Demokratische Räume / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 81 (4/2020)
In der dérive-Ausgabe mit dem Schwerpunkt »Demokratische Räume« lesen Sie über Geschichte, Gegenwart und Zukunft offener, nicht-kommerzieller hybrider Räume: von Kulturhäusern in Polen, über Community-Museen und SESCs in Brasilien, Clubes de Barrio in Buenos Aires bis zu Gemeinschaftszentren und Common Spaces in Zürich. Im Magazinteil: Beirut nach der Explosion sowie Pandemien und Städtebau: Krankheit, Armut, Dichte .
In der dérive-Ausgabe mit dem Schwerpunkt »Demokratische Räume« lesen Sie über Geschichte, Gegenwart und Zukunft offener, nicht-kommerzieller hybrider Räume: von Kulturhäusern in Polen, über Community-Museen und SESCs in Brasilien, Clubes de Barrio in Buenos Aires bis zu Gemeinschaftszentren und Common Spaces in Zürich. Im Magazinteil: Beirut nach der Explosion sowie Pandemien und Städtebau: Krankheit, Armut, Dichte .
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Editorial
Rund ein Jahr ist es her, dass in Wien die Nordbahnhalle durch
einen Brand vernichtet wurde, dessen genauer Hintergrund bis
heute nicht aufgeklärt ist. Wir waren damals Teil der Initiative
IG Nordbahnhalle, die sich nachdrücklich bemüht hat, die
Halle vor dem geplanten Abriss zu retten und daran arbeitete,
ein Nutzungskonzept für »ein soziales Modellprojekt für
Nachbarschaft, Kultur und Wissenschaft, ein politisches
Modellprojekt für ökologische Nachhaltigkeit und solidarische
Ökonomie und ein rechtliches Modellprojekt für eine kooperative,
gemeinnützige Trägerstruktur« zu entwickeln. Die Pläne
und Ansprüche waren groß, die Unterstützung aus Nachbarschaft,
Kultur und Wissenschaft ebenso. Nach vielen kontroversen
Debatten um den Erhalt mit Entscheidungsträger*innen
aus Stadtplanung und Bezirk, Immobilienentwicklung und
der Eigentümerin ÖBB, hat das Feuer schlussendlich Fakten
geschaffen. Die Nordbahnhalle ist Geschichte, die Notwendigkeit
für Common Spaces, Hybrid Places, wie auch der Titel
des urbanize! Festivals 2020 lautet, das von 14.–18. Oktober in
Wien stattfindet, bleibt jedoch bestehen.
Wir haben uns im Zuge des urbanize!-Festivals und in
etlichen dérive-Ausgaben in den letzten Jahren aus unterschiedlichen
Blickwinkeln immer wieder mit dem Thema Demokratie
beschäftigt. Die Bedeutung von offenen und niederschwelligen
Orten der Begegnung, des Austauschs und der Diskussion hat
sich dabei regelmäßig bestätigt. Das Schwerpunktthema Demokratische
Räume, der Blick auf Geschichte, Gegenwart und
Zukunft solcher nicht-kommerziellen Hybrid Places ist als Fortsetzung
dieser Auseinandersetzung zu sehen.
Räume außerhalb der eigenen Wohnung, die als öffentliche
soziale Treffpunkte dienen, Platz für Soziales, Bildung,
Kultur und/oder Sport bieten, sowie Orte für gesellschaftspolitische
Diskussionen und Engagement sind, erfüllen eine
wichtige demokratiepolitische Funktion. Besonders dann, wenn
sie sich nicht darauf beschränken, ein Top-down-Angebot zu
stellen, sondern von ihren Nutzer*innen kollektiv verwaltet und
programmiert werden. Solche Räume, für die es viele Namen
gibt, seien es Arbeiter*innenheime, Volksheime, Genossenschaftshäuser,
Kulturhäuser, Centri Sociali, Stadtteilzentren
oder Third Places, haben eine lange Tradition, waren und sind
überall zu finden. In manchen Städten sind sie ein wichtiger
und unumstrittener Teil des Alltagslebens, in anderen ist ihre
Geschichte vergessen oder sie sind mit politischem oder ökonomischem
Druck konfrontiert. Ihr Problem in diesem Zusammenhang
ist: Sie werfen keinen Profit ab, lassen sich touristisch
nicht vermarkten, gelten manchen als verstaubt und wenig
innovativ, sind – wenn selbstverwaltet – schwer kontrollierbar
und stehen Aufwertungsprozessen immer wieder einmal im Weg.
Der Soziologe Ray Oldenburg hat in den späten 1980er-
Jahren ein Buch zu einigen Aspekten des Themas geschrieben
und den Begriff Third Places geprägt. Dieser hat sich bis heute
gehalten, neuere umfassende Auseinandersetzungen mit dem
Thema gibt es seither allerdings kaum, was ob
der Bedeutung solcher Orte für die Stadtgesellschaft verwundert.
Das Forschungsinteresse scheint auf einzelne Aspekte des
Themas begrenzt zu sein. Wir stellen im vorliegenden Heft
einige Typen solcher Räume und die dazugehörigen Kontexte
und Konzepte vor: Von Kulturhäusern in Polen, über soziale
Community-Museen und SESCs in Brasilien, Clubes de Barrio
in Buenos Aires bis zu Gemeinschaftszentren und Common
Spaces in Zürich. So unterschiedlich die Beispiele sind, alle zeigen
den Bedarf von Räumen, die Gesellschaft bieten, die sich
aneignen lassen, die für alle offen sind, die man für die unterschiedlichsten
Aktivitäten nutzen kann, in denen Konsum keine
Rolle spielt.
Interessant ist, dass selbst in Häusern, die ein Kulturprogramm
und Kurse anbieten, nicht dieses Angebot die
Attraktion und der wichtigste Grund für den Besuch sind. Die
meisten Menschen machen sich ausschließlich deswegen auf
den Weg in einen dieser Räume, um in der Gesellschaft anderer
Menschen zu sein. 50 Prozent der Besucher*innen der Zürcher
Gemeinschaftszentren – immerhin 600.000 pro Jahr – kommen
einfach so, ohne ein Angebot wahrzunehmen. Das Herz
der brasilianischen SESCs, die ebenso wie die Gemeinschaftszentren
ein umfassendes und vielfältiges Programm
bieten,
ist die Convivencia (dt. Zusammenleben), das Wohnzimmer der
Einrichtungen, ein Raum, in dem kein Programm angeboten
wird. Er ermöglicht andere zu treffen, sich zu unterhalten,
Ruhe zu finden, gut und günstig zu essen und – in brasilianischen
Städten nicht unwichtig – sicher zu sein. Demokratische
Räume erweisen sich somit auch als wichtige Inseln in unserem
kapitalistisch durchgetakteten Alltag und sind ein Safe Space
der anderen Art.
Im Magazinteil ist ein Beitrag von Christa Kamleithner
zu lesen, den wir eigentlich schon als Teil unseres letzten
Schwerpunkts Pandemie veröffentlichen wollten, was aus Zeitgründen
jedoch nicht klappte. Er zeigt die Kontinuitäten in der
medialen Berichterstattung und vorurteilsbehafteten Diskussionen
von den Cholera-Pandemien des 19. Jahrhunderts bis zu
Covid-19, wenn es um die Ursachen der Verbreitung von Pandemien
und das Thema Dichte im Städtebau geht. Ein weiterer
Artikel, der uns besonders am Herzen liegt, stammt von Mona
Fawaz, die über die Folgen der Explosion und die Probleme der
Stadtentwicklung in ihrer Heimatstadt Beirut berichtet. Einer
Stadt, der wir bereits eine ganze Reihe von Artikeln gewidmet
haben. Das Kunstinsert von Isa Rosenberger verweist auf ein
im Zusammenhang mit unserem Schwerpunkt sehr wichtiges
Haus in Wien, die unter dem Namen Volksheim Ottakring
gegründete Volkshochschule Ottakring. Sie war bei ihrer Gründung
eine enorm wichtige Raumressource für selbstorganisierte
Forschung, außeruniversitäre Bildung, Austausch und Diskussion.
Rosenberger blickt in ihrer Arbeit … das weite Land,
woher sie kommt auf eine Tanzaufführung der Tänzerin und
Choreographin Gertrud Kraus in eben jener Volkshochschule
zurück, die dort im Jahr 1934 stattgefunden hat.
Wie schon erwähnt, steht das urbanize!-Festival vor der
Tür. Coronabedingt begibt sich urbanize! verstärkt in den
öffentlichen Raum, um mit Stadtspaziergängen, Walkshops und
urbanen Spielen Commons-Potenziale für Wien zu erkunden.
Wir bitten um Anmeldung und können eine Teilnahme trotz
Maske und physikal distancing nur nachdrücklich empfehlen.
Wir freuen uns auf Euer/Ihr Kommen, denn wie immer gilt:
urbanisieren Sie sich!
Christoph Laimer, Elke Rauth
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