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sortimenterbrief März 2021

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe März 2021.

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Wann stand für Sie fest, dass Sie ein Buch<br />

über Ihre Zeit in Moria verfassen und<br />

das Geschehen damit im kollektiven<br />

Gedächtnis festhalten möchten? Haben<br />

Sie schon im Camp geschrieben?<br />

Hyams: Obwohl ich gern schreibe, hatte<br />

ich keinen Plan. Während des Winters<br />

waren wir tagsüber so beschäftigt und<br />

abends so übermüdet, dass an Schreiben<br />

nicht zu denken war. Es reichte gerade<br />

nur für Tagebuchaufzeichnungen. Aber<br />

nach der Zerstörung von One Happy<br />

Family (durch Brandstiftung am<br />

7. <strong>März</strong> 2020) und mit Beginn des<br />

Corona-Lockdowns brachten mich griechische<br />

Freunde in den Norden. Im<br />

menschenleeren Ferienort Molivos<br />

verbrachte ich zwei Monate, und dort<br />

begann ich zu schreiben. Danach brach<br />

ich mir den Arm und durfte noch einmal<br />

drei Monate auf der Insel bleiben. So<br />

erlebte ich das Lager Moria auch in der<br />

Sommerhitze und unter nicht endenden<br />

Lockdown-Bedingungen.<br />

Ihr Buch ist in viele Kapitel strukturiert,<br />

die verschiedenen Themen<br />

gewidmet sind. Die Leser erhalten<br />

dadurch einen Einblick in die vielen<br />

Lebenswirklichkeiten, die das Geschehen<br />

in Moria und Umgebung<br />

konstituiert oder beeinflusst haben.<br />

Hyams: Tatsächlich gibt es eben nicht<br />

ein Moria. Die vielen Kapitel sind wie<br />

Mosaiksteine, die das große Ganze<br />

ausmachen, noch dazu sehr subjektiv.<br />

Ein anderer Beobachter würde andere<br />

Bausteine zusammentragen, denn<br />

davon gibt es unendlich viele. Moria<br />

steht für eine Extremsituation, und so<br />

ist zu verstehen, dass alle Beteiligten,<br />

die Flüchtlinge selbst, die Griechen von<br />

Lesbos, die angereisten Freiwilligen,<br />

alle auf ihre Weise „extrem“ reagierten.<br />

Auf der einen Seite gab es unentwegt<br />

Interaktionen zwischen diesen Gruppen,<br />

auf der anderen Seite auch Tendenzen,<br />

sich zu separieren und/oder zu<br />

befeinden. Die Situation auf Lesbos war<br />

so komplex, dass man sie immer nur<br />

ausschnittweise beschreiben kann.<br />

Welche Ihrer Beobachtungen – vielleicht<br />

auch aus psychoanalytischer Sicht –<br />

waren für Sie besonders überraschend?<br />

Helge-Ulrike Hyam<br />

Denk ich an Moria<br />

ca. 160 Seiten, Klappenbroschur<br />

978-3-946334-94-1, € 16,50 | Berenberg<br />

auch als E-Book erhältlich, ET: 23. <strong>März</strong><br />

Hyams: Überraschend war eigentlich<br />

jeder neue Tag – aber es waren nicht<br />

immer die großen Ereignisse, die mich<br />

beeindruckt haben (Demonstrationen,<br />

Polizeigewalt oder Ähnliches), sondern<br />

die kleinen, bisweilen versteckten<br />

und nicht selten auch positiven<br />

Begebenheiten ringsum das Lager<br />

– nachzulesen zum Beispiel im<br />

Kapitel „Lidl“ oder „Busfahrer“. Und<br />

überraschend waren für mich immer<br />

wieder die Geschichten, die mir<br />

Einheimische erzählten, das, was sie mir<br />

damit zwischen den Zeilen vermittelten<br />

– zum Beispiel im Kapitel „Kafenion“.<br />

Eines Ihrer Kapitel beschäftigt sich<br />

mit dem Konzept der Resilienz bzw.<br />

der Frage, wie es möglich ist, dass viele<br />

Geflüchtete trotz ihrer Schicksale und<br />

der widrigsten Umstände im Camp<br />

psychisch relativ stabil bleiben und<br />

weiter funktionieren.<br />

moria hat viele gesichter<br />

Hyams: Diese Frage durchzieht in<br />

verschiedenen Varianten das ganze<br />

Buch, und sie hat mich auf Lesbos<br />

andauernd bewegt. Im Kapitel „Resilienz“<br />

versuche ich, eine Antwort zu geben. Die<br />

Hauptursache für diese Resilienz ist<br />

wahrscheinlich der verzweifelte Wille<br />

nach einem besseren Leben, aber die<br />

modernen Resilienzkonzepte geben<br />

meines Erachtens keine vollständigen<br />

Antworten auf diese Frage. Erstaunlich<br />

ist tatsächlich das Durchhaltevermögen<br />

auf dem langen Fluchtweg. Das Problem<br />

aber war: Selbst wenn die Migranten in<br />

ihrem Lageralltag als „psychisch relativ<br />

stabil“ erscheinen mochten, so war man<br />

dessen nie sicher, dieser Zustand konnte<br />

von einem Moment zum anderen<br />

kippen – und genau damit hatten wir es<br />

in Moria häufig zu tun.<br />

Wie haben Sie sich selbst in dieser<br />

Ausnahmezeit erlebt? Gab es für<br />

Sie Momente der Verzweiflung, der<br />

Resignation?<br />

Hyams: Ja, es gab auch für uns<br />

Volunteers – und auch für mich<br />

persönlich – Momente der Resignation<br />

und Verzweiflung. Das waren einerseits<br />

die Momente, in denen wir einsahen<br />

(entweder allein oder mit Freunden),<br />

wie wenig wir ausrichten konnten,<br />

dass wir immer viel zu wenig taten<br />

(nachzulesen im Kapitel „Volunteers“).<br />

Das waren aber andererseits auch<br />

gänzlich überraschende Momente, in<br />

denen man von Emotionen überrollt<br />

wurde. Diese Reaktionsweise, also dass<br />

die tiefen Emotionen, einschließlich<br />

des dazugehörigen Weinens, oftmals<br />

zeitlich verschoben vom auslösenden<br />

Ereignis und meist ganz unverhofft<br />

eintrafen, beschreibe ich im ersten<br />

Kapitel („Yannis Behrakis“). Dies konnte<br />

ich bei anderen und auch bei mir selbst<br />

beobachten.<br />

Nach dem zehrenden Winter im Camp<br />

und dem Rückzug Ihrer NGO haben Sie<br />

auch den Sommer auf Lesbos verbracht.<br />

Welche Eindrücke haben Sie aus dieser<br />

Zeit mitgenommen?<br />

<strong>sortimenterbrief</strong> 3/21<br />

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