher sind Ware.

Verkaufsobjekte, die beworben werden müssen. Die mächtigen Verlags-Konzerne verfügen über

umfängliche Etats, die kleinen haben wenig Geld. Meiner wohl gar keins für diese Zwecke.

Ich rufe ein Trostbild auf. Ein Trostbild gegen die Vergeblichkeit: Im vergangenen Frühjahr war

ich zu Lesungen nach Görlitz eingeladen, auch in einen Kulturverein. Es kamen erstaunlich viele

Zuhörerinnen – ein Drittel Männer, zwei Drittel Frauen.

Unter ihnen etliche betuchte Görlitzer Neubürgerinnen. Aus Niedersachsen, aus dem Ruhrgebiet.

Sie sind auf ihre alten Tage in die fein sanierte Stadt an der Neiße gewechselt. Intelligente,

wache Damen. Alles interessierte sie: Das neue Umfeld, seine Kultur, der Osten. Auch Zgorzelec,

die polnische Seite der Doppelstadt.

Die anderen waren einheimische Frauen, ein bißchen jünger als ich. Sie hatten meine Bücher aus

den Achtzigern zum Signieren mitgebracht: Der Sonderfall, Früh & spät, Roman und Juliane.

Erzählungen von Kindern, Männern, Müttern, berufstätigen Müttern. Im wahrsten Sinne: Von

vollbeschäftigten Frauen. Zwei Zuhörerinnen sagten, daß sie meine Geschichten seit vielen Jahren

kennen und sie jetzt ihren Enkeln vorlesen. Begründung: Damit sie wissen, wie wir in der

DDR wirklich gelebt haben. –

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Frühstücken. Stullen schmieren, Eier kochen. Eine Literflasche mit gekühltem Pfefferminztee

und Zitrone in Fridericos Rucksack. Das Fernglas dazu. Bevor wir gehen, dreht Friderico den

Sonnenschutz vor der Terrasse herunter. Es scheint heiß zu werden, sehr heiß.

Unser Tagesziel heißt Remplin.

Als wir aus dem Haus gehen, fallen wir Schlosser Heinz fast in die Arme. Ein schweigsamer

junger Mann begleitet ihn. Unser neuer Bekannter will: Mit´m Jungen nach Rothemoor rüber.

Mit´m Boot. Schwager von mir hat da´n Steg. Da is was dran zu machen. Und. Und. Und.

Mit kräftigem Handschlag wünschen wir uns Glück für den Tag.

Der Weg von Bristow nach Remplin führt durch das langgestreckte Wendischhagen, an einzelnen,

weit auseinander liegenden Gehöften vorbei. Sie suggerieren Einsamkeit und Autonomie.

Hinter Wendischhagen eine Neusiedlung, die Domizile der Wochenendbewohner. Viel Protz.

Venezianische Löwen zeigen ihre Pranken.

Am Ortseingang von Remplin wird der Wanderer von einer Lindenallee empfangen. Zwei Reihen

junger Bäume, vielleicht waren die alten hinfällig. Die Anlage, wie das meiste hier, stammt

aus dem Barock.

Linkerhand, noch vor dem Gut, erhebt sich eine neugotische Kirche vom Ende des 19. Jahrhunderts

in der ganzen Zwiespältigkeit dieses Zeitgeschmacks. Aber ein verwilderter Obstgarten

umgibt den gestrengen Backsteinbau und verleiht ihm einen Hauch von Charme. Alte schorfige

Apfelsorten wachsen, Birnen mit eiergroßen Früchten. Sauerkirschen, die schon ihr Laub abwerfen.

Viel Flieder.

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In Schwerin lese ich nach, Großherzogin von Mecklenburg-Strelitz habe das Gotteshaus zum

Andenken an Sohn Georg und Tochter Caroline, die als Kinder starben, bauen lassen. Die Notiz

steht nur auf der Rempliner site, woanders findet sich kein Hinweis. Mit toten Kindern geben

sich Historiker meist nicht ab.

Die Lindenallee mündet in einen alten Torturm, vormals von zwei Wohnhäusern flankiert.

Sie sind dahin. Auch um den Turm muß man fürchten. Imposante siebenunddreißig Meter ist

er hoch, sein oberer Teil aus Holz gezimmert. Morsche Bretter und überall bröckelt es. Beim

Besuch vor drei Jahren sind wir durch den Torbogen gewandelt. Jetzt ist er wegen Baufälligkeit

gesperrt. Der Torturm diente in früheren Zeiten als Zufahrt zum Schloß.

Das Schloß ist abgebrannt. Der Rempliner Volksmund sagt: 1944! Er murmelt hinzu: Die Russen!

Nachweislich ist das Schloß 1940 abgebrannt, vier Jahre früher. Das falsche Datum paßt besser

ins (un-)historische Bild und Gedächtnis.

Friedrich II. von Hahn, der Schloßherr, war ein kunstsinniger Mensch. Der Schweriner Archivar

und Altertumsforscher Friedrich Lisch beschreibt ihn als reich begabt, tief gebildet und großherzig.

Im Besitze einer bedeutenden Gelehrsamkeit und eines scharfen Geistes.

Viele tausend Bücher hatte der mecklenburgische Großgrundbesitzer Friedrich II. im achtzehnten

Jahrhundert in dem einsamen Landstrich um sich versammelt. Mit dem brennenden

Schloß ging auch seine Bibliothek verloren. Hahns Schriftwechsel verbrannte, Briefe von Goethe

und Herder darunter. Im Konzertsaal sollen, man glaubt es kaum, Robert Schumann und Peter

Tschaikowski musiziert haben.

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Nur ein einziger Seitenflügel des Schlosses blieb nach dem Brand erhalten. Trauriger Torso mit

romantischem Detail: Eine schmale Tür. Meine melancholische Tür. Quadratische Fensterchen

unten, mit dreieckigen im oberen Rundbogen verglast. Ein schmales Treppchen führt herauf.

Trotzdem scheint der Eingang über dem Boden zu schweben. Als ich das Entree zum erstenmal

sah, zierte ein Medaillon die rechte Wandseite, eine grün gestrichene Holzbank lud zum Sitzen

ein.

Jetzt sind die Fensterscheibchen zerschlagen, die Bank ist verschwunden. Das Treppchen überwuchert.

Ich habe meiner Melancholischen bei jedem Besuch die Ehre eines sorgfältig aufgenommenen

Fotos erwiesen. Als ich heute die Kamera auf sie halte, legt ihr die Sonne, wie als Trost nach so

viel Devastierung, einen Streifen Licht zu Füßen.

Das Fachwerkhaus nebenan, quadratisch und mit Türmchen obenauf (ich weiß, es heißt Laterne)

wurde als Dorfkapelle errichtet und wieder entweiht, als die neogotische Kirche vor dem Tor ihr

Konkurrenz machte. Das Gebäude diente als Gerätelager, zeitweise als Turnhalle für die Schule

im Ort.

Bei unserem vor drei Jahren Besuch war ein Antiquitätenhändler eingezogen. Friderico durchstöberte

staubige Bücherreihen und Journale. Ich kramte zwischen vergilbten Gemälden, wackeligen

Kommoden, Leinentüchern und Besteck. Nach einer halben Stunde trollten wir uns

wieder. Niemand hatte sich blicken lassen, um ein Geschäftchen mit uns zu machen.

Heute ist das Haus verschlossen.

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Der Park Remplin, wurde von niederländischen Gärtnern als barocke Anlage gestaltet und hundert

Jahre später nach Lennés Vorstellungen umgemodelt, steht auf einem Schild am Eingang.

Trotz dieser Information erkenne ich weder das eine noch das andere. Schöne Bäume sind sie

alle, bejahrte Individuen. Blutbuchen. Trauerweiden. Linden.

Am östlichen Rand des Parks ragt ein viergeschossiger Turm, Überrest der ersten Sternwarte

Mecklenburgs. Ende des 18. Jahrhunderts gebaut, bekam sie 1801 einen Beobachtungsturm mit

drehbarer Kuppel. Friedrich II. arbeitete mit beachtlichem Erfolgen als Astronom; seine Beobachtungen

dokumentierte er in mehreren Publikationen.

Nach dem Tod des gelehrten Gutsherren interessierte sich in Remplin niemand mehr für seine

Forschungen. Die astronomischen Geräte wurden verkauft. Das Hauptgebäude verfiel und wurde

abgerissen, die Sternwarte zum Aussichtsturm umfunktioniert.

Der Turm ist das am besten erhaltene Detail in der Rempliner Gutsanlage. Ein Verein kümmert

sich um seinen Erhalt, ein Verein in Berlin-Treptow. Er ist aus einer Arbeitsgemeinschaft der

Archenhold-Sternwarte hervorgegangen. Seit 1980 hat sie in bewundernswerter Kleinarbeit aus

kaum noch erkennbarem Überresten ein respektables Denkmal geschaffen. Wer den Materialmangel

in der DDR kannte, ist geneigt, den Machern überirdische Fähigkeiten zuzusprechen. -

Neben dem Turm gibt es einen Teich für Schwäne und einen für Fische, der vom örtlichen Anglerverband

betrieben wird. Wer will, kann sich eine Genehmigung kaufen, die Angel ins Wasser

stippen und die im abgegrenzten Kanal eingesetzten Karpfen wieder an Land ziehen.

Es ist sehr heiß geworden. Wir suchen uns am Rande des Wässerchens eine beschattete Bank,

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verzehren unser Picknick und trinken die letzten Tropfen Pfefferminztee. Ein Liter war nicht

genug.

Gegenüber steht, von den Anglern betrieben, ein Kiosk. Kaugummi und Bockwurst werden verkauft,

vor allem – etwas zu trinken. Heute nicht. Das Büdchen hat geschlossen.

Friderico hält einen herbeiradelnden Mann an und erkundigt sich nach der nächsten Einkaufsgelegenheit.

Supermarkt oder Imbiß?

Hier schon lange nicht mehr, sagt der Gefragte.

Tankstelle?

Er überlegt: Na… sechs, sieben Kilometer. Hinter Malchin.

Malchin liegt in der Gegenrichtung. Wir danken ihm trotzdem. Er fährt davon.

Ich versuche herauszufinden, ob es in der Umgebung des Kiosks einen Wasserhahn gibt, aus

dem sich unser Durst löschen läßt.

Während ich die Bretterbude umkreise, fährt ein Auto vor. Es fährt zielgerichtet über den Spazierweg

direkt bis an den Turm. Drei Männer steigen aus. Sie sind sehr jung. Um die zwanzig

vielleicht; noch schlaksig und ungelenk. Sie tragen dunkle Anzüge, uniform wie die einer Sekte.

Schulterlange Haare. Mit synchronem Handgriff setzen die drei ihre drei Sonnenbrillen auf. Ihre

Bewegungen signalisieren Verunsicherung.

Einer steigt die Treppenleiter zur ersten Etage der Sternwarte hoch, faßt an die Tür. Sie ist zu.

Achselzuckend kehrt er zur Crew retour.

Zwischen den Anglern, den bolzenden Kindern wirken die drei deplaciert und schutzlos, wie in

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der Fremde ausgesetzt. Sie sind nicht

zufällig hier, aber vergeblich.

Schwarze Schatten im Rempliner

Park. Wären sie in Jeans und T-Shirt

erschienen, würde Sehgewohnheit

wohl signalisieren: Sympathische

junge Leute, die sich für Astronomie

interessieren… Die Kleidung grenzt

sie ab. Wie oberflächlich und wie

ungerecht gedacht.

Ich sehe ihnen nach. Schweigend eilen

sie zurück zum Auto und kriechen

hinein. Sie verlassen den Ort,

als hätte Mißgeschick sie in einen

falschen Film verschlagen.

Friderico meint sich zu erinnern, daß es in Remplin eine Landfleischerei gibt. Vermutlich kann

man dort etwas gegen den Durst kaufen. Wir finden die Fleischerei Farms – sie hat montags

geschlossen.

Einfach irgendwo zu klingeln und um Wasser zu bitten, traue ich mich nicht. Die Menschen sind

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mißtrauisch geworden. Selbst wenn ich davon ausgehe, daß Friderico und ich nicht wie Mafiosi

aussehen, könnten wir in anderen Augen als betont unauffällige Vorboten eines Überfallkommandos

gelten. Wer zu Fuß kommt und nicht im Outdoor-Look unterwegs ist, wirkt verdächtig –

wie die drei schwarz gewandeten Jünglinge.

Unsere letzte Chance ist der Kindergarten auf dem Schloßgelände. Pädagogen müssen von Berufs

wegen hilfreich und gut sein. Über den Gartenzaun rufe ich zwei Mädchen heran, die holen

eine Erzieherin herbei, die Erzieherin bringt uns die gefüllte Wasserflasche retour. Freundlich,

kaum mißtrauisch, eher anerkennend, daß wir ohne Auto? unterwegs sind.

Wir treten den Rückzug aus dem melancholischen Ort Remplin an. Melancholisch ist er nur,

wenn man sein Gehör ausschaltet. Ohrenbetäubend, alle Sinne zermalmend, rammelt der Verkehr

durchs Dorf. Jeder zweite Wagen ist ein LKW.

Auf der Straße nach Wendischhagen haben wir den infernalischen Lärm im Rücken. Nach einigen

Minuten verebbt er, man kann wieder frei atmen.

Gleich rechts hinter dem Ortsausgang liegt eines der vier, fünf einsamen Gehöfte. Gründungen

aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Besitzer von Schloß Remplin in Geldnot

gerieten und Land verkauften.

Am Zaun ist ein Schwarzes Brett angebracht. Tafel hinter Glas, Kreideschrift: “Tomaten 2,25 –

Bohnen 1,30“. Ohne Preisangabe: Kartoffeln, Porree, Sellerie, Möhren.

Vor dem Tor steht ein Fahrrad mit knallgelbem Plasteeimer. Dem Besitzer – einem spillerigen

Männchen, das trotz der Hitze einen Pullover über der Latzhose trägt – sind wir heute zweimal

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begegnet. Kurz nach Bristow fuhr er auf uns zu, eine halbe Stunde später überholte er uns.

Auf dem Hof, im hinteren Teil, durch einen Zaun abgetrennt, sieht uns eine alte Frau entgegen.

Eine sehr kleine, sehr alte Frau. Der Fahrradfahrer und ein Mann im karierten Hemd, werkeln

vor dem Stall. Im Hintergrund lauert ein Hund unbestimmbarer Rasse. Mindestens kalbsgroß.

Ich rufe über den Zaun: Wir wollten gern was kaufen!

Kommen Sie rein! Durch die kleine Pforte, sagt die Frau.

Als ich sie öffne, prescht das Kalb heran und springt mich an.

Der tut nix! rufen die Männer unisono.

Ich weise dem Hund die Innenfläche meiner Hände, damit er sich von meiner Harmlosigkeit

überzeugen kann. Er möchte mich nicht beschnüffeln, er möchte mich verjagen und springt

mich wieder an. Seine Schnauze an meinem Kinn.

Rex! Rex, komm her! Aus – Rex!

Rex reagiert nicht. Auf die Frau nicht, auf die beiden Männer nicht. Sie rufen und befehlen, er

gehorcht niemandem und versperrt uns den Weg. Rex demonstriert, daß er auf dem Hof die

Oberhand besitzt, denn die Machtstrukturen zwischen den Menschen sind ungeklärt. Das konstatiert

mein Kopf klaren Sinnes. Gleichzeitig ich fürchte mich sehr.

Kann nicht mal einer das Tier wegnehmen, sagt Friderico ärgerlich, weniger furchtsam als ich.

Die alte Frau führt den Hund am Halsband in einen vergitterten Käfig. Rex leckt ihr die Hände,

als wäre er froh, dem Machtpoker entronnen zu sein; fortan nimmt er keinerlei Notiz mehr vom

Geschehen auf dem Hof.

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Die Frau geht mit uns in die Scheune. Ein ehemaliger Schweinestall, die Boxen gibt es noch.

Der Boden aus gemauerten Ziegeln. Vorn im Raum lagern Kartoffeln, zu Haufen aufgeschüttet.

Einer mit großen, einer mit kleinen, einer mit mittleren. Es sind prächtig ausgereifte, sorgfältig

geerntete Knollen, mit makelloser Schale.

Was sind das für Kartoffeln?

Ich weiß, daß es ungehörig ist, hier nach der Sorte zu fragen. Aber seit ich in jungen Jahren auf

der Insel Poel als Praktikantin in die Kartoffelzucht herein geschnuppert habe, kann ich mich

selten bremsen, diese Frage zu stellen.

Antwort: Mehlige.

Die Augen liegen relativ flach, die Farbe tendiert zu ocker, wahrscheinlich handelt es sich um die

gute alte Adretta. Gezüchtet auf dem Volkseigenen Gut Lüsewitz bei Rostock, zu dem auch die

Niederlassung Malchow auf Poel gehörte.

Zum Glück habe ich eine Plastetüte im Rucksack, auf ein so kleines Quantum, wie ich es einsammele,

ist man hier gar nicht eingestellt. Die Kunden fahren mit Anhänger vor, zumindest

mit Körben. Friderico stoppt meine Lese trotzdem mit der Bemerkung, daß wir mehr als sieben

Kilometer Weg vor uns haben. Gut, drei Kilo reichen. Ein paar von den goldglänzenden Zwiebeln,

die auf einer Darre trocknen, müssen noch mit. Zwei Handvoll Möhren und eine Knolle

Sellerie. Genug.

Abschiedsblick in die nahrhafte Scheune. Ein Dreschflegel hängt an der Wand, Wasserjoch mit

Ketten. Eine Schrotflinte. Ein Gewehr. Ein altes, soweit ich das mit meinen unzureichenden

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Kenntnissen beurteilen kann. Gepflegt und offenbar im Gebrauch.

Der Mann im Karohemd kommt herein und sagt zusammenhanglos: Wir hatten hier auch mal

´ne Ölmühle.

Das Hier bleibt im Vagen. Hier auf dem Hof, hier in Remplin, in der Scheune…

Den Plan haben wir immer erfüllt, setzt er fort. Erst Leinöl, dann Raps, später Sonnenblumen.

Ein Offizier von der Luftwaffe hat die Mühle gebaut, der konnte das. Er hat sich denn regelmäßig

´ne Flasche geholt. Na…nicht gegen Geld! Eine Flasche für mich, eine Flasche für dich. Maslo

gegen Wässerchen. Aufs Brennen hat der sich auch verstanden.

Von der Roten Armee? hake ich nach.

Was sonst! Er macht eine wegwerfende Handbewegung: Alles längst vorbei. Eine Bemerkung

ohne Resignation. Stolz klingt mit. Der Stolz eines Mannes, der mehr erlebt hat, als man ihm

zutrauen würde.

Die kleine Alte sammelt schrumpelige Zwiebeln von der Darre. Hier hat keiner Eile.

Ob Sie uns ein paar Eier verkaufen könnten? frage ich.

Könnt ihr haben, kommt mal mit, sagt sie und führt uns in den hinteren Bereich des Gehöftes.

Hinter dem Türchen befindet sich der Eingang zu ihrem Haus. Sie holt Eier auf einer Stiege und

legt sie in eine Zehnerpackung.

Gurke und Tomaten kannste auch haben, wenn ihr wollt.

Ich will. Als ich nach dem Portemonnaie greife, überlegt sie einen Moment und sagt:

Geben Sie mir zwei Mark und fünfundsiebzig. Ich runde auf drei Euro auf. Naja, meint sie, dann

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nimm noch paar Tomaten dazu.

Friderico hat sich inzwischen den Garten angeguckt. Ein alter Bauerngarten. Was hier wächst,

wächst seit Jahren oder Jahrzehnten. Niedrige Buchsbaumumrandungen. Margeriten, Rosen,

Pfingstrosen. Johannisbeersträucher, Taglilien, Schwertlilien. Kräuterbeete. Zwei Schneeballsträucher.

Wie schön Sie´s hier haben, freut sich Friderico.

Ja, bloß zu groß alles. Bißchen Hilfe hab ich ja, aber mein Mann ist alt. Fünfundachtzig geworden.

Und der Sommer war zu trocken. Das bißchen Regen gestern, ist gleich wieder abgelaufen.

Siebzig Zentimeter in der Erde kein Tropfen Wasser. Die älteren Leute sagen: Das ist der

Sommerfrost. Ohne Koketterie setzt sie hinzu: Naja, ich bin jetzt auch schon etwas älter, über

achtzig.

Sie verabschiedet uns an der Pforte. Die Männer sind verschwunden. Rex döst friedlich in seiner

Umgitterung.

Die Sonne steht tief, ihr Rund färbt sich rötlich. Sanftes Abendlicht begleitet unseren Weg. Ich

finde eine fingerlange, rostige Schraube und stecke sie ein. Eine Ringelnatter sonnt sich auf einem

Findling. Als unsere Schatten auf den Stein fallen, schlängelt sie durchs Gras davon. Die kleinen

Sensationen der Fußgänger.

Vogelschwärme rauschen über die Hügel. Stare, Kiebitze und Schwalben sind unterwegs. Durch

das Fernglas sieht man in Ufernähe Regenpfeifer trippeln. Im Aufwind kreisen zwei Milane. Wir

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hören ihre Schreie. Über den Kiefern am Waldrand segelt ein Habichtpaar.

Ein Trecker mit Kuhdung auf dem Anhänger rattert vorbei, zwei Frauen auf Rädern überholen

uns. Sonst ist es still.

Vor einem der Gehöfte an der linken Straßenseite flattert eine Schar schwatzender Sperlinge auf.

Sie läßt sich in der Ligusterhecke vorm Haus nieder. Als wir uns nähern, toben Rottweiler an den

Zaun. Vier Tiere. Vier Geschosse. Sie kläffen uns nach.

Nachsatz: Robert Schumann und Peter Tschaikowski haben tatsächlich in Remplin musiziert.

In der Neo-Kirche gab die Musikschule Malchin im vorigen September ein Konzert aus Anlaß

der 725-Jahrfeier des Ortes. In Memoriam der goldenen Vergangenheit.

Im sogenannten Inspektorenhaus soll es einen Theatersaal für siebenhundert Besucher gegeben

haben. Fast zweihundert mehr, als im Mecklenburgischen Staatstheater am Schweriner Alten

Garten, dem Großen Haus, Platz finden. Woher kam so viel Publikum?

Nie habe ich den Wunsch verspürt, in einer anderen Zeit zu leben. Das Remplin als Kulturhochburg

hätte ich gerne gesehen!

Mag sein, daß hinter den manchmal schwer nachvollziehbaren Bemühungen der Denkmalpflege

ein ähnlich naiver Antrieb steckt. Aber futsch ist futsch und hin ist hin. Das Zeitalter der Gutsherren

wird nicht wiedererstehen und soll es auch nicht. Vermutlich wäre Remplin ein nicht gar

so melancholischer Ort, wenn man – und sei es bei Lennés Parkanlage – nicht dem Phantom

historischer Authentizität nachjagen würde.

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Das Schloß ist abgebrannt, okay. Ein beachtlicher Teil aber steht. Man kann den Torso akzeptieren

– als Ganzes in seiner heutigen Einmaligkeit. Den Park, schön und alt, muß man pflegen.

Ihn auf seinen Zustand von vor zweihundert Jahren zu trimmen, tut ihm Gewalt an.

Kleine Utopia, Finanzierungen und Eigentumsdiktate überspringend: Die eleganten Sichtachsen

der Lindenalleen und Kanäle bleiben. Aber denen, die drin wohnen, um Brecht zu assoziieren,

gehört Remplin. Sie entscheiden, was sie brauchen, was sie mögen. Einen Bolzplatz, eine Tischtennisanlage,

einen Jugendclub, einen Saal, wo man Kino gucken kann. Eine Kneipe. Ein Lädchen

für das, was man anderswo einzukaufen vergessen hat. Ein Ort zum Tischtennisspielen.

Und. Und. Und.

Wäre ich souveräne Bürgerin in Remplin, würde ich vor meiner Melancholischen Tür einen Rosengarten

anlegen, in dem jede und jeder seine Lieblingssorte pflanzen und pflegen dürfte.

Kulinarisch:

Außen:

Pflückhecht mit brauner Butter und Mandelsplittern, Möhrengemüse und Salzkartoffeln

Grüner Salat mit Essig-Öl-Marinade und Zitronenverbene

Gedünstete Apfelspalten mit Zimt und Zucker

Muntazar al-Zaidi, ein irakischer Journalist, der sogenannte Schuhwerfer, ist

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vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Im Dezember 2008 hatte er bei einer

Presse-Konferenz in Bagdad als Zeichen der Verachtung seine Schuhe auf den

noch amtierenden amerikanischen Präsidenten Bush geworfen und wurde festgenommen.

Sein Protest richtete sich gegen den Krieg der Amerikaner im Irak.

Daß er kurz danach nicht zur Gerichtsverhandlung erschien, begründeten Anwälte

und Verwandte mit schweren Verletzungen: Gebrochener Arm, gebrochene

Rippen. Tiefe Schnittwunden im Gesicht.

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SECHSTER TAG

Dienstag, 15. September

Am Wartehäuschen, Bushaltestelle Bristow, steht hinten an der Außenwand, mit Faserstift geschrieben,

eine anonyme Mitteilung: Laura und Anna, ihr seid die besten Mädchen, die es gibt.

Ich habe euch übelst gern. Ohne euch geht gar nicht!

In Schwerin, in der Straßenbahn, hörte ich, wie ein junger Mann von einer Verabredung erzählte:

Mit Manni haben wir übelst gespachtelt. Was ich mir mit: Haben wir leider sehr schlecht

gegessen übersetzte.

Jetzt begreife ich, die neue Bedeutungsvariante von übelst ist eine Steigerungsform von gut, von

ausgezeichnet.

Oder es ersetzt das alte Sehr, das es schon im Mittelhochdeutschen als sere gab und von im Sinne

von gewaltig, heftig, in hohem Maße verwendet wurde. Da nähern sich das sere Alte und sere

Neue wieder.

Der Ort, an dem Friderico und ich auf den Bus nach Teterow warten, ist im jugendlichen Jargon

keine Bushaltestelle sondern eine Busse – haben mir im vorigen Winter die Schüler der Regional

schule “Robert Koch“ in Grimmen beigebracht. Ein rationalisierendes Sprach-Kürzel wie von

Tankstelle zu Tanke.

Ach, zwei Wanderer, meint der Fahrer, als wir in den gänzlich leeren Bus einsteigen. Wir erklären

ihm, daß wir die Linienführung, wie sie auf dem Fahrplan steht, nicht nachvollziehen können.

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Wo wollt ihr denn hin?

Na, Innenstadt, antwortet Friderico etwas unbestimmt.

Ich geb euch Bescheid, sagt er und fährt los.

Bis Teterow bleiben wir die einzigen Fahrgäste, dann biegt der Bus von der Hauptstraße ab und

steuert den Vorplatz einer Schule an. Der Ort ist mir vertraut. Seit den achtziger Jahren bin ich

hier ein paarmal zu Lesungen gewesen.

Fahrkinder steigen ein. Zwei erkenne ich wieder. Eins der Mädchen, die zum Grillfest gingen.

Einen Jungen, der auf dem Bristower Sportplatz mit dem bunten Gummiball kickte.

An drei Haltepunkten sammelt der Fahrer Schüler ein, dann macht er eine Biege und läßt uns

fußgängerfreundlich an der Straße vorm Malchiner Tor aussteigen.

Dankeschön, sagen wir zum Chauffeur.

Bitteschön, antworten zwei freche kleine Jungs und grinsen. –

Einmal Teterow angucken, gehört zum Standardprogramm während unserer Ausspanne am

Malchiner See. Heute nachmittag wollen wir vom Ortsrand zurück nach Bristow wandern. Aber

erst mal Stadtluft schnuppern und Besorgungen machen. Zum Beispiel die Lederhülle von Fridericos

Fernglas, aus der sich der Reißverschluß löst, reparieren lassen.

Davon war nie die Rede! empört sich der Besitzer, als ginge es um ein existentielles Problem.

Haben wir mindestens dreimal drüber gesprochen, ärgere ich mich.

Philemon und Baucis toddern auf der Straße. Friderico will die Hülle jetzt nicht nähen lassen.

Ich will, weil es praktisch ist. Kurzes verbales Scharmützel unter dem Schild Schlüssel-Schuh-

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und Sicherheitsdienst. Friderico lenkt ein. Ich setze mich durch. Ansichtssache.

Jedenfalls macht der angeblich Überrumpelte keinerlei Anstalten, dem rundlichen Menschen

hinter dem Tresen das Näh-Anliegen vorzutragen. Also ich.

Natürlich kann der Mann im Overall das nähen und natürlich macht er das sofort.

Friderico und ich nehmen auf winzigen roten Metallstühlchen Platz und sehen dem Meister bei

der Arbeit zu. Ein riesiger Kater erscheint und stolziert über den Ladentisch. Typ Tarzan. So

hieß der Herrscher über die Hinterhöfe in der Schweriner Apothekerstraße. Rötlich gestreiftes

Tigerfell und ein prächtiger Bratzkopp.

Er heißt Tikki. Als die Kinder klein waren, haben sie ihn so genannt, sagt der Reparateur, in

unseren alten Augen selbst noch jung.

Nach zehn Minuten ist alles erledigt, Friderico nun auch zufrieden mit der heilen Hülle. –

Seit Freitag streikt meine Kamera. Vielleicht sind nur die Batterien leer. Die Ersatz-Zellen liegen

zuhause in Schwerin. Daß ich nicht fotografieren kann, ist schade – keine Katastrophe. Blicke

und Bilder wiederholen sich mit den Jahren. Und doch: Mitunter erhellt ein verändertes Detail –

wie bei meiner Melancholischen Tür – das Vergehen der Zeit. Manches Licht leuchtet nur ein

einziges Mal.

Sie sollten sich auf dem Gebraucht-Markt einen zweiten Corpus zulegen, mahnt mich mein

Schweriner Foto-Fachmann seit Jahren. Der Canon-Typ, mit dem ich fotografiere, wird nicht

mehr produziert. Ich nehme mir den Kauf durchaus ernsthaft vor – aber insgeheim finde ich es

schäbig, meiner guten alten Kamera den sicheren Tod zu prognostizieren und so versandet der

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Entschluß…

Im Laden einer Drogerie-Kette gibt es zum Glück die Batterie-Zellen, die ich brauche.

Ich setze sie ein. Fehlanzeige, nix reagiert.

Im Elektronik-Fachgeschäft gibt es Kaffeemaschinen, aber keine Kameras. Ich sollte es beim

Fotografen in der Nebenstraße versuchen, meint der Verkäufer.

Der Fotograf ist eine Fotografin. An den Batterien liegt es nicht, erkläre ich vorab.

Doch, sagt sie nach kurzem Blick ins Kamerainnere. Verkehrt rum eingesetzt.

Wie peinlich, meint Friderico. –

In einer der Straßen, die zum Markt führen, kommen wir beim Vietnamesen, wie die Asia-Shops

im Osten heißen, vorbei. Das Lädchen zieht mich magisch an, um – nach Kurt Tucholsky –

Knöpfchen zu kaufen. Friderico, den die wunderbaren Kramläden tödlich langweilen, wartet

ergeben vor der Tür. Ich gebe mir Mühe, mich nicht im Trödelparadies zu verlieren und kehre

schon nach zehn Minuten mit meinen Schätzen zu Philemon zurück: Zwei schneeweiße, mit lila

Blüten bedruckte Schälchen aus Plaste, ein spitzes Messer mit pinkfarbenem Griff, ein Schulheft

ohne Linien, eine Rolle Zwirn.

Zeit für Siesta. Wir setzen uns ins Café an der Ecke sehen zu, wie der Wochenmarkt vorm Rathaus

zusammengeräumt wird.

Im Stand mit Billig-Klamotten hantiert eine Frau mittleren Alters. Starkbusig, korpulent. Eine

Türkin, vielleicht. Mit dem Enterhaken hebt sie Kleiderbügel von der Stange. Trainingshosen,

Buntblusen, T-Shirts.

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Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, eilen herbei. Die Enkel der Verkäuferin. Begrüßung

mit viel Hallo, aber knapp. Die beiden schmeißen ihre Schul-Rucksäcke zur Seite und machen

sich an die Arbeit. Was Großmutter von der Stange hebt, legen sie in Bananenkisten. Die Damentextilien,

die Herrenshirts. Zum Schluß rollen sie akkurat die Lattenroste von den Verkaufstischen

zusammen. Man sieht, sie wissen, was zu tun ist. Die Ältere behandelt die Geschwister

als gleichrangige Partner. Sie hantieren emsig, voller Stolz.

Als alles einsortiert ist, erscheint auf hochhackigen Pumps eine junge Frau, die Mutter der Kinder.

Sie trägt einen Säugling auf dem Arm. Die Familie kringelt sich zusammen und klettert ins

Innere des Transporters.

Der Verkaufswagen der Mecklenburger Landpute rollt davon, gefolgt von dem, der Fisch und

Fischprodukte unter die Leute bringt. Suer Aal zum Beispiel, den sauer eingelegten.

Der Blick auf den Teterower Hechtbrunnen wird frei. Ein kleiner, nackter Junge, der den großen

Fisch auf seinen Schultern trägt. Gestalt gewordene Legende, von der es viele, mit verbalem Behagen

ausgemalte Varianten gibt.

Kern der Sage: Die Teterower Fischer fingen – vor langer, langer Zeit – einen außerordentlich veritablen

Hecht. Da sie ihn für spätere Gelegenheit aufheben wollten, machten sie an der Stelle, wo

sie ihn aus dem Wasser gezogen hatten, eine Kerbe ins Boot, hängten ihm eine Klingel um den

Hals und ließen ihn zurück in den See. Eine mecklenburgische Schildbürger-Story. In anderen

Versionen war der Hecht noch zu klein und die Teterower wollten ihn weiter wachsen lassen.

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Immerhin zeugt es von Selbstironie der Stadtväter, daß sie in Erinnerung an den eher ehrenrührigen

Vorgang, im Jahr 1914 diesen Brunnen aufstellen ließen. Legenden waren wohl schon

immer gut, zahlende Gäste anzulocken.

Friderico wirft einen Cent ins Wasser unter dem Männeken mit dem Fisch. Weniger, um die

Stadtkasse aufzubessern, eher, um die Schicksalsgöttinnen für eine Wiederkehr gnädig zu stimmen.

Gestaltet hat den Brunnen der Bildhauer Wilhelm Wandschneider, im benachbarten Plau am

See geboren. Von ihm stammen nicht nur die Fritz-Reuter-Skulptur in Stavenhagen und der

Brunnen für den Dichter John Brinckmann in Güstrow. Wandschneiders Grabmäler, Büsten,

Statuen sind in ganz Deutschland auf Friedhöfen und in Parks zu finden. Auch Amerika, wenngleich

viel spärlicher, ist bestückt.

Ein begehrter Künstler seiner Zeit. Ein “staatsnaher“ Künstler im Kaiserreich und in der Nazi-

Ära. Er starb1942 in seiner Heimatstadt. Nach dem Krieg fiel Wandschneider in Ungnade. Zu

recht, zu unrecht? Ich weiß zu wenig. Ein weites Feld, um mich mit Fontane vor einem Urteil

davonzuschleichen. In Plau bewahrt ein kleines Museum das Andenken an den Künstler. –

Wehrhaft, bodenständig, unverrückbar steht die Stadtkirche seit Jahrhunderten an ihrem Platz.

Trotzdem muß man sie vom Markt aus fast suchen, das neuere Rathaus verdeckt die Sicht.

Als wir ins Innere von Sankt Peter und Paul treten, haben sich die allerletzten Wölklein über

Teterow verzogen. Klar leuchtet durch die hohen Fenster die Sonne herein.

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Der prächtige Flügelaltar, gülden über gülden, strahlt im Licht. Er zeigt Marias Krönung. Die

zwölf Apostel sind dargestellt und die Schutzheiligen der Kirche. Die Brustbilder der heiligen

Männlein und Weiblein im unteren Teil kann ich nicht deuten. Der Altar freut mich. Mit soviel

(Blatt-) Gold und trotzdem kein Protz. Er lädt zum Schauen ein.

Ich könnte eine Fotoerlaubnis kaufen, aber ich vertraue darauf, daß mein optisches Gedächtnis

den Anblick wahrhaftiger reproduzieren wird, wenn ich ein Abbild brauche. Außerdem stört

Fotografieren die Stille und Andächtigkeit in diesem noblen Raum.

In einer Nische gibt es Wühltische mit Büchern, die meisten sind DDR-Ausgaben. Ratgeber einer

Nürnberger Verlagsanstalt, Mosaik-Hefte, christliche Erbauungsliteratur, Regionales.

Ich fische von Christine Wolter “Straße der Stunden – 44 Ansichten von Mailand“ heraus, die

Ausgabe vom Aufbauverlag. Ich habe das Buch Ende der Achtziger, gleich nach seinem Erscheinen,

gelesen.

Vorher hatte ich schon Wolters “Die Alleinseglerin“ verschlungen. Selbst wenn ich jemals die

Absicht gehabt haben sollte, mir ein Segelboot zuzulegen, wäre das Vorhaben nach der Lektüre

des Buches endgültig ad acta gelegt. Vordergründig geht es um die Mühseligkeiten, ein Boot

aus Holz fahrtüchtig zu halten. Im Hintergrund scheint Situation selbstbewußter Frauen in der

ostdeutschen Wirklichkeit auf.

Die Mailänder Miniaturen haben mich fasziniert. Christine Wolter faßt die Aura eines Ortes

und Spannungen zwischen den Personen – zu denen auch das literarische Ich gehört – in wenigen

Sätzen und in großem Bogen. Einige Befindlichkeiten ihrer Figuren empfand ich damals als

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die meinen.

Sehnsucht nach Italien, von der Mauer und mit sieben Siegeln verschlossen, schwang mit. Goethes

Mignon, Mignons Lied…Kennst du das Land wo die Zitronen blühn, im dunklen Laub die

Gold-Orangen glüh´n …Dahin! Dahin möchte ich mit dir, oh mein Geliebter zieh´n.

Ich las Christine Wolters Ansichten und begriff, heilsame Ent-Täuschung: Ob Milano oder Magdeburg,

ob du mit Visum in die westliche Welt reist oder ohne sie im zugeschriebenen Areal

verweilst – du wirst deinem Selbst auch auf der schönsten Reise nicht entkommen.

Für zwei symbolische Euro kaufe

ich das Buch bei der Kirchenbesorgerin,

die Philemon und Baucis mit

gebührendem Abstand, doch sehr

aufmerksam umschlich. Jetzt lächelt

sie und guckt uns freundlich

an. Wahrscheinlich ist sie eine der

Ehrenamtlichen, ohne die das Gotteshaus

seine Pforten für Touristen

nicht öffnen könnte. Und vielleicht,

denke ich, nun auch freundlich gestimmt,

umschlich sie uns nur, weil

es im Gehäuse von Sankt Peter und

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Paul so kalt ist, wie der Sommer draußen es lange Wochen war.

Christine Wolters Büchlein ist für Elena bestimmt, eine junge Freundin in Cottbus. Das wundersame

Leben hat sie aus Milano in die Niederlausitz verschlagen. Elena, die Malerin und Theaterfrau,

die den bewunderten Dario Fo von seiner Arbeit mit Jugendlichen – als sie selber eine war

– am Teatro Piccolo kannte. Elena sah ich zum erstenmal als Komparsin bei einer Probe auf der

Bühne der Sandower Theaterscheune, einer Spielstätte des Cottbuser Theaters. Sympathie auf

den ersten Blick.

Elena und ich wurden Nachbarinnen. Unsere Wohnungen lagen schräg gegenüber, wir konnten

uns fast in die Fenster gucken. Wenn gefeiert wurde, halfen wir uns gegenseitig mit Tellern und

Stühlen aus. Wir konnten bereden, was bei der Arbeit drückte.

Einmal warf ein dummer Junge einen Stein durch die Fensterscheiben in Elenas Wohnung. Jemand

hatte ihn dazu angestiftet, weil dort Ausländer! leben. Der Stein hätte Elenas Sohn, drei

Monate alt, in seinem Bettchen treffen können.

Wir grübelten, wie man dem Kind den üblen Streich nicht durchgehen ließ, ohne den ganzen

ideologischen Rattenschwanz des offiziösen Fremden-Feindlichkeits-Verfolgungs-Wahns auszulösen.

Elena, praktisch und resolut, selber Tochter eines Polizisten, ließ die Bullen beiseite,

machte die Eltern ausfindig und sprach mit ihnen. Ihr Sohn war wirklich ein dummer Junge.

Ein kränkliches Kind, das von den Mitschülern geschurigelt wurde. Er kam später zu Elena und

bettelte, das Baby sehen zu dürfen.

In einer Serie von Cottbuser Frauen-Porträts hat Elena mich gemalt. Sie entdeckte (Wesens-)

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Züge an mir, die ich für unsichtbar hielt. Alle Bildnisse versah Elena mit einem Kommentar;

meiner lautete, nach Descartes: Cogito ergo sum. – Schmeichelhaft!

Mitunter tranken wir, wenn unsere Schauspieler-Männer zur Vorstellung oder Abendprobe im

Theater waren, zusammen einen Wein. Zwei, drei Gläschen. Mit wachsender Stimmungsaufhellung

und der Lust zu singen. Elena singt gern und kraftvoll wie eine Fanfare. Manchmal, zu

meiner Freude, schmetterte sie:

Avanti popolo, alla riscossa,

bandiera rossa, bandiera rossa.

Bandiera rossa trionfera.

Bandiera rossa trionfera.

Evviva comunismo e liberta!

Dazu schlug sie mit der flachen Hand den Takt auf den Küchentisch, daß es nur so krachte.

Als letzter Punkt auf unserem touristischen Tages-Programm steht die Galerie am Kamp. Sie

richtet alle sechs Wochen eine Ausstellung mit Kunst oder Kunsthandwerk aus. Friderico und

ich kommen zur Interimszeit. Die alte Exposition ist abgebaut, die alte neue steht noch nicht.

Aber die Objekte sind schon da.

Torsi, Büsten, Skulpturen zufällig im Raum verteilt. Trotz der Absichtslosigkeit ihrer Konstella-

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tionen bevölkern sie ihn, als hätten sie aus eigenem Antrieb die Plätze gewählt. Sie haben Beziehungen

zueinander aufgenommen. Die Liegende mit angewinkelten Beinen lümmelt herausfordernd

vorm Heizkörper. Ich bin die schönste im ganzen Land, sagt ihre Körperhaltung.

Die Aktskulptur vor der Wand gegenüber sucht vergeblich Blickkontakt zu ihrem kleineren Pendant.

Der einzige Mann in der Runde – Büste aus getöntem Gips – fühlt sich von so viel Weiblichkeit

bedrängt. Er hält die Arme abweisend verschränkt und erwidert keinen der Blicke. Die Nachmittagssonne,

Licht und Schatten wechseln, illuminiert das imaginäre Spiel.

Im Entré, wo charmanter Schnickschnack zum Verkauf angeboten wird, sitzt ein Mensch mit

dunklen Wuschelhaaren und trinkt Kaffee. Er spricht mit der Galeristin und sieht sehr künstlerisch

aus. Weißer Schillerkragen, roter Schal, salopp um den Hals geschlungen.

Friderico und ich können uns in Ruhe umgucken. Die Dingelchen in die Hand nehmen und betrachten.

Mein begehrliches Auge fällt auf einen Schmuck. Zwei grau gesprenkelten Federn wie

vom Japanischen Möwchen, in einem Mini-Schaft aus Edelstahl gefaßt. Ein Unikat und nicht

ganz billig.

Friderico stimmt mir zu, daß es eine sehr schöne Arbeit sei, kann sich aber das Lästern nicht

verkneifen, daß man so was in Bayern wohl eher am Jagdhut trage.

Ich überschlage in Gedanken den häuslichen Etat, leiste mir das Kleinod und mein Hinterkopf

produziert zum erstenmal einen fröhlichen Gedanken zu Manuskriptabgabe und Picasso: Für

die Buch-Premiere!

Philemon und Baucis schlendern zum nahen Mühlenteich, wo Weiden ihre Astschnüre übers

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Wasser pendeln lassen. Stockenten gründeln. Schwalben schießen drüber hin. Das hölzerne Geländer

um das Wässerchen ist mit geschnitzten Skulpturen geschmückt.

Ein Männlein, ein Weiblein, sitzen sich mit angezogenen Beinen in Waschzubern gegenüber.

Den Mann und seinen Trog hat ein fleißiges Spinnentier von oben bis unten mit filigranem

Netz überzogen. Es verhüllt ihn wie ein durchsichtiger Schleier. Sinnbild von Gelassenheit und

In-sich-Ruhen. Ich versuche zwei, drei Fotos. Sie gelingen und bewahren die Atmosphäre des

stillen Septembertags. Eins von ihnen nehme ich später, im Dezember, als Motiv für meine obligatorische

Neujahrskarte.

Eine Turmuhr schlägt die fünfte Nachmittagsstunde. Wir schultern die Rucksäcke und kehren

tetrew, wie die Stadt altpolabisch in Ableitung von Birkhuhn geheißen haben soll, den Rücken

zu.

Bevor Friderico und ich freien Schritts gehen können, müssen wir in der Kurve nach dem Ortsausgang

ein paar hundert Meter auf der Fernverkehrsstraße nach Waren überwinden. Kein Pfad,

kein Rand zwischen Fahrbahn und Leitplanken. Fahrtwind von vielachsigen Transportern pfeift

uns um die Ohren. Wir hangeln uns Schritt für Schritt an der Außenseite der Planken entlang.

In der Biegung geht es steil bergab, die Grasnarbe ist rutschig.

Geschafft! Friderico schmeißt triumphal seinen Rucksack über das Schutzgeländer. Haben wir

doch gewußt, fügt er hinzu, als er mein mißmutiges Gesicht sieht.

Ja, haben wir gewußt, daß dieses Stück bewältigt werden muß. Es ärgert mich trotzdem, daß mir

ohne Blechblase hier kein Recht zum Da-Sein und Da-Gehen zugestanden wird.

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Friderico macht eine wegwerfende Geste: Vergiß es!

Über unseren Köpfen rauschen Starenschwärme. Zwei Milane segeln mit dem Aufwind.

Wir nähern uns dem Götterblick. Ein Rastplatz, eine hölzerne Bank, laden zum Verweilen ein.

Der Garten Eden liegt uns zu Füßen.

Aber seltsam: Das Panorama verliert sich vor den Augen, es zerfasert. Faszinierender wirkt es

durch das Fenster des Taxis oder eines Busses. Ihre Rahmen konzentrieren den Blick. Die Bewegung

der Fahrzeuge variiert der Fokus. Der Ausschnitt bestimmt, wohin der Blick fallen soll.

Der Rahmen macht das Bild, sagen die Galeristen. Geschwindigkeit und Wechsel steigern das

Entzücken.

Schön ist es fußläufig trotzdem. Wir sitzen, lassen die Augen sich laben. Sanfte, satte Farben. Der

Regionalzug nach Malchin kriecht als rote Raupe durch die Büsche am Bahndamm.

Entlang der Straße sind seit unserem letzten Aufenthalt Ansitze für Greifvögel gesetzt worden;

mit Sachverstand an Stellen, wo die Tiere sie annehmen können.

Auch Obstbäume wurden gepflanzt, viele Birnen. Alte Sorten mit kleinen, festen Früchten. Ich

klettere die Böschung hoch und stecke mir ein paar grün gesprenkelte Exemplare ein. Ideal zum

Dünsten.

Ein abgeschabter Kombi kommt uns entgegen, macht nach hundert Metern kehrt und hält neben

uns.

Kann ich Sie irgendwohin bringen, fragt der Fahrer und setzt hinzu: Sie gehen doch bestimmt

nicht freiwillig hier.

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Ein Mensch um die Fünfzig, schon schütteres Haar, schütteres Spitzbärtchen. Offener, wacher

Blick. Im Hinterraum seines Wagens liegt Arbeitsgerät. Handsäge, Seile, Maurer-Eimer. Vielleicht

ein Mann von der Forst. Vielleicht jemand, der an seinem Haus baut.

Wir erklären dem Freundlichen, daß wir aus Freude an der Landschaft nach Bristow wandern

und darum nicht in sein Auto einsteigen möchten.

Das sind fast zehn Kilometer, warnt er.

Ja, wissen wir, meint Friderico. Damit die Ablehnung nicht ganz so brüsk wirkt, erzählt er, woher

und wohin des Wegs. Daß wir als autofreie Menschen leben und das Laufen auch längerer

Strecken gewöhnt sind.

Ich dachte, der Bus von Teterow ist ausgefallen, meint er. Einfach so gehen – macht doch kaum

noch jemand. Ich auch nicht mehr. Eigentlich schade.

Er lächelt – eine Mischung aus Anerkennung und ein klein bißchen Neid – hebt grüßend die

Hand, wendet wieder und fährt ohne uns in seine Richtung davon.

Die freundliche Geste, das Hilfsangebot, beschwingen uns trotzdem.

Weißt noch? In Rostock? erinnert Friderico.

Er arbeitete als Gast am Volkstheater. Da ich in dem Frühjahr nur wenige Termine hatte, konnte

ich es einrichten, daß wir während der Probenphase gemeinsam in Rostock im Apartment des

Theaters wohnten. “Einer flog über das Kuckucksnest“ wurde inszeniert. Friderico gab den Cheswick.

Regisseur Martin Nimz hatte sich für das Stück von Dale Wassermann für eine außergewöhnliche

Besetzung entschieden.

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Katrin Stephan, lange Jahre die Grande Dame am Rostocker Volkstheater, spielte den Häuptling.

Das Wagnis ging auf. Es ging nicht um männlich oder weiblich. Der Schauspielerin gelang es,

das Recht auf menschenwürdiges Leben und seine Bedrohung als Prinzip zu verkörpern. Die üppigen

glatten Haare der Schauspielerin, die ihr, zum Zopf geflochten, bis auf die Hüften reichten,

trugen optisch zum exotischen Reiz der Figur bei.

Die probenfreien Ostertage fielen in die Zeit kurz vor der Premiere.

Obwohl der heimatliche Garten uns brauchte und zwischen Rostock und Schwerin nur eine

Stunde Bahnfahrt liegt, beschlossen wir, nicht nach Hause zu fahren, sondern die Umgebung

der Hansestadt zu erkunden.

Am Ostersonntag setzten wir uns in die Straßenbahn zur Endhaltestelle Süden. Weite, offene

Landschaft. Freier Blick, gut ausgebaute Radwege. Die Bäume noch nicht begrünt, aber in der

unterschiedlichen Färbung der Knospen war schon der Frühling zuhause. Es ließ sich gut laufen

und schauen.

Auf unsere Ortskenntnis vertrauend, hatten wir keine Landkarte der Gegend mitgenommen.

Die Silhouette der Stadt, um uns an ihr zu orientieren, blieb in unserem Blick verborgen. Gewerbegebiet

und Autohäuser, der Ringelreihn aus Ein-Familien-Häusern waren davor gesetzt. Nicht

zu erkennen, wo Autobahn oder Bahnlinien den Weg versperrten. Zweimal rannten wir auf dem

Rückweg gegen die Strecke nach Bützow an.

Wir erkundigten uns bei drei Radfahrern in mittleren Jahren nach der nächsten Haltestelle des

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Nahverkehrs. Ausführlich hub einer der Gefragten an, den Weg zu erklären. Hierlang und dortlang…

Plötzlich unterbrach er sich und sagte: Aber das sind vier Kilometer!

Okay, meinte Friderico.

Wirklich, vier Kilometer! wiederholte der Mann mit Nachdruck.

Trauen Sie uns das nicht zu, fragte Friderico zurück. Sind wir zu alt?

Das war nun dem Radler peinlich: Das nicht! Aber…

Warum dann, hakte Friderico nach.

Sie sehen nicht so aus! rief der Radfahrer fast verzweifelt und wies auf unsere Kleidung.

Friderico in Pullover und Cordjacket. Beide Jeans an den Beinen. Ich trug eine leichte Lederjacke.

Keine Klamotten aus dem Outdoor-Shop, die modische Sportlichkeit signalisieren. No Nordic-

Walking-Stöcke. Feste Schuhe, aber keine von den angesagten Marken. Wir entsprachen nicht

dem gängigen Klischee wanderlustiger Altmenschen.

Die Luft wird feuchter, der Abend kündigt sich an. Vor der Biegung nach Glasow bleibt der Wald

zurück. Rechterhand ein Stoppelfeld, die hellweiß eingeschweißten Strohballen leuchten.

Friderico bleibt stehen und zückt sein Fernglas. Hoch oben kreist ein Greifvogelpaar.

Sind wohl Bussis, murmelt er. Unsere Kurzformel für Bussarde.

Was grinst du, fragt er irritiert.

Das Jackett, sage ich. Friderico trägt dasselbe abgewetzte Cordjacket wie beim Osterspaziergang

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in Rostocks Süden.

Was willst du, meint er, leicht beleidigt. Ist doch vollkommen in Ordnung!

Ja, es ist vollkommen in Ordnung, daß er seine eingewohnten Sachen eigentlich nie verlassen

möchte. Ich hab mich mein ganzes Leben lang nur umgezogen, hat Friderico mir einmal auf

mein sanft-nachdrückliches Drängen, sich einen neuen Mantel zuzulegen, zwischen Scherz und

Ernst geantwortet.

Die Zahl der Kostüme, die er in den über fünf Jahrzehnten seines Schauspielerlebens ausprobiert,

sie an-und-um-und-ausgezogen hat, geht sicher in die Hunderte.

Der gefürchtete schnelle Umzug hinter der Bühne: In der Gasse – weil für den Weg in die Garderobe

keine Zeit bleibt – warten die Garderobiere, der Garderobier, mit dem Kostüm für die

nächste Szene. Der Wechsel soll eine andere Person oder eine andere Situation kennzeichnen.

Blitzschnell, im Halbdunkel, das alte Kostüm aus, das neue an. Und wieder raus ins Licht.

Manchmal bleibt nur die Hoffnung, in der Eile das richtige Paar Schuhe, den richtigen Hut,

gegriffen zu haben.

Manche Menschen der darstellenden Zunft erwerben, wenn das Stück abgespielt ist, für einen

kleinen Obolus das Kleid oder den Anzug, in denen sie auf der Bühne besonders vorteilhaft

wirkten. Zu ihnen hat Friderico nie gehört.

Die Bretter sind eine eigene Welt. Der Alltag ist eine andere.

Im menschenleeren Glasow, mitten auf dem leeren Sportplatz, steht eine knallblaue Mülltonne

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für Papier. Sie wirkt ordentlich und selbstbewußt. Die Szenerie mutet an wie eine Installation.

Oder ein Bild von Dennis Hopper. Wir ziehen wortlos an ihr vorbei.

Drei Viertel der Strecke sind zurückgelegt, unser Zweier-Schritt auf einander eingepegelt. Das

Tempo gleichmäßig. Kaum noch Worte. Gehen, gehen, gehen. Einträchtiges Wandeln am staubigen

Rand der Straße.

Vor Bristow blinken die ersten Sterne auf. Das Dorf scheint verlassen. Keine Kinder, keine Alten.

Nur Kühe hinter den Ställen. Schwarzweiße Wolken auf der Weide am Hang.

Als wir das Bootshaus erreichen, huscht der gescheckte Kater ins Dunkel davon.

Kulinarisch:

Außen:

Dicke-Bohnen-Pörkelt (mit Basilikum und Currykraut), Salzkartoffeln

Gurken-Paprika-Zwiebel-Salat

Pflaumenspalten mit Honig

OPEL Auto IAA – Auto OPEL IAA.

OPEL Auto Schweinegrippe – Auto OPEL – und und und.

Die Internationale Autoausstellung in Frankfurt am Main ist eröffnet.

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SIEBENTER TAG

Mittwoch, 16. September

Der Tag ist jung. Die Nebel überm See schweben, schlängeln, kreiseln. Durch die Nebel fährt ein

Boot. Ein altes Boot aus Holz. Man hört die Riemen knarren. Zwei Männer sitzen darin. Mal

sichtbar, mal verdeckt von den Schleiern, gleiten sie dahin. Ein Bild wie von Hölderlin erfunden.

Vor dem Bootshaus taucht ein Schwanenpaar mit drei Jungen ihre Hälse ins heilig nüchterne

Wasser und verstärkt die Assoziation.

Ich sitze, eine Decke über den Knien, auf der Terrasse und sortiere meine Schreibsächelchen.

Drei Ansichtskarten mit Fotomotiven habe ich gestern in Teterow gekauft. Eine zeigt den Rathausplatz,

auf der zweiten ist der Hechtbrunnen abgebildet und die dritte bietet einen Blick über

die mittelalterliche Stadtanlage.

Für ein paar längst vergangene Jahre bedeutete mir Teterow mehr als nur die nächste kleine

Stadt. Ich lebte im nahen Kuchelmiß; 1969 ein sehr entlegener Ort.

Ich hatte mich an der Schule des Dorfes als Lehrerin für Deutsche und Russische Sprache beworben.

In Güstrow, wo ich noch studierte, lebten wir zu viert – Mutter, Vater, die beiden Töchter –

in der Hollstraße in zwei winzigen Bodenkammern. Ich hatte mich als Anwärterin für Kuchelmiß

auch eingetragen, weil mit der Lehrerstelle eine Wohnung in Aussicht gestellt wurde.

Als ich vom Bahnhof in Langhagen zum erstenmal auf der Landstraße über Wilsen nach Kuchelmiß

ging, um mich dem Kollegium vorzustellen, wußte ich sofort: Hier will ich hin!

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Die Studienjahre in Güstrow hatten mich noch nicht zur Städterin gemacht.

Die einsame Gegend erschien mir wie ein lange entbehrtes Zuhause. Das tiefste Mecklenburg

nahm mich in seine grünen Arme. Kaum ein Fahrzeug begegnete mir. Am Waldrand durchfurchte

eine Rotte Wildschweine die Erde. Die Autobahn nach Rostock gab es noch nicht. Ich

wanderte dahin wie Hans im Glück.

Am Straßenrand, neben einem Trecker, saßen zwei ältere Männer in zusammengestoppelter

Arbeitskleidung. Sie verzehrten Brot aus Stullenbüchsen und schnitten es mit dem Taschenmesser

in mundgerechte Stücke. Sie sahen aus wie alle älteren Männer, die auf dem Feld arbeiteten.

So kannte ich sie von den Dörfern, in denen ich aufgewachsen war. Langmütig, geduldig, aber

immer auf dem Kiewiev, wie Großmutter Franziska wache Aufmerksamkeit nannte.

Ich grüßte mit Respekt.

Sie nickten zurück: Tach ok. –

Das Kollegium – die meisten um die vierzig und für meine vierundzwanzig Jahre damals ziemlich

alte Leute – zeigte sich zufrieden mit meiner Vorstellung. Direktor Svenson strich meine

Jugend als Vorzug heraus. Ich sei nach gerade sehr erfolgreich abgeschlossenem Studium auf der

Höhe des fachlichen Wissens. Die Lehrerschaft werde davon profitieren können.

Svenson war der geborene Pädagoge. Seine Warmherzigkeit umschloß alle. Seine Schulkinder,

die eigenen vier Söhne. Die Lehrer, die Lehrerinnen, alle Eltern. Aufforderungen vom Rat des

Kreises für seine Untergebenen zu Sitzungen und Weiterbildungen, die er für sinnlos und Zeitverschwendung

hielt, schmiß er in den Papierkorb.

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Er bot mir Halt in manchem Ungemach. Zum Beispiel, wenn der Elternbeirat sich beschwerte,

meine Röcke seien zu kurz und wenig später, die Mode hatte wohl gewechselt, sie seien zu lang.

Svenson sorgte mit sanftem Nachdruck dafür, daß ich in den Rat der Gemeinde gewählt wurde.

Er unterwies mich vorab in die gebotenen Verhaltensmaßregeln: Jede Sitzung beginne mit einer

Runde Klaren. Meist bliebe es nicht dabei, denn auf einem Bein könne man ja nicht stehen. Diese

Schnäpse dürfe ich auf keinen Fall ablehnen, wenn ich im Rat ernst genommen werden wollte.

Vor den Sitzungen, so Svenson, solle ich viel trocken Brot und fetten Speck essen. Ich hielt mich

dran. In einem meiner ersten Bücher, dem “Sonderfall“, habe ich versucht, meinem verehrten

Schulleiter ein kleines literarisches Denkmal zu setzen.

In den Neubaublock in Kuchelmiß – zwei Zimmer, Küche, Bad – zog ich mit den beiden Töchtern.

Stefanie war neun Monate alt, Jana vier Jahre. Elo, der Vater der Mädchen, studierte noch

in Güstrow. Eine Wochenend-Ehe.

Ich weiß, daß in meinen Kuchelmißer Jahren einer der härtesten norddeutschen Winter die Gegend

im Griff hatte. Die gnädige Erinnerung spielt mir windig-warme, sonnige Sommermonate

vor.

Abends, wenn die Unterrichtsvorbereitungen für den nächsten Tag erledigt waren und die Kinder

schliefen, setzte ich mich aufs Fahrrad und fuhr in die Nachbardörfer. Nach Serrahn, nach

Koppelow. Nach Hinzenhagen, den Berg rauf. Von oben hatte man wunderbare Sicht auf die

Landschaft, von den Endmoränen aus der Eiszeit geprägt.

Die Sonne ging unter, die Dämmerung nahm mich auf. Wieder zuhause, setzte ich mich an

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meine Schreibmaschine und schrieb Gedichte. Die Typen der Uralten waren im Halbrund angeordnet,

fürs Umschalten auf die nächste Zeile mußte ein Hebel betätigt werden. –

Ein, zweimal im Monat gönnte ich mir einen nachmittäglichen Ausflug nach Teterow. Ein Luxus:

Wenn ich vor der sechsten Stunde mit dem Unterricht fertig war, wenn es keine nachmittäglichen

Verpflichtungen in der Schule gab, konnte ich auf dem Rad die zwanzig Kilometer in die

Stadt und zurück bis zum späten Nachmittag schaffen und die Töchter rechtzeitig aus Kindergarten

und Krippe abholen.

Die Fahrt ging über Langhagen, Klaber, Rothspalk. Hinter Groß Wokern, nach dem Bahntunnel,

mit Genuß die steile Abfahrt bis fast vors Orteingangsschild hinunter gesaust.

Aus Teterow brachte ich uns Gemüse mit, das es Dorfkonsum kaum gab, weil in Kuchelmiß und

ringsherum sich alle aus ihren Gärten versorgten. Ich schnökerte in der Buchhandlung nach

Neuerscheinungen. Für meine kleinen Mädchen kaufte ich WasZumFreuen.

Ich genoß ein Stündchen Anonymität. In Kuchelmiß, wie in allen Dörfern, kam jeder Schritt

aufs Tableau. Ein pädagogischer Mensch kam nie aus der Verantwortung, sobald sie oder er die

Wohnung verließ. Da ich diese Art ländlicher Anteilnahme seit Kindertagen kannte, störte sie

mich nicht sonderlich. Trotzdem, einmal nur ich selber sein und nicht die neue Lehrerin, tat gut.

Mit Wehmut sah ich mir vorm Kino Plakate von Filmen an, die ich niemals sehen würde, und

radelte dennoch hochgestimmt retour.

Die junge Lehrerin gibt es nicht mehr. Ich bin eine andere geworden, die Verhältnisse sind es

auch. Die Teterower Kirche und das Rathaus stehen, wo sie immer waren. Der steinerne Knabe

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trägt denselben steinernen Hecht. Aber in meinem Gedächtnis existiert keine Kongruenz mit

dem heutigen Ort. Vielleicht trägt der automobile Verkehr, den ich als Fußgängerin rings um

die Stadt ertragen muß, dazu bei, daß die Verbindung zwischen dem Jetzt und dem Vergangenen

gekappt wurde. Keine Sekunde ohne Motorengeräusch. Die Ruh ist hin.

Neben mir auf dem runden Tisch dudelt leise, doch er dudelt, der Welt-Empfänger. Du machst

dir selber die Ruhe kaputt, sage ich mir. Aber das kleine Vergnügen, daß mich die ganze Welt

jenseits des Malchiner Sees jetzt nichts angeht und ich mir trotzdem von ihr was vorplappern

lassen kann, ist stärker.

Ein Windhauch huscht übers Wasser. Die Nebel reagieren mit promptem Aufwallen. Erlenblätter

rascheln. Mein Pflichtgefühl, Nachrichten zu versenden, verebbt. Die Teterower Ansichtskärtchen

in die Mappe retour. Wovon Nachricht geben. Nicht ist wichtig und alles hat Zeit,

suggeriert der Nebeltanz, mein Vis-a-vis.

Picasso?! Der Gedanke an das Manuskript verursacht mir keine Panik mehr. Abgenabelt!

Geschirr klappert. Friderico, in der Küchenecke, wäscht ab. Er schmettert lauthals: Am Grunde

der Moldau, da wandern die Steine…

Regional-Nachrichten. Kulturnotizen. Ein Töpfermarkt auf Burg Schlitz mit noch mehr Anbietern

als in diesem August wird für den nächsten Sommer angekündigt. Duplizität der Ereignisse,

hätte mein Vater gesagt: Burg Schlitz, via Carlshof, ist unser Tagesziel.

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Auf dem Weg nach Bristow rumpeln uns zwei Wagen entgegen, einer mit Güstrower Kennzeichen,

der andere mit einem Lübecker. Wir gehen beiseite, die Fahrer winken Dank.

Die Nebel haben sich aufgelöst. Kein Dunst mehr. Hoch über den Kuhställen prangen fünf weiße

Wölkchen im Azur.

In der Dorfmitte watschelt ein Paar Stockenten über den Sportplatz Richtung Teich. Die Kinder

sind noch in der Schule. Niemand will irgendwohin. Vormittägliche Schläfrigkeit. Am Kaukasischen

Storax rührt sich kein Blatt. Ein graugrünes Handtuch hängt lethargisch auf der langen

Leinenstrecke hinter den Neubauten.

Vor der Kirche zwei Frauen im Gespräch. Ihre Fahrräder lehnen außen an der Friedhofsmauer.

Beide halten eine Gießkanne in der Hand. Von ihrer erhöhten Position erwidern sie mit reserviertem

Nicken, wortlos, aber nicht unfreundlich, den Gruß der Utlänners.

Hinter dem Dorfausgang sind alle alten Pappeln entlang des Wegs nach Carlshof gefällt. Nicht

gefällt – brutal geschlachtet. Ja, Pappeln sind Nutzholz. Aber hier sind sie ohne Achtung vor

den hundert Jahren ihres Lebens umgenietet worden. Nicht über dem Wurzelansatz, sondern in

bequemer menschlicher Hüfthöhe. Äste, Holzscheiben, Splitter, Blattwerk – alles, was nicht Geld

bringt – beiseite geschmissen und liegen gelassen. Die Schnitte sind frisch. Aus den Stümpfen

der Pappeln quillt ihr Lebenssaft.

Auch am Weg nach Wendischhagen sind die Pappeln gefallen. Waren es Schwarzpappeln? Wohl

fünfzehn, zwanzig Meter ragten sie in die Höhe. Schattenspender. Blattflüsterinnen beim leisesten

Hauch. Herbstliches Massenquartier der Starenschare. Weithin sichtbare Markzeichen in

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der Landschaft, Orientierungsmale selbst von der anderen Seite des Sees. Nur die tischgroßen

Stümpfe, jetzt umwachsen von Beifuß und Disteln, erinnern an sie. Die Wendischhagener Allee

haben wir nicht fallen sehen. Das macht den Unterschied in der Wahrnehmung und gelassener.

Oder gleichgültiger.

Am Waldrand rechterhand sammele ich krümelige Brombeeren vom Strauch. Das Unterholz

knistert und bricht. Die Kiefern, ihre Zapfen, strömen Harzgeruch aus. Kein Pilz, nicht mal ein

Bovist oder Kremplinge. Trotz der Morgennebel ist es trocken, trocken, trocken. Der sandige

Boden hält die Feuchtigkeit nicht. Hinter einem Transporter, der über den Feldweg in Richtung

Bülow tuckert, wehen lange Staubfahnen übers Land.

Carlshof taucht auf. Noch nie sind wir hier einem Menschen begegnet. Manchmal kläffen Hunde.

In einem verwunschenen Garten steht unterm Fliederbusch ein weiß-grün gestrichener

Klappstuhl, als warte er auf einen Sommergast.

Über das Katzenkopfpflaster, unter den alten Kastanien, weiter nach Tessenow. Die Hügelketten

rechts des Weges – wie die Körperlinien einer ruhenden jungen Frau.

Vor drei Jahren erschien auf der Kuppe des mittleren Hügels ein knallrotes Treckerchen. Für

Sekunden schien es, als balanciere das Gefährt auf dem Horizont.

Die Kamera lag im Rucksack. Schnell herausgezogen – gerade noch rechtzeitig. Der Schnappschuß

glückte und ich verschickte das Foto als Neujahrsgruß mit der wohlmeinenden Aufforderung:

2007? Gratwanderung wagen!

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Zur Linken, sanfter gewellt, senkt sich die Landschaft zum Malchiner See. Beim Gehen glitzert

er mitunter hinter dem Uferbewuchs auf. Am nördlichen Ende des Sees, ragt zwischen Baumkronen,

der Turm der Bülower Kirche ins Blau.

Eine Hochspannungsleitung spannt ihre Drähte übers weitläufige, schon abgeerntete Feld.

Holundergebüsch wächst unter einem der Masten. Auf der Spitze hat ein Seeadler sein Nest gebaut.

Es gleicht einer Krone.

Als Friderico das Fernglas zückt, um den Bau näher zu betrachten, schwebt wie auf Bestellung

Haliaeetus albicilla herbei. Er läßt sich punktgenau und elegant auf seinem Domizil nieder. Ein

prächtiges, ausgewachsenes Exemplar. Aus der Entfernung betrachtet – ein großer Zacken auf

einer großen Krone.

Tessenow, von dem zuerst eine langgestreckte Ziegelscheune sichtbar wird, war ein altes Dorf

und ein altes Gut. Mitte des 13. Jahrhunderts wurde es zum erstenmal in einer Urkunde erwähnt.

Ein Herr von Bassewitz kaufte es später und ließ sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts

ein Gut mit stattlichen Wirtschaftgebäuden hinstellen. Die Zeiten und ihre Kriege haben

das Anwesen zerschlissen. Zwei Backsteinscheunen stehen noch, stehen sich gegenüber. In der

hinteren Mitte kann man sich den Platz für das ehemalige Gutshaus denken.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden hier Jungen und Mädchen in der sogenannten Kinderland-Verschickung

untergebracht. Als der Krieg 1945 endlich zu Ende war, zog für ein paar

Monate Infanterie von der Roten Armee ein.

Zwei Inschriften erinnern an das historische Intermezzo. Auf der einen Giebelwand steht der

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Text des Militär-Eides, auf der anderen die Aufforderung, wohl eher ein Befehl, die Waffen zu

pflegen und kampfbereit zu halten.

Die kyrillischen Buchstaben wurden – in beträchtlicher Höhe – mit weißer Farbe ebenmäßig

auf die roten Backsteine aufgebracht, vermutlich mit Schablonen. Sie sind so alt wie ich. Fast

fünfundsechzig Jahre und noch immer gut lesbar.

Haben die Soldaten die Farbe aus der fernen Sowjetunion bis in die Mecklenburgische Schweiz

transportiert? Haben sie sie hier in den Dörfern requiriert? Bei wem? Haben sie die Buchstaben-

Schablonen mitgenommen? Oder hat ein Begabter sie doch aus der freien Hand gemalt?

Wozu der Aufwand, inmitten von Elend und Zerstörung? Eine Behauptung der eigenen Kultur,

der eigenen Sprache, in einer Umgebung, in der die meisten kein einziges Wort dieser Schrift

entziffern und verstehen konnten?

Vielleicht erschien den jungen Männern das fremde Mecklenburg gar nicht so fremd und das

grüne Land erinnerte sie an heimatliche Dörfer.

Der Krieg war vorbei. Nazideutschland besiegt. Sie hatten das Grauen über-lebt und hatten wieder

Leben vor sich. Die Inschriften ein Ausdruck von Noch-Dasein-Freude. Von Selbstbehauptung.

Jedesmal, wenn wir an ihnen vorübergehen, dokumentiere ich den Zustand der Schriftzüge mit

einem Foto. Beim vorigen Mal stand ein sehr unangenehm und eitel aussehender “Öko“ auf dem

Gehöft. Im Hintergrund werkelte eine Alt-Achtundsechzigerin in Leinengewirk und offenen

Latschen.

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Wir grüßten und ich fragte höflich, ob ich das Haus mit der Inschrift fotografieren dürfe.

Wenn Sie mir die Fotogenehmigung bezahlen, meinte der Hausherr mehr im Ernst, denn als

Scherz. Gut, dann kein Foto. Ich konnte auf seine Gnade verzichten und mochte mich nicht auf

Geplänkel einlassen.

Im Hintergrund blökten Schafe. Größer als mein Gnatz war meine Neugierde: Ich erkundigte

mich, ob sie das Grundstück bewirtschaften.

Sie wollten eine Schafzucht aufbauen, erklärten sie. Beide sahen nicht so aus, als hätten sie jemals

eine Forke in der Hand gehabt. Aber vielleicht wollten sie ja auch aufbauen lassen.

Der BMW und der breiträdrige Rover, die vor dem Gehöft standen, trugen Kennzeichen aus

Hamburg oder Hannover oder Pinneberg. Ich hab es vergessen.

Heute ist niemand auf dem Hof zu sehen. Die beiden Scheunen verfallen weiter. Dachpappe

hängt herab. Das rechte Gebäude weist fünf große Tore mit Doppelflügeln auf. Sie enden zehn,

zwanzig Zentimeter über dem Boden. Vielleicht um Katzen oder anderem Kleingetier Zutritt

und Ausgang zu gewähren. Vielleicht um die Luftzirkulation zu verbessern, falls hier Getreide

oder Stroh, beides leicht entzündlich, gelagert wurde.

Die Nachmittagssonne wirft ihre schrägen Strahlen über Backstein und Holztore. Ihre Strukturen

treten hervor. So beleuchtet, wirkt das Gehäus nicht marode, sondern eben bejahrt und

auch ein wenig abgeklärt.

Es gab einmal einen Park. Er lag dem Gut gegenüber. Ein paar alte Bäume behaupten sich, aber

selbst wenn man von der Anlage weiß, ist sie kaum noch zu erkennen. Der Zugang wird durch

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einen Elektrozaun verwehrt. Brombeergestrüpp tut ein Übriges. –

Für eine Viertelstunde nimmt uns das kleine Waldstück vor der Fernverkehrsstraße auf.

Schattig, still und kühl.

Direkt an der B 108, zu Füßen von Burg Schlitz, tritt man aus dem Wald ins Helle hinaus. Unmittelbar

vor der Schmiede mit ihrer, aus Ziegeln gefügten, gedrehten Esse – ein restauriertes

Unikum. Daneben die Gaststätte “Zum Goldenen Frieden“. Als wir ankommen, schläft sie noch

ihren kulinarischen Frieden. Sie öffnet erst um siebzehn Uhr.

Das Terrain liegt verwaist. Irgendwo,

unsichtbar, gackern Hühner.

Ein Hahn kräht. Auf den Parkplatz

nebenan donnern zwei mehrachsige

Schwerlasttransporter.

Auf dem Gelände um Schmiede und

Kneipe wird vom Teterower Touristenbüro

seit über zehn Jahren

ein Töpfermarkt organisiert. Die

Kauf- und Gucklustigen strömen

in Scharen. Viele Aussteller, fröhliches

Gewimmel. Live-Musik. In der

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Schmiede wird selbstgebackener Kuchen verkauft, Honig aus der Gegend.

Einmal traf ich hier meine ehemalige Schülerin, die Keramikerin Ulrike Beseler an ihrem

Stand.

Sie fertigt Dinge zum Gebrauch, oft mit farbigem, handgemaltem Dekor. Leicht abstrahierte,

formgerechte Skulpturen; besonders die von Pferden sind eine Augenweide. Man merkt den

Arbeiten der Vierzigerin ihren lebenslangen Umgang mit diesen Tieren an.

Sinnlich-erotische Kleinplastiken von Frauen, mit Augenzwinkern und einem Funken Humor,

gestaltet, ziehen die Blicke an. Freche, schiefzahnige Engel gibt es, Männlein und Weiblein.

Eine Porzellanbrosche mit Schmetterlingsmotiv, ein beflügelter maskuliner Kerzenträger im

Karo-Hemd und eine Kaffeetasse von Ulrikes Hand gehören zu meinen Schätzen.

Der Keramikerin lebt in Hinzenhagen. Dort am Berg, wohin ich als junge Lehrerin abends so

gerne mit dem Fahrrad fuhr, um die Aussicht zu genießen. Auch Ulrikes Eltern, Schriftsteller

Horst Beseler und die Fotografin und Autorin Edith Rimkus-Beseler, wohnen dort. Ihr Sohn

Sven, Töpfer für Gebrauchsgeschirr, Spezialist für Fayence-Glasuren.

Eine zeitlang arbeiteten Edith und ich gemeinsam an der Schule in Langhagen. Edith als Kunsterzieherin.

Bei ihr konnten alle, jede und jeder, malen, zeichnen. Sie war eine strenge Lehrerin.

Nicht, um die Kinder zu disziplinieren, sondern um ihre Phantasie, verborgene Fähigkeiten und

die Lust am Gestalten hervorzulocken.

Edith Beseler hat über diese Zeit, Jahrzehnte später, ein wunderbares Buch gemacht. Es heißt

SCHATZFINDERKINDER und versammelt Texte von Exupéry über Gorki bis zu Eva und Erwin

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Strittmatter, mit denen das Beseler-Paar eine lange Freundschaft verband.

Das schönste im Buch sind Ediths Fotos der arbeitenden Kinder. Versonnen, nachdenklich, konzentriert

und heiter. So temperiert zeigen sich auch die Bilder der kleinen KünstlerInnen, die den

Texten beigegeben sind.

Edith Beseler hielt und züchtete auf dem großen Grundstück Pferde. Ihre Leidenschaft.

Die Pferde auf dem Gehöft zogen auch unsere Tochter Jana magisch an. Die Sechsjährige fütterte,

sie ritt, sie striegelte. Das Samenkörnchen zu einer lebensbestimmenden Beziehung wurde in

Hinzenhagen in ihr Wesen gelegt – nicht nur zu den großen Vierbeinern. Im Stall und auf den

Weidekoppeln lernte das Kind Parität im Umgang mit anderen Erdgeschöpfen. Schade, daß das

Wort Tierliebe durch heuchlerischen Gebrauch zum Unwort verkommen ist.

Horst Beselers wohl erfolgreichstes Buch “Käuzchenkuhle“, 1965 erschienen, gehörte in der DDR

zur Schulbuch-Lektüre der oberen Klassen. Auch ich habe es im Deutschunterricht behandelt.

Ein Jugendkrimi in Romanform. Aus heutiger Sicht betrachtet, ist es ein früher Text um Beutekunst;

er diente auch als Vorlage für den gleichnamigen DEFA-Film.

“Im Garten der Königin“, der erste Roman von Horst Beseler, 1957 erschienen, viele Nachauflagen

folgten – hat erst spät mein Herz erobert. Zuerst las ich es, als ich wußte, daß die beiden

Künstler von Berlin nach Hinzenhagen ziehen würden.

Es war für mich ein Kriegsbuch und der Krieg, der Zweite Weltkrieg, glaubte ich damals, ging

mich nichts an. Vor zehn Jahren, als Friderico und ich von Cottbus nach Schwerin heimkehrten,

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fiel mir wieder ein Exemplar des Buches in die Hände.

Horst Beseler wurde, wie viele seiner Generation, als Neunzehnjähriger zur Wehrmacht eingezogen.

Er kam nach Frankreich, er kam in den Garten der Königin. Der Autor beschreibt die

Erfahrungen eines ganz jungen Mann, dem es nicht gegeben ist, seine Skrupel zu unterdrücken.

Er soll töten. Er will nicht töten. Wenn man doch hassen könnte, läßt der Autor seinen Protagonisten

voller Verzweiflung denken.

Das Buch ist aktuell geblieben. Ein Exkurs über die Erbarmungswürdigen, die bis heute für die

Interessen anderer um ihr Leben gebracht werden. Selbst, wenn sie nicht zu den Toten gehören.

Ich las es nun als nicht mehr junge Frau – und war fasziniert.

Was für ein genauer, bis in die letzte Silbe ehrlicher, schonungsloser Text. Voll von Traurigkeit,

voll von Hoffnung. Der Autor hat sein Buch Den gefallenen und den lebenden Gefährten meiner

Jugend gewidmet. Es steht auf einen Ehrenplatz über meinem Schreibtisch.

Horst Beseler und ich waren in den siebziger, achtziger Jahren gemeinsam im Schriftstellerverband

des Bezirkes Schwerin organisiert. Er hat den Verband über lange Jahre geleitet. Wir waren

mitunter durchaus verschiedener Meinung. Heftig stritten wir über Literarisches, mehr noch

über Politisches. Aber die Fehden wurden ausgetragen. Es blieb kein Groll zurück.

Horst Beseler, als praktischer Mensch, versteht sich auf Bäume pflanzen, Bäume abhaun. Er weiß,

welche Strukturen im Holz stecken und wie man sie herausdrechseln kann. An der Bank stand

er in Cordzeug, in Arbeitsklamotten.

Zu den Lesungen, zu unseren Verbandveranstaltungen, erschien er perfekt gekleidet. Kledage als

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Kultur. Vom Hemdkragen bis zu den Schuhen, farblich nuanciert, stimmte einfach alles – ein

attraktiver Mann. Ein Frankophiler und very british.

Wenn mein Mensch Elo und sein Freund Eddy gar keinen Krümel Tabak mehr in ihren Beutelchen

fanden, statteten die Studenten dem Schriftsteller einen “Höflichkeitsbesuch“ ab. Sie bekamen

ihre Dosis Nikotin, mancherlei Unterweisung und Anregung gratis.

Wenn ich jetzt mit der Bahn auf der Strecke von Rostock nach Berlin unterwegs bin, weiß ich

hinter einem Hügel vor Langhagen das Rimkus-Beselersche Zuhause. Leise Wehmut, Erinnerung

an frühe Zeiten…

Um zu Burg Schlitz zu gelangen, muß man die Fernverkehrsstraße zwischen Waren und Teterow

überqueren; keine Ampel, kein Überweg für Fußgänger. Friderico und ich gelangen unbeschadet

auf die andere Seite. Ein Meilenstein befindet sich dort, nahe der Bushaltestelle. Auf beiden

Fahrbahnen rauscht der Verkehr. Sich dem Relikt zu nähern, bedeutet Gefahr.

Friderico versucht, ob mit dem Fernglas die Inschrift zu entziffern ist. Vergeblich. Das alte Wegemal

behält sein Geheimnis für sich.

Wir wenden uns der Burg zu. Ein gepflasterter Weg, von Linden beschattet, führt nach oben.

Zum erstenmal war ich Anfang der achtziger Jahre hier. Die Bibliothekarin im benachbarten

Vollrathsruhe hatte mich zu Lesungen eingeladen.

Ich las in einem Altersheim, in einer Schule, vor Lehrlingen. Gute Begegnungen. Eine gebildete,

gesprächsfreudige Bibliothekarin, die den Aufenthalt zusätzlich angenehm machte. Ihr Name,

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leider, ist mir entfallen.

Ich machte meine Lesungen, redete und beantwortete Fragen. In Gedanken war ich mit anderem

beschäftigt. Recherchezeit zum Heinrich-Vogeler-Buch. Vielleicht hatte sich die Bibliothekarin

erkundigt, vielleicht hatte ich ungefragt von meinem Vorhaben erzählt.

Jugendstil? meinte sie. Kennen Sie Burg Schlitz?

Den Namen hatte ich nie gehört.

Das müssen Sie unbedingt sehen, meinte sie. Sie holte einen Schlüssel aus der Gemeindeverwaltung

und fuhr mich zur Burg, nur wenige Kilometer entfernt.

Unterwegs kamen wir an einem stattlichen Baum vorbei. Exponiert gesetzt, von Rasen umgeben.

Den nennen sie hier immer noch die Kaiser-Eiche, sagte die Bibliothekarin mit leiser

Verachtung.

Woraus ich folgerte, daß sie nicht ganz zu diesem Hier gehörte. Eine Zugezogene.

Burg Schlitz glich damals einem verwunschenen Schloß, alt und hinfällig.

Verschaffte uns die Bibliothekarin mit dem Schlüssel Zugang zum ganzen Gebäude - oder nur

zu einigen Innenräumen? Ich kann mich nicht erinnern, daß wir Menschen begegnet sind.

Da, sagte sie und stieß die schwere Tür auf. Das wollte ich Ihnen doch zeigen!

Wir standen in einem Badezimmer. Von der Decke bis zum Boden farbig gekachelt. Rings um

die ausladende Badewanne: Meeresgrün und Meeresblau, durchsetzt von goldenen Linien.

Schlingen, Blätter, Ranken. Florale Motive, üppig, ausschweifend. Schwäne mit gebreiteten Flügeln,

Schlangen. Phantasievögel. Lampen wie Blütenkelche. Spiegel, die den Prunk der Wände

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vielfach vermehrten.

Gab es Fenster? War es ein geschlossener Innenraum? Mir scheint, die Bibliothekarin beleuchtete

mit einer Taschenlampe die Details. Vielleicht war die Elektrik schon abgestellt.

Wir standen im Bauch des Jugendstils. In einer machtschillernden, anmaßenden, protzenden

Variante. Dieser Raum lud nicht ein, er forderte, sich nach ihm zu verhalten. Er gab sich herrisch

und zog gleichzeitig die Eintretenden mit erdrückender Schönheit in Bann.

Die Zeiten des Glanzes waren längst vorbei. Der Raum existierte als kostbare Enklave fort, eine

Perle umschlossen von bröckelndem Putz. Lasziv, obszön und trotzig.

Ich kam in dieses Bad, bevor ich die Bremer Güldenkammer betrachten konnte. Heinrich Vogeler

hatte den repräsentativen Saal, von der Bürgerschaft beauftragt, 1905 im Rathaus der Stadt geschaffen.

Noch bevor ich die Pracht der Wiener Sezession erlebte, sah ich das Bad von Burg

Schlitz.

Sein Anblick legte in mir den Keim zum Zwiespalt. Keine uneingeschränkte Bewunderung für

den Jugendstil mehr. Ich begann, Vogelers Abkehr von dieser Art Kunst, ihrer Künstlichkeit, zu

begreifen. Er bezeichnete eigene Arbeiten, um die Jahrhundertwende entstanden, später abwertend

als Zierrat und als Vorhang vor der Realität.

Strahlend weiß und unwirklich erhebt sich an diesem Septembertag das klassizistische Schloß

auf der Kuppe der Anhöhe. Vielleicht ist es eine Attrappe, eine Sinnestäuschung, schießt es mir

durch den Kopf. Ein Augenblinzeln, das Phantom verschwindet und die alte Burg steht wieder

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da! Ich blinzele. Nichts geschieht.

Ein paar Skulpturen im Umfeld des Hotels sind seit unserem letzten Besuch dazu gekommen.

Eine nackte Frau, zwei ringende Bärchen, ein flügelbreitender Kranich.

Friderico und ich umrunden das Haus. Ein weißhaariger Herr in weißem Bademantel tritt aus

dem Hauptgebäude und watschelt in Badelatschen hinüber in den Wellness-Bereich.

Das Hotel ist mit fünf Sternen dekoriert. Die Zimmerpreise sind für unser Budget unerschwinglich.

Das Restaurant, das Café, nehmen auch staubige Wanderer freundlich auf.

Einen Kaffee für mich. Ein Bier für Friderico.

Ich erkundige mich bei der Kellnerin, die an ihrem Slang unschwer als Norddeutsche zu erkennen

ist, an ihrem Habit unschwer als Ost-Norddeutsche, ob sie sich in der Gegend auskenne.

Sie nickt.

Kennen Sie die Burg noch aus den achtziger Jahren?

Sie nickt wieder.

Auch das Badezimmer?

Kenn ich. Später ist es ja Alten- und Pflegeheim gewesen, die Burg. Bis zum Verkauf an die jetzigen

Besitzer.

Und das Badezimmer?

Gibt es nicht mehr. Das Alte wurde rausgeruppt beim Umbau. Innen ist alles neu.

Mit meinen Erinnerungen will ich die Kellnerin nicht langweilen. Ich zeige auf meine Kaffeetasse.

Reinweiß, edel und funktional: Schönes Geschirr.

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Ja, sagt sie, mag ich auch.

Fürstenberg war mal eine DDR-Porzellanmarke, setze ich dazu. Ilmenau.

Ja? meint sie, kenn ich gar nicht. Ich habe mir mein Geschirr immer von den Freunden mitgebracht.

Hier gab es doch nix Anständiges. Voll Stolz hängt sie an: Ich bin nämlich zur See

gefahren!

Zu Seefahrt kann ich keine Erfahrungen beisteuern. Ich hab mir aus Leningrad Teetassen mitgebracht,

sage ich.

Ich auch, ruft sie erfreut. Soo´n breiter Goldrand! Zwei hab ich noch.

Eine Radlergruppe, vier rüstige Rentner in zünftiger Bekleidung, erscheint. Neue Gäste, denen

sich die Kellnerin zuwendet. Der Nostalgie-Small-Talk ist beendet.

Die Freunde wie sie im freundlichen, allgemeinen Sprachgebrauch des Ländchens hießen, waren

offiziell “die Bürger der Großen Sowjetunion“. Bei den Freunden weilte man, wenn man eine

der Republiken besuchte oder dort arbeitete. Der Ausdruck war eine Paraphrase auf die Phrase

“Ewige Freundschaft mit der Großen Sowjetunion“, die das konfliktreiche Verhältnis zwischen

den beiden Ländern kaschieren sollte.

Außerhalb der Ideologien gab es sie: Viele große, viele kleine Freundschaften. Kollegialität, Brüderlichkeit

und Schwesternschaft. Auch Liebe, verbotene und geschaßte.

In den siebziger Jahren lebte ich mit Mann und Kindern auf dem Großen Dreesch, einem Neubaugebiet

Schwerins. Als Gegenüber ein Haus, in dem sowjetische Offiziersfamilien wohnten.

Was sich von deutscher Seite abspielte, würde man heute als Fremdenhaß bezeichnen. Wie im-

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mer wurde er an den Schwächeren ausgelassen, an den Frauen, an Kindern.

Gewissermaßen aus Protest erfand ich die Geschichte von “Roman und Juliane“. Ein Mädchen

aus Mecklenburg, ein Offizierssohn aus Baschkirien, die zueinander nicht kommen durften.

Es war mein erster längerer Text und brachte mir viel Ärger ein, weil ich etwas gegen die Deutsch-

Sowjetische-Freundschaft verfaßt haben sollte. Das Manuskript lag lange Jahre in der Schublade.

Trotzdem bekam ich Anrufe von Bibliotheken und Brigaden, die mich zu ihren Kulturprogrammen

einluden, ob ich bei ihnen aus der “Russenbraut“ lesen würde...

Nach sieben Jahren, 1985, wurde das Buch gedruckt. Sein Erscheinen ist den Interventionen

von Heide Hinz zu verdanken, einer literarisch hochgebildeten Schweriner Kulturfunktionärin,

die in Moskau studiert hatte. Auch der Selbstüberwindung von Fred Rodrian, dem Leiter des

Ost-Berliner Kinderbuchverlages, der anfangs nicht zustimmen mochte, jungen LeserInnen eine

tragischen Schluß zuzumuten.

Die Film-Dramaturgin und Autorin Christa Müller arbeitete damals an einem Text mit ähnlicher

Thematik. Ich hatte zufällig eine Lesung mit ihr im Rundfunk gehört und benutzte dieses

Faktum als gelindes Druckmittel im Verlag.

Anfang der Neunziger Jahre kam das Buch noch einmal heraus. Zuerst beim alibaba-Verlag

in Frankfurt/Main, danach als Fischer-Taschenbuch. Die Geschichte hat die politischen Verhältnisse,

die als Auslöser fungierten, überlebt. Die junge Leserschaft zwischen Hamburg und

Bayern nahmen sie als Romeo-und Julia-Metapher an. Könnte hier ´n Türke sein, sagte ein Mädchen

in Göttingen zu mir.

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Bevor wir der Burg Schlitz und seiner weitgereisten Kellnerin den Rücken kehren, will ich den

Nymphenbrunnen im Park fotografieren. Drei junge Frauen, die um eine Fontaine tanzen. Alle

drei mit euphorischem Gesichtsausdruck. Dauer-Euphorie ist schwer zu ertragen. Ihr Lächeln

wirkt verlogen. Wasser ergießt sich über ihre Gestalten. Sie müssen in voller Montur, in wehenden

knöchellangen Kleidern, die Berieselung hinnehmen.

Der Brunnen wurde 1903 von Walter Schott entworfen, eigentlich für ein Berliner Kaufhaus.

Auf Burg Schlitz ist das Schmuckstück effektvoll in die Umgebung gesetzt, in einen tiefer gelegenen

Teil der Anlage. Der äußere Rand von Farnen eingefaßt, als Hintergrund eine geschlossene

Wand aus Baumgrün.

Der Brunnen will sich von mir nicht fotografieren lassen. Vielleicht, weil er mir nicht gefällt.

Es gelang mir bisher weder, ihn als Detail der Parkanlage halbwegs überzeugend aufzunehmen,

noch einen Gesamteindruck zu reproduzieren. Die Gesichter der Mädchen auf meinen Fotos

wirken nicht fröhlich, sondern verblödet.

Heute versuche ich es mit Details. Die Berührung zweier Hände, linker Fuß mit Rocksaum.

Zum Schluß, obwohl das Licht im schattigen Grund schon schwindet, zum wiederholten Mal:

Totale mit Brunnen vor Laubwand.

Auf dem Rückweg schlagen wir vor Carlshagen den Feldweg ein, der an Bülow vorbei führt.

Nicht noch einmal den Pappel-Mord sehen. Der Fischadler zeigt sich nicht in seinem Revier, dafür

setzen drei Kraniche neben einer Schlehenhecke auf. Möwen, die seewärts ziehen. Vor Bülow

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kreuzt ein schwarzer Kater unseren Weg.

Auf der Straße zwischen Bülow und Bristow sind wir fast allein. Zwei Radfahrer überholen.

Ein sehr altes Nordic-Walking-Mädchen schreitet uns entgegen. Bild des Jammers und der

Einsamkeit.

Lange Schatten. Gänsescharen. Fünf Flugzeuge, die Kondensstreifen über den Himmel ziehen.

Am Ortseingang, vor dem ersten Haus in Bristow, kommt man an einer merkwürdigen Anlage

vorbei. Bäume, gepflegter Rasen. Ein Gedenkstein ohne Schrift. Erinnert er an etwas, woran nun

niemand mehr denken mag? Ein Kriegerdenkmal? Ein “sozialistisches“?

Abends, auf der Terrasse, hören wir Fazit, das Kulturmagazin von Deutschlandradio Kultur.

Die Übersicht der Zeitungs-Feuilletons von morgen, hat Adelheid Wedel, Freundin seit Jugendtagen,

zusammengestellt. Ihre sanfte, vom Thüringer Dialekt gefärbte Stimme verliert sich über

dem Malchiner See.

Die Mitternachtsnachrichten. Dann geben wir der Stille ihr Reich zurück.

Kulinarisch:

Pellkartoffeln mit Butter, Salz und Kräuterquark

Tomatenscheiben mit geriebenem Schafskäse und gehobelten Zwiebelringen

Gedünstete Herbstpflaumen in Rotwein mit Vanillesoße

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Außen:

“Bauern“ haben in der Nähe von Waren wagenweise Milch in Gräben gekippt;

als Protest gegen niedrige Milchpreise.

“Wie Gülle“, schreibt der Nordkurier, der im Schloßhotel auslag.

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ACHTER TAG

Donnerstag, 17. September

In den Dörfern der vierziger, fünfziger Jahre glich das Anstellungsverhältnis eines Neulehrers in

vielen Modalitäten noch dem des Küsters, seines Vorgängers. Zur Lehrerstelle gehörte Kirchenland,

Pachtland. Traditionell bewirtschaftete es einer der Bauern im Dorf, der Schulmeister bekam

die Pacht in Naturalien erstattet, das besserte sein kärgliches Salär ein wenig auf.

Das Feldstück, das zur Lehrerstelle unseres Vaters Heinz Köbschall gehörte, bestellte von jeher

Bauer Barß auf dem Gehöft gegenüber. Er war unser Deputat-Geber.

Im Herbst karrte uns ein Knecht die vertraglich vereinbarten Zentner Kartoffeln vor den Keller.

Auch Zuckerüben, aus denen Sirup gekocht wurde. Ein wenig Getreide. Zum Deputat gehörte

jeden Tag ein Kännchen Milch. Ich durfte es manchmal vom Kuhstall oder aus der Barßschen

Küche holen. Ein Vertrauensbeweis der Eltern für die Vier-oder Fünfjährige. Die Große, weil die

Älteste.

Ein Liter für zwei, später drei Kinder. Ein Segen in den Hungerjahren der Nachkriegszeit. Da ist

alles drin, was Kinder brauchen, höre ich die Stimme unserer Mutter.

Im Sommer wurde mitunter ein Schälchen in Herdnähe gestellt und am nächsten Morgen als

Dicke Milch gegessen. Mit einem Löffelchen Zucker gesüßt, wenn Zucker da war. Gegen Husten

und Erkältung gab es im Winter heiße Milch, mit Honig oder eingekochtem Zwiebelsaft vermischt,

als Medizin.

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Selbst wenn nicht alle Menschen Milch vertragen, sie ist eine Kostbarkeit. Wie Brot. Wie Wein.

Ein Kulturgut auch.

In Holthusen bei Schwerin haben Bauern an ihrem Kuhstall eine Zapfanlage installiert. Man

kann dort für wenige Cent einen Liter Milch tanken. Ob die Produzenten auf ihre Kosten kommen,

weiß ich nicht. Die Ausgaben für Verpackung, Abfüllen, Transport, Zwischenhändler und

Lagerung entfallen.

Auch wenn es sich nicht rechnet, ist es anständiger, Milch günstig abzugeben, als sie wegzuschütten,

sage ich.

Ja, meint Friderico. Verblüfft, da er an meinen inneren Monolog nicht teilhatte.

Mein Handy klingelt.

Schwester Sabine meldet, wie vereinbart, ihr Kommen an. Als Treffpunkt verabreden wir die

Dorfmitte vor den Neubauten, in einer knappen halben Stunde.

Schwester und Schwager Helmut, die beiden Wismarer, stehen schon vor ihrem Auto, als wir

herbeieilen.

Friderico und ich haben unseren Gästen eine Überraschung angekündigt: Sachkundige Führung

durch die Kirche in Bristow.

Die Initiative Kirche offen sorgt dafür, daß in den Sommermonaten die Touristen nicht vor

verschlossenen Türen stehen. Ein Ehrenamt. Wie so vieles Sinnvolle, das der Politik kein Geld

wert ist.

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Als wir neulich vorbeikamen, stand die Tür auf und wir erkundigten uns bei der Aufsicht, einer

Frau in wärmender Wolljacke, ob jemand uns und unseren Gästen etwas über die Kirche erzählen

könne.

Ja, das ist möglich, meinte sie. Ich erkundige mich mal, wer Zeit hat.

Zwei Frauen, noch jung, erwarten uns heute. Ich stelle unseren Besuch vor. Ein bißchen Smalltalk

übers Wetter und die schöne Landschaft. Auch auf meine neugierigen Fragen geben sie

bereitwillig Antwort. Forstfachfrau war die eine, die wir schon kennen. Die andere war bei der

Bahn beschäftigt, zuletzt als Dispatcherin. Ob sie jetzt Arbeit haben, frage ich sie lieber nicht.

Die beiden Erklärerinnen schlendern gemächlich mit uns durch die Kirche. Sie werfen sich die

verbalen Bälle zu. Man merkt, sie machen so eine Führung nicht zum erstenmal. Sie zeigen uns

ein Haus, das sie sehr gut kennen. Keine erhobenen Fremdenführerstimmen. Sie sprechen, als

säßen sie mit Nachbarn am Tisch.

Friderico und ich waren zum erstenmal am Tag des Offenen Denkmals in der Bristower Kirche,

eine der raren sakralen Renaissance-Bauten in Mecklenburg. Sie gefiel mir sofort. Einladend,

hell und heiter.

Zum Altar gehören eine rechte Tür, eine linke Tür. Man darf durch sie hindurchgehen und das

Kunstwerk von hinten betrachten. Das blanke alte Holz. Linde und Kiefer. Beeindruckende vierhundert

Jahre alt. Von Menschen für Menschen geschaffen. Wer kommt, wird nicht zu Demut

genötigt. Man darf Betrachten, Schauen und sich freuen. Auch die Orgel-Empore ist alten

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Datums, das Jahr 1601 auf ihr eingezeichnet.

Durch den geschulten Blick der beiden Kennerinnen sehen wir heute manches, was unser Auge

bislang überflog. Der Altar bildet einige der religionsstiftenden Stationen des Heilands ab. Auch:

Letztes Mahl Jesu mit seinen zwölf Jüngern. Also dreizehn Menschen. In Bristow sind es vierzehn.

Der unbekannte Künstler könnte das Ebenbild des Auftraggebers oder sein eigenes dazu gemogelt

haben, wird gemutmaßt. Und schon guckt man genauer: Eine ziemlich angeheiterte oder

erregte Runde. Die Männer debattieren heftig. Spannung liegt im Raum. Ein Streit, von dem wir

niemals Kunde haben werden.

Der vordere Linksaußen kratzt er sich an der Wade, oder will er grad ein Messer ziehen? Ein

Mann an Jesus` Seite hat den Kopf auf den Tisch gelegt und schläft wohl seinen Rausch aus.

Der Rechtsaußen im Relief, blaue Schärpe überm goldenen Gewand, legt seine Hand an die

Brust, sieht die Betrachter an und scheint zu sagen: Für das, was hier vonstattengeht, bin ich

keinesfalls verantwortlich!

Die Dispatcherin weist auf ein Detail in der Kreuzigungsszene: Der Mann hinterm Kreuz trägt

eine Brille. Die gab es in Europa seit dem zwölften Jahrhundert, auf Darstellungen in Kirchen,

damals wie heute, eher selten.

Ganz oben auf dem Altar ist die Szene von Christi Himmelfahrt abgebildet. Eine Gruppe von

Gläubigen kniet vor grünem Hügel. Drei nackte Putti umschweben den Ort. Der Heiland ist bereits

entfahren. Sein Rocksaum und die bloßen Füße verweilen noch im Irdischen. Alles andere

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steckt in der Decke – oder eben im Himmel.

Beim Essen, Trinken, Töten und Zugrabelegen, gewissermaßen im realen Leben, dominiert auf

den Reliefs die männliche Gesellschaft.

An der Orgel präsentiert sich das weibliche Element in allegorischen Figuren der Freien Künste:

Dialectica, Musica, Arithmetica und Rhetorica mit ihren Insignien. Alle in weißen Gewändern,

golden geschmückt. Auch die Decke der Kanzel bekrönen weibliche Wesen. Ihr Reigen hoch

oben wirkt eigenartig unvollkommen.

Wieder zuhause, lese ich auf der informativen und gut handhabbaren Site der Kirchengemeinde

Bülow eine Erklärung: Die weiblichen Figuren stellen die drei geistlichen (Glaube, Liebe, Hoffnung)

und die vier weltlichen (Gerechtigkeit, Kraft, Mäßigkeit, Weisheit) Tugenden dar.

Eine der sieben Figuren ist im Laufe der Zeit verschwunden und da nicht mehr alle Figuren

über die den Tugenden entsprechenden Attribute verfügen, anhand derer sie identifiziert werden

könnten, kann nicht mehr festgestellt werden, welche der Tugenden verschwunden ist.

Auf der Kirchen-Site von Bristow sind Fotos von den Restaurierungsarbeiten eingestellt. Ein

junger Mann hält einen Pinsel in der rechten, eine “Tugend“ in der linken Hand.

Im Text über Matthäus, an einer der Durchgangstüren abgebildet, lese ich, er sei: Ein Mensch in

geflügelter Ausführung, d.h. in der Erscheinungsform des Engels…

Dem Altar gegenüber, auf der Empore über der Eingangstür, erhebt sich auf zwei Säulenreliefs

die Orgel. Ein Schweriner hat sie gebaut, Orgelbaumeister Friedrich Ludwig Theodor Friese,

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Friese der Dritte genannt.

1827 in der Landeshauptstadt geboren, 1896 im selben Ort gestorben. Über hundert der komplizierten

Klangkörper hat er in den nicht ganz siebzig Jahren seines Lebens geschaffen. Das

Großherzogliche Orgelprivileg, ein enormer Geschäftsvorteil, verhalf ihm zu vielen Aufträgen.

Das Instrument in der Schweriner Schelfkirche, zum Beispiel, stammt von Friese.

Auch die Orgel in der Dambecker Dorfkirche nahe Wismar hat er gebaut. Dort, auf dem Friedhof,

ruhen unsere Eltern Liselotte und Heinz Köbschall. Eine jahrhundertealte schrundige Linde,

umgeworfen und wieder aufgewachsen, breitet nah bei ihnen ihre Blätter.

Nach anderthalb Stunden Aufklärung ist der Informationsbedarf unserer Mini-Gruppe gedeckt.

Einen Obolus zum Dank wollen die Frauen nicht annehmen. Gerne eine Spende für die Kirche.

Für ein Weilchen lassen wir uns gemeinsam auf den Bänken nieder. Schlichtes Holzgestühl. Die

Füße auf Backstein, als Parkett hieße es wohl Fischgrätenmuster.

Ich frage nach dem Teterower Fleischkombinat. Es hatte in den 60er Jahren für belustigte Aufmerksamkeit

gesorgt, weil es gemeinsam mit Landwirtschaftlichen Genossenschaften in der

Umgebung eine neue Schweinerasse mit hohem Anteil an Schnitzel, Kotelett und Schinken

züchten wollte.

Das Mischfutterwerk in Malchin? Existiert noch. Nur nix volkseigen mehr. Ein anderer Namen,

andere Betreiber.

Schwester und Schwager, technisch versiert, fragen Details zur Kirche als Bauwerk nach.

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Die Dispatcherin bleibt als Aufsicht in der Kirche, die zweite Erklärerin kommt mit vor die Tür.

Wir steigen in Helmuts Auto, die Forstfrau in das ihre. Mit kurzen Abschiedshupen fahren die

Wagen in entgegengesetzte Richtungen davon.

Möhren, Kohlrabi aus dem eigenen Garten. Eine Packung mit Mini-Tomaten und ein frisches

Roggenmischbrot laden unsere Gäste im Bootshaus als Mitbringsel aus. Kulinarische Köstlichkeiten

in unserer einkaufsfreien Zone.

Zuerst mal wollen die beiden auf die Terrasse. Den See genießen. Die Ruhe.

Hier könnt ich immer nur sitzen und gucken und gucken, meint Schwester Sabine. Sie heißt auch

bei Nichten und Neffen nicht Tante, sondern Schwester, weil sie vor ihrem Studium Krankenschwester

gelernt hat.

Fischer Schlender aus Wendischhagen tuckert mit seinem Boot herbei und vervollkommnet den

romantischen Seeblick. Am Heck, gegen die Fahrtrichtung postiert, guckt der Schäferhund, der

letzte der Ajaxe, aufs Wasser.

Wie zur Bestätigung der Idylle kommt einer der Seeadler vorbeigeschwebt und stürzt sich nach

kurzem Verhalten aufs Wasser. Einer seiner vielen vergeblichen Versuche. Friderico meint beobachtet

zu haben, daß zu einem Fang von Haliaeetus albicilla zwanzig, dreißig erfolglose Zugriffe

gehören.

Was machen wir heute, frage ich die Besucher.

Wir gucken uns was an, wo ihr ohne Auto nicht hinkommt, schlägt Helmut vor.

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Ich habe zwei Wünsche: Gut Lelkendorf, nördlich von Malchin. Oder Konzertscheune Ulrichshusen,

südlich von Teterow, die ich vom Hörensagen kenne.

Friderico äußert keine Wünsche. Zu Entscheidung gedrängt, meint er schließlich, Konzertscheune

höre sich demokratischer an.

Helmut guckt in seinen Autoatlas, dann rumpeln wir über das Kopfsteinpflaster nach Bristow,

hinterm Dorfausgang weiter über die Landstraße nach Bülow.

Ich darf, weil ich halbwegs ortskundig bin, vorn neben dem Fahrer sitzen. Es stimmt zwar, daß

mir, wie beim Rückwärtsfahren in Bus und Bahn, auf den hinteren Plätzen oft übel wird. Aber

der vordere Sitz ist auch, der schönen Voraussicht wegen, mein Lieblingsplatz, den ich mir, wenn

es irgend geht, selbstsüchtig ergattere.

Vor Bülow, aus dem Autofenster, der weite Blick über den See. Was zum Niemals-Satt-Sehen. Der

Acker hinterm Straßengraben ist schon umgebrochen. Sattes, erdiges Braun. Starenschwärme

kreisen.

Linkerhand bleibt die Bülower Kirche zurück. Im Winkel von fast neunzig Grad eine Rechtskurve,

den Berg hinauf und wieder hinunter. In der Senke grünschattiger, feuchter Mischwald.

Ein Rinnsal rieselt.

Für uns als Fußgänger eine gefährliche Ecke. Die Böschung steil, kein Fahrradweg. Die Biegung

macht die Stelle uneinsichtig. Gesunde, kräftige Eichen am Straßenrand. Zu ihren Füßen haben

Friderico und ich im vergangenen Herbst Pilze eingesammelt, Milchlinge. Hundert Meter weiter

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stehen Pflaumenbäume beiderseits der Straße. Süße, halbfrühe Früchte. Schorssow kommt in

Sicht.

Da wir nicht wissen, ob es in Ulrichshusen eine Möglichkeit zum Einkehren gibt, schlage ich vor,

in Schorssow Mittag zu essen.

Erste Variante – im Schloß. Ein zweiflügeliger klassizistischer Bau vom Anfang des neunzehnten

Jahrhunderts, der mehrfach die Besitzer wechselte. Nach 1990 aufwendig saniert und als Hotel

betrieben. Reinweiß gestrichen, rot bedachelt. Alter Baumbestand ringsum. Eine Wiese, die bis

zum Ufer eines schilfbewachsenen Wassers reicht, dem Haussee.

Das Restaurant hat geöffnet.

Fragender Blick auf unsere

Gäste. Wollen wir?

Sie schütteln die Köpfe.

Ihr seid eingeladen!

Deswegen nicht. Nö! Antwort

in Mecklenburgischer Weitschweifigkeit.

Eigentlich müßte das Haus

in seiner lichten Reinheit die

Herankommenden anziehen.

Es wirkt eher abweisend, den

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anderen geht es wohl ebenso.

Variante zwei ist das gegenüberliegende Landhotel. Ein Neubau um die Jahrtausendwende, der

vorgibt, ein Fachwerkhaus zu sein. Kein Protz, funktional angelegt. Man kann draußen sitzen,

wenn man möchte. Wir möchten nicht. Es gibt keine Schattenplätze, die Sonne brennt.

Die Tür zur Gaststätte steht offen, Tische mit weißem Tuch gedeckt. Drinnen kein Gast, kein

Personal. Minutenlang regt sich nichts.

Wir sprechen lauter, scharren mit den Stühlen. Ein junger Mann erscheint.

Selbstverständlich bekommen wir zu essen, meint er.

Auf das Essen, unkomplizierte Gerichte, werden wir über eine Stunde warten.

Aber das macht nichts. Kein Termin ist zu verpassen. Unwichtig, wann wir in Ulrichshusen

ankommen – Langmut der freien Zeit.

Austausch und Gespräch: Die Kinder, die Enkel. Die schnelleren Änderungen in ihren Verhältnissen.

Die anderen Köbschall-Geschwister. Was der Garten macht. Wer bei der Bundestagswahl

in gut einer Woche vorne liegen wird. Und ein bißchen WeißtDuNoch.

Vor den Fenstern Grün. Die Luft flimmert überm Gras. Stare stolzieren drüber hin. Ihr Gefieder

changiert im Licht.

Ein Mann im Trainingsanzug, Regionalblättchen unterm Arm, setzt sich an die Bar vor der

Küchentür. Ungefragt stellt ihm der Wirt ein Bier auf den Tresen. Ein Hotelgast sicherlich. Sonst

kehrt niemand ein.

Wovon leben die Leute hier bloß, fragt Friderico besorgt. Die Frage bleibt offen.

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Bevor Helmut mir zuvor kommt, raune ich dem Wirt zu, daß alles auf meine Rechnung geht und

daß ich sie an der Rezeption begleichen möchte. So geschieht es.

Symbolisches Dankeschön für verläßliche Hilfeleistungen von Schwester und Schwager. In der

Gartenhütte regnet es durch, der neue Herd muß verkabelt, Leuchtröhren ersetzt, ein Regal gerichtet

werden…

Helmut, der Elektriker-Meister – mit goldenen Händen, durch praktische Arbeit erworben –

hilft selbstverständlich. Alles wird umsichtig wieder in seine Ordnung gebracht und der Helfer

möchte eigentlich nie was annehmen.

Einen Berechtigungsschein als Fahrlehrer hat Helmut auch in der Tasche. Als Friderico und ich

Schwester und Schwager sommers auf der Datsche, ihrem Wochenendhaus, besuchten, fuhren

Helmut und ich einmal irgendwohin, um etwas zu kaufen, das wohl zum Abendessen fehlte.

Auf einem Waldweg hielt der Driver an, stieg aus und sagte: Jetzt fährst du!

Schockreaktion: Ich kann doch gar nicht!

Da ist nix bei. Das kann jeder, sprach der Fahrlehrer.

Ich setzte mich ans Steuer. Er gab Instruktionen.

Und ich fuhr. Holperig und stolperig. Aber ich fuhr. Die Maschine gehorchte mir.

Ein imperiales Vergnügen.

Auf dem Weg erschien ein Mensch. Friderico! Der ausgegangen war, um Steinchen für den

Vorgarten zu sammeln, der umgemodelt werden sollte. Ich hielt nicht bei Fridericos Anblick, was

ich vorher schon erfolgreich geübt hatte, ich würgte alles ab. Fahrerin und Lehrmeister kippten

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vornüber.

Du kannst doch gar nicht fahren, meinte der Mime streng und schüttelte sein Haupt.

Mein Fahrversuch blieb unwiederholt. Leider, der Spaß war groß.

Als Städterin brauche ich keine Fahrerlaubnis. Nichts bringt mich dazu, mich um ein Auto zu

kümmern wie um ein zuwendungsbedürftiges Wesen. Ich möchte weder rechnen, ob ich genug

Geld aufbringen kann, um es mit Brennstoff zu füttern, noch ihm Parkplätze besorgen oder

Papiere zu seiner Legitimation beschaffen.

Sich in ein Mobil setzen, fahren, wohin ich will, wann ich will, auf selbst bestimmten Wegen, zu

selbst bestimmter Zeit – diese Lust versteh ich wohl. Das Vergnügen, als Lichtstrahl durch die

Nacht zu geistern. Im fremden Wald. In fremdem Land. Im Auto schlafen, in der Geborgenheit

eines winzigen Zuhauses. Ein Schritt nur ins Freie. Hochgefühl der Autonomie.

Friderico, der uns muffelnd entgegenkam, hat in seinem langen Schauspielerleben etliches Gefährt

chauffiert, alles ohne Fleppen. Bei Filmaufnahmen lenkte er Boote und Pferdegespanne,

Motorräder und rostige Trecker. Einmal fuhr er einen nagelneuen, schneidigen Mercedes, um

den die jungen Absolventen bei Fridericos Fahrkünsten sehr bangten. Sie hatten das teure Stück

nur ausgeliehen und geschworen, es unversehrt zurückzugeben…

Fahrer Helmut klickt die Türen auf. Die Vierer-Crew steigt ins Auto. Der Haussee bleibt rechts

liegen. Auf dem Badesteg träumt ein Pärchen ins Blau.

Wir passieren Ziddorf mit seiner Wassermühle und dem nach altem Vorbild wiederbelebten

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Bauerngarten. Die Tür zum Cafe steht einladend offen. Kein Zwischenhalt. Die Schatten zeigen

schon nachmittägliche Länge. Vielleicht bleibt auf dem Rückweg Zeit zu gucken.

Nach Ziddorf wird die Gegend einsamer. Kaum ein Auto, kaum ein Mensch. Vielgestaltige Landschaft.

Kleinteilig, wie die Fachleute sagen. Wäldchen, Buschwerk, Hecken. Prächtige Solitäre,

meist Eichen.

Hügel wellen auf und ab. Nichts Technisches stört den Blick.

Das wär die Gegend für historische Filme, schwärmt der Schauspieler. Kein Schornstein, keine

Masten, keine Laternen.

Fahrer Helmut wirft einen kurzen Blick aufs Außen. Der Techniker: Ideales Testgelände für

Windräder.

Durch Moltzow hindurch. Scharfe Kurve links, scharfe Kurve rechts, ein Kringel noch – wir

sind in Ulrichshusen.

Konzertscheune Ulrichshusen – den Namen kannte ich von Freunden, die hier Musik gehört

hatten und vom Ort schwärmten.

Eine Scheune, Anfang der Neunziger zum Konzertsaal umgebaut. Ein Gebäude aus Feldsteinen,

der obere Bereich durch Backsteinziegel ergänzt.

Eröffnet wurde der Ulrichshusener Saal 1994 durch Yehudi Menuhin. Mit Pomp und politischem

Landes-Glanz. Die Konzertscheune ist seitdem einer der Austragungsorte für die allsommerlichen

Musikfestspiele Mecklenburg-Vorpommern. Die Pianistin Martha Argerich, eine

von Fridericos musikalischen Lieblingen, trat hier auf. Anna-Sophie Mutter und der nun auch

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schon betagte Igor Oistrach, Sohn des unvergleichlichen David. Berühmte Namen aus dem High

Business des Musikbetriebes.

Der Sommer ist vorbei, die Saison zu Ende. Das Eingangstor zum Musentempel verschlossen.

Das weckt unsere Neugier. Die Schwestern steigen auf einen Mauervorsprung und luschern

durch die Fenster. Kein Prunk. Der hölzerne Dachstuhl blieb unverkleidet, was der Akustik

zugute kommen mag. Stühle stehen zu Säulen gestapelt, mit Plasteplanen eingehüllt. Verstaubte

Scheinwerfer. Ein uralter Regler im Eingangsbereich. Der Saal schläft der nächsten Saison entgegen.

Das Rundfunk-Sinfonie Orchester Berlin wird dann mit Mozart, Brahms und Nepomuk

Hummel gastieren.

In meiner Vorstellung, falls ich mir überhaupt eine machte, fanden die Konzerte in der umgenutzten

Scheune eines Dorfes statt. Weit daneben gedacht. Die Scheune fungierte in Vorzeiten als

Wirtschaftsgebäude eines Schlosses.

Schloß Ulrichshusen, ein Barockbau – so häufig nicht in Mecklenburg – erhebt sich stattlich und

ein bißchen verschachtelt am gleichnamigen See. Ein Wasserschloß. Wer wem den Namen gab?

Wer weiß.

Seit viereinhalb Jahrhunderten behauptet es sich auf seinem Grund in unterschiedlicher Gestalt.

Brände vernichteten die Burg, den ursprünglichen Bau. Kriege und Belagerungen, wechselnde

Besitzer, wechselnde Besatzer. Im siebzehnten Jahrhundert wurde es auf Pfand für dreißig Jahre

an einen schwedischen General verkauft.

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Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurden die Besitzer enteignet. Wenig später, im Jahr

1946, deklarierte die Sowjetische Militäradministration das Schloß als architektonische Rarität

und bewahrte es damit vor Abriß oder Plünderung.

Krieg und Nachkrieg schwemmten viele Menschen in die Mecklenburgischen Dörfer. Je nach

politischer Denkungsart Umsiedler oder Vertriebene genannt. Obdachlos waren sie alle. Das

Ulrichshusener Schloß, der großen Wohnungsnot geschuldet, diente den vom Krieg Entwurzelten

oft jahrelang Jahre als meist notdürftige Behausung. Verkaufsstellen für Lebensmittel gab

es hinter diesen Mauern, einen Tanzsaal für die Einwohner der Umgebung. In den Siebzigern

zogen die letzten Mieter aus. Anfang der achtziger Jahre wurde das Gebäude mehr schlecht als

recht vor weiterem Verfall gesichert. 1987 fiel es aus nie geklärter Ursache wiederum einem Feuer

zum Opfer.

In den Neunzigern, nach der “Wende“, der nochmaligen Umkehrung aller Besitzverhältnisse,

übernahmen die Nachfahren der Maltzahns das Schloß. Die Denkmalpflege des Landes, die

Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die Bundesstiftung Umwelt schafften Gelder zur Restaurierung

des Komplexes herbei. Die Konzertscheune wurde etabliert.

Nun stehen wir zu viert im Gelände, betrachten den Ist-Zustand der Anlage und die Stockenten,

die in Ufernähe gründeln.

Helmut und Friderico sind für heute der Fütterung mit historischen Infos überdrüssig und lassen

sich im “Burggraben“, einem Restaurant im ehemaligen Pferdestall, nieder.

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Im Marketing-Flyer des Schlosses steht, daß Apartments zum Vermieten angeboten werden.

Wir Schwestern könnten uns als potentielle Gäste ausgeben, verständigen wir uns und steigen

die Treppen zum Hoteleingang hoch. Die Tür ist offen. Über eine weitere Treppe in die Beletage.

Hinter hölzerner Tür ein Festsaal in blendendem Weiß. Sparsame florale Ornamente betonen

den Schwung der Deckenbögen.

In der Mitte des kleinen Saales zwei Stühle mit Stoffhüllen vor einem Tisch, einer gegenüber

platziert: Hier kann geheiratet werden.

Schöne alte Schränke mit Intarsien zieren den Raum. Blumen vorm Fenster. Laden mit Party-

Geschirr. Nichts ist verschlossen.

“Demokratisch“ wie Friderico auf die Konzertscheune bezogen, meinte, ist das Schloß sicherlich

nicht, aber auch nicht so hochmütig abweisend, wie das in Schorssow, wie Burg Schlitz.

Im gemauerten Kamin, dem Eingang gegenüber, liegen im Metallkorb Scheite aufgeschichtet.

Sabine, die Technikerin, guckt in den Abzug. Sie will sehen, wie der Rauch abgeleitet wird.

Wir rufen: Hallo! Ist hier jemand?! Niemand zeigt sich.

Wir kehren zur männlichen Hälfte der Mini-Reisegruppe zurück.

Rückweg, Rückfahrt. Sacht setzt die Dämmerung ihre schrägen Schatten. Straßenbäume, dunkle

Streifen, lagern über die Böschung bis weit aufs Feld. Wir nehmen jetzt die Route um die andere

Seite des Malchiner Sees, über Wendischhagen. Auf der unbefestigten Straße zieht eine Fahne

aus grauem Staub hinter unserm Fahrzeug her.

Vor Bristow die übervollen Pflaumenbäume. Zentnerschwer hängen die Zweige über den Weg.

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Helmut hat ein Eimerchen im Kofferraum. Wir sammeln ihn mit den bläulich schimmernden

Früchten voll, zuhause wird Sabine Pflaumenmus kochen.

In Bristow umkurven zwei Jungen die Bushaltestelle mit Rädern. Aus einem Garten steigt

aromatischer Rauch auf. Ein Radio dudelt unsichtbar im Grün. Grillabend.

Friderico und ich werden heimgeschafft, schneller Abschied im Bootshaus. Die Schranke aufgeschlossen,

dann tuckert das Auto mit Schwester und Schwager davon. Die Rückleuchten verglimmen

hinter der Kurve. Vertrautes Zuzweit.

Abendliche Stille auf der Terrasse, über dem See. Die Schwalben, die wir schon abgereist glaubten,

schwirren in langgezogenen gefiederten Wolken über das Wasser. Die kleinen Fledermäuse

zeigen sich. Der Hirsch gibt laut. Urlaut.

Kulinarisch:

Außen:

Salat aus geraspelten Möhren und Kohlrabi, Butterstulle

Obama hat die Pläne für den “Schutzschild“ aus atomaren Waffen in Tschechien

und Polen endgültig aus der Planung gestrichen; streichen lassen.

Im Bayrischen Amberg(?) läuft ein neunzehnjähriger Schüler Amok. Schlägt einem

Mädchen mit dem Beil auf den Kopf. Wirft Molotow-Coctails.

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NEUNTER TAG

Freitag, 18. September

Mitte der neunziger Jahre waren wir zum erstenmal in Basedow. Von Cottbus aus, unserer Zwischenheimat.

Der Spielplan des Theaters bestimmte damals Zeitpunkt und Dauer unserer Ausflüge.

Für Friderico als vielbeschäftigtem Akteur waren freie Tage eine Seltenheit. Bisweilen wurden

dem Ensemble zum Ausgleich für die Dauerarbeits-Phasen ein paar Tage Auszeit gewährt.

In Basedow, nahe der Kleinstadt Malchin, fand ich ein günstiges Angebot für Kurzferien. Eine

Vermieterin, die Gäste auch für drei, vier Nächte aufnahm.

Was uns in Basedow erwartete, wußten wir nicht. Es war uns relativ egal. Der Name erinnert

jeden zuerst an die Krankheit gleichen Namens, Morbus basedow. Basedow soll aber Ort des

Holunders bedeuten.

Hauptsache Mecklenburg. Wir sehnten uns nach vertrauter Landschaft, nach nördlichem Licht.

Mitte März. Der Frühling zog schon zaghaft ein.

Von Cottbus wollten wir mit der Bahn bis Malchin, von dort weiter mit dem Taxi. Wir zuckelten

nach Berlin, dann weiter über Neustrelitz und Neubandenburg.

Am Neustrelitzer Theater, hatte Friderico Anfang der siebziger Jahre als Schauspieler, Regisseur

und später als Oberspielleiter gearbeitet. Das Haus trug damals den Namen des Dramatikers

Friedrich Wolf.

Fridericos Versuch, Heiner Müllers “Umsiedlerin“ auf die Bühne zu bringen, scheiterte.

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Der Versuch war gut zehn Jahre vorher schon einmal gescheitert. Die Aufführung einer Berliner

Studentenbühne endete mit heftigem Eklat. Öffentliche Diffamierung von Autor, Regisseur und

Ensemble folgte.

Heiner Müller hatte, grob gesagt, die Konflikte um Bodenreform und Gründung der Landwirtschaftlichen

Genossenschaften in Sprache gebracht, in seine präzise und prägnante theatrale

Sprache. Das Stück konterte das ideologische Hosianna der offiziellen Kollektivierungs-Propaganda.

Auch die Neustrelitzer Inszenierung scheiterte an Intrigen, die den politischen Hintergrund der

Auseinandersetzungen verschleiern sollten. Friderico flog aus dem Engagement. Jetzt winkt er

ab: Lange, lange her! Schon fast nicht mehr wahr.

Aber an die einträglichsten Pfifferlingsstellen im Wald erinnerte er sich vom Zugfenster aus

noch nach Jahrzehnten sehr genüßlich.

Neubrandenburg wurde angesagt. Das HKB, das Hochhaus für Kultur und Bildung, ragt über

die Silhouette der Stadt. 1965 wurde es eingeweiht.

Ein paar Jahre später, als junge Lehrerin, bewarb ich mich mit meinen Gedichtversuchen beim

“Zirkel Schreibender Arbeiter“ in jenem HKB. Der Dichter Werner Lindemann leitete ihn. Er

wurde mein gestrenger Lyrik-Lehrer. Sein Credo: Konkret-konkret-konkret! Nicht Blume, Baum

und Wasser. Die Tulpe. Der Storax. Die Stepenitz.

Wir stritten bei den Zusammenkünften nicht nur um jedes Wort, jede Silbe wurde unter die

literarische Lupe genommen.

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Eine sehr gemischte Truppe. Der Jüngste, noch Schüler, zählte sechzehn Jahre, die Älteren um

die Sechzig. Sporttrainer, ein Heizungsbauer, Hausmeister, Studenten, Facharbeiter. Eine Bibliothekarin,

Armisten – junge Männer, die in den Kasernen rings um die Stadt ihren Wehrdienst

ableisteten.

Auch Diethelm Jaeger, selber Baumensch, gehörte zu den Schreibenden. Ein neues Haus gerecht

in Form und Maßen, es hebt sich aus dem Grund…und ich erheb mein Glas, auf Euch, Ihr Bauleut´,

auf die Leute, die hier bau´n… dichtete er zum Richtfest des HKB.

Bei Diethelm und seiner zeichnerisch begabten Frau Traute fand sich immer eine Liege auf der

ich nächtigen konnte, wenn abends keine Bahn mehr fuhr, die mich nach Langhagen zurück

brachte. In Langhagen stand mein Fahrrad, auf dem ich nach Kuchelmiß fuhr.

Traute und Diethelm hätten meine Eltern sein können; zwei ihrer Söhne waren schon erwachsen.

Einmal baten sie mich, die so viel jüngere, um pädagogischen Rat. Ich fühlte mich geehrt,

aber auch ein bißchen überfordert.

Familie Jaegers dritter Sohn, ein halbwüchsiger Junge, wollte partout nicht in einem Ferienlager

bleiben, an dem er zuvor unbedingt hatte teilnehmen wollen. Seinem Drängen nachzugeben,

schien Mutter und Vater inkonsequent.

Holt ihn nach Hause, riet ich. Alle waren wieder froh und ich war erleichtert.

Mit ihrem Hochhaus für Kultur und Bildung brüsteten sich die Neubrandenburger zwar gern,

denn bis nach Berlin gab es nichts Vergleichbares. Untereinander mochten sie ihren Stolz als

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spröde Norddeutsche nicht recht zugeben und verkleinerten das Hochhaus spöttelnd zum Kulturfinger.

Freund Eberhard Panitz schrieb über Iris Grund, die Architektin des Baus, eine Reportage. Später

verwandelte er die reale Person in eine literarische Figur. Egon Günther drehte nach der

Erzählung von Panitz seinen Film “Der Dritte“. Ein anderes Blatt. –

Vorm Zugfenster grüne Wiesen. Huflattichsterne. Ginster blühte. Singvogelschwärme schwirrten

übers Land. Die Stadtkirche von Malchin tauchte auf. Pünktlich rollten wir auf dem Bahnhof

ein. Außer uns stieg ein Pärchen mit Rucksäcken aus.

Kein Taxi auf dem Vorplatz, nirgendwo eine Telefonnummer. Nur ein Bus nach Irgendwo; nie

gehörter Name. Der ältliche Fahrer guckte aus seinem Fenster abweisend auf uns herab, als wir

uns seinem Gefährt näherten. Wir outeten uns als Schweriner im Lausitzer Exil, wir kennen unsere

Pappenheimer, gleich hellte sich seine Miene auf. In der Baracke mit dem Fotoshop könne

man uns wohl helfen. “De kann juch helpen!“

Die junge Frau, ein Mädchen noch, guckte uns aus einem vielfach um den Hals geschlungenen

weißen Schal professionell freundlich entgegen. Ein Willkommen-Kundschaft-Blick. Zwei

Grübchen zierten ihre Wangen.

Sie half bereitwillig, auch wenn mit uns kein Geld zu verdienen war. An ihrem Schreibtischkalender

klemmten Zettelchen mit Telefon-Nummern.

Sie rief irgendwo an und überredete jemanden, uns nach Basedow zu transportieren. Sie sprach

bittend und mit unterschwelligem Schuldbewußtsein in der Stimme, als verlange sie Unbotmä-

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ßiges. Vielleicht gehört es hier nicht zum Aufgabenbereich von Taxifahrern, Gäste von A nach B

zu bringen, zischelte mir Friderico ins Ohr.

Er kommt, sagte das Mädchen stolz, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, dauert bloß ´n bißchen.

Wir dankten artig und setzten uns auf eine Bank vorm Bahnhof. Busse trudelten herbei und

sammelten Fahrgäste ein. Wenige Fahrgäste. Elf Menschen in drei Bussen. Auf der Poststraße,

am Kalentor vorbei, polterte der Verkehr durch die Stadt. Radfahrer querten die Szene. Sonst tat

sich nichts.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr über dem Haupteingang zuckten auf sechs und zwölf. Eine makellose

Senkrechte. Kurz nach 18 Uhr ging die Tür vom Fotoshop auf, das Mädchen schloß den

Laden ab. Mit wehendem Schal eilte sie in Richtung Innenstadt davon.

Die Zeiger der Bahnhofsuhr zeigten halb sieben. Wenn wir man bloß nicht verschaukelt werden,

grummelte Friderico und zündet sich eine Zigarette an der anderen an, damals rauchte er

noch.

Nach abermals einer halben Stunde preschte das Taxi herbei. Der Fahrer stieg aus, öffnete die

Kofferklappe. Ein Mann um die vierzig in dunkelblauem, silbrig glänzendem Anzug, einem

Frack ähnlich. Gepunktete, weinrote Fliege. Sorgfältigst frisiert. Er hatte offenbar anderes vor,

als uns nach Basedow zu kutschieren. Beim Einräumen der Bagage in den Kofferraum rührte er

keinen Finger.

Ich nannte die Adresse, dankte ihm – warum eigentlich – daß er gekommen war und versuchte

zu small-talken. Sätzchen über den Nahverkehr, das Wetter. Die Landschaft vorm Fenster.

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Er guckte stur geradeaus und sagte kein einziges Wort.

Dann eben nicht. Hauptsache, wir erreichten Basedow.

Der Wagen fuhr über den Bahnübergang, die Stadt blieb zurück.

Rechterhand der Straße fiel die Landschaft zum Dahmer Kanal, dann zum Malchiner See ab.

Großflächiges Gelände. Weiter Blick. Vorm Seeufer flog ein Kiebitzschwarm dicht überm Boden.

Einige Vögel scherten aus, stiegen auf und ließen sich senkrecht zur Erde fallen. Frühlingsverkünder

im Fieberkurven-Flug.

Das Taxi schlug scharf nach links ein. Eine Allee öffnete sich. Basedow wurde angezeigt.

Während der Fahrt hatte der Himmel sich bezogen, es dämmerte.

Hausnummer? fragte der Chauffeur in strengem Ton. Ich sagte sie ihm.

Er steuerte auf ein Haus zu, auf ein zweites. Kehrtwende. Noch ein Anlauf. Kein Treffer. Navigationsgeräte

gab es noch nicht, jedenfalls nicht für jedermann. Neuansatz vom anderen Ende.

Wieder nix. Keine Seele weit und breit, die man fragen konnte.

Ein System war in der Bezifferung der Häuser nicht zu erkennen. Der Gott der Nummernvergabe

hatte die Zahlen in einer ungefähren Stunde wohl leichthin über das Dorf verstreut und auch auf

Lesbarkeit nicht weiter Wert gelegt.

Damit die Quartierfindung schneller vonstatten ging, stieg ich aus und guckte nach den Hausnummern.

Es war nun dunkel, man sah die Hand vor Augen nicht. Die Straßenbeleuchtung

spärlich. Die Sucherei bedeutete Zeitverzug für unseren Fahrer, der längst bei einer Fete sein

wollte. Und er sollte sein Plaisierchen ja auch haben.

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Aber die Verzögerung, sie scherte ihn nicht. Schlagartig erhellte Heiterkeit sein Gemüt. Er stellte

den Tacho aus und wurde beredsam.

Er erzählte, was er beim Suchen nach Hausnummern schon alles erlebt hat. Und was er dabei mit

den Kunden schon alles erlebt hat. Und daß in Basedow die Gebäude wohl in der Reihenfolge

ihrer Fertigstellung beziffert wurden. Könnte sein.

Schließlich gelangten wir doch ans Ziel. Ein Haus, an dem wir mehrmals vorbeigegondelt waren.

Unser befrackter Fahrer, bester Laune jetzt, ließ nicht zu, daß wir auch nur eine Tasche aus dem

Kofferraum hoben.

Er bedankte sich nun bei uns. Reichte ein Kärtchen mit seiner Telefonnummer für die Rückfahrt

rüber, schüttelte uns freundschaftlich die Hände und rauschte mit kräftigem Abschieds-Hupen

davon.

Die Vermieterin stand hinter einer hölzernen Vorgartenpforte. Abweisende Miene. Statt eines

Grußes sagte sie: Man tut sich noch die Seele aus´m Leib warten…

Den Slang kannten wir. Es war der, dem wir gerade für ein paar Tage hinter uns lassen wollten.

Frau Wirtin stammt aus Cottbus.

Unser Apartment, ein Zimmerchen mit schrägen Wänden und einer Kochplatte auf dem Flur,

lag unterm Dachboden. Auf den Weg nach oben, erzählte sie – durchaus ein Vorwurf an die

Gäste – daß sie ja vermieten muß, weil ihr Mann gestorben ist. Ihre Worte klangen, als wollte sie

uns auf der Stelle ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen. Das wird sie in den nächsten Tagen,

wann immer sie mich erwischte, auch ausführlich tun.

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Sie schimpfte auf den Toten. Sie verwünschte ihr Alleinsein. Sie verfluchte die neue Bürokratie:

Man tut keine Hausbesitzerin mehr sein, man ist der Sklave von den Beamten. Tonwechsel, resigniert:

Den Garten tu ich auch nicht mehr schaffen. Eine stets zu kurz Gekommene, Verbitterte.

Ihr Lamento bedrängte mich. Ich komplimentierte Frau Wirtin aus dem Kämmerchen.

Friderico stieß die Dachluke auf. Sanfter Frühlingshauch strömte herein. Draußen übte eine

Amsel Terzen. Noch nach Tönen suchend, zögerlich.

Am nächsten Morgen, bevor die Sonne aufging, weckte sie uns mit schmetterndem Gesang.

Recht so. Wir wollten rasch das Notwendige erledigen. In die Landschaft dann, ins Offene endlich.

Noch hatten wir nichts bei Tageslicht erblickt.

In der Mitte des Ortes lag der Dorfteich. Unbefestigt. Ein bißchen Schilf und Grünkram wuchsen

am Ufer. Enten gründelten.

Gleich daneben der KONSUM, Betonung auf der ersten Silbe. So hieß neben der staatlichen

Handels-Organisation, der HO, die genossenschaftliche Handelskette in der DDR. Nach fünf

Jahren Eingemeindung in den Westen beide längst passé.

In Basedow hieß der Konsum noch Konsum. Er hatte alles, was man zum Leben braucht, von der

Butter bis zur Zahnbürste. Nur trockenen Wein, wie wir ihn mögen, gab es nicht. Am nächsten

Tag präsentierte uns der Hüter des Ladens stolz drei Sorten vom Trockenen und wir fühlten uns

väterlich umsorgt.

Mit unseren Einkäufen ließen wir uns am Sportplatz nieder, guckten Kindern beim Kicken zu.

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Mädchen und Jungen knödelten gemeinsam.

Eine hagere Alte, sehr aufrechten Ganges, nahm Kurs auf unsere Bank.

Ich muß noch zum Container, sagte sie beim Setzen und stellte ihren Stoffbeutel mit Flaschen

und Konservengläsern neben sich.

Sie fragte nach, ob es stimme, daß wir Theaterleute aus Cottbus sind. Vor Jahren seien sie bei

einem Betriebsausflug in der Lausitz gewesen, erzählte sie. Und daß sie auf Kähnen durch Wald

gefahren sind. Uralte Erlen am Wasserrand. Die Kähne wurden durch die Kanäle gestakt, von

Fährleuten in Spreewaldtracht.

Das Theater hätten sie damals vom Bus aus gesehen. Und den roten Turm, mitten in der Stadt.

Besichtigt haben wir eine Konservenfabrik, erinnerte sie sich. Mit Verkostung. Gurken, Paprika,

Zwiebeln, Sellerie – alles sauer eingelegt. Brot und Speck und Schmalz dazu. Wo die Fabrik war,

weiß ich nicht mehr. Zu lange her.

Golßen? Lübben? Burg? versuchte ich auszuhelfen.

Sie winkte ab: Vergessen.

Damals hab ich die Buchhaltung gemacht, sagte sie. So‘n Ausflug mußte ja hinterher auf Heller

und Pfennig abgerechnet werden – wie jeder andere Posten. Na ja, in der Brigadekasse hatten

wir auch immer ‘n bißchen was.

Keine Spur von Aufdringlichkeit lag in ihrer Annäherung. Gäste waren gekommen. Als kultivierter

Mensch unterhält man sich mit ihnen, damit sie sich nicht fremd fühlen. Keine indiskreten

Fragen. Nur wie lange wir bleiben, wollte sie wissen.

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Vier Tage sind ja keine Zeit, meinte sie. Die Gegend ist so schön hier. Kann man viel gucken.

Und mal richtig ausschlafen, riet uns die Hagere zum Abschied, bevor sie mit ihren Gläsern

davonklimperte.

Mittagszeit. Den Konsum umlagerten Männer mittleren Alters, die meisten mit Fahrrädern.

Ellenbogen auf die Lenker gestützt. Andere saßen auf der Bank neben dem Eingang. Die einen

hielten ihr Bierchen in der Hand, andere Cola. Sie trugen ausgebleichte, blaue Arbeitshosen.

Karierte Hemden. Joppen aus Kord.

Sie redeten. Sie beobachteten, was ringsherum geschah. Gaben Kommentare, frozzelten. Lautes

Lachen nach einem Ulk. Eine temporäre Gesellschaft. Zwei Hündchen undefinierbarer Rasse

umwuselten die Hosenbeine und hörten brav auf ihrer Herrchen Wort.

Die Dorfgemeinschaft schien intakt – wenn man davon absah, daß sie keine gemeinsame Arbeit

mehr verband.

Die Männer standen morgens wie seit Jahrzehnten früh auf. Zogen die gewohnte Kluft über. Sie

versorgten die Hühner, die Karnickel. Nur den Gang, die Fahrt, zur Arbeit gab es nicht mehr.

Die Genossenschaft – Vergangenheit.

Sie werkelten stattdessen im Haus. Guckten, was im Garten zu erledigen war. Reparierten, bosselten,

wuschen gründlichst das Auto. Sie warteten auf den Mittag. Den unverabredeten, obligatorischen

Treff. Jeden Wochentag zur selben Zeit, am selben Ort.

Arbeitslosigkeit hatte außerhalb jeder Erwägung gelegen. Daß sie fast gleichzeitig über fast alle

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hereinbrach, machte den Jammer nur wenig erträglicher. Manchmal mußte er ertränkt werden.

Die Buddel mit dem Klaren kreist.

Wir kehrten der Männerrunde den Rücken zu. Zwischen dem Konsum und dem Schloß, das

dem Ort seinen Namen gegeben haben soll, liegen nur ein paar Schritte.

Ein mehrflügeliger Bau. Die Grundmauern stammen aus dem 15. Jahrhundert. Seitdem wurde

immer wieder umgemodelt, abgerissen, angebaut. Wechselnde Zeiten und architektonische Moden

haben ihre Spuren hinterlassen.

Einflüsse der Renaissance, besonders an den Giebeln. Elemente der Neugotik. Manche Bereiche,

die nicht mehr genutzt wurden, verfielen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das Schloß

partiell zerstört.

Friderico und ich umrundeten das Herrenhaus der Grafen Hahn. Wassergräben vor den Grundmauern.

Efeu rankte an den Außenwänden. Durchgerostete Regenrinnen. Schimmel und Flechten

hatten sich neben undichten Rohren angesiedelt.

Über die steinerne Bogen-Brücke gelangte man in den Innenhof. Im Schloß wurde noch gewohnt.

Briefkästen, Fenster mit Gardinen, Abfalltonnen. Ein alter Kinderwagen, Spielzeug aus

Plaste. Blumenkübel mit Geranien und Stiefmütterchen.

Ein loser Fensterflügel quietschte. Ein Hausrotschwanz pickte sich was aus dem bröckelnden

Putz. Unsichtbar dudelte ein Radio Popmusik. Eine Waschmaschine rumpelte. Lebensgeräusche.

Das Gelände wirkte trotzdem verlassen. Apathisch. Kein Mensch ließ sich blicken.

Über die steinerne Brücke zurück, eine Biege nach links und schon waren wir im Park.

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Wie viele, viele andere entstand diese Anlage nach Plänen von Peter Joseph Lenné. Zu seinem

200. Geburtstag, im Jahr neunundachtzig, wurde der lange vernachlässigte Park rekonstruiert,

erzählte uns ein Faltblatt und daß nun der Charakter des Geländes wieder erkennbar sei.

Weitläufig und großräumig hat Lenné projektiert. Integrierte Wasserläufe. Der Schloßpark geht

an seinen Rändern harmonisch in die Landschaft über. Alte Solitäre breiten ihre Kronen.

Wie vorausschauend der Gartenarchitekt gearbeitet hat! Fast zweihundert Jahren nach seiner

Planung bewunderten wir ein Areal, das er mit prophetischem Vorausblick konzipiert hat.

Prophetie auf Wissen gegründet.

Plötzlich knirschte und quietschte es ohrenbetäubend. Kaum zu glauben, was vor unseren

Augen geschah: Der gerade erst rekonstruierte Park wurde wieder aufgebuddelt!

Ein bösartiger Vandale war am Werk. Eine Maschine mit gefräßigem Maul, das alles aufbaggerte,

was ihm unter die Schaufel kam. Die neu angelegten Wege, den Rasen, Rabatten. Es zermalmte

gerade quadratische Glasfenster, die wohl zu einem Gewächshaus gehörten. Gegen unsere Gewohnheit

gingen wir grußlos an dem Fahrer des Zerstörers vorüber.

Der Park mit seinen geschwungenen Pfaden lud trotz Gelärm zum Wandeln ein. Gänseblümchen

auf grünem Grund. Die Goldknöpfe des Huflattichs. Erste Krokusse schoben farbige Spitzen

durchs Gras. Im Hintergrund weideten Schafe. Friderico schaute in die Ferne, entdeckte mit

seinem Glas einen Sprung äsender Rehe. Idealische Osterlandschaft mit Höllenlärm.

Genauso plötzlich wie der Krach begann, brach er wieder ab. Der metallene Unhold hatte seinen

devastierenden Einsatz eingestellt. Ein junger Mann in Jeans kletterte aus der Kabine und ver-

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ließ das Terrain.

Wo er gebaggert hatte, duftete die Erde nach Frühling. Feucht und fruchtbar. Sie schimmerte

dunkel. Helle Flecke dazwischen. Ich guckte nach und klaubte mit bloßen Händen alte Gefäße

aus dem Boden. Kaum drei, vier Zentimeter hoch. Manche angeknackst, manche in unzählige

Scherben zersprungen, andere gänzlich unversehrt.

Ein Tellerchen, daumennagelgroß. Ein zylindrisches Döschen mit Deckel. Ein Schüsselchen im

Eischalenformat. Jedes war weiß und könnte aus einer Apotheke stammen. Porzellan oder feines

Steinzeug. Zum Gebrauch, für Salben oder zum Aufbewahren, waren die Behältnisse wohl zu

klein. Vielleicht hatte ich Spielzeug der gräflichen Kinder gefunden.

Ich wußte von meinem strengen Lehrer-Vater, daß man Bodenfunde abgeben muß. Er selber, gewissenhafter

Geschichtslehrer, wies jedes steinzeitliche Beil, jedes Schabemesser oder Steine, mit

denen Feuer gezündet wurde, beim Rat des Kreises vor, wo die zuständige Abteilung entschied,

ob die Fundstücke von historischem Wert waren. In diesem Fall wurden sie – mit Protokoll – an

ein Museum oder Archiv übergeben. Waren sie von geringerem Interesse, nahm mein Vater sie

wieder mit und stellte sie im Geologischen Kabinett für seine Schulkinder aus. Die Bodenfunde

waren Volkseigentum per Gesetz.

Wem sollte ich jetzt meine Funde vorweisen? Ohne meine Rettungsaktion würde der Unhold

sie ohnehin mit dem nächsten Anlauf zerkrümeln, beschwichtigte ich mein leise grummelndes

Gewissen. Ich sammelte die Gefäßchen ein und nahm sie mit. Sie zieren noch heute die Konsole

mit meinen Kosmetika. –

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Lauer, früher Abend. Wir schlenderten die Straße entlang bis zum Ortsausgang und weiter auf

dem Feldweg abwärts zum Malchiner See. Eigentümliche Rufe klangen aus der Dämmerung.

Amselgroße, langbeinige Vögel stocherten mit ihren Schnäbeln in einer Wasserlache. Durchs

Fernglas erkennen wir sie: Charadrius hiaticula. Die ersten Sandregenpfeifer unseres Lebens!

Unvergeßlich – wie jedes erste Mal.

Als Friderico und ich uns zwei Jahre später wieder in Basedow einquartierten, schien es, als seien

die Veränderungen, die die Wende mit sich brachte, im Zeitraffer über den Ort gezogen.

SAT-Schüsseln an den Giebeln. Umbruch überall.

Etliche Häuser im Dorf waren frisch gedeckt, die meisten mit glänzenden Klinkerziegeln. Neue

Wagen, Westautos, standen vor den Einfahrten. Kaum ein Wartburg oder Trabant. Die meisten

Hühnerställe waren verschwunden, auch die Verschläge für das Kleingetier. Manche Schuppen

zu Garagen ausgebaut.

Vor der Brücke zum Schloß verwehrten Verbotsschilder den Zugang. Der Innenhof durfte nicht

betreten werden. Niemand wohnte mehr dort.

Auch das Gelände um das Fundament an der Nordseite war abgesperrt. Die Efeuranken von

den Außenmauern abgerissen. Nur ihr holziges Wurzelgeflecht blieb an den Steinen. Verästelter

Aderlauf.

An den Außenwänden klebten Gerüste. Aufzüge. Plasteplanen. Grellfarbige Werbeplakate eines

Unternehmens. Es wurde gebaut. Es wurde restauriert. Erfreuliche Tatsache – eigentlich. Noch

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wirkte die alte Dame Schloß in ihrem lädierten Zustand, als wäre der forsche Jüngling Zeitgeist

über sie hergefallen und habe ihr Gewalt angetan.

Am stattlichen Marstall, gleich hinter dem Schloß – neunzehntes Jahrhundert, klassizistischer

Stil – waren die Fenster herausgebrochen oder mit Brettern verschlagen. Die alten Lampen über

den Eingängen rosteten vor sich hin; ihre Form erinnerte an Stahlhelme. Die elektrischen Leitungen

waren herausgerissen. Vielleicht wurden sie als Buntmetall zu Geld gemacht.

Brennsesseln, Wegerich und Löwenzahn milderten mit sattem Grün die morbide Aura des einstmals

vornehmen Stalles für Pferde. Auch Holunderbüsche, schulterhoch, siedelten schon.

In schrägem Winkel vor dem Gebäude stand ein blitzneues, metallenes Tor, aus Stäben zusammengesetzt.

Die Spitzen glichen Lanzen.

Zweiflügelig, sicher mehr als vier Meter breit, präsentierte sich die Pforte. An beiden Seiten konnte

man vorbeigehen. Das Tor wehrte nichts und niemand ab. Eine überdimensionale Brosche, an

den Weg geheftet. Vielleicht mußte schnell, vorm finanziellen Terminverfall, ein EU-Töpfchen

materialisiert werden.

Einkaufen, wie gehabt, im Konsum. Der Herr der täglichen Dinge erinnerte sich an unsere

Gesichter und bemerkte, daß er jetzt immer trockenen Wein im Regal habe.

Geht ganz gut, betonte er stolz. Der Laden war um einen Anbau erweitert worden. Eine umfänglichere

Gefriertruhe im Mobiliar. Ein Sortiment von Haushaltswaren. Überregionale Zeitungen,

nicht nur die BILD. Ansichtskarten und Krimskrams für Touristen. Kartoffeln aus dem Nachbardorf.

Eier von nebenan.

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Die mittägliche Männer-Szenerie am Dorfkonsum schien unverändert. Die Klamotten leicht

variiert. Nur eine blaue Latzhose noch.

Die Ansammlung hatte von ihrer trotzigen Fröhlichkeit verloren. Im Alltag dieser Basedower

ereignete sich nicht viel. Ein Enkelkind war dazugekommen. Von der Tochter, die im Westen

lebt, weil sie da Arbeit hat. Ein Kollege ist an Krebs gestorben. Die Namen der Ämter, bei denen

sie antanzen müssen, wechselten. Mehr gab es nicht zu erzählen. Die ollen Kamellen höchstens.

Von anno dazumal, als alle Arbeit hatten. Als alle Überstunden machten. Früher. Vor der Wende.

Noch hatte die Formation Bestand.

Von außen betrachtet: Immerwährendes Gruppenbild mit Fahrrädern und Hunden. Langmut

oder Starrsinn? Ergebenheit oder Widerstehen? Sie behaupteten die Mitte des Ortes, als sei es

die Mitte der Welt.

Eine Frau hockte zwischen den Männern. Früh zerfurchtes Gesicht. Sie bewachte, selber trunken,

ihren längst an die Flasche verlorenen Säufer. Sie wies ihn zurecht, wenn er ausfällig wurde.

Harsch und schroff – und doch, um ihn vor Schlimmerem zu bewahren.

Wo die Frauen der anderen sein mochten? Im Garten. In der Küche. Bei der Umschulung. Bei

den Abe-Emmern, wie der Volksmund sagt: Den ArbeitsBeschaffungsMaßnahmen. Oder bei

dem, was nun Schwarz-Arbeit hieß. Makabres Wort.

Die Adresse unserer Wirtin hatte ich im Internet nicht wiedergefunden. Wir nahmen ein anderes

Quartier. Es zog mich aber doch zum Haus der Cottbuserin im Mecklenburgischen Exil. Das

Pensions-Schild am Gartenzaun war verschwunden. Sie vermietete wohl nicht mehr. Wir riefen

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ihren Namen. Keine Reaktion.

Ich erinnerte mich an einen Satz der Frau über ihren gerade Dahingeschiedenen: Hätt er nicht

so viel gesoffen, wär er jetzt nicht tot. Sachliche Feststellung.

Das Idiom der Cottbuser Gegend bestürzte mich, als wir in die Stadt zogen. Gnadenlos und hart.

Wie die Arbeit in der Grube. Verbale Draufschläge. Ausgebaggerte Wort-Landschaften. Die immer

gleichen Satzkonstruktionen. Das tut in jedem zweiten Satz: Tut arbeiten, tut einkaufen, tut

sich was leisten…

In den zehn Jahren meines Lausitzer Lebens habe ich die Direktheit des Jargons schätzen gelernt.

Ja, der Duktus ist grob, dafür unverblümt und genau. Sozial scharf. Das Leben des geschundenen

Landstrichs spiegelt sich in der Sprache.

Gundis, Gerhard Gundermanns Lieder waren mir vertraut, lange bevor ich in die Gegend kam.

Seine Balladen – Hommagen an die Leute von hier.

Er wußte, selber Baggerfahrer im Tagebau, daß Braunkohle mehr bedeutet als Maloche und

Landschaftszerstörung. Sie steht für Selbstbehauptung. Die größten Maschinen beherrschen, die

je gebaut wurden. Titan sein in der Grube. Den Wettern trotzen. Erdnähe. Zwischen Feuer und

Wasser in jedem Sinn.

Gundermann schrieb Verse von ruppiger Zärtlichkeit. Vom Widerstehen der rauschaligen Weiber

ausm Revier. Ihr Kämpfen um Gerechtigkeit. Um ein bißchen Liebe.

Mit dem Lied Halts aus, Angelina… hat er wohl auch unsere knorrige Wirtin gemeint.

Friderico und ich guckten noch mal zur Pforte, hinter der sie uns am ersten Abend erwartete.

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Das Namensschild war abmontiert, zwei kleine Bohrlöcher im Holz. Vielleicht hatte sie das Haus

verkauft, verkaufen müssen. Bestenfalls, wünschten wir ihr, ist sie in die heimatlichen Gefilde

zurückgekehrt. –

Für den Sonntag war ein Konzert in der Kirche angekündigt. “Orgelsommer in Basedow“. Die

Flyer lagen im Konsum aus, waren an Bäume und Telegrafenmasten gepinnt. Obwohl wir das

prächtige Instrument noch nie gehört hatten, überlegten wir lange, ob wir einen sommerlichen

Nachmittag für das Kirchen-Konzert eintauschen sollten. Die Neugier siegte. Meine Neugier

siegte. Friderico meinte, er schließe sich jeder Entscheidung an.

Konzertkleidung steckte nicht in unserem Rolli. Eine große blanke Brosche als Zeichen fürs

Besondere mußte reichen. Friderico warf sich, leicht murrend wegen des Aufwands im Urlaub,

in ein helleres Hemd. Murmelte den alten Mimenspruch, daß er sich sein ganzes Leben lang nur

umgezogen habe.

Die Basedower Kirche steht auf einem Friedhof, wo noch Gräber gepflegt und Tote begraben

werden. Der Bau, obwohl auf ehrwürdigem Feldsteinsockel sattelnd, zeigt wenig Charme. Er

wurde, als das Usus war, auf neogotischen architektonischen Standard restauriert.

Gleich bei unserem ersten Besuch in Basedow hatten wir die Kirche besucht. Von außen wenig

einladend, offenbarte sie innen berückende Schönheit. Klar, licht, einladend. Die sanften Farben

des Barock.

Die Orgel gilt als ältestes, erhaltenes Instrument in Mecklenburg. Baujahr 1683. Sonne, Mond

und Sterne zieren sie. Junge Frauen und bärtige Männermasken. Allegorische Figuren. Fröhliche

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Fülle in Rot, Gold und Blau. Ein Augenschmaus.

An diesem Sonntagnachmittag war es auf der Basedower Dorfstraße belebter als sonst. Mehr

Autos, mehr Passanten. Um den Dorfteich wandelten Mädchen mit knöchellangen Röcken und

bezopfte Jünglinge.

Die Einwohner von Basedow und Umgebung, hatten sich ein bißchen aufgehübscht. Ein wenig

nur. Die Art ihrer Kleidung bedeutete, daß man so ein Konzert wohl zu schätzen wisse, aber

auch nicht protzen möchte. Heller Tag, kein abendliches Fest. Und nach der Kunst ging es

ohnehin an den Kaffeetisch im häuslichen Garten. Die Einheimischen hatten Kinder mit, größere

und kleine. Alle Auswärtigen kamen ohne.

Die Zufahrten zur Kirche schon vollgeparkt. Wagen jeglicher Klassen. Einige rumpelten auf

Platzsuche um den Friedhof. Am Einlaß herrschte friedliches Gedränge.

Mit dem Glockenschlag erschien der Organist. Ein Niederländer. Sagte ein paar Worte zur Musik.

Die meisten Komponisten seien kaum bekannt und daß er sie auf dieser Orgel vorstellen dürfe,

freue ihn sehr. Man glaubte es ihm.

Der Musikus sprach ein tadelloses Deutsch – in der mich immer wieder entzückenden Klangfärbung

der Holländer. Wie sie mein alter Freund, Dolf Verroen, der verehrte Dichter und Wortzauberer

aus Nicolaasga spricht. Ein Querdenker, ein höchst origineller. Zu Recht eine Berühmtheit

in seinem Land. Zur Hochzeit mit seinem Mann Gerard gratulierte die Königin…

Dolf und ich kennen uns seit 1988, als ich zu einer Konferenz und Lesungen des Friedrich-Bödecker-Kreises

nach Hannover fahren durfte. Durfte, weil ich mein erstes Visum in den Westen

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ausgestellt bekam.

Zwei Jahre später, als die Verhältnisse in Ostdeutschland sich überstürzten, als unsere Verlage in

den Orkus gingen und der Berufsverband der Schriftsteller mit ihnen, hatte ich wohl bei einer

Begegnung dem Freund meinen Kummer geklagt.

Wenig später kam eine Postkarte aus den Niederlanden in der Apothekerstraße in Schwerin an.

Auf ihr stand: Liebe Jutta, Du kannst nicht kaputt! Dein Dolf

Der Autor, als alter Achtundsechziger das allzu Seriöse verachtend, ist immer für eine optische

Überraschung gut. Mal erscheint der Mann gesetzten Alters im blumenübersäten Jackett, mal

in pinkig violett gestreiften Hosen. Seine dunkle runde Hornbrille und seinen sehr individuellen,

hüpfenden Gang betrachtend, meinte Friderico, der ihn erst Jahre nach mir kennenlernte:

Dein Freund Dolf sieht aus, als hätt´ ihn Jacques Tati erfunden. –

Der charmante Musiker vor den Basedower Kirchenbänken glich auch so gar nicht dem landläufigen

Erscheinungsbild eines Organisten. Ein Mann um die fünfzig. Blondes Wuschelhaar. Ein

farbiges Tüchlein um den Hals, helles Leinenhemd und Jeans. Lederne Sandalen an den bloßen

Füßen.

Das Konzert begann. Was für ein außergewöhnliches Instrument. Der Hörerschaft wummerten

keine Bässe drohend um die Ohren. Kein klerikales Macht-Getön. Fein und differenziert kamen

die vielstimmigen Strukturen der Musik daher. Aufmunternd, einladend, fröhlich.

Nur einmal hatte ich einen ähnlichen Klang der Königlichen vernommen: In der Nähe von

Gdansk, der Geburtsstadt unseres Vaters, in der Kirche von Oliva. Für die Gäste unsichtbar,

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setzte sich der Kantor an die Orgel. Wir durften mithören wie er, leise anschlagend, seinen musikalischen

Phantasien nachhing.

Der Niederländer stellte sich noch einmal moderierend vor die Basedower Zuhörer. Er gab Erläuterungen

zum Werkchen, das er gleich spielen werde. Er strahlte vor Freude, als habe sich mit

der Musik gerade etwas einzigartig Herrliches ereignet. Und so war es ja auch.

Er stimmte das nächste Stück an. Parlierend, leichtfüßig. Die Orgel und er waren sich einig in

ihrer Lust am Musizieren und Lebensüberschwang. Im Kirchenschiff breitete sich Heiterkeit

aus. Die Langbezopften tuschelten. Kinder wiesen mit ausgestrecktem Finger auf die Orgel und

freuten sich.

Die allegorischen Figuren tänzelten. Die Masken am Instrument – bärtige Männer oder stilisierte

Löwenköpfe? – rollten mit den Augen. Sie streckten sogar die Zungen raus!

Ein Teil des Publikums teilte das allgemeine Vergnügen nicht. Sie saßen in Grüppchen zusammen

und ließen schon beim Betreten der Kirche merken, daß sie sich dieser Volksversammlung

aus Bauern, Monteuren, Verkäuferinnen, Forstleuten und Sachbearbeiterinnen durchaus nicht

zugehörig fühlten.

Sie ließen spüren, daß sie eigentlich in ganz anderen Kreisen verkehrten. Sie demonstrierten

durch Kleidung und Gebaren, daß sie Geld hatten, vielleicht viel Geld. Sie demonstrierten, daß

sie sich jeder Art von Kultur leisten können, nicht nur diese ländliche hier. Sie gaben kund, daß

sie die wahren Kunstkenner sind. Nicht so leicht zu belustigen wie dieses ungebildete Dorfvolk,

das sich wie seine Gören über kullernde Holzaugen freut.

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Eine neue Spezies hatte sich in der mecklenburgischen Tiefebene etabliert: Die Kaste der Besserverdienenden.

Nach unserem zweiten Besuch verloren wir Basedow aus den Augen. Die Fahrpläne der Bahn

hatten sich geändert. Wir kamen von Cottbus leichter nach Warnemünde als nach Malchin. Die

Ostsee zog uns stärker an als ein Binnensee. Vielleicht war unser Verlangen nach dem Ort des

Holunders einfach gesättigt und erloschen.

Unser Interesse wachte schlagartig wieder auf, als wir zum erstenmal in Rikes Bootshaus einzogen.

Bei klarem Wetter, aus dem oberen Fenster, können wir am gegenüberliegen Ufer über

hohen Baumkronen einen Mast für Telekommunikation und eine Kirchturmspitze erkennen

- die Skyline von Basedow. Von jetzt an ein Fern-Ziel: Zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zurück.

Ein Weg, den wir bei jedem Bristower Aufenthalt unter die Füße nehmen; zuletzt vor drei

Jahren.

Es war ein milder Tag, noch sommerlich. Wir schlugen die vertraute Strecke ein: Über die

Bristower Dorfmitte nach Wendischhagen, hinter Wendischhagen der Neunziggradhaken zum

Dahmer Kanal. Durch die Kastanienallee, über die Anhöhe vorm Dorf hinauf nach Basedow.

Wohlvertrauter Ort.

Irrtum. Gleich am Ortseingang, hinter den beiden parallel gebauten Feldsteinscheunen, erschien,

einer Fata Morgana gleich, das Neuschloß von Basedow.

Zwei fette runde Türme. Der rechte mit riesigem Garagenmaul. Zwischen den Türmen ein end-

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loser Flachtrakt mit spitzem Ziegeldach. Die beiden Bögen des Rondells vor dem architektonischem

Ungetüm führten auf eine “griechische“ Empfangshalle zu, getragen von sechs Säulen aus

Beton.

Ein Lego-Bau im Riesenformat. Die Karikatur eines Schlosses. Satan Protz regierte. Rings um

das disproportionierte Machwerk gähnte Leere. Bewacht von einem zwei Meter hohen Staketenzaun

aus Metall. Vielleicht ist es ja gar kein Neubau, meinte ich zu Friderico. Vielleicht hat es

ein Performance-Künstler zum Zwecke der Verblüffung hier abgesetzt und holt es gleich wieder

ab. Rechts im Bild erschien ein Trecker mit dickbereiften Rädern. Wohl doch keine Sinnestäuschung.

Wer hat Das gebaut, fragte Friderico im Dorf eine Frau, die er für eine Einheimische hielt.

Er fragte nicht: Den Neubau, das Schloß? Er fragte: Das.

Die Frau erwiderte, leicht erschrocken: Das? Weiß ich nicht. Der Besitzer – ausm Westen.

Wir wiederholten die Frage in der “Alten Schmiede“. Ein Café, in einem der einstöckigen Backsteinhäuser

gleich neben dem Dorfteich. Schmiedegerät und altes Werkzeug im Außenbereich.

Holzbänke, Holztische. Die Wände in der Kneipe mit Fotos, Plänen und Skizzen zur Dorfgeschichte

bestückt. Der von früher und der von ganz, ganz früher. Alles sehr sympathisch.

Die Wirtin kochte einen vorzüglichen Kaffee, was man in Mecklenburg gar nicht stark genug

betonen kann.

Herr R. aus Hamburg hat Das gebaut, erklärte sie uns. Der hat nach der Wende die LPG übernommen.

Dem gehört jetzt alles hier.

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Die Dorfmitte gehörte an jenem Nachmittag aber denen, die drum wohnten. Auf dem Sportplatz

kickten die Kinder. Der Ball flog zu einem Reck, an dem zwei reglos ausgestreckte Jungen

hingen. Ein Ankömmling warf sein Fahrrad ins Gras und setzte sich daneben. Die scheckige

Katze schüttelte den Kopf und schlich weiter. Auf den Bänken am Platzrand saßen die Alten und

sprachen vom Ewiglich.

Zwei Frauen, eine junge und eine greise, erschienen aus dem Schnittpunkt der Allee. Sie trugen

einen Korb mit gelben Birnen. Ein Mädchen hüpfte hinter ihnen her. Ein Hündchen trippelte

voraus.

Das Grüppchen schritt zu einem Gehöft. Vor dem Gehöft gab es einen Rasen, in dessen Mitte

eine Wäschespindel stand. Acht schneeweiße Büstenhalter hingen daran und schwangen sacht

im Wind. Das Grüppchen ging achtlos vorüber. Unaufhaltsam nahm es Kurs auf das Tor einer

Scheune hinter dem Teich.

Das Maul des Tores öffnete sich. Mit eigenen Augen sahen wir, wie es den Korb und die Frauen,

den Hund und das Kind verschlang.

Auch in diesem September gilt: Auf nach Basedow! Der Wecker klingelt uns im Morgengrauen

aus dem Bett. Friderico hat ihn gestellt, damit wir rechtzeitig aufbrechen.

Die Sonne geht zwar erst gegen halb acht unter, aber wir wollen von keinem Zeitdruck getrieben

sein und Schlenkerchen machen können, wie es uns gefällt.

Frühdunst verdeckt das bewaldete Ufer auf der anderen Seite des Sees gegenüber, hinter dem

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sich unser Tagesziel verbirgt. Silbrig und matt glänzt die Oberfläche des Wassers. Ein Reiher

fliegt gemächlichen Flügelschlags drüber hin.

Ausgiebiges Frühstück, dann werden die Rucksäcke gepackt. Friderico steckt wie immer das

Fernglas ein. Die beiden Flaschen mit Apfelsaft und Pfefferminztee.

Ich den Proviant: Zweimal Klappstullen aus Vollkornbrot mit Kräuterbutter. Zwei Eier, zwei

Äpfel. Mini-Tomaten aus der schwesterlichen Schenkung. Ein Täfelchen Schokolade.

Auf dem Rasen vorm Bootshaus liegt Tau. Auch auf den krummen Ästen im Unterholz, auf den

Farnen am Straßenrand. Die Tropfen spiegeln das Licht.

Die Bank der drei Ehrwürdigen vor dem Altneubau steht morgendlich verwaist. Weiße Hühner

haben sich selbständig gemacht. Sie scharren im Sand neben den Mülltonnen.

In Bristows Mitte rumpelt ein rotes Auto zum Briefkasten. Eine Frau steigt aus, studiert die

Leerungszeiten. Sie nimmt drei Umschläge, die sie wohl einwerfen wollte, wieder mit. Der Vorgang

läßt mein Vertrauen in die gelbe Box beträchtlich sinken.

Kurz vor Wendischhagen traben die schwarzbunten Schönäugigen heran. Sie sind zur Wassertränke

unterwegs, nehmen sich aber Zeit, uns aufmerksam, sanft und melancholisch anzublicken.

Muh! sagt Friderico zu ihrer Begrüßung. Gutturallaut.

Indigniert wenden die Anmutigen sich ab. Die plumpe Art der Annäherung verdrießt sie.

Vor dem Gehöft von Fischer Schlender stehen mehrere Autos. Der Transporter eines Restaurants

aus Teterow. Ein Kombi älteren Datums. Ein weißer Lieferwagen mit Aufschrift: Wir bringen die

Frische!

153


Vom See her strömt feuchte Luft. Nebel steigen auf. Der kühle Morgen wird sich in einen warmen

Spätsommertag mit Bauschwolken verwandeln.

In den Hecken entlang der Straße funkeln Hagebutten. Ausgereifte Pfaffenhütchen. Die Dolden

des Holunders senken sich. Der Herbst setzt seine Zeichen.

Am unbefestigten Weg zwischen Wendischhagen und Basedow-Höhe gibt es nur zwei bebaute

Grundstücke. In einem der Häuser hat sich eine Heilpraxis etabliert. Auf dem Schild am Gartenzaun

steht neben der Telefonnummer “Das Haus St. Ignatius von Loyola“. Ich knipse es, um später

nachzulesen, wer das sein mag.

Kennst du den? frage ich.

Irgend so ein Jesuit, kramt Friderico aus den Tiefen seines lexikalischen Wissens.

Der heilige Ignatius war Sohn eines baskischen Adelsgeschlechts. Er wurde 1491 geboren, starb

mit sechzig, in Rom begraben. Er begründete den Jesuitenorden, verpflichtete sich nach “ausschweifendem

Lebensstil“ der Keuschheit und der Armut, gilt als Vorläufer der heutigen Laien-

Theologen, fummele ich mir zuhause aus den zahlreichen Informationen. “Die Homöopathen

berufen sich auf ihn.“ Aha!

Wenige Schritte neben dem Praxis-Haus, wissen wir aus den Vorjahren, steht ein Grenzstein.

Eingewachsen und verwittert. Rudimentäre Buchstaben. Unsere Versuche, die Schrift zu entziffern,

schlugen jedesmal fehl.

Heute erhebt sich der meterhohe Stein, vom Bewuchs befreit, senkrecht aufgerichtet aus dem

Gras. Mit frischer roter Farbe auf grauem Grund: Basedower Gränzmark 1852 – 11 Ruthen von

154


der Gränze. Ein Pfeil darunter, er weist mit der Spitze nach rechts.

Wir gehen nach links, der Brücke zu, die über den Dahmer Kanal führt. Er verbindet den Malchiner

mit dem Kummerower See. Kein pferchendes Bett zwängt ihn. Ein Wässerchen mit viel

Platz in der moorigen Senke. Der Pegel steht hoch. Die Regen der vergangenen Wochen haben

ihn ansteigen lassen. Die Wurzeln des Ufergesträuchs landunter.

Die Brücke gibt den Blick aufs Wasser frei. Es fließt ruhig, doch behend. Und es ist blau! So blau!

Als sei es kein nördliches Licht, das sich hier spiegelt. Man möchte in die Luft hüpfen vor Freude!

Die Malerin Paula Becker-Modersohn fing in ihrem Kleinen Moorstück diese Göttergabe Farbe

ein: Ein Modderloch, in dem der Himmel badet.

Seitwärts der Brücke, von Erlen

und Pappeln beschattet, gibt es

einen überdachten Rastplatz.

Tisch und zwei Bänke. Wir

verzehren die Hälfte unseres

Proviants und vervollkommnen

es mit Sauerampferblättchen.

Ich kühle meine Füße bei

der Wasserminze am Uferrand

und winke einem paddelnden

Pärchen zu.

155


Weiter geht´s. Durch die Kastanienallee, die hinter der Brücke beginnt. Die Bäume werfen stachelige

Früchte auf den Weg. Die braunen Früchte kollern. Erste trockene Blätter sind gefallen.

Sie knistern unter den Schuhsohlen. Die kleine Anhöhe unter die Füße genommen, die Straße

nach Malchin überquert, dann nähern wir uns Basedow – gewissermaßen von der Rückseite.

Von dem Bereich, wo Lenné den Park der Landschaft anverwandt hat.

Im Ort besuchen wir zuerst die Kirche. Die Pforte steht offen. Auch hier wacht eine Ehrenamtliche.

Das letzte Konzert der Saison ist längst verklungen. Die Orgel scheint noch schöner als in

den Vorjahren. Wohl weil sie uns jetzt vertraut ist. Die vielen, vielen Pfeifen. Sechsunddreißig

Register.

Im Gästebuch, das in der Kirche ausliegt, haben sich Studenten aus dem fernen Orenburg eingetragen.

Ein Oblast am Ural. Die Stadt gleichen Namens ist mir seit dem Studium ein Begriff.

Wollte jemand dort sein Praktikum machen? Hat sie einer meiner Singeclub-Freunde sehnsuchtsvoll

besungen? Gab es eine Initiative der Freien Deutschen Jugend? Ich weiß es nicht mehr.

Die Musik-Studenten aus Orenburg bedanken sich in perfekter Orthografie und mit gewählten

Worten, die ein wenig altmodisch klingen, daß sie “auf dem kostbaren Instrument“ spielen

durften.

Draußen, in der Sonne, war es heiß. Es tut gut, ein Weilchen in der kühlen Kirche zu sitzen. Alles

atmet Gelassenheit und Harmonie. Die Ruhe des lange Vergangenen. –

Zu meiner Reiselektüre gehört das Reisebüchlein “Die Mecklenburgische Schweiz unter anderem

- Eine Miniatur“. Erschienen 1990 in zweiter Auflage im Verlag Brockhaus Leipzig. Die

156


Fotos hat Gerald Große gemacht. Der Text stammt von Manfred Müller.

Der Autor beschreibt einen denkwürdigen Tag im September des Jahres Fünfundvierzig in der

Basedower Kirche. Gewiß auch, weil kein anderer geeigneter Ort vorhanden war, fand hier der

Akt der Bodenreform statt.

Bodenreform bedeutete, daß die Großgrundbesitzer enteignet wurden. Bauern, die mehr als

hundert Hektar Land besaßen, betraf es. Außerdem wurde der Besitz von Kriegsverbrechern

und Nazis aufgeteilt. Auch das Vieh. Die Maschinen. Mobiliar. Ohne Entschädigung.

Über allem stand die Losung “Junkerland in Bauernhand!“

Der Kommunist Bernhard Quandt, Landrat des Kreises Güstrow, zu dem Basedow gehörte, war

beauftragt, die Aktion durchzuführen.

Seine Erfahrungen als Widerstandkämpfer gegen den Faschismus hatten ihn zu einem Politiker

mit Weitblick gemacht. Er wußte, daß er mit der radikalen Um-Verteilung auf enormen Widerstand

stoßen würde. Bei den Grundbesitzern, bei den ihnen Ergebenen, bei den von ihnen Abhängigen.

Quandt vergewisserte sich im Voraus der Unterstützung der Pastoren. Sie bestimmten oft das

politische Klima in den Dörfern.

In der Basedower Kirche hatten sich Tagelöhner, Landarbeiter, viele Umsiedler versammelt. Die

künftigen Eigentümer von Grund und Boden. Die Vertreter der Hahns, der Schloßherren, saßen

im selben Raum.

Zur Einleitung der Zeremonie erklang auf der Orgel der Choral “Lobet den Herrn“.

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Nach der musikalischen Introduktion hielt Bischof Tolzien, der hier amtierte, eine Predigt.

Aus der Predigt entwickelte sich ein Streitgespräch zwischen dem Pastor und Landrat Quandt,

dem die Demut gegenüber dem unabwendbaren Schicksal mißfällt, er will die Schuld beim Namen

nennen und den Krieg ein Verbrechen heißen. (M. M.)

Der Disput endete damit, daß Tolzien wieder auf die Kanzel stieg, dann Landrat Quandt vor

den Altar leitete und der Bodenreform seinen bischöflichen Segen gab, weil sie die Ärmsten der

Armen gütig bedenke und die neue Obrigkeit göttliche Gerechtigkeit schaffe. Aus dem silbernen

Kelch auf dem Altar der Kirche von Basedow werden die Ländereien eines der größten Gutsbesitzer

Mecklenburgs verteilt – Landarbeiter verlassen die Kirche als Bauern. (M. M.)

Ein Wimpernschlag der Geschichte hatte in Basedow zwei sehr unterschiedliche Männer zusammengeführt.

Bernhard Quandt wurde 1903 in Rostock geboren. Er lernte Eisendreher und mischte schon als

junger Mann politisch mit; war Mitglied der Sozialdemokratischen, später der Kommunistischen

Partei. Während der faschistischen Jahre kam er als entschiedener Gegner des Regimes

mehrfach in Haft. Man internierte Quandt im Konzentrationslager Sachsenhausen, später war

er in Dachau eingesperrt.

In seinem Buch über Bernhard Quandt, das 2006 erschien, zitiert Norbert Podewin den

sowjetischen Leutnant Iwan Gordejew, der als Kriegsgefangener nach Dachau kam und das KZ

überlebte: “Ich lernte einen deutschen Häftling kennen – er hieß Bernhard Quandt. Manchmal

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wußte man nicht aus noch ein vor Heimweh, Hunger, Müdigkeit, und von dem stickigen Leichengeruch

wurde einem übel. Bernhard Quandt aber trat heran, legte einem die Hand auf die Schulter

und sagte: ’Das geht vorüber.’

Viele Jahre wüteten die Faschisten in Deutschland, daß man meinen sollte, sie hätten alle eingeschüchtert,

irregeführt und mundtot gemacht. Und doch, das proletarische Gewissen lebte sogar

in diesem grauenvollen Todeslager.“

Französische Truppen befreiten Anfang April fünfundvierzig das Lager Dachau. Bernhard

Quandt machte sich auf den Weg von Bayern nach Mecklenburg. In einem Lebenslauf schreibt er

später: Am 15. Mai trat ich die Wanderung an, am 9. Juni war ich zuhause. Nach ein paar Tagen

Ruhe habe ich begonnen, die KPD im Kreise Güstrow aufzubauen.

Nach dem Sieg der Alliierten, auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone, setzten die Befehlshaber

des Militärs, Männer und Frauen des Widerstands als Verantwortliche in die örtlichen

Verwaltungen ein.

Auf diese Weise wurde Bernhard Quandt zum Landrat des Kreises Güstrow.

Er arbeitete später als Landwirtschaftsminister von Mecklenburg. Seit 1948 war er für vier Jahre

Ministerpräsident in Schwerin. Als Anfang der Fünfziger die Länder aufgelöst und in Bezirken

organisiert wurden übernahm Quandt Parteifunktionen. Bis zum Ende der DDR blieb er Mitglied

des Staatsrates. Er trat auch nach dem Untergang des Ostländchens als politisch aktiver

Mensch auf, ein unbeirrbarer Einmischer. Im Jahr 1999 starb das “Urgestein“, wie ihn Podewin

159


nennt.

Bernhard Quandt, Querkopf und mecklenburgischer Sturkopp, brillierte in seinen besten Zeiten

als Redner von mitreißender Wortgewalt. Ein Prediger im besten Sinne.

(Ich sah und hörte ihn des öfteren von weitem. Ein respektabler Mann. Als ich ihn Auge in Auge

kennenlernte, mag er Mitte seiner Siebziger gewesen sein. Er erschien mir als müde gewordener

Kämpe, dem Nachruhm seiner frühen Politikerjahre kaum noch gewachsen.)

Bernhard Quandt, gewissenhafter Handwerker, ärgerte sich in den Nachkriegsjahren darüber,

daß die Ländereien während der Bodenreform vor der Verteilung oftmals nicht ordentlich vermessen

wurden. Streitigkeiten waren vorprogrammiert.

Quandt kümmerte sich vehement um die genaue Vermessung von Acker und Weideland. Er

drängte darauf, daß die Landarbeiter aus den eigenen Reihen Bodenkommissionen wählten.

Er wollte sie zum demokratischen Mitmachen bewegen.

Die Neubauern, wie sie genannt wurden, waren meist nicht die besseren Bauern. Sie waren

manchmal gar keine. Die in Mecklenburg als Flüchtlinge Gestrandeten arbeiteten vor dem Krieg,

zum Beispiel in Stettin, woher auch meine Eltern stammten, als Friseure, Kellner, als Angestellte

bei der Eisenbahn oder als Beamte.

Die meisten von ihnen hatten kaum je einen Spaten in der Hand gehabt oder ein Schwein gefüttert.

Im Kindheitsdorf Friedrichshagen habe ich, obwohl noch Vorschulkind, sehr wohl wahrgenommen,

wie die Alteingesessenen sich über die Neubauern lustig machten.

Weil sie, zum Beispiel in Ermangelung eines Pferdes, die Milchkuh vor den Pflug spannen muß-

160


ten. Die Altbauern ließen die Unerfahrenen voll Häme ins Verderben laufen, wenn sie das Vieh

falsch fütterten, oder die Kartoffeln nicht sachgerecht lagerten.

Mein Kinder-Herz schlug für die Neu-Bauern, weil sie sich gegen alle Widerstände der Neuen

Zeit verpflichtet fühlten – wie unsere Eltern, der Neu-Lehrer Heinz Köbschall und seine nicht

minder tapfere Frau Liselotte.

In späteren Jahren klagte Bernhard Quandt einmal, daß er der einzige Kommunist im Güstrower

Landratsamt gewesen sei: Die aktiven Faschisten waren natürlich raus, aber viele Mitläufer und

die ideologisch Belasteten waren alle noch da. Sollte heißen, er war der einzige, der sich aus voller

Überzeugung für die Umwandlung der Verhältnisse abrackerte.

Im Landkreis Güstrow gab es prozentual die meisten “Junker“. Vor Bernhard Quandt stand die

Aufgabe, Boden und Besitz von einhundertvierundsechzig Gütern in kürzester Zeit an Bedürftige

zu verteilen. Juristisch und vermessungstechnisch halbwegs korrekt.

Als die Bodenreform noch eine Erfolgsgeschichte war, wurden von der Ostsee bis nach Sachsen

viele Legenden gewoben. Ihr Held aus Mecklenburg hieß Bernhard Quandt.

Eine dieser Stories, oder Läuschens, wie die Norddeutschen sagen, berichtet, daß der junge Politiker

sich von den Landarbeitern in Tellow überreden ließ, auch einem Gutsbesitzer die Urkunde

über sieben Hektar Land auszuhändigen. Die ehemaligen Landarbeiter, nun Bauern auf eigenem

Boden, wollten ihn als Verwalter einsetzen, um sich das Bürokratische vom Hals zu schaffen.

Wenig später traf ein anonymer Brief in Güstrow ein: Der “Verwalter“ arbeite nicht wie alle anderen

auf dem Feld. Er habe noch keinen einzigen Handschlag getan. Quandt fuhr hin und fand

161


den Beschuldigten zu Hause. Schlafend auf dem Sofa.

Kraft seines Landratsamtes forderte er die Bodenreform-Urkunde zurück. Er wies den Mann

mit Frau und Tochter und dem, was zwei Pferde ziehen konnten, aus dem Ort.

Bei der Aktion stellte sich heraus, daß der Verwiesene einen Sack Salz gehortet hatte. Das rare

Salz war in den Nachkriegsjahren kostbarer als Gold, weil lebensnotwendig.

Quandt ließ die Neubauern Schüsseln holen, verteilte das Salz und soll zu dem Gemaßregelten

gesagt haben: “Fünf Pfund sind für Sie und alle anderen haben nun auch Salz. Erst jetzt ist die

Bodenreform beendet.“ –

Ein Tag, um den viele Legenden kreisen, ist der 27. September 1945 in Bredentin, einem Dorf

nahe Güstrow. Dort begann die Bodenreform, als Bernhard Quandt den ersten Pfahl für die

erste verteilte Parzelle in den Acker schlug.

Publizistischer Auftakt zu allem, was folgte. Der Überlieferung nach hatte ein sowjetischer

Offizier dem Jungpolitiker geraten, sich den Klerus – in Gestalt der Dorfpfarrer – mit einem

guten Essen angenehm zu machen. So geschah es.

Der nächste Rat des Offiziers: Lassen Sie ein Foto für die Zeitung aufnehmen und alles wird gut,

alles wird leichter.

Das Foto wurde gemacht. Es erschien in der Zeitung und war über die vier Jahrzehnte der DDR

das optische Symbol für die Bodenreform in Lexika und Geschichtsbüchern. Auch mein

Gedächtnis hat es bewahrt.

Während ich an diesem Text arbeitete, schickte mir ein alter Freund, der Tänzer und Choreo-

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graph Fritz Dallmann, einen Brief mit der Bitte, ich möge als Fachfrau auf seine beigelegten

Kindheitserinnerungen gucken.

Ich las: Nach der Flucht aus Stettin, im April 1945, landete das neunjährige Kind mit seiner Mutter

in Mecklenburg. Sie waren mit dem Treck in Güstrow angekommen. Dort war keine Bleibe

mehr zu finden und sie schlugen sich nach Bredentin durch, weil sie in der Nähe Verwandte und

Bekannte wußten.

Die Gutsherrin in Bredentin bot Mutter und Sohn Quartier in ihren Räumen an. In kluger Voraussicht

der sich wandelnden Verhältnisse, lehnte die Mutter ab. Sie zogen in freigeräumte Kammern

bei Nachbarn und blieben dort bis zum Winter; später konnten sie in Güstrow ein Zimmer

mieten.

Kind Fritz war umgeben von jeglichem Elend der Nachkriegszeit. Gewalt und Vergewaltigungen.

Typhus. Läuse.

Er betrachtete alles, was um ihn herum geschah, mit der Aufmerksamkeit eines kleinen wachen

Menschen. Schafeschlachten, Feldarbeit, Nachbarzwist. Er lernte fürs Leben.

Als es wieder Unterricht gab, wurden die Kinder aller Altersgruppen in einem Raum versammelt.

Der Lehrer hatte ein Holzbein.

Am 27. September, als Bernhard Quandt den historischen Pflock einschlug, saß Fritz Dallmann

mit anderen Kindern aus Bredentin auf dem Rain und guckte zu. Seine Mutter meinte später, ihr

Sohn sei am Feldrand auf einem der Fotos deutlich zu erkennen ...

Freund Dallmann und ich sprachen und sprechen – wir kennen uns seit Anfang der neunziger

163


Jahre – oft über Thomas Mann, über die neuere deutsche Literatur, über die Situation des Balletts

in Wuppertal oder über die Qualitäten des neuen Dirigenten an der Mailänder Skala. Auch

gerne über Kulinarisches. Über Bodenreform – nie!

Etwas über das Leben von Bischof Tolzin, wie er bei Manfred Müller geschrieben wird, zu erfahren,

schien schwierig. Nichts Verwertbares im www.

Warum, fragte ich mich, amtierte ein Landesbischof in der Dorfkirche von Basedow?

Nachdem ich seinen korrekten Namen – Gerhard Tolzien – aufgespürt hatte, konnte ich im

Bestand der Schweriner Landesbibliothek Hinweise auf den Mann finden, war ihm aber nicht

wirklich auf der Spur.

Ich rief bei der Kirchenzeitung an und bat um Hilfe. Die Kirchenzeitung verwies mich an das

Landeskirchliche Archiv: Am Dom 2, Schwerin.

Wohlvertrauter Ort am Kreuzgang des Doms. Über ein Jahrhundert lang war hier die Landesbibliothek

beheimatet. Von unserer Wohnung in der Apothekerstraße nur ein paar Schritte

entfernt. Mit Beginn der siebziger Jahre, als ich Schwerinerin wurde, war der Lesesaal auch mein

Refugium. Zum Recherchieren. Zum Nachdenken. Zum Blättern in den altehrwürdigen handgeschriebenen

Bandkatalogen. Zum Schreiben.

Seit die Landesbibliothek vor einigen Jahren in ihr neues Domizil an der Stellingstraße zog, war

ich nicht mehr dort.

Die im Frühjahr rosa überschäumte Japanischer Kirsche im Winkel zwischen Westflügel und

164


Dom steht an ihrem Platz. Die alte Tür ist geblieben. Man muß jetzt klingeln, um eingelassen

zu werden. Der innere Eingangsbereich modernisiert. Das vertraute Gemäuer behauptet seine

Atmosphäre: Rechercheeifer und Gelassenheit zugleich.

Ich zeige einer Mitarbeiterin des Archivs mein Zettelchen mit den Informationen, die ich mir

inzwischen in der Bibliothek herausgepickt hatte. Sie nickt: Haben wir im Bestand.

Verschwindet und kommt mit einer Karteikarte wieder. Unter T5 Personalakten ist vermerkt:

Tolzien, Gerhard Wilhelm Helmut Adolf Theodor.

Ich bekomme auf meinen Wunsch eine Kopie der Karte. Verweise auf Literatur, auf den Historiker

Willgeroth. Der Lebenslauf Tolziens in dürren Daten. Hinweise zum Archivbestand.

Nun habe ich etwas in der Hand, kann es lesen. Aber ich verstehe es nicht.

Was Tentamen pro lic. conc. bedeuten könnte, finde ich weder mit Hilfe von Wörterbüchern,

dem Internet, noch meinem Latein-Dictionary heraus.

Ich mache eine Kopie von der Kopie und schreibe meinem alten Lateinlehrer Doktor Christian

Rothe, der uns in Grevesmühlen unterrichtete, daß ich mit meinem Latein am Ende bin.

Schon am nächsten Tag ruft er an.

Er erläutert mir, daß die lateinische Bezeichnung das Erste Theologische Examen benennt. Auch

die anderen Begriffe und Abkürzungen kann er mir übersetzen. Er klärt mich auf, daß “D.“ kein

Kürzel für einen Vornamen ist, wie ich vermutete, sondern die Bezeichnung für den Ehrendoktor

der Theologie.

Vor allem bringt Doktor Rothe mich religionsgeschichtlich wenig Bewanderte auf die entschei-

165


dende historische Spur. Landesbischof Tolzien ging nicht freiwillig von Neustrelitz nach Basedow.

Es wurde 1933 aus dem Amt gedrängt.

Den Hintergrund für die Auseinandersetzungen um Bischof Tolzien bildet der sogenannte “Kirchenkampf“

während der Naziherrschaft. Er bezeichnet die Auseinandersetzungen zwischen

den Deutschen Christen, die sich auf die Seite der neuen Machthaber schlugen und den Bekennenden

Christen, denen die Treue zum Evangelium weiter als oberstes Gebot galt. Nicht die

Unterwerfung unter das staatliche System der Nazis.

Die Pastoren der Bekennenden Christen weigerten sich zum Beispiel, christlich getaufte Juden

vom Kirchenalltag auszuschließen.

Doktor Rothe nennt Namen, die mir seit Kindheit vertraut sind: Dietrich Bonhoeffer. Martin

Niemöller. Den Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt setze ich in Gedanken dazu.

Nach dem Gespräch mit meinem Lateinlehrer erschließt sich mir der Hinweis auf der Karteikarte

des Landeskirchlichen Archivs: Zu Tolzien gibt es in unserem Archiv einen kleinen “Nachlaß“

(siehe unter “Kirchenkampfnachläss“).

Ich bitte, Tolziens Nachlaß einsehen zu dürfen. Ein paar Tage später steht im Lesesaal des Archivs

ein grauer Karton für mich bereit. Ich öffne ihn mit Herzklopfen. Voller Ehrfurcht lese

ich die handschriftlichen Exegesen des jungen Kirchenmannes, seine Vorbereitungen auf die

Predigten. Schmale Hefte in ebenmäßiger, ästhetisch schöner Schrift.

Tolziens Nachlaß wurde von seiner Frau Martha Anfang der fünfziger Jahre dem Archiv übergeben.

Ein Großteil besteht aus Kopien. Die Kopien wurden mit der Hand abgeschrieben, manche

166


existieren als Duplikat auf der Schreibmaschine. Die Originale blieben vermutlich im Familienbesitz.

In Klaber bei Güstrow wurde Gerhard Tolzien im Februar 1870 geboren; sein Vater arbeitete

dort als Pastor. (Jenes Klaber, durch das ich bei meinen Fahrradausflügen von Kuchelmiß nach

Teterow fuhr.)

Über Tolziens Schulzeit ist nichts vermerkt. Mit 23 Jahren legt er das besagte Tentamen ab, die

erste Hürde auf dem Weg zum Pastor. Nach weiteren vier Jahren seiner Ausbildung wird er

Prädikant in Klaber. Prädikant bedeutet, daß er predigen darf, aber noch kein anerkannter Pastor

ist. Stationen als Hilfsprediger in anderen, kleineren Gemeinden folgen. Neunzehnhundert

tritt Tolzien seine erste Pastorenstelle in Grevesmühlen an, fünf Jahre später die in Pinnow bei

Schwerin.

Zeitzeugen sagen über ihn, daß ihn eine eminente formale Begabung auszeichne… Ihm ging

der Ruf eines hervorragenden Predigers voraus. Wo er die Kanzel bestieg, sammelte sich eine

zahlreiche Gemeinde.

Mit einundvierzig Jahren kommt Tolzien als Domprediger nach Schwerin. 1916 wird er als Landessuperintendent

und Konsistorialrat nach Neustrelitz berufen. Bald danach erhält er in Rostock

den Ehrendoktor der Theologie verliehen. Ab jetzt steht das “D.“ vor seinem Namen.

Ab 1921 bekleidet er das Amt des Landesbischofs von Mecklenburg-Strelitz. In Gerhard Tolziens

Amtszeit hauchte das Kaiserreich seinen Geist aus, die Weimarer Republik installierte sich. Mit

der neuen Verfassung wurde die Trennung von Kirche und Staat vollzogen – per Gesetz.

167


Daß sie praktisch, verwaltungstechnisch und für die Betroffenen halbwegs akzeptabel vonstatten

ging, lag innerhalb seines Wirkungsbereiches in Tolziens Verantwortung.

In der “Kirchengeschichte von Mecklenburg-Strelitz“ steht, wo es um die Oberaufsicht über die

Schulen geht: Die erste Verbindung hat Landesbischof Tolzien gelöst, indem er die Küster von

der Pflicht des Kirchendienstes befreite. Die Kinder in den Dörfern mußten ja trotz Machtwechsel

und Kompetenzverlagerung weiter unterrichtet werden!

Über die mehr als anderthalb Jahrzehnte Tolziens als Landesbischof ist in den Akten kaum

etwas vermerkt. Wahrscheinlich hat er einfach anständig seine Arbeit gemacht.

Dann heißt es: “Aus verschiedenen Gründen, zu denen persönliche Mißhelligkeiten kamen, erbat

er, nachdem er schon einige Zeit beurlaubt war, zum 1. August 1933 um seine Pensionierung.

Landtagspräsident und Kirchentagsabgeordneter Franz Gundlach, Postamtmann a. D. beschreibt

dieselben Vorgänge so: Ich muß sagen, nichts hat mich in meinem Leben mehr erschüttert, als

Zeuge sein zu müssen des Kampfes gegen die Person des Landesbischofs Tolzien. Bei der

Erinnerung an diese Dinge befällt mich ein Abscheu und ein Grausen.

Kurze Zeit nach dem Regierungsantritt des Führers Adolf Hitler erschien Probst H. in meiner

Privatwohnung und trug mir folgendes vor: Staatsminister St. habe den dringenden Wunsch,

daß Landesbischof Tolzien von der Stelle seines Wirkens verschwinde und in den Ruhestand

trete, und daß Tolzien auch nach seine Emeritierung nicht mehr als Prediger wirke.“

Gundlach berichtet, daß der Probst das Parteiabzeichen der NSDAP trug und mitteilte, daß auch

Reichsstatthalter und Gauleiter Hildebrandt diesen Wunsch teile.

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Gundlach wird gedrängt, bei Tolzien vorzusprechen und ihm nahezulegen “auf eigenen Antrag“

aus dem Amt auszuscheiden. Gundlach läßt sich nicht drängen. Bei der Abstimmung enthält er

sich. Später, noch zu Nazizeiten, bedauert er, nicht gegengestimmt zu haben.

Tolzien wehrte sich gegen seinen Rausschmiß. Er suchte Beistand bei den Kirchenoberen in

Berlin. Vergebens.

In einer Mischung aus Intrige, Untertanengeist und charakterlicher Niedertracht von Leuten im

Bischofsamt, die bei den neuen Machthabern Morgenluft und für sich Karrierechancen wittern,

wird Tolzien seines Amtes enthoben. Immer wieder, auch schriftlich, beteuerte er, daß er nicht

freiwillig ging.

In dieser Situation bot Friedrich Karl Hahn von Basedow dem Landesbischof a.D. an, in der Kirche

des Ortes, die unter gräflicher Obhut stand, zu arbeiten. Tolzien sagt zu, die Kirchenoberen

bewilligten es.

Auf diese Weise wurde Gerhard Tolzien Pastor in Basedow.

(Manfred Müller resümiert 1989: Heute kann man fragen, ob Friedrich Karl Hahn von Basedow

auch ein Mann des Widerstandes war…)

Trotz des in der Amtsenthebung festgelegten Rede-Verbotes gelang es Gerhard Tolzien, in Neustrelitz

eine Abschiedspredigt zu halten.

Der Rostocker Anzeiger schreibt am 19. September 1933. “So viele waren am Sonntag gekommen,

daß das große Gotteshaus überfüllt war. Von den vielen, die immer seine Hörer waren

(kam J.S.) eine nicht enden wollende Schar, die von dem weit über die Grenzen des Landes und

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als hervorragenden Redner anerkannten Landesbischofs Abschied nehmen wollten. (…) Die Abschiedsstunde

ist aus. Vor dem Gotteshaus steht die Gemeinde und kann sich nicht entschließen

zu gehen. Mancher reicht dem Seelsorger die Hand und gar viele stehen mit Tränen in den

Augen.“

In den Akten, bei Tolziens Nachlaß, liegen zwei Mitteilungen der Mecklenburgischen Politischen

Polizei aus dem Jahr 1934.

Eine an den Landessuperintendenten: Soeben wird mir mitgeteilt, daß der frühere Landesbischof,

jetziger Pastor zu Basedow, am Montag, 12. Februar, in den Stadthallen in Schwerin

eine Kundgebung veranstaltet unter dem (ungefähren) Thema ’Die Deutschen Christen’. Bei der

Einstellung des Herrn Tolzien scheint es sich nicht gerade um eine Sympathiekundgebung zu

handeln. Ich bitte, die Kundgebung zu verbieten.

Die andere an den neuen Landesbischof: Die Politische Polizei übersendet ein Traktat ’Heimatklänge’,

enthaltend zwei Ansprachen des früheren Landesbischofs Tolzien, mit der Bitte um

Stellungnahme. Diese Traktate werden zur Zeit in großen Mengen in kirchlichen Kreisen

verbreitet. Die Politische Polizei glaubt, die angestrichenen Stellen beanstanden zu müssen und

beabsichtigt, die Broschüren zu beschlagnahmen.

Dank des Landeskirchlichen Archivs kann ich mir ein Foto von Gerhard Tolzien ansehen.

Es zeigt ihn als Landesbischof. Im vollen Ornat, mit dem Bischofskreuz an der Kette. Ernst, mit

wachem Blick guckt er in die Kamera. Ein intelligentes Gesicht. Lachfältchen in den Augenwinkeln.

170


Bernhard Quandt war zweiundvierzig, Gerhard Tolzien fünfundsiebzig Jahre alt, als sie sich in

der Basedower Kirche begegneten. Sie hätten Vater und Sohn sein können. In Anspruch und

Courage, ehrenhaft für ihre Sache zu streiten, waren sie sich ähnlich. Ebenbürtig in der Kunst

der Rede. Bei aller Unterschiedlichkeit: Zwei Brüder im Geiste.

Das Sonnenlicht blendet, als wir aus dem schattigen Kircheninnern nach draußen kommen.

Eine Amsel wippt auf der Friedhofsmauer, eine zweite pickt einen Regenwurm aus dem Gras. Im

Schatten der beiden hohen Tannen liegt eine vergessene Kinderschaufel auf dem Weg.

Manfred Müller berichtet in seinem Buch, daß Quandt, weil ein Jubiläum der Bodenreform anstand,

noch einmal – von hohem politischem Personal umgeben – in der wiederum voll besetzten

Basedower Kirche erschien. Zuvor habe er einen Gang über den Friedhof gemacht. Zur Verblüffung

der ihn begleitenden Nomenklatura und des jetzigen Pastors empörte er sich darüber, daß

man das Grab von Bischof Tolzien, er war im Februar sechsundvierzig gestorben, verwahrlosen

lasse. Mit harschen Worten forderte er die unverzügliche Instandsetzung des Totenmals. –

Einen Moment schwanke ich, ob ich Frau Ehrenamtlich nach Tolziens Grab frage. Es ist Friderico

und mir nie vor Augen gekommen. Ich lasse es, warum sollte ich sie in Verlegenheit bringen;

vielleicht haben wir das Mal aus Unkenntnis einfach nicht bemerkt.

(Das Grab von Gerhard Tolzien und seiner Frau Martha ist erhalten. Ich entdecke es ein paar

Jahre später auf einem Foto der Internetseite über Friedhöfe in Mecklenburg.)

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Auf dem Weg zum Schloß sehen wir schon von weitem: Die Restaurierung macht Fortschritte.

Etliche Gerüste sind gefallen.

Friderico entdeckt Porträt-Medaillons aus Terrakotta an den Giebeln. Frauen und Männer in

der üppigen Haartracht der Renaissance. Durchs Fernglas betrachtet, scheinen sie denen am

Schweriner Schloß identisch und gleichen auch dem Schmuck am Fürstenhof in Wismar.

Im Park hat die Zeit die meisten Wunden der neuerlichen Umgestaltung geschlossen. Kaum

noch eine Chance für unverhoffte Bodenfunde. Das Blattwerk der Bäume beginnt sich zu färben.

Der Park atmet spätsommerliche Ruhe.

Aus alter Gewohnheit gucken wir in den Konsum. Alles wie gehabt.

Nur die mittägliche Männerrunde ist verschwunden. Der Hohe Rat, der die Geschicke des Ortes

besprach, hat sich aufgelöst. Kein Parlando am Dorfteich mehr.

Ein behelmter Radfahrer richtet seine Trinkflasche. Zwei Schuljungen sitzen auf der verwaisten

Bank und wetteifern, wer seinen Kaugummi zwischen den Zähnen am allerlängsten ausdehnen

kann…

Im Ort herrscht Aufruhr. Ein “Betreiber“ will eines der Wirtschaftgebäude zu einem Restaurant

umfunktionieren, zu einem Steak-House. Neue Türen und Fenster wurden eingesetzt. Das Dach

gedeckt. Viel Geld ist geflossen, durchaus gepaart mit baulichem Sachverstand. Kleinteilige

Fenster, dezente Farbgebung. Kein Fremdkörper im Dorfensemble. Nur sehr neu eben. Das wird

sich mit ein bißchen Grün ringsum verwachsen.

Einen fast lebensgroßer Bulle aus Metall, wohl den Verwendungszweck und Stärke symbolisie-

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rend, hat man vor dem Eingang platziert. Oder deplatziert. Neben seinen Hufen ragen elektrische

Kabel aus dem Beton. Das Gebäude sieht bezugsfertig aus, ist aber ungenutzt.

Parolen auf Spruchbändern, alten Laken. Sie hängen vor der verschlossenen Eingangstür und vor

den Fenstern. Ungelenke Schrift, nichts professionell Vorgefertigtes: Das ist unser Steak-House

Basedow! – Frau XY (ein Doppelname) es wird Zeit, daß Sie ihren Hut nehmen und gehen!!!-

Ein anderes Plakat teilt mit: Kein Steak-House – keine Wahlbeteiligung.

Wer hier wem droht, können wir nicht enträtseln. Wir fragen im Alten Schafstall nach, so heißt

die Einrichtung neben dem zentralen Parkplatz. Eine Mischung aus Café, Touristeninformation

und Hofladen für regionale Produkte. Keramikbecher, Würste, Sanddornsaft.

Wir wissen nichts! empört sich die Frau hinterm Verkaufstresen. Hier sagt keiner was! Nur

Gerüchte. Nichts Genaues weiß man nicht.

Die Kellnerin, sie hatte gerade der Gruppe laut vergnügter Ausflügler eine Ladung Kaffeetassen

an die Tische gebracht, kommt dazu.

Eröffnet war noch nicht, sagt sie, aber kurz davor. Angeblich stimmt was mit der Baugenehmigung

nicht. Das soll jetzt vor Gericht geklärt werden.

Sind Sie denn dafür, daß das Steak-House geöffnet wird? frage ich. Es könnte ja auch eine Konkurrenz

sein.

Klar, antworten beide im selben Tonfall und wie aus einem Mund: Bringt Gäste her.

Die Frauen lachen über ihr Duett. Wir lachen auch.

Ich kaufe ein Gläschen Honig, Kartoffeln und einen Blumenkohl. Obwohl das alles um den halben

173


See getragen werden will, wie Friderico seufzend bemerkt.

Rückweg also. Am Neu-Schloß vorbei. Es prangt in wohlbekannter Scheußlichkeit und gehört

dem Herrn R. aus Hamburg – dem gehört jetzt alles hier…

Ach ja, Bodenreform. Gescheiterter Vorstoß ins Reich der Gerechtigkeit. Der Salto mortale rückwärts

hat längst stattgefunden. Die wirkliche Macht im Staat, nun auch in seinem annektierten

Osten, gehört wieder dem Geld. Denen, die es besitzen.

Mein Land geht in den Westen.

Krieg den Hütten, Friede den Palästen. (…)

Mein Eigentum, jetzt habt ihrs auf der Kralle.

Wann sag ich wieder mein und meine alle.

So paraphrasierte Dramatiker Volker Braun Anfang der Neunziger Jahre in seinem Gedicht

“Das Eigentum“ den Dichter Georg Büchner.

Die rückübertragenen Schlösser fungieren abermals als Herrschaftszeichen. Burg Schlitz, Schloß

Schorssow, Basedow demonstrieren es. Eine neue Bodenreform wird nicht stattfinden. Das Rad

der Geschichte ist zurückgedreht.

Aber den Mut der Unbestechlichen, die wagen, das Tor zum Reich der Gerechtigkeit aufzustoßen,

wird es immer geben. Auf andere Weise. In anderer Zeit. So sicher wie das Amen in der

Kirche.

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Auf dem Rückweg lassen wir uns bei der Basedower Höhe auf der Böschung nieder. Den Malchiner

See im Blick verzehren wir den Rest vom Proviant und werden Zeugen, wie sich einige

repräsentative Vertreter der modernen mobilen Gesellschaft begegnen.

Ein Kleinwagen rauscht herbei, stoppt scharf und stellt sich uns gegenüber auf einer Ausweichfläche

des Radwegs ab. Rasch und synchron steigt ein äußerst sportives Pärchen um die Fünfzig

aus dem Auto. Sie eilen zum Kofferraum. Schnallen sich Skate-Bretter unter, Schutzhelme über

und sausen davon.

Sie huschen an einer sehr alten, zarten Dame vorbei, die ihr Rollwägelchen vor sich hin schiebt.

Von rechts und links und von links nach rechts betrachtet sie das Rundum. Freut sich der

Landschaft und des Lebens. Als sie näher kommt, grüßen wir. Vergnüglich blinzelt sie aus den

Augenwinkeln zurück.

Sekunden später zerknattern Motoren die Stille. Eine Horde Hells Angels rammelt vorbei.

Wir beenden unser Freiluftmahl, überqueren die Straße nach Malchin. Zurück unter die Bögen

der Kastanienallee, zurück in das Schweigen der Bäume.

Vom See rauschen Wolken aus Staren heran. Gewaltige Wolken. Sie beschatten das Feld. Sie

teilen, trennen, vereinigen sich. Sie teilen die Luft wie ein Fischschwarm das Meer. Rollern und

Kollern kündigt sie an. Donar hat sie in seinen Dienst gestellt.

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Kulinarisch:

Außen:

Salzkartoffeln mit Blumenkohl und Schinkenröllchen

Gurken-Kraut-Salat

Grießpudding mit Rosinen, dazu frische Pflaumen

Zweitausend Arbeiter demonstrieren für den Erhalt ihrer Werften als Schiffbaubetriebe:

Keine Waffen. Keine Windräder.

Das mit dem Beil des Amokläufers malträtierte Mädchen ist außer Lebensgefahr.

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ZEHNTER TAG

Samstag, 19. September

Mein Schlaf ist ein Schnellboot. Es stoppt. Ich stürze kopfüber. Ins Helle. Ins Wasser. Ins Wache.

Sechs Uhr zwanzig, sagt mein Zeitgefühl. Sechs Uhr fünfundzwanzig zeigt der Wecker.

Friderico, im Tiefschlaf, liegt eingerollt auf der Seite. Atmet leicht und leise wie ein Kind.

Ich schleiche aus dem Zimmer, auf die Terrasse. Frührot am Osthimmel, vom trudelnden Weidenlaub

gelb gesprenkelt. Noch keine Sonne. Sanftes Dämmerlicht. Blattgewisper in den Zweigen.

Alle Vöglein schweigen.

Ich hole meinen Krams, setze mich nach draußen und verfasse, lange hinausgeschoben, meine

obligatorischen Ansichtskarten. An Irmgard, an Annemarie, an Inge.

Von jedem Ort, an dem ich länger weile, schreibe ich ihnen. Auch zu Ostern (nur ihnen) und

zum Jahreswechsel. Ich melde mich, damit sie wissen, daß ich an sie denke und – ein wenig

eigennützig – damit sie mich in ihrem Denken behalten. Die Ansichten sind mit Bedacht ausgewählt.

Das erste Kärtchen, eine Aufnahme vom Hechtbrunnen in Teterow, geht an Irmgard Wegner in

Wismar. Ich bin sicher, daß sie die norddeutsche Schildbürger-Geschichte kennt.

Tante Irmi ist meine Patentante, die Frau des Mutterbruders Joachim. Als ich sprechen lernte,

nannte ich ihn Akki. Der Name blieb an ihm hängen.

Das Paar wußte, daß es keine eigenen Kinder bekommen würde und verwöhnte mich an Kindes

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statt mit Ausflügen und Theaterbesuchen.

Sie stellten mich nach einem Konzert im Theater der Werftstadt Wismar dem Tenor Helge Roswaenge

vor, mit dem sie befreundet waren. Daß er Däne war, erfuhr ich erst viel später, auch von

seinen umstrittenen Verbindungen während der Nazizeit.

Auf Tante Irmis Wunsch sollte ich vor ihm einen Knicks machen. Eine Geste, die meine Eltern

für überholt und spießbürgerlich hielten. Der Sänger lobte die kleine Artigkeit der Fünf- oder

Sechsjährigen und bewunderte ihre blonden Ringellocken. Alle freuten sich.

Ich hielt es für unwahrscheinlich, daß der schwitzende alte Mann in der Garderobe derselbe

war, den ich vorher auf der Bühne mit großen Gesten als Postillion von Lonjumeau hatte agieren

sehen. Sein Gesang machte offenbar keinen besonderen Eindruck auf mich.

Irmi und Akki verdanke ich die ersten Besuche auf der Insel Poel, den Anblick der Ostsee. Und

Fotos von den gemeinsamen Ausflügen.

Joachim Wegner, im Hauptberuf Buchhalter der Wismarer Fischerei-Genossenschaft, war wie

sein Vater, mein Großvater Karl, ein ambitionierter Photographierer.

Auf dem Flur der Neubauwohnung im Vorort Wendorf hatte sich Onkel Akki zum Entwickeln

der Filme eine eigene Dunkelkammer eingerichtet. Ich sah zu, wie sich im Fixierbad weißes

Papier in schwarzweiße Fotos verwandelte. Die fertigen Exemplare durfte ich mit einer Pinzette

zum Trocknen herausfischen.

Irmgard Wegner arbeitete als Sekretärin in der Zuckerfabrik der Stadt.

Die Rüben wurden auf den Feldern der Umgebung geerntet. Der Rohrzucker kam – noch

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unraffiniert – aus Kuba im Hafen an. Tante Irmi schwärmte für Fidel Castro und alles Kubanische.

Dreimal flogen Irmi und Akki in den sechziger Jahren auf die Insel der Freundschaft.

Sie besuchten Zuckerrohrplantagen, sie organisierten Patenschaftsbeziehungen zwischen einer

Kubanischen und einer Wismarer Brigade. Von ihren Reisen brachten die beiden bizarre Muschelschalen

und Schneckenhäuser mit, die ich neidvoll bewunderte.

Tante Irmi hat mir auch meine Sehnsucht nach China eingepflanzt. Ihr Bruder war in den fünfziger

Jahren als Sportler oder Sportfunktionär dort. Er schenkte ihr ein blaues Täßchen und

Figürlein, die das Wegnersche Bücherregal zierten und in mir die Vorstellung weckten, das ferne

Land sei das Reich der Schönheit an sich.

Seit Kindertagen gratuliert mir Tante Irmi zu jedem Geburtstag. Immer. Selbst, wenn sie mit

dem ungeliebten Anrufbeantworter reden muß. Und tschüß! beendet sie jedes Gespräch. Sie

nennt mich Kindchen und mein Juttalein.

Irmgard Wegner lebt schon lange allein. Krankheiten und Altersbeschwerden setzen der über

Achtzigjährigen zu. Sie kann kaum noch das Haus verlassen. Manchmal, ganz selten, klagt sie

mir am Telefon ihr Leid. Ich höre ihr bereitwillig zu. Wer wirklich leidet, darf es auch sagen.

Ich höre beklommen zu. Tante Irmi ist die letzte Verwandte aus der Generation vor mir. Wenn

sie geht, werde ich die Älteste sein.

Die zweite Karte stammt aus der Galerie am Kamp in Teterow. Foto von einer Keramik-Ausstellung

vor zwei Jahren. Sie ist für Annemarie bestimmt, Annemie genannt. Die Frau von Fridericos

älterem Bruder Ferdinand.

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Ein paar Monate nachdem Friderico und ich uns erkannt hatten, war ich zu Lesungen in Dresden

unterwegs. Friderico gab mir eine Adresse in der Gohrischstraße und schickte mich ohne vorherige

Ankündigung zu Bruder und Schwägerin. Die beiden nahmen die Unbekannte, die plötzlich

vor der Tür stand und von deren Existenz sie bis dato keinen Schimmer hatten, herzlich auf

wie eine langjährige Freundin.

Als Junge, in den vierziger Jahren, war Ferdinand an Kinderlähmung erkrankt. Eine gefürchteter

Virus, der in mehrjährigen Intervallen grassierte. Die Polio-Schluckimpfung gab es noch

nicht. Bei vielen Kindern blieben lebenslange Lähmungen zurück. Ferdinand konnte nach seiner

Genesung den rechten Arm nicht mehr bewegen.

Annemie glich durch selbstverständliche Hilfereichung und mit so fröhlicher, inniger Hinwendung

sein Handicap aus, daß es gar nicht vorhanden schien.

Fridericos Bruder war Abteilungsleiter eines großen Dresdener Industrie-Kombinates. Auf den

Schweriner hatte über die Jahrzehnte der unvergleichliche Slang der sächsischen Stadt abgefärbt.

Ferdinand sagte schon in den siebziger Jahren zu Friderico: Hein, (Fridericos norddeutscher

Ökelname) jeden Morgen, wenn ich uffwache, wunder ich mir, daß der Laden no loft. Der Laden

meinte seinen Betrieb und meinte die DDR.

Der belesene Ferdinand, länderkundig und reiselustig, starb in den achtziger Jahren an Krebs.

Die Reise-Freiheit, seine und fast aller Ostbürger große Sehnsucht, hat er nicht mehr erlebt.

Nach seinem Tod, nach seiner Beerdigung, war Annemie für uns verschollen. Sie reagierte auf

keine Post, sie ging nicht ans Telefon. Über Umwege vergewisserten wir uns, daß sie lebte.

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Wir lernten, den Schnitt zu akzeptieren. Mit Ferdinand war für sie mehr als eine Welt untergegangen

– zwei Welten.

Nach einer Zeit, die uns endlos schien, kam ein Brief über den Stand der Dinge in der Gohrischstraße.

Die Oberfläche der Wunden war vernarbt. –

Die Premieren-Tour mit Andreas Dresens Film “Wolke 9“ im Herbst 2008, schleuderte das Team

in wenigen Tagen von Ost nach West, von Nord nach Süd. Zu den Aufführungen waren die

drei Hauptdarsteller mit von der Partie: Die Schauspielerin Ursula Werner, Horst Westphal und

Friderico. Ich durfte auf Butterbrot mit dabei sein und habe in diesem Schnellkurs viel übers

Film-Business gelernt.

Die Tour brachte uns auch nach Dresden. Der Terminplan war eng gestrickt, erst am Abreisetag

fand sich Zeit für eine Tasse Kaffee mit Annemie.

Punkt zehn Uhr, so verabredet, betrat sie das Foyer des Nobel-Hotels: Das blaue Kostümchen

mit dunklem Revers saß wie angegossen. Perfekt frisiert, perfekt geschminkt. Noble Schuhe mit

halbhohen Absätzen. Selbstbewußte Haltung, die Wachheit und Lust an der Situation signalisierte.

Eine Dame von Welt. Eine Erscheinung!

Annemie erzählte von ihren Reisen, von ihren Konzertbesuchen. Vom Kulturklatsch der Stadt.

Eine echte Dresdenerin und eine echte Vertreterin der Pracht Dresdens, wie eine Gemäldeausstellung

vor Jahrzehnten hieß.

Manierlich grüßend und nicht ganz unabsichtlich kam bisweilen einer der jungen Filmleute

vorbei. Welcher Jahrgang? fragten sie ungläubig, als Annemie wieder entschwebt war.

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1923 geboren? Fünfundachtzig? Man glaubt es nicht!

Das dritte Kärtchen geht an Inge. Auch eine Ansicht, aber keine vom jetzigen Aufenthalt. Eine

mitgenommene. Sie zeigt das Foyer der Hamburger Thalia-Bühne.

Inge, gebürtige Cottbuserin, war jahrzehntelang Inspizientin am Schweriner Theater. Von dort

kennen wir uns.

Was während der Probenwochen vor der Premiere erarbeitet wird, notiert der Inspizient, die

Inspizientin. Er oder sie hält jede Änderung, jede scheinbare Winzigkeit, von einem Tag auf den

nächsten fest, damit sie reproduzierbar wird.

Die Auftritte der SchauspielerInnen, die Szenen-und Lichtwechsel, die Umbauten, den Einsatz

von Licht und Ton, von Zügen und Versenkungen wandelt der Inspizient in Zeichen, an denen

sich alle an der Aufführung Beteiligten orientieren.

Wenn es irgendwo hakt, geht die erste Beschwerde oft an den Menschen hinter dem Inspizientenpult.

Für diese Profession, braucht man Einfühlvermögen, höchste Konzentrationsfähigkeit

und Nerven wie Drahtseile.

Inge ertrug die Aufgeregtheiten auf der Bühne und der Regieteams mit unerschütterlicher

Gelassenheit. Wurde ihr in der Arbeit Unrecht getan, wußte sie sich zu wehren. Meist mit einer

gehörigen Portion Humor.

Bei vielen der legendär gewordenen Schweriner Inszenierungen stand Inge hinter dem Pult:

Bei der mehrstündigen Aufführung von Faust Eins und Zwei. Bei der Aufsehen erregenden Dramatisierung

von Franziska Linkerhand nach dem Roman von Brigitte Reimann.

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Beim Antike-Projekt Anfang der Achtziger mit mehreren Inszenierungen an einem Abend:

Agamemnon, Iphigenie, Troerinnen…

Ohne Inge ging doch gar nichts, resümierte rückblickend ein gemeinsamer Freund.

Durchaus gesellig, hat Inge ihr Leben lang für sich gelebt; autonom. Wohl aber als Mitglied der

Theater-Familie. Als Teil des Stalls, wie der Mimen-Slang die Bühne respektlos tituliert.

Arbeit in wirklich guten Ensembles bedeutet mehr als Teamwork. Es geht um Wesentliches,

bei jedem Stück aufs Neue. Wer erfinden will – und seien es ungewohnte Sichten auf eine Figur –

muß an Grenzen gehen. Schonung oder Rückzug sind nicht möglich. Konflikte müssen ausgetragen

werden.

Es gibt Krach. Es gibt Tränen. Verzweiflungsanfälle und Wutausbrüche.

Und wenn es doch gelingt – die Szene, der Akt, das Stück – stellt sich Genugtuung ein. Und

Spaßßß. Mit mindestens drei Schlußlauten, wie Lehrmeister Brecht es sprach. Befreiende Heiterkeit.

Der Mensch am Inspizientenpult sieht und schweigt, denkt sich sein Teil und wartet, daß die

Probe weiter geht…

Jetzt ist Inge schon lange Rentnerin. Und wer raus ist, ist raus. Da retten die Besuche der Generalproben

und die vorweihnachtlichen Einladungen ins Haus nichts. Die Bindung durch Arbeit

ist vorbei.

Mit der Straßenbahn, wenn wir zufällig beide in der Stadtmitte einsteigen, haben Inge und

ich ein paar Stationen den gleichen Weg. Schnell-Talk in Linie Zwei. Knappester Meinungs-

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austausch über Inszenierungen, Theater. Übers eigene Befinden und Menschen, die wir beide

kennen.

Irgendwann sagte Inge, als ich an meiner Haltestelle ausstieg: Könntest mir auch mal wieder `ne

Karte schreiben, du Schriftstellerin!

Seitdem mache ich das. Und sie antwortet mit Kärtchen: Witzig, manchmal bissig, in einer beneidenswert

markanten und ebenmäßigen Handschrift. Es müssen, das hat sich so ergeben,

unbedingt Kärtchen sein, Briefe wären ein Regelverstoß. –

Friderico erscheint mit dem Morgenkaffee auf der Terrasse. Der Morgendunst über dem See

hat sich aufgelöst, die feinen Streifen sind gen Himmel gezogen. Spätsommerliche, sanfte Bläue.

Es wird schon warm.

Heute nur eine kleine Wanderrunde, beschließen wir beim Frühstück: Über die Dorfmitte von

Bristow in Richtung Glasow. Dort rechts in den Feldweg nach Neu Panstorf einbiegen. Nach

etwa der Hälfte der Strecke, hinterm Kahlen Berg, nach Wendischhagen herunter, dann die vertraute

Strecke nach Bristow retour.

Meine drei Ansichtskarten werfe ich in den gelben Kasten neben dem Sportplatz. Und einen Brief

an Gisela, die Architektin, mit der wir in Cottbus unter einem Dach lebten. Die Post plumpst ins

Leere. Außer mir scheint niemand diese Mail-Box zu nutzen. –

An de Bäk heißt ein Stückchen Straße in Bristow. Auf dem Weg nach Glasow bedeutet sie einen

kleinen Umweg, aber dafür geht man still für sich, jenseits der Hauptverkehrsstraße.

Die Bäk führt in eine Senke, an einen umzäunten Tümpel vorbei. Gänse schnattern und zischen

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uns an.

Rechterhand ein unauffälliges Anwesen, vielleicht aus den zwanziger, dreißiger Jahren. Vor dem

einstöckigen Haus der herkömmliche Garten mit Buchsbaum, Löwenmaul, Akelei. Rosenstöcke.

Kartoffeln, Möhren, Bohnen stehen im Nutzgarten. Tomaten. Obstbäume. Dill wächst.

Das Haus hat zur Südseite eine kleine Terrasse. Bei schönem Wetter residiert dort eine alte, keine

sehr alte Frau im Rollstuhl, eine Decke über die Knie gebreitet. Sie sieht gelassen aus. Nicht

krank oder leidend. Wenn wir vorbeigehen, grüßen wir.

Auch heute. Ob sie uns sieht, ob sie uns hört – wer weiß. Sie hat noch niemals reagiert.

Schweigend hält sie ihr ernstes Gesicht zur Sonne. Sie sitzt und sinnt und ist da.

Zum Anwesen gehört ein Gebäude, halb Stall, halb Scheune. Nichts Besonderes. Betonsockel,

Bretteraufbau, zweiflügeliges Tor. Ein Blickfang trotzdem. Jemand hat alles Holz mit sanftem

Blau gestrichen. Himmelsblau.

Eine Sonnenblume, Stockmalven und rosa Dahlien an der rechten Seite vor der Hütte runden

den Anblick ab. Wein rankt zum Dach herauf. Die graue Abfalltonne bildet keinen Schandfleck,

sie vervollkommnet das Bild am linken Rand. Wer für so viel Harmonie um eine schlichte

Scheune sorgt, dem ist wohl auch die alte Frau im Rollstuhl keine Last.

Ein Mensch mit Hund überholt uns. Ein Mann mittleren Alters. Schlabberhosen mit Beintaschen.

Bequemes Shirt. Der Hund – ein Mischling. Schlanke Statur, schon bejahrt.

Sie trotten, durch die lockere Leine verbunden, in solch einvernehmlichen Gleichmaß vor uns

her, daß ich unwillkürlich denken muß: Gut, daß sie einander haben. Urplötzlich sind sie wieder

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verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Vielleicht hat Herrchen Hund in die leinenlose

Freiheit entlassen.

Hinter dem Ortsausgangsschild von Bristow wachsen Eichen entlang der Straße. Auf der Böschung,

zu ihren Füßen, stehen Milchlinge. Sie gelten in der Fachliteratur als ungenießbar.

Friderico, der Pilzkenner, hat sie als Delikatesse in unser kulinarisches Repertoire eingebracht:

Über Nacht wässern. Wasser wegkippen, noch mal ein paar Stunden wässern, dann abkochen

und wie frische Pilze verwenden. Am köstlichsten schmecken sie süßsauer mit Zwiebeln, Knoblauch

und Pfeffer eingelegt. Ein Muntermacher.

Die Eichenmilchlinge bleiben stehen. Die Zeit, die uns im Bootshaus bleibt, reicht nicht mehr

aus, sie sachgerecht zu verarbeiten.

Bevor Glasow beginnt, gibt es rechterhand ein altes Werkstattgelände. Ein Flachbau. Große

Fenster, kleinflächig zusammengesetzt, die oberen Segmente aufklappbar.

Stäbe, Rollen und Metallgestrüpp lagern im Innern, ein paar Bretter. Durch die Außenrahmen

gesäumt, wirken die Fenster wie Gemälde eines Konstruktivisten – meldet sich Herr Picasso in

meinem Hinterkopf.

Glasow ist ein eher unscheinbarer Ort. Keine Kirche. Kein Schloß. Die Dorfmitte ein grasbewachsener

Platz. Haltestelle für den Schülerverkehr. Ein Fußballtor. Ein meterhohes Gerüst mit

rot gestrichenem Autoreifen. Da können kleine Spieler Zielen lernen.

Alle Wege, die den Platz umrunden heißen “An den Eichen“, die dahinter auch. Eine Anlage, die

ein landwirtschaftliches Gut gewesen sein könnte, am Ende des Dorfes. Eine hohe, sehr geräu-

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mige Scheune, ihr Dach zerfällt.

Wir biegen nach rechts in den Wendischhäger Weg ein. Am Ende der Straße wird gebaut. Große

Grundstücke. Fast fertige Häuser von beträchtlichen Ausmaßen.

Schön sind sie nicht, meint Friderico, teuer bestimmt. Noch stehen Betonmischer vor den unbefestigten

Auffahrten. Wasserschläuche kringeln sich. Kabelgewirr.

Nach der letzten Baustelle fängt gleich Landschaft an. Unbefestigte Wege. Ich polke mit dem

Taschenmesser einen Stein mit Seeigel-Partikel-Abdruck aus dem Sand. Kein wirklicher Fund.

Ein Erinnerungsstückchen für das Fossilienglas zuhause.

Unmittelbar hinterm Dorf, am Kleinen Glasower See, parken ein Mini und ein Geländewagen.

Im Autoschatten liegt ein Schäferhund und hechelt. Die Sonne demonstriert mit voller Kraft,

wie sie noch im September heizen kann.

Die sommerliche Luft umschmeichelt Philemon und Baucis. Labsal für den Corpus, Labsal für

die Seele. Gleichzeitig, tief innen, regt sich Bangigkeit vor dem, was unaufhaltsam kommen wird.

Der Winter, die Kälte. Dunkelheit. Alter und Tod.

Dichter Rilke taucht in meinem auswendig gelernten Lyrik-Reservoir auf. Herr: Es ist Zeit. Der

Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren und auf den Fluren laß die Winde

los… beginnt er seinen Herbsttag. Ode an die Vergänglichkeit.

Um den Wendischhäger Weg liegen noch alle Winde an der Leine. Kein Lufthauch, der sich rührt.

Am Horizont erscheint schweres Gerät. Bearbeitet den schon umgebrochenen Acker. Die kahlen

Felder bilden schönen Vordergrund und schönen Hintergrund. Zum Grün der ferneren, dunklen

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Waldstreifen. Zum Strahleblau des Sommerhimmels.

Anschwellende, abschwellende Hügel. Sanfter Schwung der Endmoränen. Braun-Grau des umgepflügten

Ackers. Das Ebenmaß der Bodenstruktur, maschinengeschaffen. Solitäre Eichen breiten

ihre Prachtkronen aus. Vielleicht ist er doch der allerschönste weit und breit, dieser Sandweg

hinter Glasow.

Die Rohrweihe gibt Laut. Kurz und prägnant. Drei Bussarde segeln im Aufwind vorm Wald.

Friderico zückt sein Fernglas und guckt ihnen beim Fliegen zu.

Am Wegrand läßt sich ein Kleiner Fuchs auf einer Blüte vom Natterkopf nieder. Oder ist es doch

eine Ochsenzunge?

Die Schmetterlinge Großer Fuchs und Kleiner Fuchs können wir zuverlässig voneinander unterscheiden.

Bei den beiden Pflanzen sind wir immer wieder im Zweifel.

Noch mal zuhause nachgucken, meint Friderico gelassen. Wir lernen das nie, denke ich,

schlucke den Satz aber unausgesprochen wieder runter. Vielleicht verhindert der semantische

Gleichklang der Bezeichnungen, daß sie nicht im Gedächtnis hängen bleiben. Es ärgert mich

– ein bißchen.

Entlang der Strecke, bevor der Wald beginnt, liegen zwei, drei einzelne Höfe. Sehr einsam. Am

Rande der Felder, die sie umschließen. Wahrscheinlich erhält sich unsere Gehspur nur, weil sie

noch existieren.

Auf den Anwesen wird gebaut. Mit bescheidenen Mitteln. Vor Jahren begegnete uns hier ein

junger Mensch, der eine Schubkarre mit ausgeputzten Ziegelsteinen vor sich her stemmte.

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Als er bei seiner Ein-Mann-Baustelle ankam, liefen Schafe neugierig auf ihn zu. Ein Bild aus dem

neunzehnten Jahrhundert.

Die stattliche Feldscheune erscheint in unserem Blick. Was sie in ihrem Innern bergen mag, weiß

ich nicht. Sicher kein Getreide mehr. Was Besitzer oder Besitzerin vom Zustand ihrer Scheune

halten, weiß ich auch nicht. Ihr Außen, wie es sich den Wandernden mit der breiten Seite

präsentiert, ist mir bei jedem Näherkommen eine Augenfreude.

Säuberlich aus Ziegelsteinen gemauert – ein Teil der Wand. Daneben quadratische Betonbausteine,

grob strukturiert und versetzt übereinander gebaut, daß sie ein Karo-Muster ergeben. Den

größten Teil der Mauer bedecken Holzlatten, von vielen Wettern grau gegerbt. Ein Stück Wellblech

nebenan. Auch das Dach mit Wellblech gedeckt. Unter ihm, wo wohl einst die Regenrinne

hing, eine Parade heller Schellen. In der Nachmittagssonne wirft das Dach scharfe Schatten auf

die Mauer. Man könnte eine Sonnenuhr installieren.

Die Scheune bleibt zurück. Wir tauchen in den Hohlweg ein. Schlehen, Heckenrosen und

Holunder. Der Weg steigt hügelan.

Rechterhand eine Ausbuchtung, eine Fläche von wenigen Quadratmetern, ausschließlich von

Pflaumenbäumen überschattet. Ein grüner Dom. Feldsteine vor den Wurzeln.

Willkommener Rastplatz. Ein Stückchen Schokolade essen. Den mitgenommenen Tee trinken.

An gar nichts denken. Wie als Kind im Moment zuhause sein.

Kindheit ist kein Paradies. Die eigene nicht und niemandes frühe Jahre. Alles ereignet sich zum

erstenmal, alles heftig. Kummer, Triumph, Selbst-Erfahrung. In jeder Phase neue Konflikte.

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Leuchtmale der Erinnerung bleiben aber doch.

Friedrichshagen. Ich sitze auf der Wiese hinterm Garten unter den beiden hohen Birnbäumen.

Ich bin vier oder fünf Jahre alt. Meine Mutter, die ganz kleine Schwester Sabine im Kinderwagen

neben sich, arbeitet im Garten. Ich sehe sie nicht, ich spüre ihre Gegenwart.

Das Gras, in dem ich sitze, ist angenehm kühl und feucht. Die Sonne scheint. In ihrem Licht

betrachte ich die blonden Härchen auf meinem Unterarm und spüre zum erstenmal: Ich bin.

Ich existiere. Ich bin ich und vollkommen einverstanden mit allem ringsum. Mit den Birnbäumen,

mit der Mutter in Rufnähe, den Grashalmen. Und ich bin vollkommen einverstanden

mit mir. Ein seltenes Bei-sich-Sein, im Nachhinein wohl Glück genannt.

Bei dieser Rast hält mich der Glasower Pflaumenhain geborgen. Seit Kinderzeit vertraut: Der

gärige Geruch von verwesenden Früchte auf dem Boden. Um den Stein, auf dem ich hocke, krauchen

Asseln. Zwischen zwei abgestorbenen Ästen webt eine Spinne ihr Netz. Stille.

Die Stille zerstiebt. Motorengeräusch. Wir kehren auf den Hauptweg zurück. Ein Mann und eine

Frau kommen auf je einem Buggy heran gebullert.

Martialisch sehen sie aus. Oberkleider wie Panzer. Dicke Helme. Ufos auf vier Rädern.

Als sie uns bemerken, drosseln sie das Tempo und nicken freundlich. So bleibt die Störung moderat.

(Zuhause lese ich, daß es diese Fahrzeuge mit und ohne Straßenzulassung gibt. Wahrscheinlich

sind es solche “ohne“, die auf unseren Wegen um den Malchiner See rattern.)

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Das Waldstück nimmt uns auf. Laut Karte bewegen wir uns zwischen zwei Hügeln, die Ostberg

und Kahler Berg heißen. Beide über Hundert Meter hoch – für diese Schweiz schon achtbar!

Arschkerben-Berg heißt einer von ihnen im Volksmund.

Im Wald steht die Luft. Brütende Hitze. Der Boden mit Kiefernzapfen übersät. Mit Kienäppeln,

wie die Mecklenburger sagen. In der tiefen Stille hören wir das leise Knacken, mit dem sich ihre

Schuppenschildchen öffnen, damit die Samen herausspringen können.

Oma Emma, die Vatermutter, hat mir beigebracht, wie man vorsichtig erste Frühlingsblüher in

die Öffnungen steckt: Schlüsselblumen, Veilchen, Hahnenfuß. Ein Bogen aus Riedgras kommt

darüber. Der Kienappel wird über Nacht ins Wasser gelegt. Seine Schildchen schließen sich wieder

und am nächsten Morgen hat man ein kleines Körbchen in der Hand. Diese Körbchen bekamen

die Eltern zu Ostern geschenkt. –

Auf einer Lichtung liegt ein Haufen Steingeröll; gegenüber lagert ein Bauwagen, dem sein Fahrgestell

abhanden gekommen ist. Anstelle des Fensters guckt ein rechteckiges Loch in die Gegend.

Auf seinem Platz unter den Kiefern, ein wenig schräg, ein wenig in die Erde gesunken,

sieht das Fahrzeug aus, als wäre dies seit immer schon sein angestammter Ort. Oder als sei es

hier geradewegs aus dem Boden gewachsen.

Die Tür, aus Holz gezimmert, was für ihr bemerkenswertes Alter spricht, steht offen. Einladung

zum Besuch. Ich spähe hinein. Das Innen fast leer.

Eine Waschschüssel aus Aluminium in der Ecke. Schrubberbürste daneben. Eine zusammengelegte

Plane. Kein Gerümpel oder Müll.

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Man könnte hier verweilen. Ein

Dach über dem Kopf, Wasser aus

der Senke holen. Viel, viel frische

Waldluft…

Es wird wieder laut. Zwei Jungen

auf Speedway-Rädern, Marke Eigenbau,

kommen auf die Lichtung.

Sie halten an, mustern uns, drehen

um, fahren weiter. Nach zwei Minuten

sind sie wieder da. Gucken.

Gucken uns ziemlich mißtrauisch

an. Aber einer nickt uns sogar etwas

wie einen Gruß zu.

Es sind ganz junge Jungen, flaumbärtige,

soweit man das unter ihren Helmen erkennen kann. Sie tuckern ein Stückchen vor die

Lichtung und warten dort. Sie warten darauf, daß wir gehen und zwar möglichst bald.

Wir haben schon kapiert – der Wagen ist ihr Domizil, ungebetene Gäste nicht erwünscht.

Friderico betrachtet demonstrativ einen Kieferngipfel mit dem Fernglas an und tut kund, daß er

sich auch nicht gleich von jedermann vertreiben läßt.

Wir trollen uns. Die Jungen starten ihre Mobile, inspizieren mit einer kurzen Runde ihr Terrain,

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dann preschen sie in Richtung Glasow den Hügel herab. –

Nach dem Wald macht der Weg einen scharfen Knick und führt uns, immer entlang der Telegrafenmasten,

auf die Straße nach Wendischhagen herunter. Hier ist der Hohlweg wieder befahrbar.

Ein Trecker und ein Kombi kommen uns entgegen. Sie wirbeln enorme Sandwolken auf.

Wir quetschen uns in die Hecke, der Staub berieselt uns doch.

Wo die beiden Wege auf einander treffen, befindet sich ein Gatter, der Zugang zur Weide für

Mensch und Kuh. Gleich daneben ist ein bejahrter rostiger Wasserwagen stationiert. Ein paar

Eimer davor. Tröge.

Die schönäugigen Vierbeinerinnen trinken gerade nicht. Ein paar trotten auf der Horizontlinie

dahin. Die anderen haben sich dekorativ auf der Weide verteilt und schenken uns keinerlei Beachtung.

Auf der Anhöhe kurz vor der Straße tut sich die Rundum-Sicht auf. Man kann die Landschaft

weit überblicken, bis hin zur Basedower Höhe. In der Mitte der Ansicht die lange Rinne mit

dem Malchiner See. Das Wasser glitzert in der Nachmittagssonne. Boote sind unterwegs. Bunte

Broschen auf blauem Samt.

Wo auf den Feldern gearbeitet wird, ziehen endlose Staubfahnen hinter den Geräten her. Gen

Westen ist Remplin zu erahnen. Das Malchiner Misch-Futterwerk mit seiner Front aus hohen

Silotürmen begrenzt den Blick.

Eigentlich hat man von hier die allumfassendste Überschau. Wir machen trotzdem einen Abstecher

zum Aussichtsturm. Er steht auf der Hälfte des Weges zwischen Wendischhagen und

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Bristow, fast am Ufer des Sees. Weiden, Weißdorn und Erlen zu seinen Füßen. Brombeerranken

werfen ihre Schlingen. Viel Schilf zum Wasser hin.

Rikes Bootshaus ist ganz nah, aber unsichtbar. Es liegt hinter einer Landzunge verborgen.

Auf dem Turm, eigens zum Zwecke der Naturbetrachtung und zur Förderung des sanften

Tourismus erbaut, wird der Wanderer über geologische Gegebenheiten und die regionalen Brutvogelarten

informiert.

Einhundertsechsundfünfzig sollen es sein, was mir ein wenig hoch gegriffen scheint.

Graugänse, Saatgänse, Gänsesäger, Kraniche, um bei den größeren Tieren zu bleiben. Auch die

Rohrdommel ist aufgeführt. In den achtziger Jahren haben Friderico und ich sie in der Nähe von

Schwerin zum letzten Mal gehört.

Im Kindheitsdorf Friedrichshagen gehörte ihr dumpfer Laut zum frühen Jahr dazu. Wir empfanden

ihn in seinem ewigen Gleich-Ton, besonders abends, eher belästigend als erfreulich.

Wir kannten die Stelle am Teich, wo die Rohrdommel stand, immer nur eine. Farblich gut getarnt

zwischen den Schilfrohren. Ein gefiederter Pfahl auf Beinen mit Schnabelspitze.

Friderico guckt mit dem Fernglas in die Runde. Da ist er! ruft er begeistert.

Wer?

Mein Adler! Der Seeadler!

Plötzlich läßt der Mime das Glas sinken und mokiert sich über das “blöde, rohe Volk“ bei Schiller

und seine Auslassungen über “den Adel des Geistes“.

Ich glaube zwar, meinen Schiller ganz gut zu kennen; zwischen den beiden Begriffen einen Ver-

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gleich zu ziehen, ist mir noch nie in den Sinn gekommen. Auch weiß ich nicht, ob ich Friderico

recht geben oder widersprechen soll. Ich fühle mich überrumpelt, brubbele Hm-aha.

Was den Vortragenden nicht weiter stört. Ich höre, via Bristow dem Monolog höflich und beflissen

zu. Er endet so unvermittelt, wie er begonnen hat. Gehen setzt Gedanken frei. Mitunter

über Schiller. –

Wieder in Bristow machen wir einen Schlenker zum Birnbaum hinter den Neubauten. Die kleinen

festen Früchte schmecken, wenn man sie in Rotwein kocht, einfach köstlich. Ich finde eine

Handvoll Birnen, die nicht verfault, von Würmern zerfressen oder von Vögeln angepickt ist,

verstaue sie im Rucksack und trabe zur Straße zurück.

Japsen hinter mir. Das Japsen kommt näher. Blick zurück: Zwei Hunde setzen mir nach.

Ich hatte sie gesehen. Auf dem Grundstück beim Marstall, hinter dem offenen Tor. Große,

schwere Tiere. Keine Rasse, die ich kenne. Kampfhund, klickt mein Hirn.

Sie hecheln in großen Sätzen hinter mir her. Sie werden mir in den Rücken fallen. Gleich bin ich

hin.

Nein. Nein. Nein. Ich bezwinge den Fluchtreflex. Renne nicht weg, wende mich um. Ein Hund

ist zurück geblieben. Der andere direkt vor mir. Er setzt zum Sprung an. Ich hole mit dem Gurt

aus und schleudere ihm meine Kamera entgegen.

Er steht. Ich stehe. Gräßliches Belauern. Alle meine Sinne verweigern ihren Dienst.

Friderico war vorgegangen, schon am hangenden Falada vorbei. Plötzlich dreht er sich um, als

hätte er meinen stummen Hilfeschrei gehört.

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Hol die Töle da weg! brüllt er mit Stentorstimme.

Ich sehe einen Mann am Marstall. Er macht keine Anstalten, den Hund zurückzurufen.

Du sollst die Töle wegholen, donnert Friderico über den Platz.

Nach einer ganzen Ewigkeit setzt der Typ sich in Bewegung. Er zieht das Tier am Halsband weg.

Der andere Köter trottet mit.

Warum hast du mich nicht gerufen, fragt Friderico. Mitfühlend zwar, mit leichtem Vorwurf

doch.

Antworten kann ich nix, ich kann mich nur am Sportplatz auf die nächste Bank fallen lassen.

Die Knie zittern. Der Kopf konstatiert: Gerettet. Er weinerlicht: Ich kann nicht mehr! Anflug von

Erleichterung: Gottseidank, daß es Mimen mit geschultem Stimmorgan gibt.

Ich fühle Blicke im Rücken. Der Mann steht jetzt mitten auf der Straße. Breitbeinig.

Er taxiert uns. Lederhose und Trachtenjoppe. Auf der Dorfstraße in Bristow – die Karikatur

eines Bayern.

Na komm, drängt Friderico sacht. Oder willst du Wurzeln schlagen.

Eine Taube steigt flügelklatschend auf. Es riecht nach Gegrilltem. Meine Finger sind klebrig vom

Birnensammeln. Die Sinne kehren zurück.

Aus der zweiten Tür des Altneubaus kommt ein Mann mit Wäsche im Plastekorb. Er trägt ihn

zu den Leinen hinterm Haus. Ein Täuberich gurrt. Spatzen nehmen im Sand ein Bad.

Die drei Altehrwürdigen sitzen beim Abendschwatz auf ihrer Bank. Sie gucken uns wie heimkehrenden

Kindern entgegen und nicken einen Gruß. Als wären sie erleichtert, daß das sonder-

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bare Wanderpaar wieder heil nach Hause fand.

NACHSATZ: Als ich in Schwerin die entwickelten Bristow-Bilder abhole, ist eine seltsame Aufnahme

darunter. Ein Tier, das einem Hirsch ähnelt. Massiver Körper, riesige Geweihstangen.

Verwackeltes Foto. Bei dem Versuch, die Hunde zu vertreiben, hat sich die Canon selber ausgelöst.

Die “Geweihstangen“ sind die Tragegurte der Kamera.

Kulinarisch:

Außen:

Matjes nach Hausfrauenart mit grünen und gelben Bohnen, Bratkartoffeln

Pikante Sellerie-Scheiben mit Zwiebelringen

Holundergelee mit Eierlikör

Joschka Fischer wird Umweltberater bei BMW!!

Ein Berliner Therapeut vergiftet zwei Menschen seiner Klientel.

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ELFTER TAG

Sonntag, 20. September

Guck mal, sage ich zu Friderico und halte ihm die Wanderkarte hin. Von Bristow nach Bülow. In

Bülow zum See runter. Von Bülow über den Feldweg nach Carlshof, von da zurück nach Hause.

Friderico nickt und macht ausnahmsweise überhaupt keine Einwände.

Bristow ist leer, als wir zu unserer Sonntagsrunde aufbrechen. Ein Mensch auf dem Anger. Ein

Junge von zehn Jahren. Er sitzt auf seinem Fahrrad, mit einem Fuß stützt er sich auf die Sportplatzbank

vorm Taubenhaus. Seine Angel hat er an der Stange vertäut. Er fummelt einen Brotköder

zurecht. Offenbar wartet er auf etwas oder irgendwen.

Ich simuliere Pilze suchen am Rand des Fußballfeldes, manchmal stehen da Sommersteinpilze,

und nähere mich auf Sametpfoten dem Angler.

Tach, sage ich. Was fängt man denn hier so?

Barsch, Hecht, Fieten…Aal, antwortet er bereitwillig, aber von meiner Neugier eher peinlich

berührt.

Hast schon mal ´n Hecht gehabt? hake ich nach.

Stolzes Nicken.

Und? Rausgekriegt?

Klar!

Er schwingt sich auf den Sattel, würdigt mich keines Blickes mehr und fährt seinem Kumpel

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entgegen, der aus Richtung Feldsteinscheune herbei radelt.

Eigentlich wollte ich ihn noch fragen, was Fieten sind. Nun bleibt das Rätsel ungelöst.

Ich war ihm ohnehin viel zu geschwätzig.

Einen typisch norddeutschen Dialog belauschten wir Ende der neunziger Jahre in Teterow. Ich

war zu Lesungen eingeladen. Friderico konnte mich begleiten.

Stadtgespräch und regionale Mediensensation war ein Boot, vor Jahren oder Jahrzehnten im See

versunken. Jetzt lag es frisch geborgen am Ufer des Teterower Sees.

Das muß man einfach gesehen haben, meinte die Bibliothekarin.

Wir machten uns also auf den Weg. Wirklich: Ein bizarrer Anblick!

Das Boot war über und über mit Miesmuscheln bedeckt. Ein graubrauner, schuppiger, feuchter

Pelz. Nie hatte ich so viele Miesmuscheln nebeneinander, untereinander, übereinander gesehen.

Um das Boot herum werkelte jemand. Gummistiefel, Friesenpelz, Wassereimer.

Nach einigen Minuten erschien ein Mann auf dem Fahrrad und stoppte ab.

Tach! grüßte er.

Tach, die Antwort.

Offensichtlich kannten sie sich. Der Ankömmling guckte dem anderen beim Werkeln zu. Wortlos

beide. Nach einer stummen Viertelstunde schob der Zugucker sein Rad an und fuhr davon.

Tschüß ok, verabschiedete er sich.

Tschüß. Das Gespräch war beendet.

Das geborgene Boot lag damals nahe einer Anlegestelle. Von dort setzt sommers eine Barkasse

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zur Burgwallinsel über. Wunderbare Blicke auf die Stadt und den See öffnen sich. Am Ufer

baden Kinder. Ganz unversehrt und heil scheinen hier an hellen Tagen Land, Luft, Wasser und

Natur.

Auf der Insel kann man ein altes Ausflugslokal besuchen, auch Zimmer mieten. Im Mittelalter

siedelten Slawen. Sie verbanden die Insel durch eine siebenhundertfünfzig Meter lange Holzbrücke

mit dem Festland. Ein architektonisch perfektes Bauwerk, lobt das örtliche Touristenbüro sein

vergangenes Kleinod. Ohne einen Nagel!

Auf dem Inselchen sind Wege zum Spazieren angelegt. Wenn Menschen keine Geräusche machen,

hört man nichts als Wasserplätschern und Vogelstimmen. –

Sonntagsruhe auch in der Bristower Dorfmitte. Den Kirchhof umzingeln parkende Wagen.

Für einen Gottesdienst ist es zu spät. High noon lange vorbei.

Aus der Kirche kommen festlich gekleidete Menschen. Sie sind heiter. Plaudern und Schwatzen.

Kein Gelärm. Die Amsel schreckt trotzdem auf und flieht keckernd auf die Grabkapelle der

Bassewitzer.

Die Gesellschaft steht noch ein wenig herum. Junge, Alte, Kinder. Ein Familientreffen?

Ein Gedenktag?

Gemächliches Schlendern über den Friedhof. Handyfotos werden geschossen. Ein Mädchen

mit Schleife im Haar trägt einen gescheckten Zwergspitz auf dem Arm wie eine Trophäe.

Mit den Schlendernden geht ein hochgewachsener dürrer Mann. Weißes Hemd, schwarzer

Anzug; viel zu weit geschnitten. Der Stoff schlackert um seine mageren Glieder. Der Dürre bleibt

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stehen. Er sieht zu mir herüber. Er sieht mir in die Augen. Fordernd und lange. Ich halte seinem

Blicken stand. Fest, ganz fest.

Herr Sensenmann wendet sich um. Für diesmal ist er abgewehrt.

Plötzlich, ohne erkennbares Zeichen, gehen alle zu ihren Autos. Türenklacken. Das Geschwader

rauscht davon. Leer liegt der Kirchhof im Mittagslicht.

Die Stille kehrt zurück. Man hört den Flügelschlag der Tauben, die vom Marstall auffliegen.

Friderico will am Gebäude entlang, den kürzeren Weg nach Bülow einschlagen. Ich möchte

lieber eine Kurve machen. Nicht schon wieder an den Tölen vorbei.

Neben der Chaussee, gleich hinter dem Ortsausgang, steht ein hölzernes Erinnerungszeichen

für einen Verunglückten. Am Kreuz ein Plasteschildchen mit den Lebensdaten. Herr Scherzer

wurde im Jahre neunzehnhundertachtundvierzig geboren und starb neunzehnhundertzweiundneunzig,

wenige Tage nach seinem vierundvierzigsten Geburtstag. Auf glatter Straße.

Rechts dehnt sich ein abgeerntetes Maisfeld bis zum Waldrand. Jedesmal, wenn wir im September

vorbeikommen, dehnt sich ein abgeerntetes Maisfeld bis zum Waldrand. Der Bio-Sprit, die

Gasanlagen, fordern ihren Tribut.

Auf dem Maisfeld, auf der höchsten Bodenwelle, erhebt sich ein Paar. Grus grus. Zwei Kraniche.

Ihre roten Scheitel leuchten in der Sonne.

Unbeeindruckt vom Verkehr rasten im Herbst und Frühjahr Hunderte, Tausende, der großen

Vögel neben vielbefahrenen Straßen. Nur wenn die Zweibeiner aus ihren Kisten kriechen,

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machen sie sich majestätisch, mit weitem Flügelschlag davon.

Dieses Paar steht kaum dreißig Meter entfernt. Sie äugen aufmerksam, aber sie fliehen nicht vor

uns Fußgängern.

Die kennen uns, flappst Friderico.

Wir sehen das Vogelpaar nicht zum erstenmal. Vor Jahren hielten sie sich dort mit zwei Jungen

auf, sonst mit einem. Auf dem abgeernteten Feld findet sich noch reichlich Mais, den Appetit zu

stillen.

Als Kind, bevor ich bewußt Kraniche in der Natur wahrnahm, kannte ich die Fama von Sadako

Sasaki, dem japanischen Mädchen. Sie sollte auf Rat einer Freundin Tausend Kraniche aus

Papier falteten. Wer tausend Origami-Vögel gefaltet hat, so heißt es nach einer alten japanischen

Legende, dem erfüllen die Götter einen Herzenswunsch.

Sadako bat die Götter um Gesundung. Um Kraft, ihre Erkrankung, eine Leukämie, zu überwinden.

Sadako besiegte die Krankheit nicht und starb mit zwölf Jahren.

Sie war ein Opfer der amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im

August 1945. Ein Opfer von Hunderttausenden.

Als Zehnjährige kannte ich Fotos und Filme vom Bombardement auf die Städte. Furchterregende

Fotos: Verbrannte, verkohlte Menschen. Schwarze Schatten aus Asche.

Der Tod des japanischen Mädchens bewegte meine Eltern. Ihr Sterben bekümmerte mich, die

zwei Jahre jüngere. Die Legende von den Kranichen spendete Trost.

Der Kranich avancierte zum Symbol der Friedensbewegung in den westlichen Ländern. Zum

202


Symbol des Widerstands gegen Atomkriege.

Vor fünfzehn Jahren wurde für Sadako Sasaki ein Denkmal errichtet. In Seattle, im Bundesstaat

Washington. Dort werden Origami-Kraniche abgelegt wie an anderen Gedenkstätten Blumen

oder Kränze.

Über die Jahrzehnte fühlte und fühle ich Unbehagen, wenn das japanische Kind ein tapferes

Mädchen genannt wird. Beim Anblick des Kranichpaares auf dem Bristower Maisfeld weiß ich

plötzlich warum: Die Legende lenkt von den Schuldigen ab. Sie verlegt das Unheil ins Private.

Sadakos Krankheit war kein Unglück, gegen das man die Götter um Gnade anfleht. Ihr Tod war

das Resultat eines Verbrechens.

Jeder Krieg ist ein Verbrechen, denke ich laut.

Ja sicher, reagiert Friderico, nur leicht irritiert. Er kennt die Art meiner Gedankensprünge und

nimmt gelegentliche Spontansätze gelassen hin.

Von der Tessenower Höhe sind Kranichrufe zu hören. Das Paar auf dem Maisfeld horcht angespannt,

dann schwingen sie sich auf. Sie schließen sich wohl den großen Scharen an. Noch ein

paar Wochen, dann ziehen sie ins Südlichere und lassen uns mit der dunklen Zeit allein.

Ihrem ersten Trompeten im zeitigen Frühjahr folgt der menschliche Freudenruf: “Die Kraniche

sind da!“ Der Winter ist Vergangenheit.

Bülow liegt in einer Senke. Wenn man sich von Bristow oder Carlshof nähert, sieht man weder

Dorf noch See. Nur die Spitze der Backsteinkirche ragt zwischen Feld und Wald hervor.

203


Wir biegen bei der Bushaltestelle von der Chaussee nach links ab. Der Weg im Ort führt geradewegs

auf das Gutshaus zu.

Linkerhand ein Wirtschaftsgebäude, das wohl in früherer Zeit zum Gutshaus gehörte.

Gegenüber Einfamilienhäuser älterer Bauart. Viel Platz ringsherum. Rasen und Gemüsebeete,

dazwischen die einfallsreichen Zweckbauten der Hobby-Baumeister.

Ein Gewächshaus aus ausgedienten Glasflächen zusammengesetzt, durch Fensterkitt verbunden.

Die schräg eingesetzten oberen Teile lassen sich anklappen, damit Frischluft herein kann.

In der Lausitz nennt man diese Art Gewächshau “Kalter Kasten“, weil er ja, außer von der Sonne,

nicht beheizt wird.

Vor dem Treibhaus, in Reichweite des Wasserhahns, steht auf metallenen Füßen eine ausrangierte

Emaillebadewanne. Eine Holzplatte drüber gelegt. Einmal thronte dort eine blühende Sukkulente.

Ich erinnere mich, da ich sie fotografierte. Leider war ihr Abbild weit weniger beeindruckend

als das Original.

Ein Stückchen weiter, auf einem Holzklotz, mit runder Scheibe abgedeckt, hat jemand einen

Tonkübel voll leuchtend roter Geranien platziert.

Gießkannen stehen bereit. Eine ganze Parade von Gießkannen. Alte, verbeulte aus Aluminium.

Neuzeitliche aus grüner Plaste. Ein voluminöser blecherner Kochtopf. Wassereimer. Henkelbecher.

Mein gärtnerisches Auge registriert erfreut: Hier wird sorgsam mit der Kanne von Hand

gegossen. Ohne Schlauch.

Feuerbohnen kringeln die Stangen hinauf. Helle und violette Kohlrabi, im Wechsel gepflanzt,

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begrenzen die Reihen der Möhren. Eine Gerade aus Mangold, eine mit Rettichen. Das satte Grün

des Selleries. Gewirr aus Erbsen und Stützstrauch.

Übers größte Beet schlängeln Gurkenpflanzen. Unter ihren Blättern lugen ovale Früchte hervor.

Kleine, feste. Einleger heißen sie in Mecklenburg. Früher wanderten sie ins Gurkenfaß, heute

landen sie im Glas mit Schraubverschluß.

Ein paar gelbe Blütensterne zieren noch das Grün. Über dem Teppich der Cucumis-Blätter erhebt

sich mannshoch Dill. Seine Dolden sind fast ausgereift. Der würzige Duft weht zu uns auf

den Weg herüber.

Hm, seufzt Friderico, ich kriege Appetit.

Ein paar Schritte weiter, im nächsten Garten, steht ein besonders phantasievoller Eigenbau.

Eine Hütte aus Brettern und Platten. Vielleicht zwei Meter hoch.

Rundes Dach. Wellblech. Die Tür mit eisernen Scharnieren. Mittig darüber ein hölzernes Quadrat,

kreisrunder Ausschnitt. Vielleicht die Stelle, wo wohl eine Uhr ihren Platz hatte.

Das Innere des Häusleins ist nicht einsehbar. Raum für Vermutungen. Dient es als Quartier

für die Werkbank zum Basteln und Ausbessern? Ein Ort für die Winterruhe von Schubkarre,

Gartengerät, Rasenmäher, Gummistiefel?

Ein luftiger Anbau, auch mit Wellblech bedacht, schließt sich an. Aus Holzstreben und

Maschendraht errichtet. Auch die Tür, mit Riegel zu verschließen, so gebaut.

Jetzt steht der Anbau leer. Vielleicht dient er im richtigen Herbst, der noch kommen wird, als

Lagerplatz für Heu und Stroh. Falls hier Hühner gehalten werden. Oder Gänse, Kaninchen…

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Die fragilen Eigenbauten dienen Zwecken, sie nutzen den Erbauern, sie sind gerecht in Form und

Maßen, wie mein Neubrandenburger Freund Diethelm Jaeger dichtete. Sie zeugen von handwerklichem

Geschick. Sie sind Urtypen und Originale. Eigenwillig schön in ihrer Selbstverständlichkeit.

Mit einem Modewort kann man ihre Herstellungsart nachhaltig nennen. Alles was verbaut wurde,

war an anderem Ort, zu anderer Zeit schon einmal in Gebrauch.

Welche Empfehlungen Architekturstudenten für ihre künftigen Entwürfe bekommen, weiß ich

nicht. Ich würde sie unbedingt durch die Schrebergärten und Schuppenregionen schicken.

Neben dem wellblechbedachten Unikat verbringt eine alte Milchkanne aus Aluminium ihren

Lebensabend. Flacher Deckel, Tragegriff. Zehn Liter Fassungsvermögen.

So warteten die vollen Kannen dieser Art in den Fünfzigern auf dem Milchbock von Bauer Barß

in Friedrichshagen. Auf dem Treckeranhänger wurden sie nach Grevesmühlen, in die Molkerei,

transportiert.

Inzwischen sind solche Kannen zu begehrten Sammelobjekten avanciert. Das Bülower Exemplar

fungiert als Regenfaß. Neben ihm, seine Ranken erklimmen den Zaun, räkelt sich ein goldbäuchiger

Kürbis in der Sonne. –

Die Straße zum Gutshaus heißt “Am Hof“. Der Weg führt auf das Portal des Gebäudes zu. Vier

aus Backstein gemauerte, hell verputzte Säulen und ein dreieckiger Giebel erinnern, daß es einmal

einen Baustil Renaissance gab. Dieses zweistöckige Haus ist viel jünger. In seiner jetzigen

Gestalt stammt es wohl aus dem neunzehnten Jahrhundert.

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Putz bröckelt allüberall, an einer Seite liegen die Ziegel blank. Gewiß, es hat schon bessere Zeiten

gesehen. Verwahrlost wirkt es nicht. Es ist alt mit den Zeichen des Alters. Das Dach, immerhin,

neu gedeckt. Deutliches Signal – das Gutshaus wird nicht dem Verfall preis gegeben. Bewahrer,

mehr mit Courage als mit Geld ausgestattet, sind hier am wohl am Werk.

Zeichen menschlicher Anwesenheit gab es auch in den Vorjahren. Bepflanzte Blumenkübel vor

dem Haus. Eine Decke über die Bank vorm Eingang gebreitet. Hundegebell. Ein Körbchen mit

Wäscheklammern.

Auf dem Rasen neben dem Haus stehen alte weiße Gartenmöbel aus Metallguß. Schwer und verläßlich.

Runder Tisch. Drei Stühle. Ein Sessel. Ein zusammenklappbarer, hölzerner Liegestuhl

mit Stoffbezug komplettiert die Runde.

Die Sitzmöbel, ohne Kissen, Polster oder Auflagen sind einander zugewandt. Sie befinden sich in

einem immerwährenden Gespräch. Vielleicht führen sie Konversationen fort, die ihre Sitzgäste

begonnen haben. Oder sie haben eigene Meinungen und kommentieren, was vordem gesprochen

wurde. So wird man beim Vorübergehen Zeuge eines ununterbrochenen, für Menschenohren

unhörbaren Parlandos.

Die Bülower Gesprächsrunde gleicht in Aussehen und Charakter einer anderen, weit entfernten.

Paris, Rue Raynouard 47. Eiffelturm und Radio France erheben sich in Sichtweite.

In den Garten der Maison de Balzac liegt das Haus des Dichters Honoré de Balzac eingebettet.

Terrassen, gepflegter Rasen und Rabatten. Grüne Oase im Häusermeer..

Hier sind die Dialogpartner – Sessel aus Rohr, andere aus Metall – relativ mobil. Sicher kann

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man nachweisen, daß die Sitzmöbel von den Besuchern mal hier, mal dort platziert werden, um

Sonne oder Aussicht zu genießen. Doch der Gesprächskreis gibt durch seine Haltung zu erkennen,

daß ihm selber an Veränderung gelegen ist. Kontroverser Diskussionsstoff verlangt nach

Wechsel in den Positionen: Das Konzept der neuesten Ausstellung im Literaturhaus. Divergierende

Meinungen über die engelsschöne Asiatin, die alles Ringsum einzig durch die Linse ihrer

Handy-Kamera sah…

Nie versiegendes Thema: Was wäre gewesen, wenn es Meister Balzac doch gelungen wäre, mit

seiner Ananas-Zucht Money zu machen.

Eine norddeutsche Autorin läßt sich seit dem Jahre einundneunzig bei jedem Besuch im Eingangsbereich

ablichten. Sie posiert neben dem Plakat im Schaukasten. In derselben Geste wie der

wortgewaltige Dichter: Rechte Hand auf linker Seite, da wo das Herz schlägt. –

Um in Bülow an den See zu kommen, gibt es zwei Möglichkeiten. Gleich die Seestraße hinunter

oder mit einem kleinen Umweg durch die Allee. Wir nehmen die zweite Variante, übern Knüppeldamm

unter Kastanienbäumen. Verschwenderisch haben sie ihre Stachel-Früchte nach allen Seiten

geworfen. Die braunen Kugeln kullern an den Straßenrand wie Bonbons beim Rheinischen

Karneval.

Hinter der Allee biegen wir in den Feldweg ein. Er führt an einem weitläufigen Anwesen vorbei,

das wohl zum Pfarrhof gehört.

Hier haben wir mal einen Muli grasen sehen, sage ich zu Friderico.

Ne, widerspricht er vehement. Hier? Niemals.

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Da ich nicht sicher bin, ob mich Erinnerung narrt, widerspreche ich nicht. Zuhause in Schwerin

gucke ich bei den Fotos der Vorjahre nach: Das Maultier wurde abgelichtet! Braunes Fell, heller

Bauch.

Heute stolziert eine solitäre Krähe über den Rasen. Das Gefieder von Corvus frugilegus glänzt

metallic. Schwarzer Frack im Sonnenlicht.

Weiter durch lichten Laubwald hinunter bis zum See. In Ufernähe stehen einzelne Bootshäuser

aus Holz. (Auch bei ihnen würde ich die imaginären Architekturstudenten vorbeischicken.) Vor

einer der Holzhütten ein blaues Ruderboot aus Plaste, aufgebockt. Es ist über und über mit großen

roten Kullern bemalt. Kann sein, sie sollen schlicht Schadstellen im Anstrich verdecken –

das Resultat wirkt hinreißend fröhlich.

Auf dem Bootssteg läßt sich gut Rast machen. Eine Bank zum Sitzen. Weiter Blick über den

südlichen Teil des Sees.

Aus den Rastplänen wird nichts. Der Platz ist vergeben. Eine junge Frau sitzt dort. Schönes, ausdrucksstarkes

Halbprofil. Die Haare aufgesteckt. Übereinander geschlagene schlanke Beine.

Vor ihr läßt ein Mädchen vom Steg die Füße baumeln. Ein Junge von zehn Jahre steht dabei.

Die drei sprechen nichts, sie machen nichts. Sie verweilen und genießen den Moment. Drei Momente.

Zeilen vom Lyriker Heinz Kahlau laufen mir durch den Sinn: Ich seh dich an und seh durch dich

den Sommer. Ich bin der Gast in dieser Sommerruh. Ich möchte gerne so noch bleiben. Der Sommer

meint es gut mit mir. Wie du.

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Vielleicht haben wir in fernen Singeclub-Zeiten Kahlaus Lied mit diesem Vers gesungen. Vage

fällt mir eine Melodie bei. Daß ich Gast bin in der Sommerruh, denke ich immer öfter. Unter

den Linden am Schweriner Pfaffenteich. In der Dämmerung im Schrebergarten am Lankower

See. Der Akzent verlagert sich auf Gast.

Wir könnten uns zu den dreien auf die Bank setzen, sie ist groß genug.

Keinen Sommerfrieden stören. Aus gebührender Entfernung versuche ich ein Foto. Leise, ungesehen,

ziehen wir davon.

Ein passables Plätzchen findet sich nahebei auf einer Lichtung, Baumstubben am Rand. Erlen

ringsum, Weiden auch. Binsen wachsen. Mooriges Gelände. Sehr mückenreich. Die Tinktur, mit

der ich mich vorsorglich eingenebelt hatte, schützt halbwegs. Nur daß die Viechelchen in die

Hosenbeine krauchen, hatte ich nicht bedacht…

Über die Seestraße zurück in den Ort. Die einstöckigen Backsteinhäuser in gerader Reihe wurden

vermutlich als Büdnereien gebaut. Neben einer Gartenpforte ein Schildchen mit der Mitteilung,

daß man hier frische Eier verkauft. Schade, nun brauchen wir sie nicht mehr. In anderthalb

Tagen steht unerbittlich das Teterow-Taxi vor der Bootshaustür.

Kirche und Friedhof grenzen an die Seestraße. Die kleine eiserne Tür steht offen. Zwei gemauerte

Pfosten. Der rechte mit einem Kreuz verziert, der andere mit einer Haube aus Efeu.

Die Kirche ist noch älteren Datums als die in Bristow. Anfang des dreizehnten Jahrhunderts

gebaut worden und geprägt vom Übergang von der Romanik zur Gotik, steht auf der Rückseite

unserer Wanderkarte.

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Im Pfarrhaus kann man sich den Schlüssel holen und hereingehen. Wollen wir heute nicht.

Vor drei Jahren, am Tag des Offenen Denkmals, stand die Tür offen und wir haben das schlichtschöne

Innere genießen können. Ganz allein, trotz des touristischen Datums.

Ein Foto von diesem Ausflug zeigt über einer Nebentreppe eine nackte Glühbirne an der Schnur.

Sie hing da wie Iljitschs Lämpchen. (Wikipedia weiß, was das ist.) Die Sonne bewarf sie mit

Gegenlicht und setzte noch ein Muster des Türfensters als Schatten dazu. –

Auf dem Friedhof gucke ich nach dem Grab von Theodor Reinhardt. Es existiert. Der Stein steht

an seinem Platz.

Der Mann wurde 1899 geboren und starb 1976.

Als wir seinen Gedenkstein bei einem Rundgang vor Jahren zum erstenmal sahen, irritierten

uns drei Worte unter den Lebensdaten: aus Teplitz. Bessarabien.

Am Rand des Kirchhofs stießen wir auf zwei Steine von aufgehobenen Gräbern. Der erste war

Jakob Reinhardt gewidmet. “Hier ruhen in Gott“ lautete obere Zeile; der Name der zweiten Person,

vermutlich seiner Frau, war nicht lesbar, weil ein anderer Stein darüber lag. Der von Ida Reinhardt,

“unsere liebe Schwester“. Die letzte Zeile auf dem Stein von Jakob Reinhardt und seiner

Frau verkündet den seltsamen, beherzigenswerten Spruch “Freue deine Kinder“.

Alle Reinhardts, die hier begraben sind, gehörten einer Generation an. Sie lebten vom Ausgang

des neunzehnten Jahrhunderts bis in die Mitte des nächsten. Alle wurden alt, achtzig Jahre und

darüber. Alle Toten stammen aus Teplitz. Bessarabien.

Bessarabien? Bessarabien?

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Mit Arabien hat die Gegend nicht zu tun, wußten wir sicher. Eine Landschaft am Rande Europas.

Gehört sie zu Rumänien? Gehört sie zu Moldawien?

Inzwischen weiß ich, daß der Name Bessarabien wahrscheinlich vom mittelalterlichen Fürstengeschlecht

der Bassarab herrührt, das hier im Mittelalter die Herrscherhüte aufhatte. Mit ihm

wird die Region zwischen Donaudelta, Schwarzem Meer und dem Fluß Dnjestr bezeichnet. Im

Norden grenzt die Bukowina an.

Eine Landschaft mit vielfältiger geologischer Struktur. Berge, Steppen, fruchtbare Schwarzerde,

das weite Schwemmland des Donaudeltas. Schon seit vorchristlicher Zeit zogen nomadisierende

Völker durch. Später siedelten Menschen unterschiedlicher Nationalitäten.

Von einigen Ethnien – bevor ich auf die virtuelle Suche nach Bessarabien – ging, hatte ich nicht

einmal die Namen gehört: Awaren, Gaugasen.

Rumänen waren und sind hier zuhause. Russen, Ruthenen, Moldawien, Griechen, Bulgaren,

Armenier, Österreicher, Türken, Tartaren. Eine Statistik nennt auch Schweden.

Die Geschichte der Deutschen in diesem Landstrich begann am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts,

etwa 1814, wenn man die vorbereitenden Ereignisse außer acht läßt.

Pastor Arnulf Baumann hat das beneidenswerte Kunststück fertig gebracht hat, in einem Heftchen

von dreißig Seiten “Die Deutschen aus Bessarabien“ fast zweihundert Jahre Geschichte klar

und übersichtlich darzulegen.

Im November 1813 erließ Zar Alexander I. einen Aufruf an die Deutschen, sich für die Ansiedlung

in Bessarabien zu melden. Dabei wurden ihnen folgende Bedingungen (Privilegien)

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zugesichert: Unterstützung bei der Ansiedlung, mit der Verpflichtung, sich der Entwicklung von

Garten-, Wein- und Seidenbau zu widmen und nach zehn Jahren die Unterstützung zurückzuzahlen;

Steuerbefreiung auf zehn Jahre; Zuteilung von 66 Hektar Land als Eigentum für jede

Familie; Befreiung vom Soldatendienst; freie Religionsausübung. Aufgrund dieser Privilegien

sollte ihnen ein besonderer Rechtstatus, der des “Kolonisten“ eingeräumt werden. (A. B.)

Der Zar schickte seine Werber in Gegenden, wo die Menschen durch Kriege, Dürren und politische

Drangsal besonders elend

dran waren. Die Mehrzahl der künftigen

Kolonisten kam aus Württemberg,

andere aus dem pommerschwestpreußischem

Raum.

Den Weg in die neue Heimat legten

die meisten Auswanderer zu Schiff

auf der Donau zurück. Oder auf

dem Landweg über Böhmen und

Galizien. Eine sehr lange Reise.

Viele Exilanten starben unterwegs.

Oder sie starben nach ihrer Ankunft

in den Quarantänelagern, die jeder

durchlaufen mußte. Es wird ange-

213


nommen, daß etwa achttausend Menschen ihr Ziel erreichten. Wie viele sich auf die Reise gemacht

hatten, ist nicht notiert.

Die Kolonisten fingen an, aus dem Nichts ihre Siedlungen zu errichten. Anfangs kampierten sie

in Zelten oder Erdlöchern. Die Versorgung mit Wasser und Nahrung mußte organisiert werden.

Medizinische Hilfe bei Krankheiten.

Der zugeteilte Boden bestand meist aus Brachland mit Steppenvegetation. Er mußte, bevor man

ihn bestellen konnte, urbar gemacht werden.

Viele Neusiedler vertrugen das ungewohnte Kontinentalklima schlecht. Sehr heiße Sommer,

sehr kalte Winter. Die Zahl der Menschen, die die Strapazen der Anfangsjahre nicht überlebten,

war hoch. Viele Kinder unter ihnen. Arnulf Baumann zitiert das alte Kolonisten-Sprichwort:

Der erste hat den Tod, der zweite hat die Not, der dritte hat das Brot.

Anfangs waren alle auf Selbstversorgung angewiesen, auf das, was auf den Feldern wuchs. Auf

Eier, Milch und Fleisch von Hühnern und Ziegen.

Später entwickelten sich Handwerke. Es gab Schmiede, Stellmacher, Schumacher, Mühlen und

Müller. Pferdezüchter und Schafzüchter.

Die Kolonisten produzierten bald über den Eigenbedarf hinaus. Märkte entstanden. Die Deutschen

transportierten ihre Waren auf den größten erreichbaren Handelsplatz, nach Odessa. Die

weiße Stadt am Schwarzen Meer.

Die Deutschen in Bessarabien ließen Schulen und Kirchen bauen. Sie sorgten für gute Lehrer

und gute Ausbildung des Nachwuchses. Mit Hingabe pflegten sie die kulturellen Traditionen

214


ihrer Herkunftsländer. So hielt man das Heimweh im Zaum.

In wenigen Jahrzehnten hatten sich die Siedler deutscher Zunge unter den Moldawiern, den Russen

und Bulgaren, den vielen anderen nachbarlichen Ethnien einen guten Ruf erworben.

Marktgeschäfte, per Handschlag abgeschlossen, wurden mit “deutschem Wort“ besiegelt. Synonym

für Ehrenwort.

Meister Goethe lobt in seinem Faust Gemeinsinn als Quelle von Erfolg. Die Anerkennung der

Dorfgemeinschaft galt den Kolonisten als höchste Ehre. Taufen, Beerdigungen, Konfirmationen

und Hochzeiten waren Ereignisse für den ganzen Ort. Anlässe für gemeinsame Feste und Rituale.

Die Erfolgsgeschichte der Siedler brachte nicht nur Vorteile. Die Einwohnerzahl hatte sich in

drei Jahrzehnten mehr als verdoppelt. Der Platz wurde knapp, die Erwerbsmögichkeiten auch.

Man half sich zuerst, indem man einen Teil des Bodens verpachtete und durch die so genannte

Binnenkolonisation kleinere Höfe gründete. Viele junge Männer mußten trotzdem Bessarabien

verlassen. Sie gingen ins Zarenreich, sie gingen in anderes Ausland.

Übrigens galt bei den Kolonisten das Erbrecht des jüngsten Sohnes; vielleicht hat das manchen

Zwist verhindert oder gemildert.

Das Ansehen der Deutschen als wohlhabende, gut etablierte Einwanderer ließ auch Unmut aufkommen.

Die ihnen eingeräumten Privilegien waren kaum noch zu rechtfertigen.

Im Jahr 1871 wurde ihre autonome Verwaltungsstruktur annulliert und die Siedler den allgemeinen

kommunalen Behörden unterstellt. Wenig später folgte die Aufhebung der Befreiung

215


vom Soldatendienst, der im Zarenreich immerhin bis zu sieben Jahren dauern konnte.

Die Kolonisten fürchteten, ihre Rechte als freie Bürger zu verlieren und auf den Status leibeigener

russischer Bauern deklassiert zu werden.

Viele von der Rekrutierung Bedrohten wanderten aus, oft nach Nordamerika.

Kolonisten wurden zum erstenmal im Russisch-Japanischen Krieg Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts

als Soldaten eingesetzt. Zehn Jahre später, im Ersten Weltkrieg, anss der sogenannten

Westfront. Etliche der “Schwaben“ gerieten so in deutsche Kriegsgefangenschaft…

In Folge des Krieges wurde Bessarabien wurde von Rußland “losgelöst“ und zum rumänischen

Staatsgebiet deklariert. Der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit war nun untersagt.

Hinzu kam, daß das Staatsvolk mit aller Macht versuchte, sämtliche Staatsbürger zu

Rumänen zu machen. (A. B.)

In den dreißiger Jahren bekannte sich die rumänische Staatsführung zum “Deutschen Reich“

und seiner Ideologie. Baumann meint, die nationalsozialistischen Strömungen unter den Kolonisten

seien auch eine Reaktion auf den rumänischen Nationalismus gewesen. Er schreibt: Allerdings

drangen die Ideen des “Dritten Reiches“ nur in abgeschwächter Form bis nach Bessarabien

vor. Die kirchenkritische Einstellung etwa drang nicht durch; es gab keinen “Kirchenkampf“(!)

Aber die frühere Geschlossenheit der dörflichen Gemeinschaft war dahin; der Parteienstreit belastete

das Zusammenleben.

Im Juni 1940, der Zweite Weltkrieg tobte schon, forderte die Sowjetunion Rumänien zur Räumung

Bessarabiens innerhalb von drei Tagen auf. Im September wurde der Umsiedlungsvertrag

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unterzeichnet. Die Durchführung der Aktion wurde der SS übertragen, sie erhielt die medial

klangvolle wie demagogische Bezeichnung “Heim ins Reich“.

Nach vier Wochen hatten die meisten Kolonisten Bessarabien verlassen. Sie wurden nach vielen

Umwegen auf Lager in Österreich, Bayern, Thüringen, Sachsen und im Sudetenland verteilt.

Im Januar 1945 setzte die zweite große Aussiedlungswelle ein. Der Untergang des deutschen Faschismus

war absehbar. Von geordneter Ausreise konnte nun keine Rede mehr sein. Die Flüchtlingstrecks

organisierten sich zum Teil selber oder die Menschen flohen einfach vor der Front in

Richtung Westen.

Die Mehrzahl landete nach Kriegsende in der Sowjetischen Besatzungszone, andere in Niedersachsen.

Durch die Bodenreform in der DDR konnten viele wieder im landwirtschaftlichen Bereich

tätig werden, verfielen allerdings einige Jahre danach der Kollektivierung. Dennoch gibt es

kleine Ortschaften in Mecklenburg, in denen die Bessarabier die Mehrheit erlangten und sogar

ihr Schwäbisch beibehielten. (A. B.)

Viele der “Schwaben“ gingen jedoch, solange es die noch gab, über die Grüne Grenze in die westlichen

Besatzungszonen. Meist nach Niedersachsen.

Die Kolonisten, die in Teplitz siedelten, haben eine eigene Vorgeschichte. (Lehrer Herbert Weiß

hat ihr Schicksal aufgeschrieben.) Die späteren Teplitzer folgten nicht den Werbern von Alexander

I., sondern brachen als selbständige Gruppe gen Südosten auf. Sie gehörten der Religionsrichtung

der Chiliasten an.

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Chiliasten meinten – sehr verkürzt ausgedrückt – daß nach dem Ende aller Katastrophen, man

kann es auch Apokalypse nennen, Christus in persona wiederkommt. Mit seinem Erscheinen

würde ein Tausendjähriges Reich des Friedens und der Glückseligkeit beginnen. Sie glaubten,

daß man dieses Ereignis durch irdisches Wirken befördern kann.

(Der Brockhaus von 1852 widmet den Glaubensanhängern und ihren internen Auseinandersetzungen

noch einen ausführlichen Beitrag. In einem Lexikon der Jetztzeit fand ich die Bemerkung,

daß die Heilsbringererwartung in den Fortschrittsglauben übergegangen sei.)

Einige Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts sahen in den Chiliasten ehrenwerte Vorkämpfer

für soziales Gemeinwesen.

Zum Ort der Wiederkehr Christi hatte die Glaubensgemeinschaft vor zweihundert Jahren den

Südkaukasus bestimmt. Dort wollten sie im Sinne des Heilands leben und arbeiten.

Diese Auswanderer, ebenfalls mehrheitlich aus Württemberg stammend, machten sich1817 auf

den Weg in das gelobte Land. Sie transportierten ihr Hab und Gut auf Schiffen, den sogenannten

“Ulmer Schachteln“, große Einweg-Boote, die ausschließlich den Fluß abwärts fuhren. In diesem

Fall auf der Donau, dem Schwarzen Meer entgegen.

Auf einer Insel im Donaudelta waren die Chiliasten, nachdem sie drei Wochen unter freiem

Himmel verbracht hatten, wahrscheinlich in einem der berüchtigten Quarantäne-Lager, mit ihren

Kräften am Ende. Der Typhus grassierte.

Sie nahmen nun doch das Angebot des russischen Zaren an und wurden Kolonisten unter

denselben Bedingungen wie alle anderen Siedler. Der von ihnen gegründete Ort liegt zwischen

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den Flüssen Pruth und Dnjestr und gehört heute verwaltungstechnisch zu Odessa.

Die Teplitzer wurden später durch ihren Wagenbau berühmt – den für Pferde, versteht sich.

Ihre erste Umsiedlung am Anfang des Zweiten Weltkrieges, 1940, bewerkstelligten die Teplitzer

in nur sechs Tagen.

Lehrer Herbert Weiß notiert: Den meisten Familien wurden Höfe in den Kreisen Wirsitz und

Zempelburg zugewiesen. Damit endete die Dorfgemeinschaft Teplitz.

Wirsitz und Zempelburg sind Ortschaften im Norden Polens, damals von den deutschen

Faschisten besetzt. Wer nicht dorthin ging, fand vermutlich in Bülow und Umgebung ein Zuhause,

vermutlich Jahre später. –

Von den unfreiwilligen Wanderungen der Deutschen aus Bessarabien, von den Teplitzern, die

hier in der Bülower Erde ruhen, weiß ich inzwischen mehr als über das “ Umsiedeln“ der eigenen

Vorderen.

Auch sie machten sich notgedrungen am Ende des Zweiten Weltkrieges vor der heranrückenden

Front aus ihren Lebensorten auf den Weg, der meist ein Fußweg war.

Sie verließen Stettin, Danzig und Posen in Richtung Mecklenburg. Wismar hatten sie sich als

Ort zum Wiedertreffen ausgesucht. Eine kleinere Stadt, von der sie hofften, daß sie nicht in Bombenhagel

unterging.

Daß die Familie tatsächlich dort wieder zusammenfand, gehört zu den unverhofften Glücksstreuseln,

die das Schicksal manchmal aus dem Ärmel schüttelt.

Sie trafen sich beim Anstehen nach Lebensmitteln, beim Wasserholen. Vor den Anzeigetafeln

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mit Vermißtenmeldungen und Zetteln, auf denen der Name stand und: Ich bin hier! Sie begegneten

sich unverhofft auf der Straße.

Die Großeltern Franziska und Karl Wegner. Vatermutter Emma Köbschall, deren Mann schon

der vorige verheerende Krieg verschlungen hatte. Onkel Akki, der um seine erste, seine schwangere

Frau trauerte, die bei den Angriffen auf Dresden gestorben war.

Mein Vater kam. Er hatte sich vor Kriegsende auf eigene Faust aus Bad Muskau an der Neiße

aufgemacht, wo er als Funker eingesetzt war. Dort erfuhr er von meiner Geburt.

Meine Mutter erreichte den Treffpunkt vom Osteebad Kolberg, das heute Kołobrzeg heißt. Im

Haus Hindenburg hatte sie mich im Oktober Vierundvierzig in die kriegerische Welt gebracht.

Im Kinderwagen schob mich Liselotte, von Verwandten und Freunden zärtlich Lilly genannt,

bis Wismar. Dank ihrer Umsicht blieb ich am Leben. Viele, viele Säuglinge starben.

Von all den durchlittenen Schrecknissen der Mütter, der Umsiedlerinnen, erschüttert mich ein

Detail bis heute: Die Frauen banden den Kindern im Wagen, sobald sie zu sitzen verlangten,

Tücher vor die Augen. Sie wollten verhindern, daß das Grauen ringsum in ihr optisches

Gedächtnis drang.

Vaterbruder Ernst erreichte Wismar nicht. Er wurde als toter Soldat in Athen in die Erde gelegt.

Ein Kriegskamerad brachte Großmutter Emma Jahre später ein Foto von seinem Grab. Ein Grab

am Fuße der Akropolis.

Hans, der Mutterbruder, kehrte Jahre später aus Sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück. Aus

dem lebenslustigen Hänschen, der einst das Akkordeon zum Jubilieren brachte, war ein verbit-

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terter, früh gealterter Mann geworden. Ein Russenhasser.

Ich liebte ihn dennoch sehr, meinen Patenonkel. Ein außergewöhnlich eigenwilliger Mensch.

Als er aus Gefangenschaft zurückkam und irgendwie ein bißchen Geld verdient hatte, kaufte

er sich dafür elegante, weiße Lederschuhe. Alle meinten, das sei die pure Geldverschwendung.

Mein Kinderherz verstand ihn, seine Sehnsucht nach Extravaganz, nach ein bißchen Luxus in

der kargen Nachkriegszeit.

Zur Jugendweihe bekam ich, als Leseratte bekannt, viele Bücher geschenkt. Alles andere war

“nützlich“: Handtücher, Bettwäsche, Stoff für ein neues Kleid. Onkel Hans, der damals schon

lange in Düsseldorf lebte, schickte mir ein kuvertgroßes Ausgehtäschchen aus hellem Ziegenleder.

Friderico und ich drehen eine zweite Runde um den Friedhof. Alle Entseelten, die hier liegen,

starben einen natürlichen Tod. Kein Kriegerdenkmal mahnt die Lebenden.

Wir gehen noch mal an Theodor Reinhardts Grab vorbei. Wer aber beharret bis ans Ende, der

wird selig, haben seine Nachfahren in den Gedenkstein meißeln lassen.

Die Nachmittagssonne scheint spätsommerlich mild. Die Feldsteine im Sockel der Kirche widerspiegeln

das Licht. Der Reichtum ihrer Struktur tritt hervor, die Vielgestalt der Äderung. Satte

Farben. Auf dem Mörtel zwischen den Steinen wärmt sich eine Spinne die Füße.

Das eiserne Türchen fiept leise, als wir den Friedhof verlassen.

Am Feldweg zwischen Bülow und Carlshagen wächst auf einem Hümpel aus Stein und Geröll

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Minze. Mentha piperita, wohl aus einem der umliegenden Gärten ausgewandert. Die Pflanzen

blühen in voller Pracht und strecken ihre Dolden, dicht besetzt mit winzigen lilalichen Blüten ins

Blau. Man soll die Blätter zum Trocknen vor der Blüte sammeln, aber für einen Tee im Bootshaus

sind sie noch aromatisch genug und ich sammele ein bescheidenes Quantum ein.

Kurz vor Carlshagen steht am Feldrand eine prächtige Eiche. Ein Solitär. Ein freundlicher Jemand

hat eine Sitzgelegenheit aus Brettern dazu gestellt, so kann man die Aussicht genießen: auf Bülow,

auf seine Kirchturmspitze, auf die Basedower Höhe, auf den Wald vor Burg Schlitz.

Ein Greifvogel schwingt sich herbei. Im Gegenlicht, in der heraufziehenden Dämmerung, können

wir nicht mehr erkennen, wer er ist.

Tessenow lassen wir links liegen. An Carlshof vorbei, menschenleer wie immer. Aus irgendeinem

Garten hört man Stare schmätzen. Sie haben wohl noch ein paar überreife Kirschen gefunden. Über

das Kopfsteinpflaster zurück nach Bristow. Die Wellenschwünge der Wiesenhügel begleiten uns.

Kurz vor dem Ortseingang, am Weg mit den hingemordeten Pappeln, kommen uns zwei junge

Frauen mit Sportkarren entgegen. Ein Junge von vier, fünf Jahren hüpft neben ihnen her.

Tach, sagt Friderico und weist auf die Baumstümpfe. Wer hat das hier gemacht? Und warum?

Wissen wir doch nicht, sagt die, eine leicht eingeschüchtert, aber auch empört über den rüden Ton

des Fremden.

Die andere setzt abwehrend hinzu: Der Bürgermeister!

Während ich noch überlege, ob ich mich bei den Frauen wegen Fridericos Harschheit entschuldige,

oder lieber ihn wegen seines Feldherren-Duktus´ rüge, fängt der Junge unvermittelt zu

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singen an. Eine glockenhelle Knabenstimme. Schallend und rein.

Straßenbahn, Straßenbahn, halt an dieser Stelle an.

Ich kann nicht länger warten, ich will zum Kindergarten.

Straßenbahn, Straßenbahn, Straßenbahn halt an!

Naja, meint Friderico milde. Ich wollt ja nur mal fragen. Schönen Tag noch.

Die Frauen geben dem alten Zausel ein verständnisvolles Lächeln zurück. In entgegengesetzte

Richtungen schlendern wir auseinander.

Im Dorf gurrt eine Taube und verkündet, daß ab jetzt der Abendfrieden gilt.

Kulinarisch:

Außen:

Schweinefleisch aus der Dose mit Rosmarin-Soße und Pellkartoffeln

Krautsalat mit geraspelten Äpfeln

Früchteteller von Pfirsich, Birne, Pflaume; mit Eierlikör verfeinert,

mit gehackter Minze bestreut

Fußball. Tennis.

Bundesliga. Bundesliga.

Fußball. Fußball. Sport.

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ZWÖLFTER TAG

Sonntag, 21. September

Nachts wache ich auf. Einfach so. Von keinem bösen Traum geplagt, kein Herzrasen. Blick auf

die Uhr. Kurz nach vier. Kalendarischer Herbstanfang.

Ich ziehe mir Fridericos Jackett über und schleiche auf die Terrasse. Sternklar ist die Nacht.

Die Himmelslichter funkeln. Ihr Widerschein liegt auf dem Wasser des Sees, auf seiner spiegelglatten

Oberfläche. Illuminiertes nächtliches doppeltes Gewölbe.

Schwach, sehr schwach sind meine Kenntnisse von der Astronomie. Den Drachen erkenne ich,

den Großen Wagen, den Kleinen. Den Orion, manchmal.

Mein bescheidenes Wissen verdanke ich Großvater Karl Wegner. Er kannte die Sterne. Alle, wie

mir als Kind schien. Er konnte sich an ihren Konstellationen orientieren.

Als im Oktober 1957 ein Himmelskörper ins All flog und über Norddeutschland zu sehen war,

besorgte Großvater Karl ein Fernglas. Er zeigte seiner zwölfjährigen Enkelin am Nachthimmel

über Wismar den ersten Sputnik. Noch nie hatte ich ein Fernglas in der Hand gehalten. Den

Satelliten sah ich als leuchtendes Pünktchen im Flug.

Karl Wegener war als junger Mann, als Geselle, auf die Walz gegangen. Mag sein, daß er für diese

Wanderschaft seine Sternenkenntnisse erwarb. Vielleicht eignete er sich sein astronomisches

Wissen in einem der vielen Arbeiter-Bildungsvereine in Berlin an.

Wann er die große Wanderschaft unternahm, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gefragt, als Zeit

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dazu war. Sicherlich walzte er vor dem Ersten Weltkrieg, als die Grenzen in Europa noch offen

waren.

Wenn man ihn darum bat, nur dann, erzählte er von den fremden Städten, in denen er Arbeit

gefunden hatte. Von Landschaften, die er mit wechselnden Walzbrüdern unter die Füße nahm.

Seine Berichte ließen sich in mein Kindergedächtnis nicht einordnen. Daß er die Donau entlang

wanderte, behielt ich.

Er war und blieb überzeugter Sozialdemokrat, auch, als es seine Partei in der DDR nicht mehr

gab. In den zwanziger Jahren gehörte er den “Wandervögeln“ an. Eine Jugendbewegung, eher

diffus in Konzept und Organisation. Sie hatte, grob verallgemeinert, der Stubenhockerei den

Kampf angesagt. Die Anfänge der deutschen Freikörperkultur werden ihr zugesprochen. In ihren

Gründerjahren, um die Jahrhundertwende, wandte sie sich gegen die verknöcherte kaiserliche

Bildungspolitik.

Karl Wegener übernahm unorthodox in den Alltag der eigenen Familie, was man heute mit gesunder

Lebensweise bezeichnen würde. Nahrungsmittel aus der Region, viel Obst und Gemüse.

Bei jedem Wetter Aufenthalt in der freien Natur. Wandern und Bewegung. Die Wegners, Tochter

Liselotte und die Söhne Joachim und Hans, zogen am Wochenende mit der “Botanisiertrommel“

in die Umgebung. Sie sammelten und bestimmten Pflanzen. Die getrockneten Exemplare

bewahrten sie in Alben auf.

Daß Mädchen und Jungen dieselbe Erziehung und Bildung zustand, gehörte zu Karl Wegners

Grundsätzen. Daß Sport wichtig ist. Er beförderte, daß die junge Liselotte eine gute Bogenschützin

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werden konnte.

Karl Wegner sang gerne, erzählte meine Mutter. Er kannte die Texte vieler Lieder, alle ihre Strophen.

Als er mein Großvater wurde, hatten die üblen Zeiten ihn zu einem wortkargen und verschlossen

Menschen gemacht. Er schien mir ein sehr ernster Erwachsener zu sein. Freude zeigte

er selten.

Aber manchmal, als ich noch ein kleines Mädchen war, sang er mir, wenn wir zu zweit waren

und niemand anders es hören konnte, mit verhaltener Stimme vor: Rechts der Donau, links der

Donau, liegt die ganze Welt im hellen Sonnenschein… Sein Gesicht leuchtete dann ungewohnt

froh. Abglanz heitererer Jahre.

Karl Wegner war Feinmechaniker. Fachmann für Registraturkassen. In die heutige Zeit übersetzt:

Computerspezialist, Programmierer.

Sein Gesellenstück war eine selbst gebaute Uhr. Ein Wecker im Holzgehäuse. Mit zierlichen

Messingschrauben an der Rückseite ließ sich die Zeit einstellen und das Uhrwerk aufziehen. Ein

Schmuckstück, das verläßlich funktionierte.

Die Großeltern lebten Anfang der vierziger Jahre in Stettin. Karl Wegener, mit über Sechzig

nicht mehr im wehrfähigen Alter, wurde wie andere ähnlichen Jahrgangs am Ende des Zweiten

Weltkriegs zum Volkssturm eingezogen. Die kläglich mit Handgranaten Bewaffneten sollten

Panzer und Flugzeuge der heranrollende Roten Armee aufhalten.

Wo er das Ende des Krieges erlebte, weiß ich nicht sicher. Ich meine, in der Nähe von Breslau,

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heute Wrocław.

Anfang 1945, als die Ostfront schon hörbar näher rückte und die nächtlichen Luftangriffe sich

häuften, wurde Stettin evakuiert. Seine Bevölkerung bestand damals fast nur noch aus Frauen

und Kindern, aus Kranken und Hinfälligen.

Die meisten mußten die Stadt mit dem verlassen, was sie tragen konnten. Oder was auf einen

Handwagen paßte, in einen Kinderwagen, auf den Gepäckträger eines Fahrrads. In Rucksäcke

und Koffer.

Automobile besaßen nur Begüterte, die sich ohnehin meist anders zu behelfen wußten. Das Gros

der Pferde und Fuhrwerke, der Lastwagen, war für Kriegszwecke eingezogen.

Alles, was man zum Leben braucht, mußten die Flüchtlinge buckeln: Nahrungsmittel, Geschirr

zum Kochen und zum Essen. Ein Minimum für die Körperpflege. Kleidung, Decken gegen die

Kälte, die wichtigsten Dokumente.

Kein Platz für Erinnerungsstücke oder Sentimentalitäten. Großmutter Franziska ließ schweren

Herzens das über Jahre gesammelte Silberbesteck zurück. Die Uhr, Karl Wegners Gesellenstück,

nahm sie mit und brachte sie heil bis ans Ende dieser unfreiwilligen, schreckensvollen Wanderung.

Als sich die Familie in Wismar wiedergefunden hatte, wurde ihr eine Kammer in der Baustraße

zugewiesen. Eine Zeit vor meinem Erinnern. Quartier für fünf Erwachsene und das halbjährige

Baby. Nach Monaten des Umherirrens ohne Obdach trotzdem ein Segen.

Franziska und Karl zogen später in den Spiegelberg. Dort, in Hafennähe, verbrachte ich viele

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Sommer meiner frühen Kindheit.

Die Wegnersche Wohnung war klein. Küche, Abstellkammer, Durchgangszimmer, Stube. Der

Durchgangsraum ohne Außenfenster diente als Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch des Großvaters

stand die Uhr in ihrem hölzernen Gehäus. Ihr leises beruhigendes Ticken störte die nächtliche

Ruhe nicht.

Als ich mich auf das Abitur vorbereitete, wohnte ich die Woche über bei den Wegners; hauptsächlich

wegen der besseren Busverbindung in meine Schulstadt Grevesmühlen. Bei einem

Spaziergang zu zweit versprach mir Großvater Karl sein Gesellenstück als Erbe. Als Erinnerung:

Wenn ich nicht mehr bin.

Er versprach es in einer stillen Stunde auch dem jungen Uli Schlott, dem Töchtervater, von seinen

Kindern Elo genannt.

Das doppelte Versprechen offenbarte sich, als wir uns trennten und auch die Dinge nach dem leidigen

DasIstDeins – DasBleibtMeins in verschiedene Richtungen auseinander gingen. Schweren

Herzens überließ ich Elo, dem Puppenspieler, dem Tüftler und Uhrendoktor, das gute Stück. Er

schenkte es Jahre später an Jana, die Älteste, als sie erwachsen war, zurück. Über viele Wege ist

die die Uhr auf diese Weise nach Berlin zurückgekehrt – an den Ort, wo ihr Geselle Karl Wegner

vor über hundert Jahren ihr mechanisches Leben einhauchte.

Als ich anfange, die Sachen für die Heimfahrt zusammen zu räumen, klopft es an der Tür.

Familie S., die unmittelbaren Bootshaus-Nachbarn sind gekommen. Frau S. fragt, ob alles in

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Ordnung sei, und ob wir etwas brauchen. Brot vielleicht, wie schon mehrmals in den Vorjahren.

Wie schade, meint sie, als sie mich beim Taschenpacken sieht, daß wir uns diesmal gar nicht

getroffen haben. Sie hatten eine kleine Reise gemacht und wollten nun auf der Datsche nach dem

rechten sehen.

Schnell huscht sie noch mal nach nebenan und kommt mit einer Handvoll Tomaten zurück.

Eigene, meint sie stolz. Beim Abschied wünschen wir uns ein gutes Jahr – bis zum nächsten

September!

Eine halbe Stunde später sehe ich das Nachbarpaar von ihrem Steg aus ins Wasser steigen und

gemeinsam mit ruhigen, gleichmäßigen Stößen auf den See hinausschwimmen.

Friderico saugt Staub und fegt die welken Weidenblätter von der Terrasse. Ich putze den Waschraum,

die Dusche und räume in der Küche alles weg, was verderben könnte. Wir sind Rikes

letzte Gäste in dieser Saison.

Ein paar Kartoffeln aus dem Basedower “Schafstall“ sind übrig geblieben. Ich will sie weder mitnehmen,

noch den Nachbarn die sechs Exemplare andrehen. Wegschmeißen geht mir gegen den

Strich. Ich buddele sie im moorigen Waldboden ein. Vielleicht zeigen sie ja Überlebenswillen.

Alles ist erledigt, der Rest kann morgen früh verstaut werden.

Machen wir noch einen Gang? frage ich Friderico.

Einen Gang machen, nannte meine betagte Mutter ihre einsamen Wanderungen in die Umge-

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bung, die sie fast täglich unternahm. Von Bobitz über den Sandberg ins Kirchdorf Dambeck und

wieder zurück.

Einen großen Gang nannte sie, wenn ihr Weg sie an der Dambecker Mühle und der ehemaligen

Ziegelei in Dalliendorf über Neuhof wieder nach Hause führte.

Im fernen Cottbus bedauerte ich, daß sie alleine gehen mußte. Vier erwachsene Kinder und

Schwiegerkinder, viele Enkel! Aber selten nur fand sich ein verwandter Mensch zu ihrer Begleitung.

Mit Liselotte Köbschall zu wandeln und zu wandern, war Gewinn. Sie ging auch im hohen Alter

schnellen Schritts. Die Jüngeren, automobilen, hatten manchmal Mühe, ihr zu folgen.

Sie nahm die vertraute Umgebung immer wieder neu wahr. Sie verwies auf die Wolkenbildung,

ihre skurrilen Formen. Auf das Licht, das die Farben änderte. Auf die Flora am Wegsaum. Auf

alles, was da kreuchte und fleuchte.

Auf der Flucht, den Säugling im Kinderwagen, von Tieffliegern, die auf die Trecks schossen,

gehetzt, vom Tod durch Erschöpfung bedroht, hatte die willensstarke junge Frau sich selber ein

Credo gesetzt: Freue Dich – trotz alledem!

Auch in schwierigen Zeiten, fand sie gute Gründe, sich des Lebens zu freuen.

Einen langen Gang unternahmen meine Mutter, Friderico und ich an einem milden Oktobertag

Mitte der neunziger Jahre. Von Plüschow aus, wohin wir mit der Bahn gefahren waren. Vom

Bahnhof an der vierhundertjährigen Eiche vorbei. Durch das Stückchen Buchenwald, schon mit

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herbstlich gelblichem Laub, zum Schloß. Keine Ausstellung mehr, das Haus verriegelt, die Saison

lange vorbei.

Wir gingen durch die Ulmenallee, nur rudimentäre Exemplare säumen sie noch, über die neue

donnernde Autobahn, nach Friedrichshagen, in unser “Heimatdorf“.

Nostalgische Rituale: Gucken, was der Garten macht. Ein Blick in die Kirche. Wer in Weihers

ehemaliger Kneipe wohnt. Eine Runde über den Friedhof, wo die Getreuen der frühen Jahre

ruhen.

Am vorletzten Gehöft des Dorfes vorbei. Meine Kinderfreundin Dörte war dort zuhause.

Von Friedrichshagen über Groß Krankow und Klein Krankow zurück nach Bobitz.

Das Getreide war längst geerntet. Gelbe Stoppelfelder. Mannshohe Weberkarden, mit voll ausgereiften

Samenständen säumten an einer Stelle den Wegrand. Als Textilgestalterin wußte meine

Mutter, daß sie früher in Webereien verwendet wurden, um Wollgewebe aufzuflauschen.

Sind die nicht prächtig, sagte Liselotte. Solche Stachelköppe!

Zu mir: Kannst du ein Foto davon machen?

Ich machte zwei, drei Aufnahmen.

Der Film blieb bis Mitte Dezember im Apparat. Als ich die fertigen Abzüge abholte, hatten wir

unsere Mutter schon auf dem Friedhof in Dambeck begraben.

Freund Hein hatte sie in ihrem achtzigsten Jahr mit einem einzigen gnädigen Streich zu sich

genommen.

Auf den Fotos herbstliche Landschaft. Die Kopfweiden vorm Plüschower Schloß. Alte Feldstein-

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scheunen.

Und die Weberkarden. Von mir

aufgenommen, mit Lilly Köbschalls

Blick gesehen. Stachelig und kerzengrade

ragten sie ins Himmelsblau.

Symbole voller Selbstbehauptung

und Lebenskraft. Die Stauden würden

im nächsten Frühling aufs Neue

wachsen und auferstehen.

Gegen Mittag brechen Friderico und

ich zum Abschieds-Gang auf. Übers

Holperpflaster hinterm Bootshaus

nach Bristow. In der Dorfmitte, am

Gutsteich, angeln kleine Mädchen

und Jungen. Sie streiten sich lautstark. Nein ich! Nein du! Ich war zuerst! Stimmt nicht! Doch,

stimmt!

Ein Junge in knallrotem T-Shirt zeigt den anderen einen Vogel und verläßt empörten Schrittes

die Gruppe der Streithammel. Sofort kehrt Ruhe ein. Alle wenden sich wieder ihren Angeln zu.

Jemand pfeift: We all live in a yellow submarin…

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Zum letzten Mal in diesem Jahr gemächlichen Schritts unter Schlehen und Pflaumenbäumen

den Weg nach Wendischhagen wandeln. Vom Laub verdeckt, schmätzen Starenschwärme in den

Kronen. Kein Auto fährt. Kein Motorrad. Gelobt sei die Stille.

In Wendischhagen, in einer kleinen Biege neben der Straße, informiert eine Anschlagtafel des

Naturschutzverbandes über die Radwege der Region. An der Zauntür des Nachbargehöftes steckt

der “Nordkurier“ in einer Rolle.

Ich ziehe die Zeitung raus und blättere sie durch. Den Kulturteil nimmt zur Hälfte eine begeisterte

Rezension zur Premiere von “Die Irre von Challiot“ ein, ein Stück des französischen

Schriftstellers Jean Giraudoux.

Regisseurin Anette Wöhlert hat es als Oberspielleiterin am Landestheater Neustrelitz inszeniert.

Am selben Haus, an dem sich Friderico vor langen Jahren seine ersten Regiesporen verdiente.

Anette Wöhlert, Tochter einer Schweriner Schauspielerkollegin, kennen wir seit ihren Jugendtagen.

Mal aus der Nähe, mal von fern verfolgen wir mit Respekt ihren Berufsweg. Sie scheut vor

Unbequemlichkeiten, vor Auseinandersetzung nie zurück – was besonders Friderico hoch zu

schätzen weiß.

Ich lese die Kritik im Stehen und reiche sie dem Mimen weiter. Er will sich nicht einmal das

Szenenfoto ansehen. Nicht mein Stück, murmelt er unwillig.

Bei der Cottbuser Inszenierung der “Irren“ hatte Friderico sich während einer Vorstellung einen

Bänderriß zugezogen. Ein Bühnenunfall, den die Versicherung nicht als solchen anerkennen

wollte. Langwieriges Auskurieren der Verletzung. Nervender Kleinkrieg mit der Krankenkasse.

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Nichts, woran man sich gern erinnert.

Während ich lese, guckt sich Friderico dezidiert die zwei Rohrweihen an, die über Wendischhagen

kreisen. Dann eben nicht. Ich rolle die Zeitung zusammen, stecke sie wieder in die Halterung.

Wir ziehen weiter. Wendischhagen bleibt zurück.

An der Hufe mit den Kampfhunden vorbei. Heute kommt niemand angeschossen, es bleibt

still.

Dafür zieht am Himmel martialischer Lärm auf. Eine Staffel Militärflieger dröhnt über unsere

Köpfe hinweg. Man kann sein eigenes Wort nicht verstehen. Das Denken setzt aus.

Die Maschinen schlagen Kurven, wenden, rasen im Tiefflug auf uns zu. Donnerndes Drohgebaren.

Reg dich nicht auf, einfach eine Übung, versuche ich mich zu beschwichtigen. Nach einer gefühlten

Ewigkeit, auch mein Zeitgefühl setzt aus, ziehen sie ab. Vielleicht zum nahen Flughafen

in Laage.

Friderico, weniger lärmempfindlich als ich, meint grinsend: Das alles geschieht zu deiner Sicherheit!

Kurz vorm Abzweig nach Basedow steigen wir den Weg bergan, der zum Panstorfer Forst führt.

Am Waldrand ein schlichter Rastplatz, eine hölzerne Bank.

Noch einmal breitet die Endmoräne vor unseren Blicken ihr Panorama aus. In der Senke vor der

Dahme schreiten Hathors Schwarzbunte Schöne. Sie halten die Köpfe gesenkt und fressen sich

Milch in die Euter.

Remplin, obwohl ganz nah, liegt hinter einem Hügel verborgen. Auch das Dörfchen mit dem

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eigenartigen Namen Pisede.

Die Silhouette von Malchin begrenzt den Horizont. Die Speicher des Mischfutterwerkes. Die

Johanniskirche, der gotische Backsteinbau mit seinem gedrungenen Turm.

In Malchin habe ich in den Achtzigern jedes Jahr am Tag vor den Sommerferien den oberen

Klassen an der Erweiterten Oberschule vorgelesen: Passagen aus dem jeweils neuesten Manuskript.

Einer meiner wichtigsten Termine. Feuerprobe für den Text.

Mit den Jahren stellte sich Vertrautheit ein. Die jungen Leute fragten nach Wesentlichem.

Warum ich bei einer Erzählung einen offenen Schluß gewählt habe, der mehrere Deutungen zuläßt.

Ob Landschaftsbeschreibungen zufällig sind oder mit Absicht in den Text gesetzt. Wie ich

Namen für die Figuren finde. Ob die Namen den Charakter der Handelnden bezeichneten.

Meine Lieblingsfarbe oder welches Auto ich fuhr (auch damals keins), sonst vielgestellte Fragen,

interessierten sie nicht. Ein Mädchen meinte, daß Autoren-Männer in ihren Texten öfter über

Mädchen schreiben und Autoren-Frauen eher über Jungen. War mir bislang nicht aufgefallen!

Als ich am Schluß einer Lesung meinen Kram zusammenräumte, sagte ein Hochgewachsener,

Verschlossener leise zu mir: Ich schreibe auch. Verschwörerische Mitteilung.

Über der Malchiner Silhouette bauschen sich Wolken zusammen. Zwölf Tage lang hat uns die

Septembersonne verwöhnt. Für morgen ist Regen angesagt. Leichter Dunst hat sich über die

Landschaft gelegt.

Es trappelt in unserem Rücken. Eine füllige Frau auf einem fülligen Haflinger nähert sich. Ein

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ergrauter Hund mit traurigen Augen begleitet sie.

Die Reiterin bringt ihr Pferd zum Stehen, grüßt uns. Wir grüßen zurück und könnten miteinander

reden. Aber wir haben nicht gelernt, wie die alten Wanderbrüder einander freundschaftlich

zu fragen: Woher des Wegs? Wohin?

Einen Moment sehen wir uns lächelnd, doch wortlos an. Dann ziehen die drei in Richtung Wendischhagen

davon.

Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider. Was war das? Von der großen

Menschheit ein Stück. Vorbei, verweht, nie wieder, beschrieb Tucholsky so einen Moment.

Philemon und Baucis bleiben noch ein Weilchen sitzen. Ach ja, denkt mein Kopf, das wär schön,

hier Wurzeln zu schlagen, wie die Legende es dem alten Paar verspricht. Philemon verwandelt

sich zur Eiche, Baucis wird ein Lindenbaum.

Mein Handy klingelt. Die Teterower Taxifirma. Ob es bei unserer Bestellung morgen früh bleibe.

Es bleibt dabei.

Auf geht´s, sagt Friderico. Rückweg im eingespielten Gleichmaß der Schritte. Gehen des Gehens

wegen. Die Bewegung aus eigener Kraft genießen.

Die Wanderlust, über Karl Wegener in die Familie gekommen, übertrug sich auf unsere Mutter.

Beim “Latschen“, wie die Ausflüge der Köbschall-Sippe genannt wurden, lernten wir von ihr

die Lieder der Tippelbrüder: Wem Gott will recht Gunst erweisen, den schickt er in die weite

Welt…Auf, du junger Wandersmann…Oh Wandern, Wandern, meine Lust…Und viele, viele

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andere. Auch das, die Selbstgefälligkeit der Wandervögel ironisierende: Klotz am Bein, Klavier

vorm Bauch – hach, ist Wandern schön…

Vater Heinz sang voll Inbrunst: Wilde Gesellen vom Sturmwind durchweht, Fürsten in Lumpen

und Loden, ziehn wir dahin, bis das Herze uns steht, ehrlos bis unter den Boden…Innsbruck,

ich muß dich lassen… Oder das Lied der Freien Deutschen Jugend zu den Weltfestspielen 1953

in Berlin: Auf den Straßen, auf den Bahnen seht ihr Deutschlands Jugend ziehn. Hoch im Blauen

wehen Fahnen, blaue Fahnen nach Berlin!

Ich stimmte am liebsten Paul Gerhard an: Geh aus mein Herz und suche Freud…und: Im Sommer,

da muß man wandern, Schätzel ade, ade…

In Bristow sind die Altehrwürdigen gerade dabei, ihre Versammlung aufzuheben. Wir winken

ihnen einen Gruß zu. Einen Abschiedsgruß, was sie nicht wissen. Sie winken zurück.

Abends, als wir auf der Terrasse sitzen, kommt das Schwanenpaar mit seinen Jungen zum Lebewohl

vorbei. Sie gründeln und tauchen die Schnäbel ins heilig nüchterne Wasser. Im Dämmerlicht

verschwimmt ihr Federweiß mit dem Wellenhell.

Im Radio läuft ein Bericht über die Studie der Financal Times Deutschland unter dem Motto:

Wie wird der Juniorchef zum Firmenlenker? Der Journalist geht der bewegenden Frage nach, wo

Kinder von Unternehmern das nötige Rüstzeug erwerben, um den Gründer zu beerben.

Brauchst du das? fragt Friderico.

Nein.

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Er schaltet das Radio aus.

War doch wieder schön hier, resümiert er mecklenburgisch karg die zwölf Bootshaus-Tage.

Ja.

Unausgesprochen verbuche ich auf meiner Plusseite, daß die eitle Angst um das Picasso-Manuskript

von mir abgefallen ist. Der Text in der Welt, nun muß er selber weiterstolpern.

Mein Widerstehen bei der Hunde-Attacke rechne ich mir ganz hoch an.

Kleines Wortgewechsel, was uns morgen in Schwerin erwartet, dann verebbt das Sagen.

Eine Stockente schackert. Riemen knarren. Ein spätes Boot kehrt heim.

Wir schalten alle Lampen aus, trinken roten Wein und sind im Dunkel zuhaus.

So findet uns die Nacht.

Pünktlich steht am nächsten Morgen das Taxi vor der Tür. Der Senior-Chef steigt aus.

Elegant wie immer, wohlgelaunt. Er duftet nach edlem Parfüm.

Als wir am Bahnhof in Teterow ankommen, fallen die ersten schweren Tropfen.

Der Zug fährt an. Der Regen draußen verdichtet sich. Er fällt als fließender Vorhang vor die

vergangene Zeit. Die Auszeit.

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