EditorialSeit Wochen befinden wir uns im Lockdown, es ist davon auszugehen,dass uns weitere Wochen bevorstehen. Mittlerweiledemonstrieren auf den Straßen Tausende Corona-Verharmloserund -leugner*innen wöchentlich gemeinsam mit Nazis undRechtsextremen. Die Polizei kann sich nicht recht dazu entschließen,dagegen vorzugehen, auch wenn die Versammlungenuntersagt worden sind, die Teilnehmer*innen zu wenigAbstand halten und trotzig keine Masken tragen. Genausounentschlossen agiert die Regierung, die denjenigen, die dengrößten Druck ausüben oder den direktesten Draht haben,Lockerungen genehmigt, die anderen verwehrt bleiben. DieÜbereinkunft, dass alle gemeinsam auf Aktivitäten verzichtenmüssen, um die Pandemie zu bekämpfen, löst sich auf. Einwirklicher Plan ist nach wie vor – zumindest von Regierungsseite– nicht in Sicht, wichtige Strategien und Kampagnen wieNoCovid oder ZeroCovid gehen von der Zivilgesellschaft aus.Wir haben uns letztes Jahr in einer Schwerpunktausgabe(dérive 80) mit Pandemien auseinandergesetzt, in derletzten Ausgabe einen Beitrag von Christa Kamleithner über dieCholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts und ihren Einflussauf die europäische Stadtentwicklung veröffentlicht und setzenin dieser Sampler-Ausgabe mit Beiträgen über die Auswirkungenvon Covid-19 auf die urbane Gesellschaft fort. (EineBesprechung von Christa Kamleithners äußerst lesenswertemBuch Ströme und Zonen. Eine Genealogie der »funktionalenStadt« findet sich in dieser Ausgabe.)Im Fokus unserer Beiträge zu Covid-19 stehen diesmaldas Nachtleben und die Clubkultur. Bars und Clubs gehörenzu den Einrichtungen, die von den Einschränkungen der Anti-Corona-Maßnahmen am stärksten betroffen sind und derenZukunftsaussichten am trübsten aussehen, weil die Ermöglichungvon sozialer Nähe eine ihrer Kernaufgaben ist. Bis aufdie Sommermonate des letzten Jahres, in denen manche unterEinschränkungen aufsperren konnten, haben viele von ihnenmittlerweile seit rund einem Jahr geschlossen. In der Debattedarüber, was systemrelevant ist und was nicht, durften sichBarbetreiber*innen bisher keiner besonderen Aufmerksamkeiterfreuen. Es zeichnet sich jedoch immer stärker ab, dass dieökonomische Krise in der öffentlichen Wahrnehmung zwarpräsenter ist, die psychischen Folgen des reduzierten Soziallebensaber für viele wahrscheinlich die gravierenderen undlangfristigeren Auswirkungen haben werden. Jedenfalls Folgen,die weniger leicht verhindert und weniger leicht ausgeglichenwerden können. Dass ökonomische Konsequenzen der Pandemiewie Jobverlust trotzdem passieren und in Österreich nichtdaran gedacht wird, das sehr niedere Arbeitslosengeld dauerhaftzu erhöhen, ist leider auch eine Tatsache.Der kleine Bar-Club-Schwerpunkt dieser Samplerausgabebringt einen Artikel des Hamburger Recht-auf-Stadt-AktivistenNiels Boeing über die Situation der Bars in der Hansestadtund die Gründung des barkombinat Hamburg. MartinWagner, Geschäftsführer des Wiener Clubs Fluc, berichtet ineinem Gespräch über die allgemeine Situation der Clubs inWien, die Bedeutung der Clubkultur und über die Umsetzunglang gehegter Pläne des Fluc-Teams, die Covid-19 nunbeschleunigt hat. Ulf Treger schließlich spricht mit dem GeographenJack Gieseking über die lesbische und queere Produktionvon Raum und damit auch über Bars und Clubs.Indirekt mit Bars und Clubs hat auch Peter PayersArtikel Eine Stadt verändert ihr Gesicht, in dem es um den islamistischenTerroranschlag am 2. November in Wien geht, zutun. Der Attentäter hat mit dem Bermudadreieck, ähnlich wiedie Attentäter in Paris fünf Jahre zuvor, ein beliebtes Ausgehviertelgewählt. Dass im Bermudadreieck auch die größteWiener Synagoge steht, war bei der Auswahl des Anschlagsortssicher kein Zufall. Lebensfreude, die Lust an Musik,Unterhaltung und Geselligkeit ist Islamisten verhasst. Siegegen religiöse Fundamentalist*innen zu verteidigen, ist einAuftrag für uns alle. Einen weiteren Text, der sich dem Nachtlebenund auch der Lust am Feiern widmet, ist Robert ShawsBeitrag Public Space at Night. Anhand von Beispielen ausSydney, Shanghai und London stellt er unterschiedliche Konstellationenund Situationen dar, in denen es um Aneignung,Kontrolle, Verdrängung, Infrastrukturen, Arbeit und Vergnügenin der Nacht geht.Den Beginn des Hefts macht ein Artikel, der ebenfallsOrte der Kultur und der Begegnung in den Fokus nimmt.Die Schwerpunktsetzung ist jedoch eine andere: Das BelgraderKollektiv Ministry of Space hat letztes Jahr ein Buch veröffentlicht,dem eine große Recherche über Commons in TeilenEx-Jugoslawiens zu Grunde liegt. Für dérive geben Iva Čukićund Jovana Timotijević einen Einblick in diese Studie, fürdie auch das Erbe des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismuseine wichtige Rolle spielt.Die weiteren Artikel dieser Samplerausgabe sindMatthias Marschiks Text Das Moped als Sidestep der mobilenModerne und Udo Häberlins Beitrag Öffentliche Räum alsPlattform einer solidarischen Stadt und Baustein der Gemeinwohlorientieurng?Bei Marschik geht es um Massenmotorisierungin der Nachkriegszeit, um Geschlechterrollen undMännlichkeitsbilder, um Stadt und Land und ganz besondersum ein Fortbewegungsmittel, das in unseren Breiten heutenur mehr ein Schattendasein fristet: das Moped. Udo Häberlingibt auf Basis von Sozialraumana lysen und Daten derStadt Wien einen Einblick in Themen der Quartiers- undStadtentwicklung rund um den öffentlichen Raum: seineZugänglichkeit und Nutzung, seine Potenziale und Aneignungsfähigkeit,seine Verteilung innerhalb der Stadt und dieneuen Ansprüche der Stadtbewohner*innen.Das Kunstinsert hat diesmal Markus Wilfing gestaltet,dem es in seinen Arbeiten oft »um Paradoxe raumzeitlicherWahrnehmungen, die die naheliegende Kontextualisierungeines Ortes in Frage stellen«, geht.Es lebe die Bar- und Clubkultur!Christoph Laimer01
»URBAN commons» are about collectively» APPROPRIATING and» REGULATING the shared CONCERNS» of EVERY DAY.«Iva Čukić and Jovana Timotijević, p. 5ANGEBOT: ABONNEMENT + BUCH*8 Ausgaben (2 Jahre) dérive um 56,–/75,– Euro (Österr./Europa)inkl. ein Exemplar von:ÖGFA – ÖsterreichischeGesellschaftfür Architektur undUte Waditschatka (Hg.)Wilhelm Schütte ArchitektFrankfurt — Moskau —Istanbul — WienZürich: Park Books, 2019176 Seiten, 38,00 EuroKatja SchwallerTechnopolisUrbane Kämpfe in derSan Francisco Bay AreaBerlin, Hamburg:Assoziation A, 2019232 Seiten, 19,80 EuroLinda LacknerBelgrads Radikale Ränder —Vergangenheitspolitik unddie postpolitische Stadt:Hamburg: Adocs Verlag, 2020275 Seiten, ca. 15 EuroBestellungen an: bestellung@derive.atdériveZeitschrift für Stadtforschung*Solange der Vorrat reicht!www.derive.at