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BLICKWECHSEL 2021

Schauwerte. Kultur und Geschichte im Spiegel visueller Medien

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Ausgabe 9 • <strong>2021</strong><br />

WERKE<br />

47<br />

Wahlplakate (die Roten, die Schwarzen, die Gelben,<br />

die Grauen, die Blauen, die Grünen); erste Umfragen<br />

ergeben, dass Sozialdemokraten und Christlichsoziale<br />

ungefähr gleichauf liegen, dass Umweltschützer<br />

und Freisinnige im Abgeordnetenhaus des Reichsrates<br />

jeweils auf circa 15 Prozent kommen werden,<br />

dass die Deutschnationalen und die Antisemiten einander<br />

Wähler vor der Nase wegschnappen; bei der<br />

jüngeren Generation steigt die Politikverdrossenheit;<br />

allerdings sind die Hochrechnungen aus Böhmen und<br />

beiden Galizien noch ungenügend berücksichtigt.<br />

(An dieser Stelle fühlte Alexej die schlanken Finger<br />

von Barbara, wie sie sich in den Pappbehälter stahlen,<br />

den er zwischen seinen Schenkeln festgeklemmt<br />

hielt; als er im Dunklen zu ihr hinübersah, schaute<br />

Barbara mit kokettem Schuldbewusstsein zurück –<br />

dann öffnete sie leicht ihre Lippen und zeigte ihm<br />

das Kokoskügelchen, das sie knapp hinter ihrer Zungenspitze<br />

balancierte.) […] (An dieser Stelle lehnte<br />

Barbara ihren Lockenkopf an Alexejs Schulter und<br />

stibitzte ihm heimlich eine weitere Kokoskugel.) […]<br />

SIEBTENS, der HEITERE AUSKLANG: Gräfin<br />

Ildikó von Andrássy, die Außenministerin von<br />

Österreich-Ungarn – eine bekennende Lesbierin,<br />

die sich ihr dichtes weißes Haar zur Bürste schneiden<br />

lässt –, ist von einem hinterhältigen Fotografen<br />

dabei abgelichtet worden, wie sie mit ihrer langjährigen<br />

Gefährtin in klobigen Gummistiefeln ein<br />

paar Birnbäume pflanzt, Unkraut jätet und Steine<br />

auf eine Schubkarre lädt, also kurz und banal: wie<br />

sie auf ihrem Landgut in Westtransdanubien ein<br />

bisschen Gartenarbeit verrichtet. Kühler Kommentar<br />

der Außenministerin: »Wenigstens hat mich der<br />

Herr nicht im Badeanzug erwischt.« (Auf den billigen<br />

Rängen im Kinosaal wurde heftig durch die Finger<br />

gepfiffen.) Im besten Diplomatenfranzösisch fügt<br />

Gräfin Andrássy hinzu: »Il faut cultiver notre jardin.«<br />

Dann begann der Hauptfilm (die ersten Takte der<br />

Jupitersymphonie ertönten, ein Einhorn tänzelte<br />

heran, über ihm entfaltete sich der Schriftzug:<br />

Rosenhügel-Studios Wien). Der Hauptfilm ließ nicht<br />

das Mindeste zu wünschen übrig. Wilde Kampfszenen<br />

und kaltheiße Küsse; eine herrliche Verfolgungsjagd<br />

mit schnellen Booten auf der Donau. Naturgemäß<br />

gab es auch einen Finsterling, denn hinter der<br />

Verschwörung steckte – wer hätte das gedacht – ein<br />

böser Mister X, ein amerikanischer Plutokrat aus Virginia,<br />

der die Donaumonarchie zerschlagen wollte,<br />

damit Amerika endlich zur Großmacht aufsteigen<br />

konnte. »Von der Humanität über die Nationalität<br />

zur Bestialität!« Hatte das nicht schon Franz Grillparzer<br />

gesagt? […] All diese Bedrohungen hatten<br />

zur Folge, dass Barbara immer drängender Schutz<br />

bei ihm suchte, sie knöpfte Alexej das Hemd auf, um<br />

ihre grazil-kräftige Hand auf seine männliche (allerdings<br />

gänzlich unbehaarte) Beschützerbrust zu legen;<br />

am Ende wäre sie ihm beinahe als Ganze unter das<br />

Hemd gekrochen, jedenfalls versteckte sie ihren Kopf<br />

dort: »Sag mir, wann ich wieder hinschauen kann«,<br />

bat sie. Alexej gab Entwarnung, als endlich Max von<br />

Winterstein auftauchte und seines Amtes als Filmheld<br />

waltete, er streckte Mister X mit einem Faustschlag<br />

in den Solarplexus nieder, während der gerade<br />

etwas vom »Selbstbestimmungsrecht der Nationen«<br />

faselte, dann übergab er Wilson Woody den zuständigen<br />

k. u. k. Behörden – die Verschwörung war aufgedeckt,<br />

das Abendland gerettet, Abspann.<br />

Die Rumkokoskugeln waren mittlerweile auch verputzt.<br />

Der Journalist, Blogger und Buchautor Hannes Stein, 1965 in München geboren,<br />

schrieb u. a. für die F.A.Z. und den Spiegel. Er arbeitet seit 2007 als Korrespondent<br />

für die Welt in New York.<br />

Hannes Stein: Der Komet, Berlin: Galiani, 2013, 272 S., gebunden,<br />

ISBN 978-3-86971-067-9, 18,99 €<br />

Der Anmerkungsapparat des Romans beleuchtet die Realien hinter der<br />

fiktiven Handlung. Hier eine Kostprobe:<br />

Rosenhügelstudios: gehen zurück auf die Sascha-Filmindustrie. Sie<br />

wurde 1910 in Pfraumberg in Böhmen [tschech. Přimda] von einem<br />

Mann mit einem unverwechselbar altösterreichischen Namen gegründet:<br />

Alexander Joseph Graf Kolowrat-Krakowsky. 1912 verlegte das<br />

Unternehmen seinen Sitz nach Wien. In der Stummfilmzeit avancierte<br />

es mit Monumentalschinken wie »Sodom und Gomorra« und Historiendramen<br />

wie »Kaiser Joseph II.« zu einem der führenden europäischen<br />

Filmproduzenten. Den Übergang in die Ära des Tonfilms bewältigte die<br />

Sascha-Filmindustrie nur mühsam; Oskar Pilzer, der eigentlich von der<br />

Konkurrenz kam, übernahm die Firma. (»Sascha« Kolowrat-Krakowsky<br />

war mittlerweile gestorben.) Zu den bekanntesten Regisseuren der<br />

Sascha-Filmindustrie gehörte Mihály Kertész, der als Michael Curtiz<br />

später im Exil den Film »Casablanca« drehte; bekannte Schauspieler,<br />

die von Kolowrat-Krakowsky entdeckt wurden, waren (unter vielen<br />

anderen) Marlene Dietrich, Hans Moser und Paula Wessely. Nach dem<br />

»Anschluss« wurde Oskar Pilzer, der Jude war, aus dem Unternehmen<br />

gedrängt und seiner Anteile beraubt; er starb 1939 in Paris. Die<br />

Sascha-Filmindustrie wurde der nationalsozialistischen Propagandawirtschaft<br />

einverleibt.

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