Viehdorfer Nachrichten Nr. 92, Winter 2020
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Kommentar von Markus Burgstaller
COVID-19: Regieren zwischen Freiheit und
Verantwortung
Die Maßnahmen zur Senkung der Corona-Infektionszahlen zeigen weltweit mehr oder weniger
Wirkung. Die Unberechenbarkeit des Virus fordert die Regierungen und verlangt ihnen vor allem eines ab:
Eine demokratiepolitische Gratwanderung zwischen möglichst viel Freiheit auf der einen und der notwendigen
Einschränkung auf der anderen Seite.
Die anhaltende Pandemie zeigt schonungslos
auf, wo die Grenzen unseres
Systems liegen. Dabei sind aber weniger
die der Forschungseinrichtungen
gemeint – die in Rekordzeit an einer
Impfung arbeiten – sondern viel mehr
die gesellschaftspolitischen Grenzen,
wenn es um die Einschränkung von
Freiheitsrechten geht, deren Erreichen
eine zentrale Errungenschaft des 20.
Jahrhunderts darstellt. Wir haben uns
über die Jahrhunderte, insbesondere
ab dem Zeitpunkt der Industrialisierung,
auf Basis der selbstständigenund
unselbständigen Erwerbstätigkeit
einen hohen Lebensstandard erarbeitet.
Die Freiheit, selbstbestimmt
einem Beruf nachzugehen und freie
Zeit für die persönliche Entfaltung in
Anspruch zu nehmen, ist ein hohes
Gut in unserer Gesellschaft. Dieses
selbstbestimmte Leben ist aber leider
allzu oft von einem Konsum- und
Freizeit-Lifestyle getrieben, bei dem
der persönliche Nutzen zählt und das
ignorante „Ich“ dem gemeinschaftlichen
„Wir“ weicht.
Vor diesem Hintergrund treffen
Regierungen dieser Tage ihre
Entscheidungen, denn hinter jeder
gesetzten Maßnahme steht in der
Bevölkerung unisono die Frage, was
das für die persönliche Freiheit bedeutet.
Wann kann ich wieder shoppen
gehen? Wann kann ich wieder Urlaub
machen? Warum kann ich keine Party
veranstalten? … Die Fragen drehen
sich vermehrt um den persönlichen
Lebensraum, als um die Gesundheit
des Nächsten. Dabei vergessen
viele genau an dieser Stelle, dass eine
Erkrankung längerfristig das größere
Risiko für die persönliche Freiheit
darstellt, da sie zu viel weitreichenderen
Einschränkungen führen kann.
In der politischen Theorie ist diese
Grundsatzfrage nicht neu, viele Staatsphilosophen
haben sich dazu Gedanken
gemacht. Der eine Faktor ist ein
Abwägen der Notwendigkeiten und
die Frage, ob die bereits gewonnene
Freiheit durch kurzfristige Einschnitte
langfristig gesichert werden kann.
Der nächste entscheidende Faktor ist
schließlich das politische System, in
dem diese Entscheidungen getroffen
werden. In einer gewachsenen Demokratie
gewährleistet die Gewaltentrennung,
dass Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen
nicht willkürlich von
einer Person getroffen werden und
alles stets unter wechselseitiger Kontrolle
stattfindet – in autokratischen
Staaten hingegen sind derartige Krisen
willkommene Einfallstore zur dauerhaften
Einschränkung der Freiheitsrechte.
Die Frage der Freiheit des Einzelnen
sollte daher immer auch in Abstimmung
mit ihrer „kleinen Schwester“,
der Verantwortung getroffen werden.
Demnach hört die Freiheit des einen
dort auf, wo es in unserem Fall zum
Gesundheitsrisiko für den anderen
wird. Regierungen müssen also
immer vor diesem Hintergrund die
Entscheidung treffen, ob mehr oder
weniger Freiheit möglich ist. Länder
wie Singapur haben in der gegenwärtigen
Krise neue Wege entwickelt und
eine neue Handlungsoption offengelegt:
Die digitale Freiheit wird nahezu
aufgegeben, um das Contact-Tracing
so einfach und rasch wie möglich zu
machen. Im Gegenzug dazu kann die
Bevölkerung ein weitgehend freies,
öffentliches Leben führen; so der Deal.
Die europäischen Länder haben mit
dem Mittel des Lockdowns und einem
telefonischen Contact-Tracing bereits
die Grenze des Vorstellbaren erreicht.
Mit dem Modell Singapur gäbe es für
die westlichen Regierungen nun eine
neue Möglichkeit. Verantwortung
übernehmen würde bedeuten, auch
derartige Überlegungen anzustellen,
um zumindest bedingt mehr (Bewegungs-)Freiheit
zu ermöglichen.
In den Stücken des Ferdinand von
Schirach heißt es am Ende oft: Und
wie würden Sie sich entscheiden,
wenn Sie die Verantwortung tragen
müssten?
Ausgabe 92 | Dezember 2020
Seite 41