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BIBER NEWCOMER 12_21

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Die geflüchteten

Menschen

harren teilweise

wochenlang

versteckt in den

Wäldern aus.

Polnische Polizeibeamte an der Grenze im Wald

© Karol Grygoruk / RATS Agency

Figur spielt unter ihnen Jagoda*.

„SIE NENNEN MICH

LUKASCHENKOS

AGENTIN.“

Jagoda, eine ältere Dame, trifft sich

mit uns zu einem Spaziergang im Wald.

„Gestern hätte ich noch keine Kraft

gehabt, um mit euch zu reden. Jeden

Abend schaue ich aus dem Fenster und

frage mich, wie schlimm die Nacht für

die Menschen dort wird.“ Gleichzeitig

muss sie daran denken, wie sie möglichst

unauffällig helfen kann. „Ich habe

schon gehört, dass ich ‚Lukaschenkos

Agentin‘ genannt werde. Es herrscht so

viel Misstrauen. Hier passiert etwas, das

in einer zivilisierten Welt nicht passieren

dürfte - dass Hilfe illegal ist“, sagt sie

ruhig. Sie erzählt uns, dass die Bandbreite

der Helfenden von StudentInnen

bis hin zu PensionistInnen reicht. „Ich

koordiniere, wer wann was abholen

kommt, was gerade gebraucht wird –

jeder hilft, wie er kann.“ Wir erfahren,

dass die polnische Bevölkerung stark

desinformiert ist – auch wenn viele helfen

wollen. Sie spenden Shampoo oder

Zahnpasta – dabei haben die Menschen

im Wald nicht einmal sauberes Trinkwasser.

Jagoda betont, dass sie, so wie die

anderen Helfenden, in einer Blase lebe.

„Ich muss euch Mädchen schon sagen:

Die Mehrheit der Menschen hier besteht

aus alteingesessenen Katholiken, die

die PiS Partei wählen und die Hilfe für

Flüchtlinge entschieden ablehnen“, legt

Jagoda ernst dar und fährt fort: „Die

Grenzbeamten haben die BewohnerInnen

hier in der Gegend informiert, dass sie

sie anrufen sollen, wenn sie Flüchtlinge

sehen, die es zu uns nach Polen

geschafft haben. Ich kenne persönlich

einige, die angerufen haben. Als sie dann

gesehen haben, wie mit diesen Menschen

umgegangen wird, haben sie die

Seiten gewechselt und begonnen, uns zu

helfen.“

„MIR SIND DIESE

MENSCHEN IM WALD

KOMPLETT EGAL.“

Elżbieta wiederum steht für jene Polen

und Polinnen, die Hilfe strikt ablehnen.

Wir sprechen sie und ihren Mann auf

der Straße an – auf den leer gefegten

Straßen Hajnówkas, einer kleinen

Ortschaft 25 km von der Sperrzone

entfernt. Wir haben Glück – sie will mit

uns sprechen. „Mir tun diese Menschen

im Wald überhaupt nicht leid. Gar nicht.

Die sind mir komplett egal“, betont sie.

„Ich habe selbst sechs Kinder – für mich

interessiert sich niemand“, sagt sie in

einem sehr sachlichen Ton. „Unser Spital

ist voll mit Flüchtlingen. Mein Sohn hat

letztens zwei Stunden auf die Rettung

gewartet, weil die so beschäftigt damit

waren, diese Flüchtlinge zu behandeln.

Und wir, was sollen wir tun? Sollen wir

hier krepieren?“, fragt sie uns. Das sieht

eine andere ältere Frau anders. Auch sie

wohnt in Hajnówka. Sie ist tief gläubig,

wie sie uns erklärt. „Die Bibel ist die

Grundlage unserer Gesellschaft. Und

was steht in der Bibel? ‚Liebe deinen

Nächsten, wie dich selbst.‘ Das sehe ich

hier gerade gar nicht. Ich weiß, wie es

ist, Hunger zu haben. Das soll kein Kind

mehr erleben – egal ob meine Enkel, die

Kinder meiner Nachbarn und schon gar

nicht die Kinder im Wald. “ sagt sie mit

Tränen in den Augen. Die Einstellung der

Menschen im Grenzgebiet ist gespalten

– repräsentativ für das ganze Land.

Viele trauen sich auch nicht zuzuge-

© Karol Grygoruk / RATS Agency

ben, auf welcher Seite sie stehen. Das

merken wir bei der Gastwirtin, bei der

wir wohnen. Sie redet zuerst nur über

das Wetter und die schönen Radwege

mit uns. Nachdem wir ihr vorsichtig klar

machen, warum wir hier sind, erklärt sie

uns, dass auch sie jemanden kennt, der

„in den Wald fährt“. So wird die Hilfeleistung

im örtlichen Jargon beschrieben.

Wir konnten ihr Kleidung für Flüchtlinge

geben, die ihr Kontaktmann dann in die

Sperrzone schmuggeln würde. Auch ein

Taxifahrer unterhält sich mit uns zuerst

über die Bisons, die in der Gegend hier

frei herumlaufen – unsere Kamera ist

aber schwer zu verstecken. Er erzählt,

dass er schon oft von Schleppern mit

der Frage kontaktiert worden wäre, ob er

nicht für ein paar tausend Euro Flüchtlinge

aus dem Grenzgebiet fahren wolle.

Er habe aber abgelehnt – er möchte

nichts Illegales machen. „Habt ihr gehört,

dass gestern von einem Krankenwagen

(Anm.: der NGO Medycy Na Granicy),

der im Wald stand, die Reifen zerstochen

worden sind? So eine Sauerei! Man muss

sich ja nicht selber in Gefahr begeben

– aber die noch daran zu hindern? Wo

gibt’s denn sowas?“, fragt er uns. Als

wir mit ihm an einer Polizeikontrolle

vorbeifahren, sagt er nur: „Keine Sorge.

Ich kenne diese Polizisten hier in der

Gegend gut. Nicht jeder von ihnen ist so,

wie es auf den ersten Blick scheint.“ Die

Polizisten winken uns durch.

„ICH WACHE NACHTS AUF

UND SCHREIE.“

Wir wollen selbst erfahren, was „nicht

so, wie es auf den ersten Blick scheint“

heißt. Offiziell werden wir nichts

rausfinden, das ist uns klar. Deshalb

beschließen wir, uns in eine versiffte

Polizeikneipe im Ort zu setzen – den

Tipp bekommen wir von einem älteren

Aktivisten hier. Wir bestellen uns ein

kleines Bier und führen seichten Smalltalk.

Es riecht nach Alkohol. Außer uns

sind hier nur betrunkene Männer – vor

der Tür stehen rund zwanzig Polizei-

Autos. Als wir sie nach einem Feuerzeug

fragen, bekommen wir ein paar miese

Flirt-Sprüche zu hören – bis einer plötzlich

beginnt, sich bei seinem Kollegen

aufzuregen. „Kurwa!(poln. Kraftausdruck)

Dieser verfickte dreckige Flüchtling von

vorgestern, der hatte ein iPhone, hast ja

gesehen. Und wer gibt mir ein iPhone?

Wer?“ Dass die Stimmung zwischen

den Beamten genauso gespalten ist wie

in ganz Polen, merken wir, als wir über

Tinder mit einem 19-jährigen Soldaten

in der Sperrzone ins Gespräch kommen.

Bartek* glaubt genau wie Łukasz, dass

er mit einer Warschauer Kindergärtnerin

schreibt. „Weißt du, ich wache nachts

auf und schreie. Ich werde jetzt in

Krankenstand gehen. Ich bin nicht für so

etwas Soldat geworden.“

*Die Namen wurden zum Schutz der Personen

von der Redaktion geändert

18 / POLITIKA /

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