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BLICKWECHSEL 2021

Schauwerte. Kultur und Geschichte im Spiegel visueller Medien

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Stellen gegen die Wand auf Sammelplätzen. Den Amateurfilmern<br />

gelang es so, auch den Teil des damaligen Geschehens<br />

einzufangen, der nicht dem offiziellen Bild einer ruhigen<br />

und problemlosen Vertreibung entsprach, wie es die<br />

staatlich gelenkte professionelle Kinematografie vermittelte.<br />

Vom Stereotyp zur diffenzierten Sicht: Spielfilme<br />

Das Thema der deutsch-tschechischen Beziehungen und der<br />

Nachkriegsereignisse verarbeitete auch eine ganze Reihe<br />

von Spielfilmen tschechoslowakischer, später tschechischer<br />

Produktion. Im Laufe der 1940er und 1950er Jahren lässt sich<br />

eine starke Tendenz feststellen, die Deutschen als stereotype<br />

und schablonenhafte Figuren darzustellen, die alle zusammen<br />

eine Masse von Feinden bilden, gegen die man sich verteidigen<br />

müsse. So ist dies etwa im Film Nástup (»Einstieg«)<br />

von 1952, der als einer der ersten offen die Vertreibung als<br />

einzige und gerechte Möglichkeit thematisierte, weiteren<br />

Unruhen und Sabotageakten seitens der deutschen Bevölkerung<br />

vorzubeugen.<br />

Eine Wende in der Reflexion der Nachkriegsereignisse<br />

vollzog sich erst in den 1960er Jahren, die neben einer politischen<br />

und kulturellen Befreiung auch die Bereitschaft mit<br />

sich brachten, das bisherige Geschichtsbild zu revidieren.<br />

Dieser Trend zeigte sich zum Beispiel in den Filmen Kočár do<br />

Vídně (»Die Kutsche nach Wien«, 1966), Ať žije republika (»Es<br />

lebe die Republik«, 1966) oder Adelheid (1969), in denen die<br />

stereotype Darstellung der Deutschen durch eine Relativierung<br />

des nationalen Widerstands und eine Infragestellung<br />

einer klaren Teilung der Gesellschaft in Gut und Böse ersetzt<br />

wurde. Die Aufmerksamkeit wendete sich dem Einzelnen<br />

und seiner individuellen Erfahrung zu.<br />

Die folgende »Normalisierung« der 1970er und 1980er<br />

Jahre beraubte die tschechische Kinematografie nicht nur<br />

ihrer künstlerischen Unabhängigkeit, sondern auch des<br />

Bestrebens und der Möglichkeit, die Sicht auf historische<br />

Ereignisse offen zu revidieren. Damit kehrte für eine gewisse<br />

Zeit das Bild der Deutschen als Schuldige auf die Leinwand<br />

zurück. Erst der Fall des kommunistischen Regimes im Jahr<br />

1989 und die Befreiung des gesellschaftlichen Klimas ermöglichten<br />

es wieder, die Interpretation von Geschichte grundsätzlich<br />

zu überprüfen. Vor allem während der letzten beiden<br />

Jahrzehnte beschäftigten sich die Filmemacher relativ oft mit<br />

der Zeit der Okkupation und Befreiung. Sie zögerten dabei<br />

nicht, auch Situationen zu zeigen, in denen an Deutschen<br />

nach Kriegsende von seiten der Tschechen Gewalttaten<br />

verübt wurden – einschließlich der bis dahin tabuisierten<br />

»wilden Vertreibungen« in den ersten Wochen und Monaten<br />

nach Kriegsende. An Filmen wie Krev zmizelého (»Das<br />

Blut des Verschwundenen«, 2005) oder Habermanův mlýn<br />

(»Habermann«, 2010) lässt sich ablesen, wie sich die Schuldzuweisung<br />

für die antideutsche Gewalt allmählich von den<br />

abgeschobenen Deutschen auf jene Tschechen verlagert,<br />

die an den Deutschen Gewalt verübt hatten. In den letzten<br />

Jahren führt eine Relativierung der bis dahin geltenden Auslegung<br />

zu Tendenzen, diese historischen Ereignisse auf eine<br />

gegenüber beiden Seiten möglichst korrekte Art und Weise<br />

abzubilden. Dies zeigt unter anderem der inzwischen mehrfach<br />

preisgekrönte Streifen Krajina ve stínu (»Landschaft im<br />

Schatten«, 2020), in dem Figuren ohne Rücksicht auf ihre<br />

Nationalität Opfer des menschlichen Zorns und eines über<br />

Jahre hinweg unterdrückten Unmuts werden.<br />

Tereza Frodlová<br />

Übersetzung aus dem Tschechischen: Wolfgang Schwarz<br />

Tereza Frodlová arbeitet als Filmrestauratorin im Nationalen Filmarchiv<br />

(Národní filmový archiv – NFA) in Prag. Dr. Wolfgang Schwarz ist Kulturreferent<br />

für die böhmischen Länder im Adalbert Stifter Verein in München<br />

( S. 56–58).<br />

Ein Videovortrag von Tereza Frodlová zum Thema findet sich auf dem<br />

YouTube-Kanal des Adalbert Stifter Vereins: http://bit.ly/frodlova_asv

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