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WOCHENENDE IM ALLGÄU<br />
AM LAGERFEUER<br />
Engel hissen die Segel. In den benachbarten Bauten sind oft<br />
regionale Künstlerinnen und Künstler zu sehen, aktuell der<br />
bunte Wilde Franz Hitzler. Im Zentrum von KEMPTEN, der<br />
heimlichen Hauptstadt des Allgäus, entstand ab 1651 die erste<br />
monumentale deutsche Barockanlage nach dem Dreißigjährigen<br />
Krieg – Kirche und Schloss. Wer Zeit hat, bucht die Führung<br />
in die Prunkräume der Residenz von Fürstabt Anselm<br />
Reichlin von Meldegg, zwischen 1732 und 1745 in der kräftigen<br />
Farbigkeit des frühen Rokoko ausgeführt.<br />
Bei einer Allgäureise sollte die Künstlerin Natur nicht fehlen.<br />
Unsere Fahrt führt nun ein Stück Deutsche Alpenstraße<br />
entlang über den Großen Alpsee mit seinen Kite-Surfern. In<br />
Oberstaufen liegt das Nachtquartier BERGKRISTALL wie eine<br />
Aussichtsterrasse gegenüber dem Hochgrat und anderen Allgäuer<br />
Alpengipfeln. Abends kommen Hirsche bis an den Zaun<br />
und die Panoramafenster.<br />
Sonntag Das Resort Bergkristall wählten wir<br />
auch, weil wir von hier aus zu Fuß ein<br />
paar Kapellen mit spitzen Helmdächern erreichen können. Sie<br />
sehen unscheinbar aus, aber drinnen hat vor allem die gotische<br />
KAPELLE ST. BARTHOLOMÄUS drei gewaltige mittelalterliche<br />
Altäre zu bieten. Sie bestehen aus je drei Flügeln mit Halbrelieffiguren<br />
vor Goldgrund und Predella. Die Dargestellten wurden<br />
zwischen 1430 und 1500 von Mitgliedern der Künstlerfamilie<br />
Strigel aus der Memminger Schule geschaffen. Auch die<br />
Kapelle von Genhofen hat drei kapitale Altäre. Zurück in tieferen<br />
Gefilden stoßen wir im fast tausendjährigen ISNY auf eine<br />
Stadt, die den Mut hatte, früh den Grafik designer OTL AICHER<br />
mit ihrer Corporate Identity zu beauftragen. Der aus der Nähe<br />
stammende wegweisende Gestalter wäre letztes Jahr 100 Jahre<br />
alt geworden. Aus diesem Anlass widmete ihm Isny einen offenen<br />
schwarzen Pavillon, der jetzt im Kurpark steht und an die<br />
weißen und schwarzen Piktogramme Aichers erinnert. In<br />
LEUTKIRCH, das man über eine kurvenreiche Fahrt erreicht,<br />
steht das MUSEUM IM BOCK. Sein Café ist ein schöner Rastplatz.<br />
Im ersten Stock gibt es auch einen Otl-Aicher-Raum: Möbelentwürfe,<br />
Fotografien aus seinem Leben und Texttafeln ehren<br />
den Designer, der lange im Leutkircher Vorort Rotis gelebt<br />
hat. Dort entwarf er seine Gebäude im Stil des Vorbilds Le Corbusier<br />
selbst.<br />
In OTTOBEUREN gibt es in der stattlichen Bendiktinerabtei<br />
neben erstklassigen Rokokoarbeiten Schöpfungen aus der<br />
Barockzeit wie den Kaisersaal mit 16 Monumentalstatuen von<br />
Joseph Anton Sturm (wird derzeit renoviert) zu entdecken.<br />
Oder die gerade wiedereröffnete Filiale der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.<br />
Hier ergänzen 37 vor allem mittelalterliche<br />
Arbeiten Allgäuer und schwäbischer Meister rund um das<br />
Glanzwerk OTTOBEURER MARIENTAFEL von 1450 den neu konzipierten<br />
Rundgang des Klostermuseums. Weiß gehöhte Eichendielen<br />
und intarsierte Türen betonen das lichte Ambiente<br />
und die Barockmotive in den Deckenzwickeln. Unser dritter<br />
Tag endet im Zentrum von MEMMINGEN, wo uns das Rathaus<br />
mit der kolossalen Renaissancefassade, die aber 1764/65 geschwungene<br />
neue Giebel und Stuckdekor im Rokokokstil bekam,<br />
und das ehemalige Kreuzherrenkloster anziehen. In seinen<br />
gewölbten Parterreräumen bietet das Kreuzherrn-Cafe<br />
zum Ausklang Kässpätzle oder Apfelstrudel und Chai Latte.<br />
Schönes Ausflugsziel: die Wieskirche in Steingaden (u.).<br />
Links: In der Abtei Ottobeuren hängt die Allegorie auf<br />
den Lohn der Tugend und die Strafe des Lasters, um<br />
1560-70, darunter Rudi Trögers Blumen, 1964, zu sehen<br />
vom 5. Juli bis 19. November im Kunsthaus Kaufbeuren<br />
Bilder: Sibylle Forster/Bayerische Staatsgemäldesammlungen - Staatsgalerie in der Benediktinerabtei Ottobeuren;<br />
Mario Drechsler/Courtesy Galerie Jahn und Jahn, München; Eurasia Press/Photononstop/mauritius images<br />
Mahler-Fieber<br />
Begeisterung teilen gehört definitiv<br />
zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.<br />
Umso mehr wenn ich Werke vorstellen<br />
darf, die live eine absolut unwiderstehliche<br />
Wirkung erzielen können – erst<br />
recht, wenn man sie zum ersten Mal<br />
hört, vielleicht sogar an einem besonderen Ort. Unvergessen für<br />
mich persönlich bleibt mein Initial-Erlebnis in Sachen Gustav Mahler:<br />
die grandiose 2. Sinfonie ("Auferstehung") im Hamburger Michel,<br />
jener Kirche, in der der Komponist einst die Eingebung für den<br />
berühmten Schlusschor erhalten hatte. Ich war damals zutiefst bewegt<br />
und entwickelte im Anschluß ein regelrechtes Mahler-(Reise-)<br />
Fieber, das bis heute anhält.<br />
Ralf Tiedemann ist Musikwissenschaftler,<br />
Klang-Coach, Stimmen-Kenner und<br />
Weltreisender in Sachen Oper und klassische<br />
Musik. Seit 2022 begleitet er exklusiv<br />
ausgewählte <strong>ZEIT</strong> Musikreisen.<br />
Als ich Jahre später meine erste Kulturreise<br />
als Musik-Experte begleiten durfte,<br />
stand ein nicht minder spektaku -<br />
lä res Mahler-Werk auf dem Programm:<br />
die 3. Sinfonie, nun in der Elbphilharmonie.<br />
Was war das für ein irres Gefühl,<br />
unsere Gäste beim gemeinsamen Konzertbesuch ähnlich überwältigt<br />
zu sehen! Die Stimmung danach: unvergesslich. Und so wird es<br />
vermutlich wieder sein, wenn ich mit meiner <strong>ZEIT</strong> Reisen-Gruppe<br />
im Juni in Hamburg erneut die Dritte von Mahler erleben darf und<br />
dann im August seine Auferstehungssinfonie beim 67. Gstaad<br />
Menuhin-Festival in der malerischen Kulisse der Schweizer Berge.<br />
Wie gesagt: Lieblingsbeschäftigung...<br />
TEXT Ralf Tiedemann ILLUSTRATION Cora Meyer<br />
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