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BLICKWECHSEL 2021

Schauwerte. Kultur und Geschichte im Spiegel visueller Medien

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Literatur im BlickWechsel<br />

Anders sähe es auf unserem Planeten aus, hätten wir ihm im 20. Jahrhundert zwei Weltkriege<br />

erspart: Das ist die Idee des Romans Der Komet, der folgerichtig auf den Auslöser<br />

des Ersten Weltkriegs, die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand, verzichtet:<br />

Als dieser merkt, dass er in Sarajevo nicht willkommen ist, reist er wieder ab, statt sich<br />

samt Gattin meucheln zu lassen. Eine der zahlreichen Folgen dieser Entscheidung ist die<br />

Bedeutungslosigkeit von Los Angeles für die Filmindustrie, denn Österreich-Ungarn wird<br />

seiner jüdischen Bevölkerung nicht beraubt und die Wiener Rosenhügelstudios etablieren<br />

sich weiter als »europäisches Hollywood«. Unser Auszug führt uns mit dem jungen<br />

Protagonisten in ein Wiener Kino, das er mit seiner verheirateten Geliebten besucht.<br />

RENDEZVOUS IM PRATERKINO<br />

Auszug aus dem Roman Der Komet<br />

von Hannes Stein<br />

Vor einer Woche waren sie dann endlich zum ersten<br />

Mal miteinander im Kino gewesen. Sie gingen<br />

in keinen der großen Filmpaläste, denn dort wäre<br />

die Gefahr zu groß gewesen, dass jemand Barbara<br />

erkannte; stattdessen spazierten sie eines Abends<br />

von ihrer Wohnung zu einem der freundlichen kleinen<br />

Praterkinos hinüber. Dort bekam man nicht<br />

nur Dutzendware aus den Rosenhügelstudios, sondern<br />

auch künstlerisch Wertvolles oder Exotisches<br />

zu sehen, manchmal sogar den einen oder anderen<br />

Film aus Kansas oder Canada. Doch Barbara<br />

und Alexej war an diesem Abend nicht nach Kopfzerbrecherkino<br />

zumute; ein Abenteuerfilm sollte es<br />

sein, und so lösten sie lieber Eintrittskarten für Das<br />

Budapest-Komplott, einen Kriminalfilm mit Max<br />

von Winterstein und Julia Wallach in den Hauptrollen.<br />

Laut Ankündigung gab der hochgewachsene<br />

Freiherr von Winterstein einen hartgesottenen Gendarmen,<br />

die berühmte Wallach dagegen spielte eine<br />

naive Touristin aus München – ganz aus Versehen<br />

stolperte sie in eine weitverzweigte Verschwörung<br />

hinein, deren Ziel es war, die Völker der Donaumonarchie<br />

aufeinanderzuhetzen.<br />

Neben den Schaukästen mit Filmbildern – Max<br />

von Winterstein sah blond und durchtrainiert<br />

aus, die Wallach hingegen war brünett und zierlich<br />

– hingen Rezensionen; die Neue Freie Presse<br />

schrieb: »In diesem rasant gefilmten Machwerk wird<br />

der Wahrscheinlichkeit nicht erlaubt, ihr hässliches<br />

Haupt zu erheben.« Das versprach, aufregend und<br />

lustig zu werden; also hinein. Vorher allerdings<br />

kaufte Alexej, während Barbara ihn scheel von der<br />

Seite ansah, eine große Portion einer Köstlichkeit, die<br />

»Rumkokos« hieß; dieser Versuchung hatte er noch<br />

nie widerstehen können. (Hier handelt es sich um<br />

kleine, mit fettiger Schokoladenglasur überzogene<br />

Zuckerkugeln, die tatsächlich vage nach Kokosnuss<br />

schmecken; jede Kugel aber umhüllt eine hochprozentige<br />

Pointe aus purem österreichischem Rum.)<br />

Die Platzanweiserin zeigte den zwei Liebenden ihre<br />

Plüschsitze, dann wurde es dunkel im Saal.<br />

Leider mussten sie vor dem Hauptfilm erst einmal<br />

eine halbstündige Wochenschau erdulden. Kein<br />

Mensch wusste, warum das so war; in der gesamten<br />

Monarchie gab es – wie überhaupt in der zivilisierten<br />

Welt – wohl kaum einen Haushalt ohne Fernsehgerät.<br />

Trotzdem liefen in den Kinos immer noch diese<br />

altmodischen Wochenschauen von der Spule, wahrscheinlich<br />

handelte es sich um ein religiöses Ritual.<br />

AUFTAKT: triumphal-festliche Musik, dann ein<br />

bonbonbuntes Bild. Der Kaiser zeichnet Prinz<br />

Albrecht zu Hohenlohe-Schillingsfürst, den langjährigen<br />

Präsidenten des Herrenhauses, für seine<br />

Verdienste um die Monarchie mit dem Orden vom<br />

Goldenen Vlies aus. (Der Prinz war ein kahler Tattergreis,<br />

der sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt, und<br />

das Herrenhaus hatte – wie das »House of Lords« in<br />

Großbritannien – nur noch schmückende Funktion;<br />

gleichwohl rannen Se. Durchlaucht Rührungstränen<br />

über die glatt rasierten Wangen.) […]<br />

ZWEITE SEQUENZ: Wahlen in der österreichischen<br />

Reichshälfte. Die Kamera fährt über

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