Sampler / dérive - Zeitschrift für Stadtforschung, Heft 82 (1/2021)
dérive 82 thematisiert die Bar- und Clubkultur bzw. das Nachtleben in Zeiten der Pandemie vom barkombinat Hamburg über den Wiener Club Fluc bis zu lesbischer und queerer Raumproduktion. Zwei Beiträge widmen sich dem Öffentlichen Raum, einmal während der Nacht und einmal aus Perspektive der Quartiers- und Stadtentwicklung. »Das Moped als Sidestep der mobilen Moderne« und Commons in der Region des ehemaligen Jugoslawiens sind weitere Themen diese Samplers, ebenso wie ein Text über den Schock, den der islamistische Terroranschlags letzten November in Wien ausgelöst hat. Das Heft kann hier gekauft werden: https://shop.derive.at/products/sampler-heft-82-1-2021
dérive 82 thematisiert die Bar- und Clubkultur bzw. das Nachtleben in Zeiten der Pandemie vom barkombinat Hamburg über den Wiener Club Fluc bis zu lesbischer und queerer Raumproduktion. Zwei Beiträge widmen sich dem Öffentlichen Raum, einmal während der Nacht und einmal aus Perspektive der Quartiers- und Stadtentwicklung. »Das Moped als Sidestep der mobilen Moderne« und Commons in der Region des ehemaligen Jugoslawiens sind weitere Themen diese Samplers, ebenso wie ein Text über den Schock, den der islamistische Terroranschlags letzten November in Wien ausgelöst hat. Das Heft kann hier gekauft werden: https://shop.derive.at/products/sampler-heft-82-1-2021
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Kunstinsert
Markus Wilfing
seither_ich_weiss
Schon seit längerem wollten wir Markus Wilfling einladen, ein Kunstinsert für dérive zu machen.
Das Gemeinschaftsprojekt Neigungsgruppe K.O. (Martin Behr, Johanna Hierzegger, Markus
Wilfling) ist nun der konkrete Anlass, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. 7.000 handliche
Beton-Pfeffersprays sollten während des Grazer Kulturjahrs 2020 gegen die kollektive Sicherheitsparanoia
ab der Eröffnung des Kulturjahrs in schwarzen Samtbeuteln verteilt werden. Auf
die durch die Corona-Pandemie veränderten Bedingungen haben die Künstler*innen prompt
reagiert und die nach der Verteilung von 2.000 Stück zu Beginn des Lockdowns verbliebenen
5.000 Pfeffersprays in Desinfektionssprays umgewandelt. Dazu legten sie eine Anleitung bei, wie
man den Samtbeutel in einen Mund-Nasen-Schutz umfunktionieren kann.
Das sehr umfangreiche und vielschichtige Werk Markus Wilfings ist spätestens seit dem
Uhrturmschatten, den der Künstler für die Kulturhauptstadt Graz 2003 realisierte, auch international
sehr angesehen. Einen Schatten als dreidimensionales Objekt auszuführen ist eines von
vielen Themen, die der Künstler in seinen Skulpturen und Installationen konsequent und mit
subtilem, auch gesellschaftskritischem Witz verfolgt.
Vielfach geht es Markus Wilfling um Paradoxe raum-zeitlicher Wahrnehmungen, die die
naheliegende Kontextualisierung eines Ortes in Frage stellen – so auch bei dem im Insert gezeigten
Projekt. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer Serie von Fotoarbeiten,
die an unterschiedlichen Orten jeweils individuelle Erinnerungen des Künstlers (auch) textlich
beschreiben, die jedoch letztlich anachronistisch zu den Orten sind. Auf der ersten Seite wird
eine Serie von neun Fotopaaren mit dem Titel Ich weiß, dass ich hier gewesen sein werde vorgestellt.
Die Kombination aus Gegenwart (ich weiß), Vergangenheit (gewesen) und Zukunft (sein
werde) betont das Paradoxon der Arbeit. Die Fotografie verstärkt als Zeuge des Moments durch
Verdoppelung desselben Bildausschnitts die Frage von Erinnerung und Zeit, so wie sich im
menschlichen Denken und Fühlen vielfach Momente der Zukunft und Vergangenheit überlagern.
Die genaue Inszenierung der Fotos steht hier im Widerspruch zur vermeintlichen Erinnerung
– ein Faktor, den der Künstler gezielt ausspielt, und der durch die aufwendige Ausarbeitung der
analogen Fotos als Silberbromidabzüge noch verstärkt wird. Für die fotografische Arbeit ist
Alexandra Gschiel als langjährige Partnerin verantwortlich.
Die Fotopaare zeigen sehr unterschiedliche Orte, die jeweils über ein Statement die Rolle des
Ortes für das scheinbar persönliche Erlebnis des Künstlers hinterfragen. Das Meer in Piran, die
Abfertigungshalle eines Flughafens, eine Stiege, das Scheinwerferlicht als Überhöhung von Inszenierung,
der Arkadengang eines Klosters, die Triesterstraße in Graz unweit vom Wohnort des Künstlers,
die Landschaft, der Wald. Für die Doppelseite wählte Markus Wilfling das Foto des Klosters,
das er mit »Ich weiß, dass ich hier einmal eine Erektion hatte« überlagert. Im ersten Moment
erscheint dieser Satz in diesem Kontext durch den Verweis auf männliche Sexualität befremdlich,
dann eröffnen sich Bilder von pubertierenden Ministranten bis zu pädophilen Priestern.
Auf der letzten Seite steht ein Schild mit dem Text »Ich weiß, dass ich mich hier vergessen
habe« am Meeresufer bei Piran. In diesem Kontext erscheint der Satz weit weg von der
Redewendung des »sich Vergessens« im Sinne der Aufhebung seiner eigenen Grenzen, sondern
er wird vielmehr zum Sehnsuchtsraum einer Zukunft ohne Erinnerung.
Der in Innsbruck geborene Künstler besuchte zunächst die Kunstgewerbeschule in Graz,
wo er sich der Malerei bei Gerhard Loyen widmete. Danach studierte Markus Wilfling bei Bruno
Gironcoli an der Akademie der Bildenden Künste in Wien. Im September 2020 zeigte er mit
standby.on.run im Semperdepot in Wien auch neue Arbeiten, die er speziell für diesen Ort entwickelte.
Noch bis 31.01.2021 ist seine Einzelausstellung strange im Kunsthaus Mürz in Mürzzuschlag
zu sehen.
Siehe www.kunsthausmuerz.at/
veranstaltungen/markus-wilfling.
Barbara Holub / Paul Rajakovics
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dérive N o 82 — SAMPLER