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Die geflüchteten
Menschen
harren teilweise
wochenlang
versteckt in den
Wäldern aus.
Polnische Polizeibeamte an der Grenze im Wald
© Karol Grygoruk / RATS Agency
Figur spielt unter ihnen Jagoda*.
„SIE NENNEN MICH
LUKASCHENKOS
AGENTIN.“
Jagoda, eine ältere Dame, trifft sich
mit uns zu einem Spaziergang im Wald.
„Gestern hätte ich noch keine Kraft
gehabt, um mit euch zu reden. Jeden
Abend schaue ich aus dem Fenster und
frage mich, wie schlimm die Nacht für
die Menschen dort wird.“ Gleichzeitig
muss sie daran denken, wie sie möglichst
unauffällig helfen kann. „Ich habe
schon gehört, dass ich ‚Lukaschenkos
Agentin‘ genannt werde. Es herrscht so
viel Misstrauen. Hier passiert etwas, das
in einer zivilisierten Welt nicht passieren
dürfte - dass Hilfe illegal ist“, sagt sie
ruhig. Sie erzählt uns, dass die Bandbreite
der Helfenden von StudentInnen
bis hin zu PensionistInnen reicht. „Ich
koordiniere, wer wann was abholen
kommt, was gerade gebraucht wird –
jeder hilft, wie er kann.“ Wir erfahren,
dass die polnische Bevölkerung stark
desinformiert ist – auch wenn viele helfen
wollen. Sie spenden Shampoo oder
Zahnpasta – dabei haben die Menschen
im Wald nicht einmal sauberes Trinkwasser.
Jagoda betont, dass sie, so wie die
anderen Helfenden, in einer Blase lebe.
„Ich muss euch Mädchen schon sagen:
Die Mehrheit der Menschen hier besteht
aus alteingesessenen Katholiken, die
die PiS Partei wählen und die Hilfe für
Flüchtlinge entschieden ablehnen“, legt
Jagoda ernst dar und fährt fort: „Die
Grenzbeamten haben die BewohnerInnen
hier in der Gegend informiert, dass sie
sie anrufen sollen, wenn sie Flüchtlinge
sehen, die es zu uns nach Polen
geschafft haben. Ich kenne persönlich
einige, die angerufen haben. Als sie dann
gesehen haben, wie mit diesen Menschen
umgegangen wird, haben sie die
Seiten gewechselt und begonnen, uns zu
helfen.“
„MIR SIND DIESE
MENSCHEN IM WALD
KOMPLETT EGAL.“
Elżbieta wiederum steht für jene Polen
und Polinnen, die Hilfe strikt ablehnen.
Wir sprechen sie und ihren Mann auf
der Straße an – auf den leer gefegten
Straßen Hajnówkas, einer kleinen
Ortschaft 25 km von der Sperrzone
entfernt. Wir haben Glück – sie will mit
uns sprechen. „Mir tun diese Menschen
im Wald überhaupt nicht leid. Gar nicht.
Die sind mir komplett egal“, betont sie.
„Ich habe selbst sechs Kinder – für mich
interessiert sich niemand“, sagt sie in
einem sehr sachlichen Ton. „Unser Spital
ist voll mit Flüchtlingen. Mein Sohn hat
letztens zwei Stunden auf die Rettung
gewartet, weil die so beschäftigt damit
waren, diese Flüchtlinge zu behandeln.
Und wir, was sollen wir tun? Sollen wir
hier krepieren?“, fragt sie uns. Das sieht
eine andere ältere Frau anders. Auch sie
wohnt in Hajnówka. Sie ist tief gläubig,
wie sie uns erklärt. „Die Bibel ist die
Grundlage unserer Gesellschaft. Und
was steht in der Bibel? ‚Liebe deinen
Nächsten, wie dich selbst.‘ Das sehe ich
hier gerade gar nicht. Ich weiß, wie es
ist, Hunger zu haben. Das soll kein Kind
mehr erleben – egal ob meine Enkel, die
Kinder meiner Nachbarn und schon gar
nicht die Kinder im Wald. “ sagt sie mit
Tränen in den Augen. Die Einstellung der
Menschen im Grenzgebiet ist gespalten
– repräsentativ für das ganze Land.
Viele trauen sich auch nicht zuzuge-
© Karol Grygoruk / RATS Agency
ben, auf welcher Seite sie stehen. Das
merken wir bei der Gastwirtin, bei der
wir wohnen. Sie redet zuerst nur über
das Wetter und die schönen Radwege
mit uns. Nachdem wir ihr vorsichtig klar
machen, warum wir hier sind, erklärt sie
uns, dass auch sie jemanden kennt, der
„in den Wald fährt“. So wird die Hilfeleistung
im örtlichen Jargon beschrieben.
Wir konnten ihr Kleidung für Flüchtlinge
geben, die ihr Kontaktmann dann in die
Sperrzone schmuggeln würde. Auch ein
Taxifahrer unterhält sich mit uns zuerst
über die Bisons, die in der Gegend hier
frei herumlaufen – unsere Kamera ist
aber schwer zu verstecken. Er erzählt,
dass er schon oft von Schleppern mit
der Frage kontaktiert worden wäre, ob er
nicht für ein paar tausend Euro Flüchtlinge
aus dem Grenzgebiet fahren wolle.
Er habe aber abgelehnt – er möchte
nichts Illegales machen. „Habt ihr gehört,
dass gestern von einem Krankenwagen
(Anm.: der NGO Medycy Na Granicy),
der im Wald stand, die Reifen zerstochen
worden sind? So eine Sauerei! Man muss
sich ja nicht selber in Gefahr begeben
– aber die noch daran zu hindern? Wo
gibt’s denn sowas?“, fragt er uns. Als
wir mit ihm an einer Polizeikontrolle
vorbeifahren, sagt er nur: „Keine Sorge.
Ich kenne diese Polizisten hier in der
Gegend gut. Nicht jeder von ihnen ist so,
wie es auf den ersten Blick scheint.“ Die
Polizisten winken uns durch.
„ICH WACHE NACHTS AUF
UND SCHREIE.“
Wir wollen selbst erfahren, was „nicht
so, wie es auf den ersten Blick scheint“
heißt. Offiziell werden wir nichts
rausfinden, das ist uns klar. Deshalb
beschließen wir, uns in eine versiffte
Polizeikneipe im Ort zu setzen – den
Tipp bekommen wir von einem älteren
Aktivisten hier. Wir bestellen uns ein
kleines Bier und führen seichten Smalltalk.
Es riecht nach Alkohol. Außer uns
sind hier nur betrunkene Männer – vor
der Tür stehen rund zwanzig Polizei-
Autos. Als wir sie nach einem Feuerzeug
fragen, bekommen wir ein paar miese
Flirt-Sprüche zu hören – bis einer plötzlich
beginnt, sich bei seinem Kollegen
aufzuregen. „Kurwa!(poln. Kraftausdruck)
Dieser verfickte dreckige Flüchtling von
vorgestern, der hatte ein iPhone, hast ja
gesehen. Und wer gibt mir ein iPhone?
Wer?“ Dass die Stimmung zwischen
den Beamten genauso gespalten ist wie
in ganz Polen, merken wir, als wir über
Tinder mit einem 19-jährigen Soldaten
in der Sperrzone ins Gespräch kommen.
Bartek* glaubt genau wie Łukasz, dass
er mit einer Warschauer Kindergärtnerin
schreibt. „Weißt du, ich wache nachts
auf und schreie. Ich werde jetzt in
Krankenstand gehen. Ich bin nicht für so
etwas Soldat geworden.“
*Die Namen wurden zum Schutz der Personen
von der Redaktion geändert
18 / POLITIKA /