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BLICKWECHSEL 2021

Schauwerte. Kultur und Geschichte im Spiegel visueller Medien

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Besitzlosen bisher auch nicht erlaubt, Ehen einzugehen und<br />

eine Familie zu gründen, was Bolzano schärfstens ablehnt,<br />

weil es häufig in ein dramatisch aussichtsloses Leben führt.<br />

Ganz anders tritt der nunmehr herrschende Nationalismus<br />

im von Kriegen bereits verunsicherten Europa des 19. Jahrhunderts<br />

auf. Er orientiert sich an dem schwammigen Konstrukt<br />

einer absolut gesetzten, pseudoreligiösen nationalen<br />

Glorie. Nationalistisches Denken durchbricht bald humanistische<br />

Schranken und die einzelnen, absolut gesetzten<br />

Nationen drängen gewaltsam auf technisch-wirtschaftliche<br />

Überlegenheit. Das führt zur Erhöhung der Spannungen<br />

zwischen den Nationen und zu latenter Kriegsgefahr.<br />

In Bolzanos zweisprachiger böhmischer Heimat droht der<br />

Nationalismus jetzt die Einheit des Landes in Frage zu stellen.<br />

Mehr noch: Das österreichische Kaiserreich, das nicht<br />

nur den Böhmen, sondern vielen verschiedenen Völkern in<br />

Mitteleuropa Heimat war, passt so gar nicht in das nationalistische<br />

Schema, sein Untergang scheint nur noch eine<br />

Frage der Zeit.<br />

Bolzano stellt klar: Es gibt Wahrheiten an sich, diese sind<br />

philosophisch exakt präzisierbar. In welcher „National“-<br />

Sprache sie ausgedrückt werden, ist unwesentlich, der<br />

unterschiedliche Wortlaut und Klang der Sprachen völlig<br />

unbedeutend.<br />

Um unklare Gedanken zu erkennen, bedarf es aus Bolzanos<br />

Sicht letztlich einer harten, logisch-mathematischen<br />

Basis, einer mathesis universalis. Bis zu Gottfried Wilhelm<br />

Leibniz war diese Erkenntnis auch in Deutschland noch<br />

grundlegend. Aber der große deutsche Philosoph Immanuel<br />

Kant war, wie Bolzano mit Schrecken erkennen muss, nicht<br />

in der Lage gewesen, sein Riesenwerk zu erden: Er hatte das<br />

Phänomen der mathematischen Unendlichkeit nicht erkannt<br />

und war gleichsam vor dieser »Unendlichkeitsgrenze« stehengeblieben.<br />

Kants idealistische Nachfolger – etwa Fichte,<br />

Hegel und Schelling – verloren bald vollends den Boden<br />

unter den Füßen. Andererseits glaubte der vielbewunderte<br />

deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe allen Ernstes,<br />

die ganze moderne Naturwissenschaft in seiner »Farbenlehre«<br />

endgültig überwunden zu haben! Mit einem Wort:<br />

In deutschen Ländern war grenzenloser Schwärmerei Tür<br />

und Tor geöffnet. Bolzano definiert:<br />

Man schwärmt, wenn man die Dinge nicht wie sie an sich<br />

sind, sondern in Bildern betrachtet, die das Gemüth zwar in<br />

der Gegenwart vergnügen, aber doch darum tadelnswerth<br />

sind, weil sie Gefühle und Entschließungen wecken, die<br />

den Verhältnissen dieser Dinge zu uns keineswegs angemessen<br />

sind.<br />

Bolzano erkennt, dass hier ein im Prinzip ausweg- und endloser<br />

zerstörerischer Prozess der Gedankenverwirrung eingesetzt<br />

hat, der das Abendland und mithin die Menschheit<br />

in größte Gefahr bringt. Er wehrt sich dagegen mit all seinen<br />

Geisteskräften. Bolzanos strikt pazifistische und unvermindert<br />

aufklärerische Haltung ist den Mächtigen auch in<br />

Österreich verdächtig: Er wird zu Weihnachten 1819 vom<br />

Dienst suspendiert.<br />

Wir hätten Bernard Bolzano längst vergessen, wären nicht<br />

aufmerksame Forscher auf seinen in der Wiener Staatsbibliothek<br />

abgelegten Nachlass gestoßen. Sie entdeckten dort<br />

unter anderem einen analytischen Lehrsatz, den Bolzano ein<br />

halbes Jahrhundert vor dem Mathematiker Karl Weierstraß<br />

gefunden hatte: einen Satz, der heute als »Satz von Bolzano-<br />

Weierstraß« unter Mathematikern als grundlegend bekannt<br />

ist; eine objektive mathematische Wahrheit, die als solche<br />

für das menschliche Empfinden zwar unwichtig, für den<br />

Fortschritt in den Wissenschaften aber von Bedeutung ist.<br />

In den Begriffen der Alltagssprache, die für das menschliche<br />

Empfinden entscheidend sind – solchen, die Bernard<br />

Bolzano in seiner Rede von 1816 zu klären versucht hatte –,<br />

fehlt uns vielfach noch Klarheit, Mut und Menschlichkeit.<br />

Wir aber haben keine Wahl: Wir müssen uns auch hier, vom<br />

Gemeinwohl aller Menschen vor allem, deutliche Begriffe<br />

bilden und diese kompromisslos anwenden. Denn letztlich<br />

ist die Sprache das eigentliche Überlebenswerkzeug der biologischen<br />

Spezies Mensch. Sie (als solches) zu gebrauchen<br />

wird unser gemeinsames Schicksal entscheiden.<br />

Kurt F. Strasser<br />

Grafik: Einer von sieben Schritten des Bolzano-Weierstraß-Theorems,<br />

Quelle: Stephan Kulla via Wikipedia<br />

Dr. Kurt F. Strasser ist Literaturwissenschaftler,<br />

Schriftsteller, Philosoph<br />

und Herausgeber von Bolzanos<br />

politischen Reden im Auftrag<br />

der Österreichischen Akademie<br />

der Wissenschaften. 2020 erschien<br />

im Kölner Böhlau Verlag als Band<br />

16 der Reihe Intellektuelles Prag im<br />

19. und 20. Jahrhundert seine umfassende<br />

Monografie Bernard Bolzano<br />

(1781–1848). Ein böhmischer Aufklärer<br />

(464 S., als Buch 65 €, als E-Book<br />

54,99 €, ISBN: 978-3-412-51750-2).

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