BIBER 12_23_OLA
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3<br />
minuten<br />
mit<br />
Fatima<br />
Sidibe<br />
African Hairstyles, Schwarze<br />
Vorbilder, Racial Profiling<br />
und historische Fakten, die ihr<br />
bestimmt nicht in der Schule<br />
gelernt habt: Fatima Sidibe alias<br />
African Diva spricht im Netz<br />
über Black und African History<br />
und lernt dadurch, ihre eigenen<br />
Wurzeln in Guinea zu schätzen.<br />
Interview: Filip Lazar<br />
Foto: Ina Aydogan<br />
<strong>BIBER</strong>: Woher kam die Idee, auf Instagram<br />
über African/Black Culture und<br />
History zu sprechen?<br />
FATIMA SIDIBE: Ich habe während meiner<br />
Schullaufbahn gemerkt, dass nicht<br />
viel über Black History und Schwarze<br />
Kultur unterrichtet wird. Klar lernt man<br />
über Sklaverei oder Hungersnot. Aber<br />
wir haben zu diesem Themengebiet<br />
nie etwas Positives gelernt. Da ich<br />
sehr neugierig war, begann ich mich<br />
selbst mit der afrikanischen Geschichte<br />
auseinanderzusetzen und merkte<br />
dabei schnell, dass Afrika sehr reich an<br />
Geschichte und Kultur ist. So machte<br />
ich es mir zur Aufgabe, auch anderen<br />
PoCs (People of Colour) durch Social<br />
Media zu zeigen, dass wir viel mehr als<br />
nur Sklaverei und Armut haben.<br />
Wie entscheidest du, über welche Themen<br />
du berichtest? Wie aufwendig sind<br />
deine Videos?<br />
Es ist meist ein Mix aus Eigeninteresse<br />
und Themenvorschlägen meiner Community.<br />
Für ein 5-minütiges YouTube-<br />
Video rechne ich schon mit 10-<strong>12</strong><br />
Stunden Arbeitszeit. Für ein kurzes Reel<br />
brauche ich ein paar Stunden.<br />
Bekommst du Hass im Netz ab?<br />
Zu 90 % bekomme ich nur positives<br />
und ermutigendes Feedback – das<br />
macht mich sehr glücklich. Es kam<br />
auch schon vor, dass mir ältere PoCs<br />
schreiben, dass sie ihren Kindern<br />
schon immer etwas über Black History<br />
beibringen wollten und sie meinen<br />
Kanal deswegen hilfreich finden. Das<br />
ist richtig schön. Hin und wieder gibt es<br />
leider auch rassistische Kommentare,<br />
es ist aber nie zu extrem.<br />
Abgesehen von deinem Bildungscontent<br />
schreibst du auch viel Poesie.<br />
Denkst du, Gedichte sind ein gutes<br />
Medium, um Black Culture in den<br />
öffentlichen Diskurs zu bringen?<br />
Definitiv! Ich denke, dass Poesie ein<br />
gutes Mittel ist, um ein Statement in<br />
der Öffentlichkeit zu setzen. Wenn ich<br />
auf Bühnen stehe und ich ein großes<br />
Publikum habe, dem ich meine Gedichte<br />
vortrage, ist es mit viel Emotion ver-<br />
bunden. Viele meiner Gedichte haben<br />
einen tiefgründigen Unterton, den das<br />
Publikum dann auch spürt und manche<br />
sogar zu Tränen rührt. Ich möchte Black<br />
People empowern und sie stolz auf<br />
ihre Herkunft machen. Ich hatte früher<br />
immer das Gefühl, mich wegen meiner<br />
guineischen Herkunft schämen zu müssen,<br />
weil ich dachte „es gibt ja nichts<br />
Positives über mein Land zu sagen“. Ich<br />
möchte einfach, dass PoCs sehen, wie<br />
interessant die Länder Afrikas eigentlich<br />
sind.<br />
Wer sind deine Vorbilder beziehungsweise<br />
deine größte Inspiration?<br />
Das ist auf jeden Fall Königin Nzinga.<br />
Sie war eine angolanische Königin im<br />
17. Jahrhundert und kämpfte gegen die<br />
portugiesische Kolonialherrschaft und<br />
setzte sich für die Unabhängigkeit ihres<br />
Volkes ein.<br />
Ihr findet Fatima auf Instagram:<br />
@africaandivaa<br />
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT<br />
AFRICAN DIVA<br />
Die <strong>23</strong>-jährige Black History-Bloggerin<br />
im Schnellinterview.<br />
8 IVANAS WELT<br />
Warum Mehrsprachigkeit nicht<br />
immer von Vorteil ist.<br />
10 KLIMA-NEWS<br />
Interessante Zahlen, Daten und Fakten<br />
rund um das Thema Umweltschutz.<br />
POLITIKA<br />
<strong>12</strong> MEINUNGSMACHE<br />
Politische Themen kurz, komprimiert<br />
und mit scharf.<br />
14 „WEIL WIR ANDERS ALS<br />
DIE AUSSENWELT SIND.“<br />
So lebt die Community der<br />
ultraorthodoxen Juden in Wien.<br />
20<br />
„HERR SCHALLENBERG, WIE LANGE WIRD<br />
DIE EU BESTEHEN BLEIBEN?“<br />
Außenminister Alexander Schallenberg im Interview.<br />
24<br />
DER TRAUM VOM<br />
SCHNELLEN GELD<br />
Wie die Finanz-<br />
Trading-Akademie ihre<br />
Mitglieder anlockt.<br />
IN HALT SEPTEMBER<br />
20<strong>23</strong><br />
30 TABUTHEMA: AUFKLÄRUNG<br />
Wenn Migrantinnen die Scham der Eltern<br />
erben.<br />
36 „KANN ES SEIN, DASS DU<br />
TRANS BIST?“<br />
Transfrau Nikki spricht über ihren Weg zu<br />
ihrem wahren Ich.<br />
38 SCHNITZEL UND<br />
SCHAWARMA<br />
Amina und Arash erzählen von ihrem Leben<br />
als Foodblogger in Wien.<br />
LIFE&STYLE<br />
42 FUSSBALL IST AUCH<br />
FRAUENSACHE<br />
Şeyda Gün will sich ihren Lieblingssport<br />
nicht nehmen lassen.<br />
19 BALKAN NEWS<br />
Dennis Miskić erklärt, warum niemand<br />
mehr in Bosnien leben will.<br />
20 „HERR SCHALLENBERG,<br />
WIE VIELE ZIGARETTEN<br />
RAUCHEN SIE AM TAG?“<br />
Biber fragt in Worten, Außenminister Alexander<br />
Schallenberg antwortet mit einer Zahl.<br />
22 „ES GIBT KEIN REZEPT,<br />
UM OBDACHLOSE VOR<br />
MESSERATTACKEN ZU<br />
SCHÜTZEN.“<br />
Susanne Peter, Leiterin der Streetwork, im<br />
Interview über ihre Arbeit.<br />
RAMBAZAMBA<br />
24 MIT DEM RICHTIGEN<br />
MINDSET REICH WERDEN<br />
Inside-Reportage über die Finanz-Trading-<br />
Akademie „Team Alpha“.<br />
14<br />
ULTRAORTHODOXES<br />
JUDENTUM IN WIEN<br />
Einblicke in die sonst streng<br />
verschlossene Community.<br />
30<br />
„ÜBER SEX<br />
SPRICHT MAN<br />
NICHT“<br />
Migrantinnen<br />
gefangen zwischen<br />
Tabus und Sexmythen.<br />
© Zoe Opratko, © Thomas Süß, © Aliaa Abou Khaddour Cover: © Zoe Opratko<br />
KARRIERE&KOHLE<br />
46 WAS TUN WENN DAS<br />
PROJEKT „LAZYGIRL“<br />
NICHT KLAPPT<br />
Šemsa Salioski gibt Tipps für eine<br />
steilere Karriere.<br />
48 WOHNEN IN WIEN,<br />
ABER WIE?<br />
Coole Tipps und Tricks für deinen Umzug<br />
in die Großstadt.<br />
KULTURA<br />
52 KULTURA NEWS<br />
Nada El-Azar-Chekh über das kulturelle Fühler<br />
ausstrecken und Neues entdecken.<br />
54 QUOTEN-ALMANCI<br />
Kolumnistin Özben Önal spricht über<br />
Parallelgesellschaften in ihrer Heimat.
IMPRESSUM<br />
Liebe Leser:innen,<br />
MEDIENINHABER:<br />
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />
WEBSITE: www.dasbiber.at<br />
HERAUSGEBER:<br />
Simon Kravagna<br />
„<br />
Schabbat-Herdplatten,<br />
Verkupplungen und<br />
Abschottung als Reaktion auf<br />
ein kollektives Trauma: Wie<br />
wird orthodoxes Judentum<br />
in Wien gelebt? Wir sind der<br />
Frage ab S. 14 nachgegangen.<br />
Aleksandra “ Tulej,<br />
Chefredakteurin<br />
„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder einfach<br />
auftauchen, wenn man heiratet.“ Mythen über das Jungfernhäutchen,<br />
Tabus und Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />
kommt in Migra-Communities oft zu kurz – vor allem bei<br />
den Töchtern. Doch was macht das mit ihrer Sexualität im<br />
Erwachsenenleben? Unsere Coverstory könnt ihr ab Seite 30<br />
nachlesen.<br />
Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes Matchmaking<br />
bis hin zur eigenen Infrastruktur und einer strengen<br />
Abschottung als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Die<br />
ultraorthodoxe jüdische Community in Wien wächst mit dem<br />
Gedanken auf, „irgendwie anders“ als der Rest der Gesellschaft<br />
zu sein. Ab Seite 14 könnt ihr euch einen Einblick die<br />
sonst streng verschlossene Community verschaffen.<br />
Außerdem haben wir Außenminister Alexander Schallenberg<br />
gefragt, wie viele Kolleg:innen aus der ÖVP ihm auf die Nerven<br />
gehen und wie lange die EU seiner Einschätzung nach<br />
noch bestehen bleibt. Das Interview in Zahlen findet ihr auf<br />
Seite 20.<br />
Ohne Abschluss ein eigenes Business aufbauen und dabei<br />
auch noch einen Haufen Kohle verdienen? Mit diesen<br />
Versprechungen lockt die Finanz-Trading-<br />
Akademie „Team Alpha“ junge und häufig<br />
migrantische Menschen an. Man bräuchte<br />
nur das richtige Mindset und schon würde<br />
alles wie von selbst laufen. Redakteurin Dione<br />
Azemi warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />
online-Bildungsplattform und berichtet darüber,<br />
was wirklich hinter ihrem Konzept steht.<br />
Lest die Reportage ab Seite 24.<br />
Viel Spaß beim Lesen,<br />
eure biber-Redaktion<br />
6 / MIT SCHARF /<br />
SCHARFE<br />
POST:<br />
In unserem<br />
wöchentlichen<br />
Newsletter senden<br />
wir dir die<br />
spannendsten<br />
Beiträge aus der<br />
schärfsten Redaktion<br />
des Landes<br />
in dein Postfach.<br />
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gleich abonnieren:<br />
© Zoe Opratko<br />
CHEFREDAKTEURIN:<br />
Aleksandra Tulej<br />
KULTUR & LEITUNG AKADEMIE:<br />
Nada El-Azar-Chekh<br />
FOTOCHEFIN:<br />
Zoe Opratko<br />
ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />
LEKTORAT: Florian Haderer<br />
REDAKTION, FOTOGRAFIE & ILLUSTRATION:<br />
Nada Chekh, Delna Antia-Tatić, Amar Rajković, Ivana Cucujkić-Panić<br />
, Simon Kravagna, Thomas Süß<br />
VERLAGSLEITUNG :<br />
Aida Durić<br />
REDAKTIONSHUND:<br />
Casper<br />
BUSINESS DEVELOPMENT:<br />
Andreas Wiesmüller<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Wilfried Wiesinger<br />
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />
E-1.4, 1070 Wien<br />
redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />
<br />
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<br />
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ 2022:<br />
Druckauflage 85.000 Stück<br />
Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />
www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />
DRUCK: Mediaprint<br />
Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />
jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />
der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.<br />
<br />
AMS WIEN_BIZ_<strong>BIBER</strong>_207x135.indd 1 31.08.<strong>23</strong> 09:09
DIE ERFINDUNG<br />
VON <strong>BIBER</strong><br />
Von Fake-Gucci bis<br />
zur Balkan-Meile:<br />
Gründer Simon<br />
Kravagna über den<br />
Launch der ersten<br />
biber-Ausgabe 2006<br />
Ich war damals 35, Innenpolitik-<br />
Redakteur beim Kurier und ehrlicherweise<br />
etwas gelangweilt von<br />
den typischen Storys rund um Jörg<br />
Haider und Co. Da erreichte mich unter<br />
dem Betreff „Bewerbung für die Neue<br />
Wiener Multi-Kulti-Zeitung“ folgendes<br />
Mail: „Sehr geehrtes Team dieser neuen<br />
wunderbaren Zeitung. Ich war gerade<br />
auf der Uni und sah, dass Journalisten<br />
für eine Stadtzeitung gesucht werden.<br />
Ich bin gebürtige bosnische Kroatin und<br />
kenne mich in der Balkanszene bestens<br />
aus.“ Die Bewerberin schrieb weiter:<br />
„Life-Style und Mode in unserer Stadt<br />
sind mir bekannt. Von aufgeklebten<br />
Fälschungen, etwa das „G“ zu „ucci“, bis<br />
hin zu Pumaschuhen vom Südbahnhof-<br />
Flohmarkt kann ich Bände schreiben.<br />
Musik, Konzerte, Events fangen in der<br />
Ottakringerstraße an, gehen über die<br />
türkischen Diskos bis hin zum Nachtwerk<br />
im <strong>23</strong>. Bezirk, wo wir immer wieder Balkansternchen<br />
bewundern können. Wien,<br />
Vienna, Beć oder Viyana – viele Namen,<br />
eine Stadt!!!“<br />
Es war keine klassische Bewerbung<br />
für einen Job im Journalismus, aber es<br />
war die richtige Bewerbung für mein Projekt.<br />
Ein paar Tage zuvor hatte ich Zettel<br />
an den Schwarzen Brettern in den Unis<br />
aufgehängt. Das war damals so üblich,<br />
Instagram noch nicht erfunden und<br />
selbst Facebook gerade erst am Start.<br />
Ich wollte ein neues Medium gründen<br />
und suchte nach dem, was mir in den<br />
etablierten Redaktionen fehlte: junge<br />
Journalist:innen mit Migrationsbackground,<br />
die Medien mehr Kompetenz<br />
geben würden. Durch ihre Sprachkenntnisse,<br />
ihre Netzwerke und Geschichten<br />
aus ihrer Lebenswelt.<br />
Ich suchte damals, das wusste ich<br />
nach diesem Mail, Menschen wie Ivana<br />
Martinović. Die Studentin und spätere<br />
Online-Chefin von biber schrieb mir aus<br />
Ottakring und kannte jeden Balkan-Club<br />
dort. Und es gab nicht nur eine Ivana,<br />
die sich meldete. Auch Ivana Cucujkić,<br />
später meine erste stellvertretende<br />
Chefredakteurin von biber, schickte<br />
eine Bewerbung. Im Sommer 2006 gab<br />
es dann ein Team von rund 10 jungen<br />
Talenten, verstärkt um ein paar journalistische<br />
Profis und Fotografen, die das<br />
Projekt unterstützten. Jetzt gab es nur<br />
ein Problem. Diese neue Stadtzeitung<br />
gab es zu diesem Zeitpunkt noch gar<br />
nicht. Es gab nicht einmal den Namen<br />
„biber“. Es gab in Wahrheit gar nichts:<br />
keine Redaktion, kein Geld, kein Produkt.<br />
Es gab nur eine Idee. Die Idee für<br />
ein Medium, das von Journalist:innen<br />
gestaltet wird, die Wiens viele Sprachen<br />
sprechen – und verstehen.<br />
Wie konnte im September 2006<br />
dann überhaupt die erste biber-Ausgabe<br />
produziert werden? Durch „unbezahlte<br />
Arbeit“ und „Selbstausbeutung“, wie es<br />
heute heißen würde. Konkret: Wir druckten<br />
erst, als wir genug Inserate hatten,<br />
um die Mediaprint zu bezahlen. Sonst<br />
bekam niemand Geld. Das verdienten wir<br />
damals alle in anderen Jobs.<br />
Vor dem Druck brauchte unser Magazin<br />
noch einen Namen. So richtig wollte<br />
zuerst keiner passen. Der Balkanfraktion<br />
gefielen die türkischen Vorschläge nicht.<br />
Die Wiener:innen mit türkisch-kurdischen<br />
Wurzeln wiederum konnten nichts mit<br />
den balkanischen Begriffen anfangen.<br />
8 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 9
Und einen österreichischen Namen<br />
wollte sowieso niemand. Es brauchte<br />
viele Runden, meist abends in Lokalen,<br />
um den Durchbruch zu schaffen.<br />
„biber“ – das gefiel allen. Der jungen<br />
türkisch-kurdischen Gruppe, weil es für<br />
Pfefferoni steht, den Ex-YU-Leuten, weil<br />
es Pfeffer bedeutete und den „echten“<br />
Österreicher:innen weil biber doch ein<br />
nettes Tierchen ist. Wir haben dann noch<br />
den Begriff „Multi-Kulti“ eliminiert und<br />
fertig war „biber. Stadtmagazin für Wien,<br />
Viyana und Beć“.<br />
Völlig enthusiastisch ließen<br />
wir von der ersten Ausgabe<br />
„Balkan, aber richtig!“ gleich<br />
20.000 Stück drucken und<br />
(ohne zu fragen) bei U-Bahnstationen<br />
verteilen. In der<br />
„Community“ war die Resonanz<br />
enorm und unsere abendlichen<br />
Redaktionssitzungen wurden<br />
immer größer. Die hielten wir im<br />
damaligen Jugendverein Echo<br />
von Co-Gründer Bülent Özteplu<br />
ab. Damals schon dabei: Amar<br />
Rajković, bis 2022 stellvertretender<br />
Chefredakteur und Eser<br />
Akaba, später erste Marketingleiterin<br />
von biber. Nach<br />
jeder neuen Ausgabe verpackten<br />
wir gemeinsam die Magazine<br />
in Kuverts und sendeten<br />
Hunderte davon an Entscheidungsträger<br />
und Institutionen.<br />
Dabei ließen wir Pizza kommen<br />
und besprachen die nächsten<br />
Storys.<br />
Nach den ersten Ausgaben<br />
professionalisierten wir unsere<br />
Strukturen, indem wir etwa<br />
Vertriebskooperationen mit McDonalds,<br />
Anker, Spar, Billa und anderen eingingen.<br />
Die Redaktion zog von einem kleinen<br />
Gassenlokal ins angesagte Museumsquartier.<br />
Aber vor allem führten wir die<br />
biber-Akademie ein. Das Ziel: Mit Hilfe<br />
von Förderern und Sponsoren journalistische<br />
Talente auszubilden. Wie ein<br />
Fußballclub scouteten wir systematisch<br />
Talente, bildeten sie aus und kamen<br />
unserem Ziel näher, die heimische<br />
Medienlandschaft zu bereichern: mit<br />
guten Journalist:innen, die die anderen<br />
Welten in Wien kennen, weil sie aus<br />
Arbeiter:innenfamilien stammen, Ramadan<br />
feiern oder aus Damaskus nach<br />
Wien geflüchtet sind und sich hier ein<br />
neues Leben aufbauen.<br />
War immer alles super? Natürlich<br />
nicht. Vor allem in den Anfangsjahren<br />
spalteten nationale Konflikte zwischen<br />
Kurd:innen und Türken:innen sowie<br />
Serb:innen und Bosnier:innen immer wieder<br />
das Team. Es brauchte Zeit, bis die<br />
Redaktion wichtiger als die Herkunftsländer<br />
wurden. Später wurde dann das<br />
Kopftuch heftig debattiert und die zunehmende<br />
Religiosität junger Muslim:innen<br />
wurde zum großen Thema. Früher als<br />
andere spürten wir auch die Radikalisierung<br />
einer kleinen Szene. Die Story<br />
„Suren der Leidenschaft – Sex im Islam“<br />
brachte uns Drohungen von Salafisten<br />
ein. Auf Anraten des Verfassungsschutzes<br />
bauten wir eine Sicherheitstür ein.<br />
Gegen rechtsradikale polnische Trolle im<br />
Internet, die Chefredakteurin Aleks Tulej<br />
im Netz verfolgten, hat die Stahltür leider<br />
nicht geholfen. Migrantische Vereine<br />
sahen in biber zudem oft eine Konkurrenz.<br />
Wir würden ihnen „ihre“ Jugendlichen<br />
wegnehmen, hieß es.<br />
In all den Jahren war „Integration“<br />
ein Fremdwort für uns. Bei uns wurde<br />
niemand integriert: Wir haben das Beste<br />
aus vielen Welten angenommen und zu<br />
möglichst gutem Journalismus gemacht.<br />
Was zählte, waren vor allem Ideen für<br />
gute Geschichten und Leistung. Wir<br />
zogen damit Jungjournalistinnen an,<br />
die biber immer wieder Relevanz gaben<br />
wie Aleks Tulej, Delna Antia-Tatić, Nada<br />
Chech, Melisa Erkurt, Alexandra Stanić,<br />
Marina Delcheva und viele mehr.<br />
In all den 16 Jahren hatten wir finanziell<br />
immer wieder zu kämpfen. Gleichzeitig<br />
gab es auch viel Unterstützung:<br />
von Menschen, Firmen und Institutionen.<br />
Dafür möchte ich mich<br />
bedanken! Auch bei meinem<br />
Partner Andreas Wiesmüller,<br />
der mit seinem Investment die<br />
Gründung der biber-GmbH im<br />
Jahr 2007 ermöglichte. Sowie<br />
bei Wilfried Wiesinger, biber-<br />
Geschäftsführer seit 2007, der<br />
mit Nerven aus Stahl den vielen<br />
Krisen trotzte und Verlagsleiterin<br />
Aida Durić, die für biber<br />
mehr als nur eine zentrale Rolle<br />
einnahm.<br />
Ist jetzt alles vorbei? Nein,<br />
denn biber hat mehr als 150<br />
junge Menschen geprägt,<br />
die auf ihrem Weg durch die<br />
Institutionen sind oder selbst<br />
Neues – in Print, auf Instagram<br />
oder TikTok – aufbauen.<br />
Absolvent:innen unserer Akademie<br />
arbeiten in etablierten<br />
Medien. Und noch mehr davon<br />
wirken in Firmen oder Institutionen<br />
wie Siemens, REWE,<br />
Ärzte ohne Grenzen, Teach for<br />
Austria, dem Parlament oder<br />
im Kanzleramt. Das Schöne an<br />
einer Idee ist, dass sie von Menschen<br />
weitergetragen werden kann. Unabhängig<br />
von einer fixen Organisationsform.<br />
Wir sind ein Netzwerk und viele von uns<br />
werden Wien weiter prägen und neue<br />
Initiativen starten. Diese Stadt hat noch<br />
so viel Potenzial. Wir müssen es nur<br />
heben!<br />
biber-Gründer Simon Kravagna führte<br />
biber als Chefredakteur und Herausgeber<br />
mehr als 10 Jahre. 2019 wechselte<br />
der frühere Innenpolitik-Journalist als<br />
Geschäftsführer zum forum journalismus<br />
und medien (fjum).<br />
10 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 11
Für Sebastian Kurz’ Porträt<br />
in der Dönerbude aus unserer<br />
Maiausgabe 2011 beneideten uns<br />
so manch andere Medien.<br />
Einmal Sebastian Kurz „mit alles“, Michael Häupl<br />
und die starken Männer oder Beate Meinl-Reisinger<br />
beim Kaffeesudlesen: Biber hat Politiker:innen immer<br />
wieder in unerwartbaren Lebenslagen abgelichtet.<br />
Zum Autor: Amar Rajković war Politik-Ressortleiter bei biber und arbeitet jetzt als Community Manager bei der Volkshilfe Wien.<br />
MIT UNS AM<br />
KEBAPSTAND<br />
Das ist der Politiker, der so alt<br />
ist wie wir und jetzt irgendwas<br />
mit Ausländern macht.<br />
Aber was genau – keine<br />
Ahnung.“ Die Passanten am Brunnenmarkt<br />
staunten 2011 nicht schlecht, als<br />
sie den designierten Integrationsstaatssekretär<br />
Sebastian Kurz lächelnd und mit<br />
perfekter Frisur hinter der Kebapbude<br />
für das biber-Cover posen sahen. Der<br />
25-Jährige galt damals als die größte<br />
Polithoffnung seit Bruno Kreisky und<br />
überraschte mit ausländerfreundlichen<br />
Aussagen viele Migrant:innen in Österreich.<br />
Bei dem anschließenden Kreuzverhör<br />
im türkischen Restaurant trank er<br />
Çay, offenbarte ein paar kleine Schwächen<br />
in der Wiener Allgemeinbildung<br />
(wusste nicht, wer oder was ein „Schwabo“<br />
ist), erzählte stolz von guten Schulfreundinnen<br />
mit Kopftuch und hielt sogar<br />
„Türkisch“ als Maturafach für vorstellbar.<br />
Ach, wie sich die Zeiten ändern.<br />
Ein paar Hundert Meter weiter initiierte<br />
biber einen diplomatischen Gipfel im<br />
Kent, der so in keinem anderen Medium<br />
vorstellbar war. Wiens damaliger Bürgermeister<br />
Michael Häupl, Ottakrings langjähriger<br />
Bezirksvorsitzender Franz Prokop<br />
und der damalige türkische Botschafter<br />
erzählten von ihrer Jugend, politischen<br />
Vorbildern und Lieblingsessen. Das Foto,<br />
das Michael Häupl vor einer türkischen<br />
Fahne und den türkischen Botschafter<br />
vor einer österreichischen Fahne zeigt,<br />
war schon damals ein Hinschauer – heute<br />
würde sich kein heimischer Spitzenpolitiker<br />
gerne so fotografieren lassen.<br />
DER BÜRGERMEISTER, DER<br />
BOXER UND DER RAPPER<br />
Michael Häupl war jener Politiker, der in<br />
den ersten Jahren wohl am öftesten von<br />
biber interviewt wurde. Kein Wunder,<br />
er war das Oberhaupt der „Multi-Kulti“-<br />
Stadt, in der wir uns alle so wohlfühlen<br />
und sorgte als „Papa Schlumpf“ (O-Ton<br />
einer biber-Kollegin) für Recht, Ordnung<br />
und Sichtbarkeit von Migrant:innen. Im<br />
September 2010 lief das Netz heiß, als er<br />
auf einem rosa Enzo im Museumsquartier<br />
zusammen mit Rapper Nazar und Boxer<br />
Gogi Knezević breitbeinig posierte. 2015<br />
war er Protagonist in einer von der SPÖ<br />
geschalteten „Foto-Love-Story“, bei der<br />
er einer im Regen stehengelassenen<br />
Wählerin den Regenschirm anbot. Das<br />
letzte Interview fand im „Pitawerk“ auf<br />
der äußeren Mariahilferstraße statt, wo<br />
Häupl kurz vor seinem Abgang als Wiener<br />
Bürgermeister noch einmal Schmäh<br />
führte und Burek mit Joghurt schnabulierte.<br />
Diese Tradition setzten wir fort und<br />
zwängten den amtierenden Bürgermeister<br />
Michael Ludwig 2020 auf die Sitzbank<br />
des bosnischen „Željo Grill Burek“ auf<br />
der Thaliastraße.<br />
POLITIK IM SUD<br />
Es altes, türkisches Sprichwort sagt:<br />
„Glaube nicht an den Kaffeesud, aber<br />
bleibe nicht ohne Kaffeesud.“ Weil in<br />
manchen migrantischen Communities<br />
der Aberglaube stark ausgeprägt<br />
ist (Ich sage nur „Promaja“, übersetzt<br />
die Zugluft, die laut Balkan-Eltern eine<br />
sofortige Lungenentzündung oder gar<br />
den Tod nach sich zieht), verzichteten<br />
wir auf Wahl-Analysen und ausgeleierte<br />
Fragen. Wir engagierten für die<br />
Wiener Gemeinderatswahlen 2015 eine<br />
Wahrsagerin (Danke an dieser Stelle<br />
an Zeynep Alan), die den damaligen<br />
Spitzenkandidat*innen ihr Kismet voraus-<br />
Im September 2020 stärkten wir uns zum Wahlkampfauftakt<br />
mit Michael Ludwig bei Željo auf der Thaliastraße.<br />
<strong>12</strong> / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 13
xxx<br />
verbrachten oft mehrere Wochen im Jahr<br />
direkt in Schulen und viele Schüler:innen<br />
waren bei uns in der Redaktion. Eine<br />
sonst so goscherte 14-jährige Schülerin,<br />
die bei uns Praktikum machte, verdiente<br />
sich ihren großen Auftritt im Justizministerium,<br />
weil sie sich die besten Fragen<br />
überlegt hatte. Als Alma Zadić dann<br />
tatsächlich vor ihr auftauchte, brachte sie<br />
anfangs kaum ein Wort heraus.<br />
Meine persönliche Lieblings-Polit-<br />
Geschichte war die Cover-Story „I‘m<br />
muslim, don‘t panic“ – aus dem Jahr<br />
20<strong>12</strong>. Dabei ging es um die differenzierte<br />
Betrachtung von Muslimen weltweit.<br />
Einerseits kritisierte ich dabei die<br />
westlich gefärbte, oft sehr einseitige<br />
Betonung von radikalen Muslimen, die<br />
angeblich die Mehrheit in der islamischen<br />
Welt ausmachten. Andererseits gingen<br />
mir die Hobby-Imame auf den Keks, die<br />
politisch hetzten statt Frieden zu säen.<br />
Mit unseren Themen waren wir meistens<br />
ein bisschen voraus.<br />
Es ist so fies, ein Best-of für die<br />
letzte Ausgabe zusammenzustellen.<br />
Dabei war jede Ausgabe eine Gaudi, ein<br />
chaotisches Treiben, ein Herantasten an<br />
ernste Themen, ohne den Humor dabei<br />
zu verlieren. Mir wird der biber fehlen<br />
aber auch ewig einen ganz besonderen<br />
Platz in meinem Herzen behalten. ●<br />
sagte. Beate Meinl-Reisinger durfte sich<br />
über zwei galoppierende Pferde freuen,<br />
die als Glückbringer interpretiert wurden.<br />
Maria Vassilakou bildeten wir Jahre<br />
zuvor in High-Heels ab, bevor sie in<br />
ihren Kaffeesud blickte und sich dabei<br />
über den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“<br />
echauffierte.<br />
KATER & ROLEX<br />
Übrigens, auch FPÖ-Politiker haben wir<br />
immer wieder getroffen. Mit Ausnahme<br />
von Herbert Kickl. Für einen Termin mit<br />
dem aktuellen FPÖ-Chef fanden sich<br />
einfach keine Freiwilligen mehr in der<br />
biber-Redaktion. Im allseits beliebten<br />
Interview-Format „Interview in Zahlen“<br />
besuchte Herausgeber Simon Kravagna<br />
aber unter anderem 2016 Präsidentschaftskandidat<br />
Norbert Hofer und seinen<br />
Kater in seinem Garten in Pinkafeld.<br />
(Juli 2016) Ein paar Jahre zuvor bezifferte<br />
Serbenfreund und Hauptdarsteller<br />
des Ibiza-Krimis HC Strache (O-Ton: „Alle<br />
Journalisten sind Huren“) im „Interview<br />
in Zahlen“ den Wert seiner Rolex und<br />
gab an, 10.000 Euro für das teuerste<br />
Geschenk an eine Frau ausgegeben zu<br />
haben. Welche Frau das war, ist nicht<br />
überliefert. Das Zahleninterview wurde<br />
zum „Big Mac“ des biber, geteilt von<br />
Journo-Größen wie Armin Wolf. Apropos<br />
Wolf. Der ZiB2-Anchorman ließ es sich<br />
nicht nehmen, selbst als Befragter beim<br />
Zahlenformat aufzutreten.<br />
„KIFFEN SIE, HERR WOLF?“<br />
Unser damaliger Schüler-Redakteur Muamer<br />
Bečirović wollte in einem anderen<br />
Interview vom ORF-Moderator wissen:<br />
„Kiffen Sie, Herr Wolf?“ Spoiler: Er tut es<br />
nicht.<br />
Die Einbindung von Schüler:innen in<br />
die Redaktion war kein bloßes Lippenbekenntnis<br />
oder ein Marketing-Gag.<br />
Wir hatten wohl die einzige Schüler-<br />
Redaktion, die diesen Namen so richtig<br />
verdiente. Redakteur:innen von biber<br />
P.b.b., Verlagspostamt 1070, Vetragsnummer 09Z038106 M<br />
www.dasbiber.at<br />
Magazin für neue Österreicher<br />
mit scharf<br />
OKTOBER<br />
20<strong>12</strong><br />
kost auch in<br />
der Krise nix<br />
mEIN ISLAm KENNT KEINE bOmbEN<br />
DER<br />
ÖSTERREICHISCHE<br />
JOURNALIST<br />
grAtisMAgAZin des JAhres20<strong>12</strong><br />
++ DR. LADY bITCH RAY ++ WINNETOU LEbT ++ KREUzzUg gEgEN POKEmON ++<br />
14 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 15
„Jung, Brutal,Kriminell“- 2019<br />
trafen wir Mitglieder krimineller<br />
Jugendgangs in Wien.<br />
Ob untergetauchte Asylwerber, kriminelle<br />
Jugendgangs, tschetschenische Sittenwächter<br />
oder ein polnisch-kurdischer<br />
Zufall in einem belarussischen Grenzgebiet,<br />
der unsere Reportage gerettet hat: „Wie<br />
habt ihr das bitte schon wieder aufgetrieben?<br />
Wie kommt ihr immer an die Leute?”,<br />
wurden wir oft nach unseren Recherchen<br />
gefragt. Wir wiederum stellten uns immer<br />
die Frage: Wie sehen die Lebenswelten<br />
hinter den Schlagzeilen wirklich aus? Wie<br />
schafft man es, mit quasi null Ressourcen<br />
lebensnahe Reportagen zu bringen, die<br />
sonst keiner erzählen kann? Ein letzter Blick<br />
behind the scenes.<br />
Zur Autorin: Aleksandra Tulej war die letzte Chefredakteurin von biber.<br />
GESCHICHTEN,<br />
DIE NUR DAS LEBEN<br />
(UND <strong>BIBER</strong>) SCHREIBT.<br />
Mein Freund hat mir erzählt, dass man mit dir<br />
gut reden kann. Können wir uns treffen? Aber<br />
bitte ohne Polizei und ohne Erwachsene.” Im<br />
April 2019 erreicht mich auf Instagram eine<br />
Nachricht eines damals 15-jährigen Omar*, der, wie sich<br />
herausstellt, Mitglied einer kriminellen Jugendgang ist.<br />
Besagten Freund hatte ich in seiner Klasse kennengelernt, in<br />
der wir im Rahmen unseres Newcomer-Projekts unterwegs<br />
waren. Etwas erstaunt über das Vertrauen, das der damals<br />
Fremde zu mir zu haben scheint, sage ich einem Treffen zu.<br />
Nach und nach weiht Omar mich in seine Kreise ein – und<br />
prompt entsteht daraus die Reportage „Jung, brutal, kriminell<br />
– Inside Wiener Jugendgangs”. Der Artikel schlägt hohe<br />
Wellen, es tritt das ein, was nach großen <strong>BIBER</strong>- Reportagen<br />
immer passiert ist: Plötzlich rieseln die Anfragen größerer<br />
Medien ein, man möge doch bitte die Kontakte weitergeben,<br />
man sei doch unter Kolleg:innen, man wolle doch dasselbe.<br />
Naja. Mit einem kleinen aber nicht unwesentlichen Unterschied.<br />
<strong>BIBER</strong> konnte das, was andere nicht konnten: Das Vertrauen<br />
der Menschen hinter den Schlagzeilen für sich gewinnen.<br />
Weil wir nicht über sie gesprochen haben, sondern<br />
mit ihnen. Wir hatten den Zugang, sie haben sich in dem<br />
Magazin wiedergefunden.<br />
„Das ist nicht unser Jihad“ - Drei ehemalige IS-<br />
Sympathisanten haben uns 2020 über ihren Ausstieg erzählt.<br />
„WIR REDEN EIGENTLICH NICHT MIT<br />
JOURNALISTEN. ABER MIT <strong>BIBER</strong><br />
SPRECHEN WIR, IHR SEID ANDERS.”<br />
„Wir reden eigentlich nicht mit Journalisten. Aber mit <strong>BIBER</strong><br />
sprechen wir, ihr seid anders.” Es ist dieser Satz, der uns<br />
wieder und wieder zu den besten Reportagen gebracht hat.<br />
Ob das etwas ist, womit man angeben kann, wird sich der<br />
ein oder andere jetzt fragen. Durchaus waren unsere Protagonisten<br />
ja oft problematisch, um es gelinde auszudrücken.<br />
Dabei ist es ganz einfach: Ich war nie Fan davon, Konflikte<br />
schönzureden. In den Migra-Communities in Wien gibt es<br />
durchaus große Probleme, die angesprochen gehören. Aber<br />
der springende Punkt hierbei ist: Es geht darum, wer sie<br />
anspricht und wie man sie anspricht.<br />
Bussi-Bussi mit Entscheidungsträgern in Politik und Medien<br />
hat <strong>BIBER</strong> nie interessiert. Mag sein, dass man mit dieser<br />
Einstellung, die manch einer als kindisch und trotzig empfinden<br />
kann, in der österreichischen Medienbranche nicht<br />
weit kommt. Was uns umso mehr interessiert hat, sind die<br />
Menschen hinter den Schlagzeilen. Was daraus entstand, ist<br />
ein riesiges Netzwerk an Personen, „an die man sonst nicht<br />
rankommt”, wie wir oft von anderen Journo-Kolleg:innen<br />
zu hören bekamen. Wir hatten nie die Ressourcen oder die<br />
finanziellen Möglichkeiten, die große Medien haben – was<br />
wir hatten, waren die Menschen dahinter. Jene Menschen,<br />
die uns dann von einer Reportage auf das nächste Thema<br />
gebracht haben: Ob ehemalige IS-Sympathisanten, Straßenkonflikte<br />
zwischen afghanischen und tschetschenischen<br />
Jugendlichen in Wien, Graue Wölfe, illegale Tuning-Autorennen<br />
am Kahlenberg und und und. Die Liste wurde mit jedem<br />
Jahr länger. Dabei stellten sich uns auch immer wieder<br />
moralische Fragen, vor allem da wir oft mit Jugendlichen zu<br />
tun hatten, die gerne einmal zu viel und zu ungefiltert erzählen<br />
– mehr als ihnen guttut: Wie macht man eine Geschichte<br />
über minderjährige Drogenabhängige im Stadtpark, ohne sie<br />
selbst in Gefahr zu bringen? Wie spricht man mit Frauen aus<br />
16 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 17
„Wir regeln das unter uns“ – 2021 haben wir den<br />
„Straßenkonflikt“ zwischen afghanischen und<br />
tschetschenischen Jugendlichen von innen beleuchtet.<br />
In „Das Leben mit den Sittenwächtern“ lieferten<br />
tschetschenische Frauen 2020 Einblicke in ihre<br />
streng verschlossene Community.<br />
In „Asylstatus:Untergetaucht“ erzählten Asylwerber ohne<br />
Aufenthaltsstatus von ihrem Leben im Versteck.<br />
„Die Kinder vom Stadtpark“ trafen wir 2022 – und<br />
sprachen mit ihnen über Drogen, Prostitution und<br />
eine Parallelwelt mitten in Wien.<br />
Communitys, bei denen die Familien nicht erfahren dürfen,<br />
wer da mit <strong>BIBER</strong> gesprochen hat? Das Credo: Indem man<br />
mit ihnen auf Augenhöhe spricht. Was auch oft bedeutet hat,<br />
mit Leib und Seele über Wochen in Milieus einzutauchen, mit<br />
denen man sonst nicht in Berührung kommen würde.<br />
„DAS KANNST DU NICHT SCHREIBEN.”<br />
„Das kannst du nicht schreiben. Alles, nur nicht das. Misch<br />
dich da nicht ein“, wurde mir im Sommer 2020 von allen Seiten<br />
geraten. Damals war das Thema der tschetschenischen<br />
Sittenwächter, die ihre Landsfrauen verfolgt und bedroht<br />
hatten, wieder einmal in aller Munde. Die Politik hat sich<br />
darüber aufgeregt, die üblichen Twitter-Experten haben wie<br />
so oft ihre Elfenbeinturm-Meinungen dazu abgegeben, die<br />
Schlagzeilen haben sich gehäuft. „Warum, zur Hölle, spricht<br />
aber niemand mit den Frauen selbst? Mit denen, um die es<br />
bei dieser ganzen Debatte eigentlich geht?”, die Frage ging<br />
mir damals nicht aus dem Kopf. Also hat <strong>BIBER</strong> es getan.<br />
Weil <strong>BIBER</strong>, wie so oft, den Zugang hatte. Mit den Frauen aus<br />
der Reportage habe ich bis heute Kontakt und sie liefern mir<br />
immer wieder Einblicke in eine Community, die sehr verschlossen<br />
lebt.<br />
Dabei sind es ja oft Themen, die von Politik und Boulevard<br />
nur so zerrissen werden – immer wieder sprach man in<br />
Österreich von untergetauchten Asylwerber:innen, die hier<br />
ohne Aufenthalt leben. Aber: Wer sind diese „U-Boote”, von<br />
denen die Politik so viel spricht? Was sind ihre Beweggründe<br />
und wie kann man in Österreich untergetaucht leben? Diese<br />
Fragen lassen mich nicht los. Etliche Streifzüge durch Wien<br />
bleiben ohne Erfolg. Ich telefonierte damals innerhalb von<br />
zwei Tagen über 200 Kontakte durch, bis ich endlich eine<br />
Spur hatte. „Du bist doch fix eine Zivilpolizistin!”, begrüßt<br />
mich einer der Protagonisten bei unserem Treffen am Praterstern.<br />
Als ich ihm meinen Presseausweis zeige, vertraut er<br />
mir immer noch nicht. „Nein, zeig dein Insta, erst dann glaub<br />
ich dir.” Gesagt, getan, Kontakte bekommen, Reportage<br />
geschrieben. Und dann die nächste Frage:<br />
„WO KRIEGEN WIR HEUTE NOCH EINEN<br />
AFGHANISCHEN PASS HER?”<br />
<strong>BIBER</strong>-Geschichten waren immer bildstark. Wie bebildert<br />
man Geschichten, auf denen die Protagonist:innen nicht<br />
erkennbar sein dürfen? Fade Stockfotos und Symbolbilder<br />
waren nie unser Ding. Unsere Fotochefin Zoe Opratko grübelte<br />
immer von Sekunde eins mit uns, wie wir die Bildebene<br />
am besten gestalten. Bei dieser Reportage war sofort klar:<br />
Ein afghanischer, syrischer und irakischer Pass muss her.<br />
Aber wo treibt man so etwas auf, ohne offizielle Kontakte?<br />
Wir hatten die Requisiten innerhalb weniger Stunden in der<br />
Hand – wie immer. Immer hatte jemand einen Cousin, dessen<br />
Schwager, dessen Ex-Freundin jemanden kennt und…<br />
ach, ihr wisst schon, <strong>BIBER</strong> halt. Übrigens:<br />
Wie oft wir für unsere Shootings den Inhalt unserer<br />
Kühl- und Kleiderschränke, unsere Wohnungen, Geschwister,<br />
Partner oder eigene Körperteile hergeborgt haben – darüber<br />
schreibt Delna Antia-Tatić noch ausführlicher auf S. 26<br />
Beim Ausräumen der Redaktionsräumlichkeiten stieß ich<br />
letztens auf unsere Requisiten-Lade: Wenn jemand einen<br />
positiven Schwangerschaftstest, eine zerschnittene Türkei-<br />
Flagge oder einen aufblasbaren Globus braucht, gebt gern<br />
Bescheid. Gebetsteppiche, Kruzifixe und Talare hätten wir da<br />
auch im Angebot.<br />
Wir konnten jedenfalls aus nichts viel machen. Das war<br />
<strong>BIBER</strong>. Auch unsere Sprachenvielfalt in der Redaktion nutzten<br />
wir zum Vorteil: Nach dem verheerenden Erdbeben in der<br />
Türkei und in Syrien im Februar 20<strong>23</strong> waren wir das erste<br />
Medium, das Kontakte vor Ort hatte. Wie so oft trudelten<br />
dann Anfragen größerer Medien ein. Im April sind wir dann<br />
nach Hatay geflogen, um die Trümmer des Hauses der Familie<br />
unserer Kolumnistin Özben Önal zu dokumentieren. Das<br />
waren Reportagen, die nicht nur trockene Berichterstattung<br />
von außen waren, sondern Bestandsaufnahmen von Ereignissen,<br />
von denen unsere Redakteur:innen selbst betroffen<br />
waren – was alles doppelt schwierig machte, gleichzeitig<br />
aber auch doppelt sinnvoll. Wir hatten keine Fixer, keine<br />
Fahrer, keine Dolmetscher. Das waren alles wir selbst, unsere<br />
Familien und Bekannte vor Ort – was journalistisch ein Vorteil<br />
war, war auf der persönlichen Ebene dann aber doch schwierig.<br />
Umso stärker war dann das Endergebnis.<br />
In unserer kleinen Redaktion hat so ziemlich jede:r alles<br />
gemacht. Was nach außen oft nicht sichtbar war: Wir waren<br />
eine Handvoll Menschen, die immer 110 % gegeben haben.<br />
Die Engelsgeduld unserer Verlagsleiterin Aida Durić bei<br />
etlichen Social-Media-Shistorms, die aus unterschiedlichsten<br />
Communities daherkamen, gehört hier auch einmal erwähnt.<br />
Ich hätte an ihrer Stelle längst einfach das Internet gelöscht.<br />
Wir haben oft improvisiert, jeden Tag uns etwas selbst<br />
beigebracht und Neues gelernt. Vor allem bei schwierigen<br />
Recherchen.<br />
Das Credo unseres ersten Chefredakteurs und letzten<br />
Herausgebers Simon Kravagna lautete übrigens immer:<br />
„Mach, wie du glaubst. Und wenns nicht geht, bin ich da.”<br />
Für diese Herangehensweise werde ich ihm immer dankbar<br />
sein – nur so hat biber-Journalismus funktioniert.<br />
DIE <strong>BIBER</strong>’SCHEN ZUFÄLLE<br />
Oft waren es aber auch Zufälle, die nur in unserer Redaktion<br />
möglich waren, wie im Sommer 2021. Ich werde nie vergessen,<br />
als unser Politik-Ressortleiter Amar Rajković und ich<br />
auf der berühmten Grübel-Couch der Redaktion saßen und<br />
uns den Kopf darüber zerbrochen haben, wo wir denn jetzt<br />
Protagonisten für eine Geschichte über Afghanen in Wien,<br />
die mit den Taliban sympathisieren, herbekommen. Plötzlich<br />
platzt, mir nichts, dir nichts, ein junger Afghane in unsere<br />
18 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 19
Redaktion – die Hochsicherheitseingangstür stand nicht nur<br />
sprichwörtlich immer offen – und will uns ein Theaterstück<br />
eines afghanischen Filmemachers vorstellen. Die Szene war<br />
tatsächlich filmreif: Wir wechseln ein paar Blicke und Worte<br />
und es wird klar: Theaterstück uninteressant, seine Erzählungen<br />
umso spannender. Wir haben unseren Protagonisten.<br />
Unsere Geschichte ist uns wortwörtlich in den Schoß gefallen<br />
– oder in die Redaktion hereinspaziert. Manchmal spazierten<br />
sie auch auf Dächern:<br />
„Du, ich komme heute etwas später. Du wirst nicht glauben,<br />
was mir heute Nacht passiert ist. Meine Katze ist weggelaufen,<br />
wir haben sie die ganze Nacht gesucht. Aber weißt<br />
du, wem das Dach von meinem Haus gehört?” Diese kryptische<br />
Nachricht unserer Kulturressortleiterin Nada Chekh an<br />
mich brachte uns zu einer Geschichte über ultraorthodoxes<br />
Judentum in Wien. Einer, die man sonst nie so gelesen hat,<br />
wie wir als Feedback bekamen.<br />
Bis heute kann ich übrigens nicht glauben, dass diese<br />
klassisch bibereske Situation wirklich so passiert ist:<br />
November 2021, wir stehen frierend vor einem Krankenhaus<br />
in Bielsk-Podlaski, einer kleinen Ortschaft in Polen direkt<br />
an der Grenze zu Belarus, der damaligen Sperrzone, die<br />
Polen eingerichtet hatte. Wir, das sind unsere Kamerafrau<br />
Soza Jan und ich – und unzählige andere internationale<br />
Journalist:innen und Kamera-Teams: CNN, Reuters, die<br />
ganz Großen eben. Keiner von uns dürfte offiziell hier sein,<br />
aber wir nutzen das Chaos. Alle tummeln sich hier, um ein<br />
Interview mit dem Oberarzt des Spitals, Dr. Arsalan Azzadin,<br />
zu bekommen. Der gebürtige Kurde behandelt hier Flüchtlinge,<br />
die durch Push-Backs aus Belarus wieder nach Polen<br />
gebracht werden: unterkühlt, ausgehungert, und dann auch<br />
noch mitten in der Pandemie. „Ich habe wirklich keine Zeit<br />
für Interviews, sie müssen verstehen, das geht einfach ni…<br />
Warte! Warte! Bist du Kurdin? Ich glaube, ich kenne deine<br />
Familie!”, fragt der Oberarzt unsere Kamerafrau Soza und<br />
pickt sie aus der Menge raus. Tatsächlich – sie tauschen<br />
einige Worte auf Kurmanji aus und es stellt sich heraus, dass<br />
der Oberarzt des Krankenhauses in einem kleinen polnischen<br />
Dorf die Familie unserer Kamerafrau in Syrien kennt. „Bei<br />
Gott, das ist Schicksal, das kann kein Zufall sein! Ihr kommt<br />
rein, aber nur ihr!” Wir bekommen als einziges Medium ein<br />
Interview mit ihm, das Gespräch wird ein wesentlicher und<br />
exklusiver Bestandteil unserer Reportage über die Sperrzone<br />
im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, wo wir übrigens als<br />
einziges österreichisches Medium waren. Ach ja: Die Grenzsoldaten<br />
haben wir dort undercover über Tinder ausfindig<br />
gemacht, aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Ressourcen<br />
hatten wir nie, dafür haben wir gelernt, kreativ über alle<br />
Tellerränder zu blicken.<br />
Diese besonderen Zufälle – oder eher Schicksale wie diese<br />
Szenen – passieren nur bei <strong>BIBER</strong>. Die Redaktion wird jetzt<br />
ihre Türen schließen, aber was bleibt, sind die Menschen, die<br />
daran mitgewirkt haben. Wir werden alles dafür tun, unsere<br />
Geschichten, unsere Berichterstattung und vor allem unsere<br />
Ideen mitzunehmen und sie in möglichst vielen Redaktionen<br />
des Landes zu streuen – ihr kommt sowieso nicht um uns<br />
herum, wir sind mittlerweile zu viele. ●<br />
EIN DANKE MIT SCHARF.<br />
Biber-Journalismus hat zu einem großen Teil nur<br />
funktioniert, weil unzählige Menschen mir und uns<br />
immer und immer wieder bedingungslos geholfen und<br />
vertraut haben. Menschen, die nie für biber gearbeitet<br />
haben, aber einen großen Part geleistet haben, damit<br />
die Reportagen entstehen konnten. Ihr gehört endlich<br />
mal vor den Vorgang geholt: Mein größter Dank<br />
gebührt Fabian Reicher, der mir bei so vielen Geschichten<br />
zur Seite gestanden ist und mich immer wieder<br />
motiviert hat, weiterzumachen. Genauso Rami Ali, Julian<br />
Pehm, Derai Al Nuaimi, Obada Karzoon, Even Assad,<br />
Ahmad Mitaev, Cheda, Hawa, Amina, Omar, Ahmet und<br />
all den anderen, die nicht namentlich erwähnt werden<br />
wollen oder können – ihr wisst, wer ihr seid. Ohne<br />
euch wären die meisten dieser Geschichten niemals<br />
entstanden. Ihr werdet für mich im Herzen immer „mit<br />
scharf” bleiben.<br />
xxx<br />
20 / POLITIKA /
WIR WAREN <strong>BIBER</strong><br />
Das Ende von biber ist auch das Ende der biber-Akademie. Sie war<br />
Kaderschmiede für unzählige Journalist:innen mit Migrationshintergrund<br />
und das erste journalistische Zuhause für jene, die weder Deutsch noch<br />
Qualtinger mit der Muttermilch aufgesogen haben.<br />
Zur Autorin: Marina Delcheva war Akademie-Leiterin bei biber und leitet jetzt das Wirtschaftsressort bei profil.<br />
Amra Durić, Alexandra Stanić,<br />
Naz Küçüktekin und Marina Delcheva<br />
(v.l.n.r.) lassen ihre Zeit in der biber<br />
Akademie Revue passieren.<br />
Ich will eigentlich nur schreiben. Ich weiß,<br />
es gibt nicht so viele von meiner Sorte“,<br />
sagte sie und zeigte auf ihr Kopftuch, „aber<br />
ich glaube, ich kann das!“ Urheberin dieser<br />
Aussage ist Menerva Hammad und sie sagte<br />
das beim Vorstellungsgespräch für die biber-<br />
Akademie 2014. Heute schreibt sie immer noch<br />
und das sehr erfolgreich, sie ist Buchautorin.<br />
Jahrzehntelang bekamen heimische Chefredakteure<br />
– es waren jahrzehntelang fast nur Männer<br />
– Sätze wie diese so gut wie nie zu hören. In<br />
den bunten Räumen der biber-Redaktion und<br />
bei den unzähligen Vorstellungsgesprächen für<br />
die biber-Akademie fielen Sätze wie diese aber<br />
ganz oft.<br />
„Am liebsten habe ich die Geschichte über<br />
den bosnischen Müllbaron geschrieben. Er<br />
hat sich in der bosnischen Stadt Prijedor ein<br />
Müllimperium geschaffen und zusammen mit<br />
korrupten Beamten ein lukratives Business<br />
aufgebaut“, erzählt Alexandra Stanić. Und es<br />
kam noch sehr viel mehr: Missbrauchsvorwürfe<br />
an der Grazer Oper, die heimlichen Symbole der<br />
serbischen Nationalisten, eine transfeindliche<br />
Montessori-Schule. Stanić ist heute erfolgreiche<br />
Autorin, Fotografin und Influencerin.<br />
Begonnen hat aber alles in<br />
der biber-Akademie vor über zehn<br />
Jahren. Seit 2011 hat die Akademie<br />
gut 300 jungen Menschen<br />
– fast immer mit und selten ohne<br />
Migrationshintergrund – journalistisch<br />
ausgebildet, ihnen den Raum<br />
und die Zeit gegeben, ihre eigenen<br />
Geschichten zu erzählen und ihnen<br />
„<br />
Ich kenne fast keine<br />
Journalist:innen<br />
mit Migrationshintergrund<br />
in Österreich,<br />
die nicht bei<br />
biber waren.<br />
“<br />
Biber war für die vier Journalistinnen das<br />
Sprungbrett in die Medienbranche.<br />
Praktika in den großen Medienhäusern des<br />
Landes vermittelt. Die Mission: Mehr Menschen<br />
mit Migrationshintergrund in die österreichische<br />
Medienlandschaft zu bringen. Doch es ging auch<br />
über die Landesgrenzen hinaus: Seit 2021 hatte<br />
biber eine Kooperation mit jetzt.de, dem Onlinemagazin<br />
der Süddeutschen Zeitung in München<br />
– wo einige talentierte biber-Stipendiat*innen ihr<br />
Folgepraktikum absolviert haben. Und das mit<br />
Erfolg.<br />
„Ich kenne fast keine Journalist:innen mit<br />
Migrationshintergrund in Österreich, die nicht<br />
bei biber waren“, sagt Amra Durić. Bis vor<br />
kurzem war sie stellvertretende Online-Chef-<br />
22 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / <strong>23</strong>
edakteurin von „Heute“ – immerhin eine der<br />
größten Tageszeitungen Österreichs. Jetzt ist<br />
sie stellvertretende Leiterin des Newsrooms der<br />
Parlamentsdirektion. So richtig begonnen hat<br />
aber alles hier, mit einer Geschichte, die so noch<br />
niemand erzählt hatte: „Geld gegen Trauschein<br />
und den wertvollen österreichischen Pass.“<br />
Die biber-Akademie wurde über die Jahre<br />
die erste Anlaufstelle für viele junge Menschen<br />
mit Wurzeln auf der ganzen Welt. Die Chance<br />
für Kinder mit Migrationshintergrund, in Österreich<br />
irgendwann Journalist:innen zu werden,<br />
stand mehr als schlecht. Dieses Magazin hat<br />
die Statistik ganz maßgeblich verbessert. Denn<br />
ohne biber wären viele wohl nie im Journalismus<br />
gelandet, auch wir nicht. „Ich habe lange<br />
überlegt, ob ich Journalistin werden will, ob ich<br />
mir das zutraue, ob ich das Zeug dazu habe.<br />
Dank biber weiß ich: Ich kann das.“, sagt Naz<br />
Kücüktekin. Sie hat 2020 die biber-Akademie<br />
absolviert. Danach war sie beim „Kurier“ für das<br />
Projekt „Mehr Platz“ zuständig, wo sie weiterhin<br />
aus den migrantischen Communitys berichtete.<br />
Heute ist sie freie Journalistin und schreibt<br />
für zahlreiche österreichische<br />
Medien. Biber war das Zuhause<br />
der coolen Außenseiter<br />
und die biber-Akademie war<br />
eine Drehtür in verschiedene<br />
Welten – für die alteingesessenen<br />
Österreicher:innen in<br />
unsere, und für uns in ihre. Wir<br />
haben die Nächte bei geheimen<br />
„<br />
Ich habe lange überlegt,<br />
ob ich Journalistin werden<br />
will, ob ich mir das zutraue.<br />
Dank biber weiß ich: Ich<br />
kann das.<br />
“<br />
Blättern in den alten Ausgaben: Nostalgie pur.<br />
„Biber ist wie die erste große Beziehung“,<br />
so Alexandra Stanić.<br />
Gürtel-Rennen verbracht, uns in Islam-Kindergärten<br />
geschlichen, waren undercover betteln<br />
und haben radikalen IS-Kämpfern nachgespürt.<br />
Wir haben vom Super-Gau mit der Balkanfrau<br />
erzählt und von den absurden Sexmythen superstrenger<br />
muslimischer Eltern.<br />
Melisa Erkurt (die Chefredaktion), Ali Deniz<br />
Cem (FM4), Delna Antia-Tatić (Süddeutsche<br />
Zeitung), Jelena Pantić-Panić (Gründerin von<br />
medien.geil), Vanessa Spanbauer (Historikerin<br />
und Journalistin), Aleksandra Tulej (letzte Chefredakteurin<br />
von biber), Nada Chekh (Autorin)<br />
– all diese Journalist:innen haben ihre Reise in<br />
der biber-Akademie begonnen. Und auch ein<br />
paar waschechte Österreicher:innen wie Marian<br />
Smetana (Salzburger Nachrichten) und Clemens<br />
Neuhold (profil), der ebenfalls Leiter der<br />
biber-Akademie war, sind im Laufe der Jahre<br />
durch die bunte biber-Schule gegangen. Früher<br />
oder später sind alle weitergezogen. „Biber ist<br />
wie die erste große Beziehung“, sagt Alexandra<br />
Stanić, die neun Jahre bei biber war und später<br />
ebenfalls die biber-Akademie leitete. „Irgendwann<br />
geht die Beziehung zu Ende und du musst<br />
weiterziehen und erwachsen werden.“ Dass<br />
die nächste Generation junger migrantischer<br />
Journalist:innen ohne biber erwachsen werden<br />
muss, ist ein großer Verlust für alle Medien. ●<br />
24 / POLITIKA /
„Hijabi Style“ - Geht<br />
das? Darf das? Biber<br />
darf! - sagten wir<br />
schon 20<strong>12</strong>.<br />
LIFESTYLE MIT<br />
HINTERGRUND<br />
Ob Hijabi-Style, koschere Perücken oder ein<br />
Laufsteg in Favoriten zur EU-Wahl. Ein Rückblick<br />
von Delna Antia-Tatić auf Lifestyle bei Biber und<br />
wie Bilder für Empowerment sorgen.<br />
Zur Autorin: Delna Antia-Tatić war Chefredakteurin bei biber und schreibt jetzt für die Süddeutsche Zeitung.<br />
Manchmal gibt es eine<br />
Geschichte abseits der<br />
Hauptgeschichte. Bei biber<br />
kam das öfter vor. Meine<br />
liebste Nebengeschichte handelt von<br />
Klopapier. Ich will sie erzählen, jetzt,<br />
wo biber das letzte Mal Geschichten<br />
schreibt. Es war das Jahr 2014, eine<br />
EU-Wahl stand an und biber hatte sich<br />
in den Kopf gesetzt, junge Menschen zur<br />
Wahl zu mobilisieren. Und weil wir uns<br />
Brüssel damals so „männlich, sakkograu<br />
und über 50“ vorstellten, dachten wir<br />
uns eine Fashionshow aus: „Get dressed<br />
for Europe!“ Wir ließen acht junge Modedesigner<br />
aus ganz Europa einfliegen, von<br />
Helsinki bis Ljubljana. Wir baten sie eine<br />
extra Europa-Kollektion zu entwerfen und<br />
buchten Models, die die Kreationen auf<br />
einem Laufsteg in Favoriten präsentierten.<br />
Wir luden ganz Wien zur After-Party<br />
in die kultige Ankerbrotfabrik und der<br />
ORF berichtete in der ZiB-Nacht. Es war<br />
ein toller Erfolg. Auf der Bühne – und<br />
ja: Behind the Scenes. Denn eine Party<br />
brilliert oder scheitert an einem Ort, so<br />
hatte uns der Technikmeister damals<br />
eingebläut: dem Klo. Schön herausgeputzt<br />
vorne, bestens abgeputzt hinten<br />
– so das Eventgeheimnis. Engagierte<br />
Migrant:innen wie wir sind, wollten wir<br />
als Gastgeber natürlich keinesfalls einen<br />
schlechten Eindruck hinterlassen und<br />
tischten üppig auf. So hat Mama uns<br />
das schließlich beigebracht, wenn Gäste<br />
kommen – noch dazu aus der ganzen<br />
Welt. Biber bestellte Klopapier und<br />
Papierhandtücher und zwar in solchen<br />
Mengen, dass selbst ein akuter Noro-<br />
Virus uns nicht in Bedrängnis gebracht<br />
hätte. Wir alle erinnern uns zu gern an<br />
die Paletten-Türme voller Papierrollen,<br />
die sich in der Halle stapelten. Und wie<br />
wir am Morgen danach mit drei vollbepackten<br />
PKWs, beladen mit Klopapierrollen<br />
von Kofferraum bis unters Dach,<br />
in die Redaktion fuhren. Dort zehrten wir<br />
noch lange davon, Jahre um genau zu<br />
sein. Auf dem Klo und in der Erinnerung.<br />
Es waren tolle Jahre bei biber, wir<br />
haben die Welt bewegt. Damals war<br />
ich stv. Chefredakteurin und für das<br />
Lifestyle-Ressort verantwortlich. Ich habe<br />
dieses Ressort von der ersten Minute<br />
an geliebt. Als Philosophiestudentin und<br />
Quereinsteigerin aus der Organisationsberatung<br />
kommend, lag das Thema zwar<br />
nicht in meinem offiziellen Kompetenzbereich.<br />
Aber biber ist wohl der letzte<br />
Ort, wo ein Zeugnis verlangt wird, nur<br />
um irgendetwas leiten zu dürfen. Wenn<br />
ich in diesen Tagen durch die Lifestyle-<br />
Zeiten blättere, fallen mir solche Projekte<br />
xxx<br />
wie die EU-Fashionshow ein. Denn auch<br />
Lifestyle besaß bei biber, oft einen „Hintergrund“.<br />
„FÜR ANDERE MAGAZINE<br />
WÄREN DIE BILDER ZU<br />
EGDY“<br />
Prominentes Beispiel war die September<br />
Ausgabe 20<strong>12</strong>: „Hijabi Style: High<br />
Heels, Slim-Jeans & Kopftuch“ hieß<br />
jene Fashionstrecke, die ein Tabu brach.<br />
Kopftuch und Fashion – geht das? Und<br />
vor allem, darf das? Dazu muss man<br />
26 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 27
Fremde Haare und Tabubruch: 2013 portraitierten wir Jüdinnen mit ihren Perücken.<br />
sagen, dass diese Strecke vor jener Zeit<br />
erschien, als große Modehäuser wie<br />
Dolce & Gabbana begannen, eigene<br />
Hijab-Kollektionen für den arabischen<br />
Markt zu entwerfen. Inzwischen sind<br />
muslimische Models, die Kopftuch tragen<br />
und etwa für Sport-Kampagnen wie Nike<br />
modeln, sichtbar(er). Damals, 20<strong>12</strong>, war<br />
das neu und provozierte – innerhalb und<br />
außerhalb der Community. Fotografiert<br />
hat die Strecke Marko Mestrović. Es<br />
war sein erstes Cover für biber. Heute<br />
erinnert sich Marko: „Biber war das erste<br />
Magazin in Österreich, das eine Frau<br />
mit Kopftuch auf sein Cover setze. Das<br />
gab es vorher so nicht.“ Jedenfalls nicht<br />
positiv konnotiert und schon gar nicht<br />
selbstbestimmt. Doch so bahnbrechend<br />
uns die Strecke damals erschien, heute,<br />
10 Jahre später, könnten wir sie so nicht<br />
mehr fotografieren. Da sind Marko und<br />
ich uns einig. Denn das Model war nicht<br />
muslimisch. Die Stylistin allerdings war<br />
es: Melek Birkent, eine muslimische<br />
Fashion-Bloggerin und Lehrerin aus<br />
Wien. Im biber-Interview erzählte sie:<br />
Das Kopftuch kann „Mode“ sein. Heute<br />
würde dieses Statement aus der Zeit<br />
gefallen wirken.<br />
Marko und ich hängen am Handy<br />
wie in alten Zeiten und schwelgen in<br />
Retrospektiven. Und ich frage den langjährigen<br />
Fotochef, welche Bilder für ihn<br />
in seinen sieben Jahren wichtig waren.<br />
Das „Burkini“-Cover habe ihn 2014 in<br />
der österreichischen Fotografen-Branche<br />
auf den Radar gesetzt. Und das „Danke<br />
Putin“-Cover schließlich internationalen<br />
Ruhm beschert. Jenes Cover, das drei<br />
ukrainische Kriegsverletzte mit Beinprothesen<br />
in Österreich zu Zeiten der ersten<br />
Krim-Krise zeigt. Dieses Bild machte<br />
ihn 2015 zum Superstar auf Instagram.<br />
„Damals war Insta noch ganz frisch und<br />
die Community klein. Es gab diesen<br />
#weekly-Hashtag, mein Foto wurde<br />
markiert und über Nacht gewann ich<br />
35.000 Follower auf einmal dazu.“ Seine<br />
heutige Social-Media-Reichweite habe<br />
er diesem Cover zu verdanken, sagt<br />
Marko mir am Telefon, der mittlerweile<br />
in der Fotografen-Champions-League<br />
mitspielt, eine Agentur in Berlin hat und<br />
für internationale Kampagnen gebucht<br />
wird. Daran sieht man, dass biber nicht<br />
nur für Schreiberlinge ein Sprungbrett<br />
sein konnte. Die Freiheit, sich ausprobieren<br />
zu können, bot das Magazin stets<br />
auch auf Bildebene. „Biber hat eine völlig<br />
andere Herangehensweise an Cover<br />
und war offen für Provokatives“, erzählt<br />
Marko. „Bei anderen Magazinen hätte ich<br />
manche Bilder gar nicht erst geschossen,<br />
weil ich wusste, es wäre ihnen zu edgy.“<br />
HIJABI-STYLE UND<br />
SEXYNESS MIT<br />
AUGENZWINKERN<br />
Das biber „edgy“ sein will, macht die<br />
erste Ausgabe am Cover klar. Der Community-Journalismus<br />
„mit scharf“ findet<br />
in Bild und Wort statt. Ivana Cucujkić<br />
hat das federführend geprägt. Gerade<br />
in der ersten Zeit, wo das Magazin vor<br />
allem die Balkan-Community anspricht,<br />
verstand sie es, „Sexyness mit Augenzwinkern“<br />
so zu verbinden, dass das<br />
Klischee der Jugo-Migrantin von innen<br />
heraus sowohl konterkariert wurde, als<br />
auch eine Selbstbehauptung erfuhr. Die<br />
Fotoebene wird in vielen Medien stiefmütterlich<br />
behandelt, bei biber besitzt<br />
sie stets Priorität. Die Gleichwertigkeit<br />
von Text und Foto spiegelt sich auch in<br />
einer meiner liebsten Lifestyle-Reportagen<br />
wider. „Meine fremden Haare“ war<br />
eine Geschichte über streng-orthodoxe<br />
Jüdinnen und ihre Perücken. Ich hatte<br />
im Frühsommer 2013 eine der beiden<br />
Protagonistinnen in der Umkleide eines<br />
Fitnessstudios kennengelernt. Die junge<br />
Frau erzählte mir damals beim Föhnen,<br />
warum Jüdinnen ihre sogenannten<br />
„Scheitel“ tragen und welche Arten es<br />
gibt. So entstand die Geschichte. Marko<br />
fotografierte eine der Frauen dafür im<br />
Studio. Die Cover-Strecke sorgte für viel<br />
Aufsehen: „Kosher-Style: Meine fremden<br />
Haare.“ Noch heute denke ich mit Stolz<br />
an diese Gemeinschaftsarbeit zurück.<br />
Auf der Bildebene vermag kaum<br />
ein österreichisches Magazin biber das<br />
Wasser zu reichen. Das sehe ich damals<br />
wie heute so. Was nicht bedeutet, dass<br />
die Bilder nicht kontrovers waren. „Mit<br />
scharf“ war Voraussetzung – aber was<br />
genau heißt das? Darüber war sich auch<br />
die Redaktion längst nicht immer einig.<br />
Im Gegenteil. Es gab Generationsbrüche.<br />
Vieles würden wir sicher heute so nicht<br />
mehr shooten. Mit Zoe Opratko kam ein<br />
neuer Stil ins Heft. Die Bildchefin setzt<br />
seit vier Jahren verstärkt auf Illustrationen<br />
und Collagen. „Damit wollte ich<br />
mehr Diversität in die Bildsprache bringen“,<br />
erzählt sie mir. „Und mich freut es,<br />
dass es aufgegangen ist. Denn anfangs<br />
war die Redaktion durchaus skeptisch:<br />
Kann eine Illustration genauso „scharf“<br />
sein wie ein Foto?“ Sie kann. Das wissen<br />
wir inzwischen. Zoe erzählt auch, wie<br />
wichtig ihr die Selbstbestimmung der<br />
Autorinnen und Protagonistinnen in<br />
ihrer Fotoarbeit ist. „Gerade bei der<br />
Empowerment-Reihe! Ich habe oft 20<br />
Minuten mit den Autorinnen telefoniert.<br />
Immerhin ging es um ihre persönliche<br />
Geschichte und da war es mir wichtig,<br />
zuzuhören und zu verstehen, wie sie sich<br />
die Bebilderung ihrer Story vorstellen.“<br />
Im Empowerment-Special erzählen junge<br />
Frauen seit drei Jahren regelmäßig,<br />
wie sie in ihrem Leben für Selbstbestimmung<br />
gekämpft haben. „Manche<br />
haben mir dann gesagt: Jetzt fühle ich<br />
mich doppelt selbstbestimmt.“ Wenn<br />
Migrant:innen ihr Bild in der Gesellschaft<br />
selbst bestimmen, gerade die Frauen,<br />
gehen Text und Bild Hand in Hand.<br />
So divers und kontrovers die Lifestyle-Seiten<br />
der biber-Jahre waren, eins<br />
war bei jeder Fotostrecke konstant – und<br />
zwar egal für welches Ressort. Der volle<br />
Körpereinsatz der gesamten Redaktion.<br />
Weil biber nie Geld hatte, um Models zu<br />
buchen, gehörte es zur ersten biber-<br />
Journalist*innen-Pflicht stets und überall<br />
als Model herzuhalten. Ob mit Gesicht<br />
und Haaren, ob nur Bauch oder Hände,<br />
ob von hinten oder von oben, ganz<br />
oder halb, es gab immer Bedarf. Und<br />
xxx<br />
ich bedanke mich an dieser Stelle bei<br />
allen Schwestern, Müttern, Vätern und<br />
anderen Verwandten, als auch bei allen<br />
Freunden, Ex-Freundinnen und Entfernt-<br />
Bekannten für ihren Körpereinsatz.<br />
Und eine kurze Nebengeschichte zum<br />
Schluss: Bei einem der letzten Shootings<br />
von Zoe stellten zwei Models fest: „Hey,<br />
sind wir nicht verwandt?“ So ist biber.<br />
Und so schön war es. ●<br />
28 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 29
Was Sünde ist, entscheiden sie:<br />
Muslimische Teenager haben ein<br />
neues Jugendwort: „Haram!“<br />
heißt es auf YouTube, Instagram<br />
und im Klassenzimmer. Was als<br />
Spaß begann, entwickelt sich<br />
zu einem gefährlichen Trend.<br />
biber-Redakteurin Melisa Erkurt<br />
über pubertierende Großmäuler,<br />
radikale Tendenzen und eine neue<br />
Verbotskultur mitten in Wien.<br />
DER TEXT IST IN DER DEZEMBER-<br />
AUSGABE 2015 ERSCHIENEN.<br />
„Generation Haram“ wurde 2016 zur<br />
„Story des Jahres“ bei den Österreichischen<br />
Journalismustagen gekürt.<br />
GENERATION<br />
HARAM<br />
Diese drei Jungs haben sich nur als<br />
Models hergegeben, in echt verurteilen<br />
sie religiöse Machtausübung.<br />
Zur Autorin: Melisa Erkurt war Chefreporterin und Leiterin der Schülerredaktion bei biber und leitet jetzt Die_Chefredaktion.<br />
30 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 31
Das ist haram!“, ruft die halbe Klasse im<br />
Chor als Antwort auf meine Frage, weshalb<br />
sich ein Junge über den V-Ausschnitt<br />
seiner Klassenkollegin aufregt. Was genau<br />
daran haram ist, möchte ich wissen. Mensur*, der<br />
14-Jährige, der seine Klassenkollegin Merve * aufgefordert<br />
hatte, ihren Ausschnitt zu bedecken, erklärt es mir<br />
ganz selbstverständlich: „Es ist ihre Sache, wie sie sich<br />
anzieht, aber wenn ich da hinschaue und ihren Busenschlitz<br />
sehe, ist das haram. Dann sündige ich wegen<br />
ihr.“ Mensurs Sitznachbar lacht: „Ja, haram, Bruder!“<br />
Natürlich wusste ich schon vor Mensurs Antwort,<br />
was die Klasse mit haram meint. Als Muslima kenne<br />
ich den Begriff. Haram ist ein arabisches Adjektiv und<br />
beschreibt all das, was laut der Scharia verboten ist.<br />
Wer etwas tut, was als haram definiert ist, der begeht<br />
eine Sünde. Das Gegenteil von haram ist halal, also<br />
„erlaubt“. Aber dass haram abseits von Glaubensschriften<br />
mittlerweile seinen Weg in die Jugendsprache<br />
gefunden hat, war mir noch vor ein paar Monaten nicht<br />
bewusst.<br />
In den letzten Wochen war ich an verschiedenen<br />
Wiener Schulen und habe mit dem biber-Schulprojekt<br />
„Newcomer“ jeweils in einer Woche versucht einer<br />
Klasse einen Einblick in die mediale Welt zu gewähren,<br />
Rollenbilder zu hinterfragen und Trends zu diskutieren.<br />
Dieses Semester habe ich mit circa <strong>12</strong>0 Jugendlichen<br />
zwischen 14 und 19 Jahren zusammengearbeitet. Die<br />
Schulen, an denen ich war - von NMS bis AHS und<br />
BHS - gelten größtenteils als „Brennpunktschulen“. Der<br />
Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist<br />
hoch, die meisten kommen aus bildungsfernen Elternhäusern<br />
– diesmal waren besonders viele Jugendliche<br />
aus muslimischen Familien dabei. SchülerInnen mit<br />
diesem Background sind nicht neu für mich. Seit zwei<br />
Jahren bin ich nun schon mit dem „Newcomer-Projekt“<br />
in Wiener Schulklassen unterwegs. Ich habe über<br />
engagierte LehrerInnen und talentierte SchülerInnen<br />
geschrieben. Aber auch über Frauenfeindlichkeit und<br />
über Chancenlosigkeit aus diesen Klassenzimmern<br />
berichtet. Ich dachte, mich könnte eigentlich nichts<br />
mehr verwundern, aber da habe ich die Rechnung ohne<br />
„Generation haram“ gemacht.<br />
Ich möchte von Mensur und den anderen SchülerInnen,<br />
die scheinbar so genau darüber informiert sind,<br />
was im Islam verboten ist, wissen, wofür der Islam<br />
eigentlich steht. Ich bekomme keine Antwort. Diese<br />
Situation wiederholt sich in fast jeder Klasse. Auf die<br />
Frage, wer gläubig ist, zeigen meistens alle muslimischen<br />
Schüler auf. Will ich von ihnen wissen, was den<br />
Islam ausmacht, was er vermitteln soll, herrscht Stille.<br />
Frage ich die Jugendlichen aber, was haram oder halal<br />
bedeutet, antworten sie brav.<br />
AUSWENDIG LERNEN<br />
Alles, was sie über den Islam wissen, haben sie<br />
auswendig gelernt. Kein Wunder, funktioniert so in<br />
manchen österreichischen Schulen der islamische<br />
Religionsunterricht: Suren auswendig lernen. In ein paar<br />
Fällen sogar nur auf Arabisch. SchülerInnen, die kein<br />
Arabisch sprechen, verstehen also gar nicht, was sie<br />
da nachsagen. Aber auch wenn sie die Suren in einer<br />
Sprache, die sie können, lernen, so hinterfragen sie die<br />
Bedeutung nicht immer – die SchülerInnen geben oft<br />
nur wieder, was sie gelernt haben, ohne zu reflektieren.<br />
Und weil sie im Islamunterricht oft nur Suren lernen,<br />
suchen sie die restlichen Informationen zum Islam eben<br />
wahllos aus dem Internet zusammen oder informieren<br />
sich im Freundeskreis.<br />
Nach Schulschluss setze ich mich in eine Shisha-<br />
Bar. Eine Frau alleine Wasserpfeife rauchend in einer<br />
Bar, haram würden meine Schüler sagen, die mir zuvor<br />
erklärt hatten, dass Shisha rauchen für Frauen haram<br />
ist, es schaut zu lasziv aus, wenn sie die Wasserpfeife<br />
zum Mund führen und den Rauch ausblasen. Tatsächlich<br />
sind an dem Tag nur Männer zwischen 16 und 25 in<br />
der Shisha-Bar. Alle stylisch gekleidet mit Frisuren und<br />
getrimmten Bärten, als kämen sie frisch vom Barbier.<br />
Dem Äußeren nach zu urteilen moderne Burschen. Ich<br />
frage eine Gruppe von vier jungen Männern, ob sie<br />
den Begriff haram kennen und verwenden. Sie lachen.<br />
Einer von ihnen, Mert*, zückt sein Handy und zeigt<br />
mir die letzte Konversation in einer seiner WhatsApp-<br />
Gruppen: „Haraaaam“ steht da unter einem Foto von<br />
einer Frau im Bikini. Mert nimmt einen Zug von seiner<br />
Shisha, im Hintergrund läuft das Lied „Shisha Bar“ von<br />
zwei deutsch-türkischen YouTubern. „Schau dir mal<br />
das Musikvideo von denen auf YouTube an“, sagt Mert.<br />
Unter dem Video, in dem Frauen leicht bekleidet tanzen,<br />
stehen unzählige „haram“–Kommentare in Bezug<br />
auf das freizügige Erscheinungsbild der Frauen.<br />
Mert und zwei andere aus der Gruppe sind Muslime.<br />
Ob sie gläubig sind, frage ich sie, alle drei nicken.<br />
Einer von ihnen, Halil*, fügt hinzu: „Leider bin ich<br />
nicht strenggläubig, so wie es sein sollte. Dafür ist die<br />
Verlockung hier in Österreich einfach zu groß. Aber<br />
eines Tages werde ich es sein“, sagt der 19-Jährige.<br />
Mit Verlockung meint er Alkohol, Partys und Frauen.<br />
Sein Freund Goran * lacht. Der gebürtige Kroate ist fast<br />
nur mit Muslimen befreundet. Er beobachtet in den<br />
letzten Jahren einen Anstieg der Religiosität innerhalb<br />
seines Freundeskreises: „Ein paar meiner Freunde,<br />
für die Religion nie ein Thema war, sagen auf einmal,<br />
sie widmen ihr Leben jetzt Allah.“ Ich möchte von ihm<br />
wissen, ob er eine Vermutung hat, woher der plötzliche<br />
Wandel kommt. „Auf jeden Fall durch das Internet.<br />
Vines, Memes, YouTube-Videos – Islam ist überall ein<br />
Thema. Früher haben viele meiner Freunde nicht einmal<br />
erwähnt, dass sie Muslime sind, heute leben sie ihren<br />
Glauben offen, weil es durch das Internet und Deutsch-<br />
Rap cool geworden ist, Moslem zu sein.“<br />
DEUTSCHRAP & SOCIAL MEDIA<br />
Halil stimmt ihm zu. Er und seine Freunde hören am<br />
Susanne Einzenberger<br />
youtube.com<br />
liebsten Deutschrap von Kollegah, Bushido und Alpa-<br />
Gun. Bushido und Alpa-Gun sind von ihrer Herkunft her<br />
Muslime, Kollegah ist mit 15 zum Islam konvertiert. In<br />
seinen Songtexten und Interviews spricht er über den<br />
Islam – offen, verständlich und lässig – das kommt bei<br />
den Jugendlichen an. Der 32-jährige Kollegah rappt<br />
aber auch über „Fotzen“ und „ficken“ und die Jugendlichen<br />
feiern ihn, weil er Moslem ist. Dass seine Songtexte<br />
gar nicht zu einer religiösen Haltung passen, spielt<br />
keine Rolle.<br />
„Kollegah ist harmlos. Aber es gibt radikale Prediger<br />
wie Pierre Vogel, von dem lassen sich Jugendliche<br />
beeinflussen. Wenn die mit <strong>12</strong> Jahren schon Zugang<br />
zum Internet haben, ist das ein Problem. In dem Alter<br />
wissen die nicht, was richtig oder falsch ist“, erklärt mir<br />
Halil. Ob Kollegahs Songtexte harmlos sind, darüber<br />
lässt sich streiten – dass der deutsche salafistische<br />
Hassprediger Pierre Vogel, der unter anderem von Muslimen<br />
verlangt für den Islam zu sterben, gefährlich ist,<br />
steht jedoch fest. Auf YouTube, eine der beliebtesten<br />
Sozialen Plattformen der Jugendlichen, kann sich jeder<br />
seine Predigten anhören – vom 14-jährigen Teenie, der<br />
in einer Identitätskrise steckt, bis hin zum 16-jährigen<br />
Schulabbrecher ohne Perspektive.<br />
RADIKALISIERUNG<br />
Soziale Netzwerke wie YouTube sind zur wichtigsten<br />
Informationsquelle für Jugendliche geworden. Dass<br />
Internet-Sittenwächter wissen immer, was haram ist.<br />
32 / POLITIKA /
Sie rappen über „Fotzen“ und „ficken“ und werden von den Jugendlichen als Muslime gefeiert.<br />
man in dem Alter besonders schwer zwischen normal<br />
islamischen und radikal islamistischen Inhalten differenzieren<br />
kann, könnte beim Thema Religion gefährlich<br />
werden.<br />
Wie gefährlich zeigt eine im Oktober veröffentliche<br />
Studie der Stadt Wien, die die Bereitschaft zur<br />
islamistischen Radikalisierung von Jugendlichen in<br />
Wiener Jugendzentren untersucht hat – mit erschreckenden<br />
Ergebnissen. Konkret sollen 27 Prozent der<br />
muslimischen Jugendlichen zwischen 14 und 17<br />
Jahren, die von Jugendarbeitern betreut werden,<br />
gefährdet sein, sich zu radikalisieren, so die Studienautoren<br />
Kenan Güngör und Caroline Nik Nafs. 57 von<br />
214 befragten muslimischen Jugendlichen vertreten<br />
unter anderem Meinungen wie: „Religiöse Gesetze<br />
sind wichtiger als die österreichischen Gesetze ...<br />
Die islamische Welt soll sich mit Gewalt gegen den<br />
Westen verteidigen … Es soll im Namen der Religion<br />
getötet werden dürfen“.<br />
Wieso gerade Jugendliche anfällig für Radikalisierung<br />
sind, liegt auf der Hand: Identitätskrise während<br />
der Pubertät, Rebellion, aber auch ein verstärktes<br />
Dazugehören-Wollen prägen die Teenager-Zeit.<br />
Dazugehören wollte auch Florian * , ein Freund von<br />
Halil, der mit 18 zum Islam konvertiert ist, weil alle<br />
seine Freunde Muslime sind. Dass er nach wie vor<br />
Alkohol trinkt und den anderen „Versuchungen“, wie<br />
Halil sie nennt, nicht widerstehen kann, ist nicht weiter<br />
schlimm für die Freunde, Hauptsache er ist jetzt<br />
auch einer von ihnen. „Inshallah, werden wir eines<br />
Tages nach dem Koran leben“, sagt Mert tröstend<br />
und nimmt einen Schluck von seinem Bier. Nachher<br />
ist er mit seinen Freunden im Wettbüro verabredet.<br />
„HARAMSTUFE ROT“<br />
Zurück in der Schule schauen sich die Jugendlichen<br />
Durch das<br />
Internet<br />
und<br />
Deutsch-<br />
Rap ist<br />
es cool<br />
geworden,<br />
Moslem zu<br />
sein.<br />
in der Pause einen Sketch auf Facebook an, in dem<br />
ein junger Mann eine junge Frau in den Kofferraum<br />
sperrt, weil sie fälschlicherweise behauptet hatte,<br />
Jungfrau zu sein. Die Burschen lachen über das<br />
Video, die obligatorischen „Oha – haram!“ Rufe<br />
gehen durch die Reihen, als rauskommt, dass die junge<br />
Frau aus dem Video keine Jungfrau mehr ist. Die<br />
Mädchen lächeln verlegen. Ich frage die Mädchen,<br />
die sich bisher wenig zu dem Thema haram geäußert<br />
haben, ob und in welchem Zusammenhang sie<br />
den Begriff verwenden. „Wenn meine Freundin einen<br />
kurzen Rock oder bauchfrei trägt, sage ich im Spaß<br />
haram zu ihr“, erzählt die 16-jährige Dilan * .<br />
Sie und ihre Freundinnen haben einige haram-<br />
Wortspiele auf Lager: „Machst du kein haram, ist<br />
alles tamam (in Ordnung)“ oder „haramstufe rot“ sind<br />
Sätze, die unter den Freundinnen häufig fallen – aber<br />
nur im Spaß, versichern sie mir. Ob sie das Gefühl<br />
haben, dass ihre männlichen Klassenkollegen die<br />
haram-Äußerungen auch nur lustig meinen? „Nein!<br />
Sie wissen immer, was für uns Mädchen haram ist:<br />
Shisha rauchen, Ausschnitt zeigen - neulich hat einer<br />
in Biologie haram gerufen, als unsere Lehrerin über<br />
die Menstruation gesprochen hat“, sagt Dilan.<br />
Ich frage eine Lehrerin, wie sich solche vermeintlichen<br />
Tabus auf den Schulalltag auswirken.<br />
Sie erzählt mir, dass in den letzten Jahren die Zahl<br />
der Nichtschwimmerinnen unter ihren Schülerinnen<br />
enorm gestiegen ist. Sie kann mit den Klassen keinen<br />
Ausflug ins Schwimmbad machen, weil die Mädchen<br />
nicht schwimmen können oder nicht dürfen – sich im<br />
Bikini vor Männern zu zeigen ist nämlich haram.<br />
Mädchen wie Merve, die aus einem modernen<br />
muslimischen Elternhaus stammen und von ihren<br />
Eltern aus auf jeden Fall mit ins Schwimmbad gehen<br />
dürften, trauen sich trotzdem nicht: „Die Jungs würden<br />
schlecht über mich reden und bestimmt Fotos<br />
von mir im Bikini rumschicken“, sagt die 15-Jährige.<br />
Auf der letzten Schullandwoche hat ein Klassenkollege<br />
Merves Kleidungsstil kommentiert. „Er hat gesagt,<br />
es wäre haram sich als Muslima so zu kleiden. Dabei<br />
hatte ich nur Jeans und ein etwas engeres T-Shirt<br />
an.“<br />
EIN MÄNNLICHES PROBLEM<br />
Meine Gespräche mit den Jugendlichen zeigen<br />
mir, dass es mehrheitlich die Burschen sind, die im<br />
Namen der Religion Verbote für andere erstellen und<br />
so das Leben ihres (weiblichen) Umfelds einschränken.<br />
Auch die Studie der Stadt Wien macht deutlich:<br />
Radikalisierung ist männlich. Doch diese männlichen<br />
Jugendlichen, vor denen sich zur Zeit alle fürchten,<br />
haben in Wirklichkeit keine Ahnung von dem, was<br />
sie sagen. Sie tun ja nicht einmal selber das, was sie<br />
predigen. Sie widersprechen sich in allem, was sie<br />
sagen – denn sie sagen es nur, um cool zu sein.<br />
Ich habe das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit die<br />
Mädchen beneiden, die die besseren Noten haben,<br />
die blühenderen Zukunftsaussichten, die keinen auf<br />
„harten Kerl“ machen müssen. Die Mädchen, die<br />
sich so gut integrieren konnten und an ihnen vorbeiziehen.<br />
Wenn ich die SchülerInnen frage, was sie<br />
mal werden wollen, antworten die Mädchen „Ärztin“<br />
oder „Anwältin“, die Buben grinsend mit „AMS“ oder<br />
„Bombenleger“ – sie wissen, dass sie nicht mithalten<br />
können und kontern mit Provokation, veralteten Rollenbildern<br />
und gefährlichen Verhaltensvorschriften.<br />
ISLAM IST MACHT<br />
Sie, die Burschen, die Fünfer schreiben, durchfliegen,<br />
schief angeschaut werden, wollen sich zumindest<br />
in einem Punkt mächtig fühlen. Sie haben erkannt,<br />
dass die Leute Angst vor dem Islam haben. Sie<br />
stellen ihren Handyklingelton in „Allahu Akbar“ („Gott<br />
ist groß“) Rufe um und genießen die verängstigten<br />
Blicke der anderen in der U-Bahn, wenn ihr Handy<br />
klingelt. Sie posen auf jedem ihrer Profilfotos mit<br />
dem angehobenen Isis-Zeigefinger. Sie teilen die<br />
Anti-Islam-Posts der FPÖ und lesen stolz die Hass-<br />
Kommentare von Strache-Fans.<br />
Sie wissen, da draußen gibt es hunderttausende<br />
Erwachsene, die sie am liebsten abschieben würden,<br />
weil sie Angst vor ihnen - ein paar Teenagern<br />
– haben. Der Islam steht für sie für die Macht über die<br />
Ängste der anderen und sie wollen mächtig sein in<br />
einer Gesellschaft, in der sie sowieso schon als Verlierer<br />
gelten, die sie abgeschrieben hat, die ihnen eh<br />
nichts mehr zutraut, außer den Weg in den Dschihad.<br />
PROBLEM ANSPRECHEN<br />
So wie die Studie der Stadt Wien gibt auch dieser<br />
Bericht nur einen Überblick über einen kleinen Teil<br />
der muslimischen Jugendlichen in Wien. Aber er<br />
„Was wollt<br />
ihr mal<br />
werden?“<br />
„AMS oder<br />
Bombenleger“<br />
zeigt einen Trend auf, der sich schnell verstärken<br />
könnte, wenn nicht bald etwas geschieht. Wenn nicht<br />
deutlich mehr Geld für Sozialarbeiter in Schulen und<br />
Jugendprojekte gesteckt wird, aber auch, wenn es<br />
von Seiten der muslimischen Vertreter kein echtes<br />
Eingeständnis dafür gibt, dass es dieses Problem<br />
gibt und der Islam damit auch mitten in Österreich<br />
die Unterdrückung von Frauen und Verachtung von<br />
Andersdenkenden legitimiert.<br />
Ja richtig, es ist nur ein kleiner Teil der Jugendlichen,<br />
die so drauf sind. Aber diese Gruppe von<br />
pseudo-religiösen Jung-Machos wird größer, einflussreicher<br />
und damit gefährlicher. Und ja richtig, natürlich<br />
ist die Mehrheit der muslimischen Jugendlichen<br />
nicht so drauf. Aber es gibt solche Jugendliche und<br />
dieses wachsende Problem müssen wir als biber-<br />
JournalistInnen ansprechen, ansonsten missbrauchen<br />
rechte Parteien diesen Zustand für ihre politischen<br />
Zwecke, obwohl ja gerade sie mit ihrer anti-muslimischen<br />
Hetze solche Teenager noch mehr antreiben.<br />
Ob die Jugendlichen, die ich kennengelernt habe,<br />
Dschihadisten werden, bezweifle ich stark. Aber<br />
das ist ja auch kein Maßstab. So wie sie jetzt sind,<br />
müssen sie sich schon ändern. Und zwar schnell und<br />
deutlich. Denn pubertäre Großmäuler, die keinen<br />
Respekt vor Frauen und der österreichischen Gesellschaft<br />
haben, werden Erwachsene ohne Perspektive,<br />
die ihre Kinder genauso erziehen könnten. Und<br />
während der eine Teil der Gesellschaft diese Jugendlichen<br />
fürchtet, sie am liebsten abschieben würde,<br />
leugnet der andere Teil das Gefahrenpotential und die<br />
Jugendlichen bleiben wieder sich selbst überlassen<br />
und kreieren sich ihre eigene Welt – voll von Widersprüchen,<br />
Einschränkungen und ganz viel haram. ●<br />
*Namen von der Redaktion geändert<br />
WAS SAGT DIE AUTORIN HEUTE?<br />
Als ich 2016 die Reportage „Generation<br />
Haram“ veröffentlichte, traf ich einen Nerv.<br />
Journalist*innen, Politiker*innen, Lehrer*innen,<br />
Jugendliche – noch nie bekam ich so viele Reaktionen.<br />
Sieben Jahre später ist der Text leider noch<br />
immer aktuell. Es hat sich nicht viel geändert. Noch<br />
immer bleiben junge, muslimische Männer auf der<br />
Strecke, was sich im schlimmsten Fall in Sexismus<br />
oder Antisemitismus äußert. Meistens aber sind sie<br />
selber die Leidtragenden. Noch immer braucht es<br />
mehr positive Identifikationsfiguren, mehr Zugang<br />
zu ihren Emotionen, mehr Bewusstsein dafür, dass<br />
sie auch einen anderen Platz haben, als den, denen<br />
manche Teile unserer Gesellschaft für sie vorgesehen<br />
haben.<br />
MELISA ERKURT, Journalistin und Autorin<br />
34 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 35
Die erste Liebe vergisst man nicht. Die erste<br />
Redaktionssitzung mit scharf auch nicht. Es war<br />
biber auf den ersten Blick. Ein zusammengewürfelter<br />
Haufen Kids of Dijaspora, die auf der<br />
Suche nach dem (beruflichen) Sinn des Lebens waren, im<br />
Inserat nicht genau gelesen haben, dass das nicht bezahlt<br />
wird, oder einfach eine neue Flirtzone abchecken wollten.<br />
Wir saßen zu fünfzehnt, in einem unbeheizten Keller(?)<br />
raum und versuchten, das erste deutschsprachige Diversitymagazin<br />
zu machen. Pioniervibes lagen in der Luft. Und wir<br />
hatten ziemliche Narrenfreiheit.<br />
<strong>BIBER</strong> PIONIRI<br />
Wir durften Vieles ausprobieren, fast alles war erlaubt. Manches<br />
davon peinlich, einiges scharf an der Grenze des guten<br />
Geschmacks und würden wir heute wohl so nicht mehr<br />
schreiben.<br />
Es war ein Open Space der Identitätsfindung junger<br />
Menschen, die zum ersten Mal "irgendwas mit Medien"<br />
machten und sich handwerklich ausprobierten. Und da saßen<br />
sie dann, die erste Redaktion des biber im Gassenlokal eines<br />
Bobo-Bezirks, in dem fast niemand von ihnen nicht ansässig<br />
war.<br />
Manche mit Kriegserfahrung, manche geflüchtet oder<br />
hier geboren. Erste, zweite, dritte Generation. Alle mit einem<br />
Rucksack Identität, Verlust, kulturellem Dilemma, Stolz, Wut,<br />
Neugier, Humor und dieser unglaublichen Überzeugung, hier<br />
passiert grad etwas Einzigartiges und wir sind dabei. Ja, es<br />
war einzigartig.<br />
PIZZA GABS ALS DANKESCHÖN<br />
Manchmal verhedderten wir uns in den Redaktionssitzungen<br />
in ethnische Konflikte, trugen die Konflikte der alten Heimat<br />
in Wien Neubau aus, waren beleidigt, haben geflucht.<br />
Und weil wir trotzdem alle am Ende des Tages Wiener<br />
Tschuxln waren, machten wir in der Redaktion den Griller<br />
an und drehten ein paar Čevapi, während die letzten Texte<br />
fertiggetippt wurden für die nächste Ausgabe. Die wir dann<br />
gemeinsam verpackt und mit Postpickerl beklebt haben.<br />
Zigtausende. Bis in die Nacht hinein. Gratis. Nein. Pizza gabs<br />
als Dankeschön. Naja. Aber der Pioniergeist war zu sehr<br />
angefixt und wir Jugos und Türken zu tief im Muster unserer<br />
Gastarbeiter-Eltern, für den Arbeitgeber Leib und (Privat)<br />
Leben zu geben.<br />
Genau diese toxische Kombination aus naivem jugendlichen<br />
Idealismus und Überzeugung, bei etwas echt Geilem<br />
dabei zu sein, und tiefsitzender, generationsübergreifender<br />
Dankbarkeitspflicht trieb so viele Leute an, ihre Spuren im<br />
biber-Magazin zu hinterlassen.<br />
ICH WAR JUNG UND BRAUCHTE DAS<br />
GELD<br />
Mich trieb es jedenfalls über Nacht von Belgrad in den Bus<br />
zurück nach Wien. Es waren Sommerferien. Runterfahren<br />
natürlich. Der Plan war, die nächsten zwei Monate mit einem<br />
gehobenen Maß an Ernsthaftigkeit ins Belgrader Nachtleben<br />
einzutauchen und vor dem 30. August nicht nüchtern und<br />
ohne Wimperntusche wieder aufzutauchen. Der Anruf des<br />
Chefredakteurs aus Wien warf diese life goals in die Donau,<br />
die auch durch Serbien fließt: „Das Shooting für die erste<br />
Ausgabe findet in drei Tagen statt. Du kannst eh kommen<br />
gell?" Jaja, klar, genau das war immer mein Plan gewesen.<br />
Tja, long story short – die Busreise dauerte 15 Stunden.<br />
50 km vor der ungarischen Grenze kam mein Vater mich in<br />
Hegyeshalom abholen, weil die Buskolonne einfach nicht<br />
kürzer wurde und der Rauch in meinem "Zoran Reisen"-Bus<br />
(jap, damals durfte mal noch im Busmikrokosmos rauchen)<br />
irgendwann arg an die Lungen gingen, nicht so arg wie der<br />
Turbofolk, der aus den Boxen dröhnte. Aber hey, ein Shooting<br />
in einem echten Fotostudio, von einem echten Fotografen<br />
und das nicht für die Seite drei. Ich bin jung und ...bekam<br />
dafür eh kein Geld. Aber meine Jugofamily reichte die Ausgabe<br />
bis ins vlahische Dorf in Ostserbien weiter.<br />
DAMIT DIE ELTERN STOLZ SIND<br />
Es war der Stolz der Eltern, die Früchte ihrer Schufterei in<br />
diesem Land, die Kompensation für die Wertschätzung, die<br />
sie nie bekamen, das respekterweisende Nicken der Verwandtschaft<br />
- "Ehhh, dein Junge ist jetzt Žurnalist, ahh?".<br />
Solche Motive trieben viele Redakteur:innen an, mitzubibern.<br />
All die Ivanas, Amars, Esers, Delnas, Monikas, Dinos,<br />
Aleksandras, Bülents, Alis, Dakis, Ljubos, Damirs, Zwetelinas,<br />
Cems, Todors, Güness, Bojans, Antonios, Radas, Darkos,<br />
Semras und viele, viele mehr. Zu schreiben, Anzeigen zu<br />
verkaufen, die Bürosessel selber zusammenzuschrauben,<br />
bei Bedarf das Klopapier beizusteuern oder selber zu modeln<br />
für die Fotostrecken und Cover, weil das Budget knapp war,<br />
knapp blieb, oder einfach fehlte. Dann haben wir einfach<br />
das gemacht, was sonst mit uns gemacht wurde: Wir haben<br />
unsere Familien emotional erpresst („Du kommst aufs Cover,<br />
ich schwöre!“) und sie unbezahlt vor die Fotolinse, in – Hand<br />
aufs Herz – unmögliche, teilweise genreübergreifende Outfits<br />
und Setups gesetzt.<br />
OHNE SCHARF<br />
Am Ende ist die Rechnung für das biber doch nicht aufgegangen.<br />
So schnell wieder vorbei. Wie ein heftiger Sommerflirt.<br />
Die Erinnerung an eine heftige Ferienliebe. Ein<br />
bittersüßes Techtelmechtel, das einen über Jahre nicht<br />
losließ und prägte.<br />
Was ist das Vermächtnis von biber? So eine Ferienliebe<br />
hinterlässt eine Kerbe im Herzen. Diese hier vermachte<br />
mir eine Handvoll Menschen, die ich heute Freunde nenne.<br />
Mit denen ich Frühstücksdates verabrede, Urlaube plane,<br />
Kinderfotos tausche und wenn es die Zeit und die körperliche<br />
Verfassung zulassen, hin und wieder mit einem gewissen<br />
Maß an Ernsthaftigkeit in den Partyvibe vom Sommer 2006<br />
abtauche. Und dafür, liebes biber-Magazin, bekommst du<br />
von mir ein aufrichtiges Hvala, danke & Živeli! Mach’s gut. ●
„Wir sind hier nicht<br />
DER TEXT IST IN DER SOMMER-<br />
AUSGABE 2014 ERSCHIENEN.<br />
sie an und meinte ganz gelassen:“Diese junge Dame hat<br />
Eintritt gezahlt, keinem was getan UND ich sehe ihre Badekleidung<br />
nicht als unpassend. Sie dagegen haben für Aufruhr<br />
gesorgt, unsere Schwimmgäste belästigt und jemanden<br />
beleidigt. Ich bitte nun Sie zu gehen.“<br />
in der Türkei!“<br />
Julie Brass<br />
Was passiert, wenn Redakteurin<br />
Menerva Hammad in ihrem neuen<br />
Burkini im Kongressbad schwimmen<br />
geht? Alle glotzen, ein Badegast will<br />
sie in die Türkei schicken, doch der<br />
Bademeister eilt zu Hilfe.<br />
Diese Frau muss hier raus! Ich kann das nicht<br />
länger ansehen! Wie können Sie zulassen, dass<br />
hier jemand in einem Burkini schwimmt?!“ Mit<br />
dieser Aussage, einem Zeigefinger in meine<br />
Richtung ausgestreckt und einer wütenden Miene kam eine<br />
mir unbekannte Frau im Freibad auf mich zu. Sie hatte zwei<br />
Bademeister an ihrer Seite und mit der Beschwerde gerufen,<br />
eine Dame – in dem Fall war das ich – sei vollständig bekleidet<br />
im Wasser.<br />
POSTLEITZAHL AUF POBACKE<br />
Alle Leute im Wasser schauten mich fragend an, die Bademeister<br />
waren verwirrt und ich ging aus dem Wasser. Die<br />
Dame konnte nicht aufhören mit ihrem drohenden Zeigefinger<br />
vor meiner Nase zu fuchteln und schimpfte mit mir:“Ich<br />
habe Sie gesehen, Sie kamen mit diesem Gewand schon<br />
hier herein! Das ist unhygienisch!“ Ich versuchte mich zu<br />
verteidigen:“Schauen Sie, das ist ein Burkini, und der Stoff<br />
aus dem der gemacht wurde, ist wie der von einem stinknormalen<br />
Badeanzug, es ist nur mehr Stoff dran.“ Sie sah mich<br />
unglaubwürdig an und fasste meinen Burkini ohne mich zu<br />
fragen an. Als sie bemerkte, dass ich Recht hatte, kam die<br />
nonplusultra Aussage von ihrer Seite :“ Trotzdem, wir sind<br />
hier nicht in der Türkei! Sie müssen SOFORT gehen!“<br />
Das regte mich so sehr auf, zumal meine Eltern aus<br />
Ägypten sind, dass mir nur diese Antwort einfiel: “Ich verstehe,<br />
ich muss mich also ausziehen, um Österreicherin zu sein?<br />
Schön! Was wollen Sie denn von mir sehen? Meine Brüste,<br />
davon könnte ich Ihnen zwei anbieten, eine Pobacke, davon<br />
hätt ich eine ganze Postleitzahl, so groß ist mein Hintern!<br />
Oder vielleicht lieber ein bisserl Wampe? Ich habe viel Wampe,<br />
man sieht das nur nicht. Ich kann Ihnen aber leider nichts<br />
zeigen, was Sie nicht ohnehin schon kennen und wenn Sie<br />
sich hier umsehen, dann werden Sie viel Brust und vor allem<br />
Wampe sehen, ist es denn so schlimm, wenn das dann eine<br />
Person nicht von sich zeigt?“ Sie ignorierte meine zu direkte<br />
Antwort, lief rot an und drehte sich zum Bademeister:“Ich<br />
möchte, dass diese junge Dame geht!“ Der Bademeister sah<br />
MEIN HELD, DER BADEMEISTER<br />
Die Frau und ich waren sehr verwundert, sie, dass sie gehen<br />
musste und ich, dass ich bleiben durfte. Ich bedankte mich<br />
sehr bei ihm und sah sie nicht einmal mehr an. Als ich später<br />
in der Umkleidekabine das Geschehen gedanklich vor Augen<br />
hatte, musste ich kurz überlegen. Im Prinzip ist es egal was<br />
ich tue, was meine Eltern durchgemacht haben, um in dieses<br />
Land zu kommen, wie viele Jobs mein Vater hatte, damit er<br />
sich meine Ausbildung leisten konnte, was ich studiert habe,<br />
was ich arbeite, wie sehr ich mich anstrenge, oder was ich<br />
für dieses Land tue, ich bleibe immer die Ausländerin. Und<br />
wenn mich mein äußeres Erscheinungsbild nicht verrät, dann<br />
tut das mein Name. Ich frage mich, ob es jemals besser sein<br />
wird, denn einfach ist es nicht, nein, einfach ist es nicht.<br />
Aber solange es Menschen wie meinen Bademeister gibt,<br />
die sich für den Menschen im Menschen einsetzen, sich von<br />
keinerlei Äußerlichkeiten täuschen lassen und keine Angst<br />
haben gegen den Strom zu schwimmen, stirbt meine Hoffnung<br />
nicht. Als ich mich auf den Heimweg machte, bat ich<br />
ihn noch um ein Selfie mit mir, denn auch wenn ich nicht auf<br />
den Mund gefallen bin und immer meine Frau stehe, so war<br />
ich heute ein hilfloses Mädchen und habe durch ihn gelernt,<br />
dass Helden nicht immer maskiert sind. ●<br />
WAS SAGT DIE AUTORIN HEUTE?<br />
„SIND SIE DIE <strong>BIBER</strong>-BURKINIFRAU?“<br />
Diese Geschichte bedeutet mir nicht nur viel, weil sie<br />
meine erste und einzige Cover-Story für Biber ist, sondern<br />
weil ich durch sie herausgefunden habe, welche<br />
Emotion meine innere Schreibfeder bewegt: Wut.<br />
Ich habe damals im Freiband mit einer Rassistin<br />
(nennen wir das Kind einfach beim Namen, oder?) zu<br />
tun gehabt, der mein Burkini nicht gefallen hat, der<br />
Bademeister hat mich in Schutz genommen, die Situation<br />
ist eskaliert und mir ging es danach richtig beschissen.<br />
Fragen wie „Warum sind Menschen in diesem Land<br />
so einseitig im Kopf?“ beschäftigten mich danach sehr<br />
und ich habe einfach den Frust in die Tasten gehauen.<br />
Stunden später zeigte die Story Online über 100.000<br />
Klicks, Tage später wurde ich von TV- und Radiosendern<br />
kontaktiert, erste Jobangebote trudelten ein, und so<br />
kam ich eigentlich zum nächsten Praktikum bei einem<br />
großen TV-Sender.<br />
Ich werde heute – 9,5 Jahre später – immer noch<br />
auf der Straße von Menschen erkannt, die auf mich zeigen<br />
und mich fragen : „Sind Sie die biber-Burkinifrau?“<br />
MENERVA HAMMAD, Autorin und Sexualpädagogin<br />
38 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 39
DER SYRER,<br />
DER NACH<br />
ÖSTERREICH<br />
KAM UND<br />
TRAMFAHRER<br />
WURDE<br />
Bilal Albeirouti flüchtete als Journalist nach Österreich.<br />
Nun ist er Straßenbahnfahrer in Wien. Eine<br />
Geschichte über das Scheitern, die Hartnäckigkeit,<br />
den Erfolg – und die verschlungenen Wege<br />
der Integration.<br />
"Foa", sagt der Fahrlehrer. „Vor? Wohin vor?“, denkt sich<br />
der 39-jährige Fahrschüler Bilal Albeirouti. "Foa!",wiederholt<br />
der Fahrlehrer sein Kommando. "Vor?" Bilal versteht noch<br />
immer nur Bahnhof und erstarrt am Fahrersitz. "Fahren!",wird<br />
der Fahrlehrer langsam unrund. Jetzt versteht der Syrer und<br />
drückt den schwarzen Hebel mit der linken Hand nach vorn.<br />
Die Tramway setzt sich in Bewegung.<br />
Das war vor zwei Monaten. Seit zwei Wochen lenkt Bilal<br />
die Straßenbahnen der Wiener Linien allein durch die Stadt<br />
– mit bis zu 200 Fahrgästen im Rücken. Mit dem 2er oder<br />
D-Wagen umkreist er das Zentrum Wiens, den 38er oder<br />
43er führt er vom Schottentor weit hinauf in die Weinberge<br />
und wieder zurück. Insgesamt zehn Linien umfasst das Streckennetz,<br />
das er von seinem Bahnhof Hernals aus betreut.<br />
Der Syrer ist einer der ersten neuen Flüchtlinge in diesem<br />
Job.<br />
Als er Anfang 2016 am Hauptbahnhof in Wien ankommt,<br />
springen ihm diese "Maschinen" sofort ins Auge. Straßenbahnen<br />
kennt er aus den Erzählungen seiner Mutter und<br />
von Bildern des historischen Damaskus. In der syrischen<br />
Hauptstadt wurden die Tramways 1967 eingestellt und durch<br />
Busse abgelöst. Dass er eine dieser Maschinen eines Tages<br />
selbst lenken würde, kommt Bilal damals nicht in den Sinn. Er<br />
hat ganz andere Pläne.<br />
Bilal Albeirouti arbeitet als Sport- und Chronikjournalist,<br />
bis er vor dem Syrienkrieg in den Libanon und dann weiter<br />
nach Österreich flüchtet. In Damaskus hat er einen Bachelor<br />
in Kommunikation abgeschlossen. Das Studium wird in<br />
Österreich anerkannt. Hier versucht er, im alten Beruf Fuß<br />
zu fassen. Er scheitert. Und steckt sich neue Ziele. Seine<br />
Geschichte zeigt, was gelingende Integration auch bedeutet:<br />
sich nicht an Träume vom leichten Leben im Westen zu<br />
klammern, an Bilder, die nicht selten die Schlepper zeichnen.<br />
Sondern: sich realistische Ziele zu setzen und diese hartnäckig<br />
zu verfolgen.<br />
Bilal lerne ich 2017 in der "biber"-Akademie kennen. Das<br />
Migrantenmagazin hat eine eigene Klasse für Flüchtlinge<br />
eingerichtet, ich leite einen Kurs. Bilal fällt mir auf, weil er zu<br />
allem etwas zu sagen hat und auch nicht vor heiklen Themen<br />
zurückschreckt. Nach der Akademie wird er freier Mitarbeiter<br />
bei "biber". Er schreibt über ältere Österreicherinnen ("Sugar<br />
Mamas"), die sich junge Flüchtlinge als Liebhaber nehmen<br />
und sie gegen Sex finanziell aushalten; über kleine Kinder,<br />
die Kopftuch tragen; Syrer, die "Millionen" in ihre alte Heimat<br />
transferieren; Flüchtlinge, die ihre Selfies mit Sebastian Kurz<br />
löschen, weil sie mittlerweile Angst vor dem harten Kanzler<br />
haben. Wichtige Geschichten, die von anderen Medien<br />
aufgegriffen werden – und Bilal doch nicht zum Durchbruch<br />
als Journalist verhelfen. Denn er schreibt die Storys nicht<br />
allein. Sein Deutsch ist nicht gut genug dafür. Und er muss<br />
schmerzhaft erfahren, dass Journalismus im neuen Land keine<br />
sichere Bank ist, sondern eine Branche, in der es selbst<br />
für Österreicher immer schwerer wird. Bilal will einen stabilen<br />
Job, um seine Familie zu ernähren.<br />
Ich erinnere mich, wie er vor vier Jahren mit seiner Frau,<br />
seinem achtjährigen Sohn Mohamed und seiner eineinhalbjährigen<br />
Tochter Mira am Wiener Brunnenmarkt auftaucht.<br />
Wir arbeiten mit der biber-Akademie an einer Story über den<br />
türkisch geprägten Markt, auf dem sich syrische Händler<br />
immer stärker ausbreiten. Bilal zeigt uns stolz seine Tochter.<br />
Die Familie ist am Vortag aus dem Libanon angekommen. Er<br />
hat das Land verlassen, als seine Frau schwanger war. Erst<br />
am Wiener Flughafen konnte er Tochter Mira zum ersten Mal<br />
im Arm wiegen. Noch drei Monate lang nennt die Kleine ihn<br />
"Onkel".<br />
Bilal arbeitet als Rezeptionist in einem Hotel, lernt aus<br />
den Gesprächen mit älteren Gästen. Doch der Kampf mit der<br />
Sprache geht weiter. Er wechselt in die Security-Branche.<br />
Steht den ganzen Tag "wie eine Säule" vor Banken. Stumm.<br />
Sein Deutsch schwindet wieder. Im Herbst 2020 wird er<br />
gekündigt. Einfach so. Zuvor schon hat er einen Lehrgang<br />
zum Einzelhandelskaufmann absolviert und Hunderte Bewerbungen<br />
verschickt. Kaum Rückmeldungen. Wenn doch:<br />
Lager. Bei den Wiener Linien klappt es erst im dritten Anlauf.<br />
Die letzte Hürde sind elf Kilo, die er zu viel auf die Waage<br />
bringt. Er speckt innerhalb von drei Monaten ab und startet<br />
im Jänner 2021 mit elf weiteren Personen. Drei Monate dauert<br />
die bezahlte Ausbildung in Theorie und Praxis. Verdienst:<br />
1800 Euro brutto.<br />
40 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 41
"Weiche. Schiene. Disponent. Am Anfang habe ich kein<br />
Wort verstanden", erinnert sich Bilal. Drei Mal ist er kurz<br />
davor, aufzugeben. Seine Frau macht ihm Mut. Seine Ausbildner<br />
schenken ihm nichts. Der Job ist mit großer Verantwortung<br />
verbunden. Nur wer bei seiner ersten Solofahrt so<br />
sicher ist, dass er seine gesamte Familie mitnehmen würde,<br />
kommt durch den Kurs, lautet das Credo des Ausbildners.<br />
Bilal bezahlt einen ägyptischen Bekannten, der ihm die<br />
Skripten in einfache Worte übersetzt. Er lernt sie auswendig,<br />
auch am Wochenende. Bei der Prüfung beantwortet er alle<br />
<strong>23</strong> Fragen korrekt. Er besteht als einer von vier Kursteilnehmern.<br />
Andere Migranten, die hier geboren sind und länger<br />
Zeit hatten, Deutsch zu lernen, fallen durch. Bilal hat diesen<br />
Extraantrieb, der von seinen Vorgesetzten registriert und<br />
honoriert wird. Auf seiner Jungfernfahrt besteht Wiens neuer<br />
Bimfahrer aus Syrien darauf, dass seine gesamte Familie mit<br />
an Bord ist.<br />
Der Alltag eines Journalisten kann auf vielerlei Pfade<br />
führen, beim Straßenbahnfahren ist der Weg durch Schienen<br />
klar vorgegeben. Im Journalismus gibt es für gute Geschichten<br />
Likes im Internet und Schulterklopfer in der Redaktion.<br />
Beim Straßenbahnfahren ist es Pflicht, nicht Kür, die Intervalle<br />
einzuhalten, Kollegen rechtzeitig abzulösen, zwischen vier<br />
und fünf Uhr aufzustehen und Dienst am Wochenende zu<br />
schieben (freie Wochenenden sind ein Privileg von Dienstälteren).<br />
Wie geht es meinem Kollegen Bilal mit diesem beruflichen<br />
Spurwechsel? Zunächst einmal ist er stolz. Auf die<br />
Tätigkeit, auf die Uniform. „Die Österreicher haben mich<br />
dorthin geführt, wo ich jetzt bin. Jetzt führe ich sie durch die<br />
Stadt. In die Arbeit, zu Freunden, durchs Wochenende." In<br />
der Fahrerkabine fühlt er sich als Herr der Straße, begegnet<br />
anderen Kollegen auf Augenhöhe. Selbst Polizisten grüßen<br />
ihn mit seiner Uniform wertschätzend. Wie sich das anfühlt,<br />
könne nur jemand nachvollziehen, der aus einem Land wie<br />
Syrien kommt, wo man Polizisten mit Angst begegnet, sagt<br />
Bilal.<br />
Als Journalist konnte mein Ex-Kollege sicher freier und<br />
kreativer arbeiten. Doch ohne Anstellung war er existenziell<br />
unfrei. Nun bekommt er 2100 Euro brutto, 14 Mal im Jahr,<br />
mit Zulagen für Nachtdienste und Wochenenden. Die Freiheit<br />
eines Bimfahrers ist anders gelagert. „Ich hole mir in der<br />
Früh am Bahnhof den Wagenpass und Fahrplan ab, dann<br />
nehme ich mir einen Zug. Nach der letzten Fahrt gehe ich<br />
nach Hause. Dazwischen habe die volle Verantwortung, was<br />
auf der Fahrt passiert und bin mein eigener Chef."<br />
Im Pausenraum sitzt Bilal einer Kollegin gegenüber, die<br />
vor 21 Jahren begonnen hat – als eine der ersten Frauen. Sie<br />
macht ihren Job noch immer gerne. „Junge Kollegen geben<br />
heute schneller auf", ist ein langgedienter Kollege überzeugt.<br />
Manche schaffen den Umstieg im Unternehmen und werden<br />
Disponenten (so heißen jene Taktgeber, die über die Einhaltung<br />
des Fahrplans wachen).<br />
Vorerst passt es für Bilal. Er fühlt sich zu "100 Prozent"<br />
angekommen. Was rät er Landsleuten, die noch unterwegs<br />
sind, die Mindestsicherung beziehen, Kurse belegen, Jobs<br />
wieder verloren haben – oder gar nicht versuchen, ins<br />
System Österreich hineinzukommen? Die weniger Antrieb<br />
oder Bildung haben als Bilal? Er kennt Familienväter, die in<br />
der Mindestsicherung nicht sehr viel weniger bekommen als<br />
er bei den Wiener Linien. 48 Prozent der Syrer in Österreich<br />
sind arbeitslos, Tendenz zuletzt wieder steigend.<br />
Bilal rät: „Gebt nicht auf. Ihr müsst nicht perfekt Deutsch<br />
sprechen. Probiert es einmal, zehn Mal, 100 Mal. Österreich<br />
wartet auf euch." Und noch eines motiviert ihn, um vier Uhr<br />
aufzustehen: die Staatsbürgerschaft. Die gibt es nur mit Job.<br />
Bilal will schon nächstes Jahr Österreicher werden. Danach<br />
fehlt eigentlich nur noch: eine Runde im Wiener Dialekt. Na<br />
oisdonn!<br />
HINTER DER GESCHICHTE<br />
Clemens Neuhold (46) schreibt seit 2015 für das<br />
Nachrichtenmagazin profil und ist ein biber-Urgestein.<br />
Neben seiner Tätigkeit als Kurier-Redakteur steuerte er<br />
Texte für die ersten biber-Ausgaben im Jahr 2007 bei.<br />
Danach wurde er biber-Textchef und Mitbegründer der<br />
Journalismus-Akademie, in der er immer wieder unterrichtete.<br />
2017 lernte er in der biber-Flüchtlingsklasse<br />
den Syrer Bilal Albeirouti kennen. Er verfolgte dessen<br />
beruflichen Werdegang mit allen Höhen und Tiefen über<br />
Jahre – bis zu dessen Einfahrt in die Tram-Remise der<br />
Wiener Linien. Bei einer Testfahrt mit exzellenter Kurvenlage<br />
trafen sie sich für diese Geschichte, die 2021<br />
im profil erschien, wieder. Die Story über Bilal wurde mit<br />
dem Winfra-Preis der Wiener Lienen und dem Anerkennungspreis<br />
des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF)<br />
ausgezeichnet. Albeirouti ist weiterhin als Tramfahrer in<br />
Wien unterwegs.<br />
CLEMENS NEUHOLD. Seit 2015 Allrounder in der profil-<br />
Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin<br />
biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am<br />
Einwanderungsland Österreich.<br />
42 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 43
DER TEXT IST IN DER DEZEMBER-<br />
AUSGABE 2010 ERSCHIENEN.<br />
Dem Koran nach hat Sexualität einen<br />
großen Stellenwert im Islam. Ran darf<br />
man aber erst, wenn man verheiratet<br />
ist. Junge Muslime erzählen über ihre<br />
Gratwanderung zwischen frommer<br />
Tradition und dem Bedürfnis nach Lust.<br />
Von Anna Thalhammer und Linda Say, Fotos: Lucia Bartl<br />
Zur Autorin: Anna Thalhammer war Chefin vom Dienst bei biber und ist<br />
heute Chefredakteurin von profil.<br />
Sex und Islam – diese zwei Wörter in einem Satz zu<br />
verwenden ist schon hochexplosives Material und<br />
die Recherche zu diesem Artikel spiegelt das Dilemma<br />
wider, in dem sich junge Muslime befinden. „Das<br />
könnt ihr nicht drucken, ihr werdet alle Leser verlieren, denn<br />
darüber spricht man nicht“, wurde uns gesagt. Jemanden zum<br />
Reden zu bringen war nicht so einfach, denn die Angst erkannt<br />
zu werden, war groß. Dennoch dauerte jedes einzelne Interview<br />
mehr als eine Stunde und von vielen hörten wir „Ich bin<br />
so froh endlich einmal darüber reden zu können.“ Die Namen<br />
der Protagonisten wurden von der Redaktion geändert.<br />
MEHR ALS NUR SEX<br />
„Über Sex in dem Sinn habe ich mit meinen Eltern nie gesprochen.<br />
Nur, dass das Jungfernhäutchen bis zur Hochzeit nicht<br />
kaputt werden darf, das wurde mir eingebläut.“ Dunja ist 26<br />
Jahre alt, kommt aus dem Iran und ist in einer traditionellen<br />
muslimischen Familie groß geworden. Ihre Mutter, eine von vielen,<br />
„die es auch so erlebt hatten“, hat ihre Tochter nach eben<br />
diesen traditionellen Wertvorstellungen erzogen, die aber nicht<br />
unbedingt in Dunjas Welt passen.<br />
So lebt sie wie viele ihrer muslimischen Freunde in einer<br />
Doppelwelt zwischen überholten Moralvorstellungen und Löffelchenstellung.<br />
„Es geht nicht nur darum, dass ich keinen Sex<br />
haben darf. Den hatte ich schon mit 16. Das Problem ist viel<br />
tiefgreifender und dringt in etliche Bereiche des Lebens ein:<br />
ich durfte nie reiten, o.b. hab’ ich immer heimlich verwendet<br />
und die unbenutzten Binden in den Mistkübel geworfen. Reisen<br />
konnte ich nie. Jetzt lebe ich mit meinem Freund zusammen<br />
und hab ein Alibi-Zimmer in einem Mädchenstudentenheim. Ich<br />
habe mich nicht an ein sexloses Leben vor der Ehe gehalten<br />
und mir ist das bisschen Haut wurscht. Die Ehre einer Frau liegt<br />
nicht zwischen ihren Beinen. Aber vielen meiner Freundinnen<br />
ist das ganz wichtig. Sie haben dann eben Analsex, damit<br />
nichts passiert. Ich und viele andere führen ein ständiges Doppelleben,<br />
das aus einem Konstrukt von Lügen besteht.“<br />
Gerne würde Dunja mit ihren Eltern ihre Gefühle teilen und<br />
ihnen auch ihren Freund vorstellen, der das Versteckspiel seit<br />
Jahren mitspielt.<br />
„Aber für sie würde eine Welt einstürzen. Ich möchte das<br />
gute Verhältnis nicht gefährden“, sagt die schöne Perserin und<br />
zuckt ratlos mit den Schultern<br />
KEINE REINE FRAUENSACHE<br />
Wir treffen ein junges muslimisches Pärchen im Caféhaus, das<br />
während des Gesprächs nicht die Finger voneinander lassen<br />
kann. Zu frisch ist die junge Liebe. „Mein erstes Mal hatte ich<br />
mit 19“, erzählt der 28-jährige Salih, ein türkischer Österrei-<br />
44 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 45
„ICH UND VIELE ANDERE<br />
FÜHREN EIN STÄNDIGES<br />
DOPPELLEBEN, DAS AUS<br />
EINEM KONSTRUKT VON<br />
LÜGEN BESTEHT.“<br />
cher, der sich selbst als einen jener Moslems bezeichnet „der<br />
halt kein Schweinefleisch isst, aber sonst von der Religion<br />
wenig Ahnung hat“. Auch jungen muslimischen Männern ist<br />
vorehelicher Sex verboten. Salih findet das nicht zeitgemäß,<br />
aber auch er hätte sich niemals getraut mit seinen Eltern darüber<br />
zu sprechen.<br />
„Für sie wäre wahrscheinlich das größte Problem gewesen,<br />
was die Nachbarn denken. Wenn man muslimischen Background<br />
hat, dann gibt es keine Zweisamkeit. Man bekommt<br />
erstens sowieso die Familie mit und dann sogar noch die<br />
Nachbarn und möglicherweise die moralische Keule der ganzen<br />
Community.“ Seine beiden älteren Brüder wurden mit zwei<br />
Frauen aus der Türkei verheiratet. „Für mich geht das gar nicht.<br />
Ich frage mich immer: Wo bleibt bei diesem ganzen Gerede<br />
von Ehe, Sex oder Enthaltsamkeit die Liebe? Meine Mutter hat<br />
immer gesagt, das kommt mit der Zeit in der Ehe, aber für mich<br />
ist das absurd.“<br />
Salih ist nicht verheiratet, hat aber eine Freundin und ist<br />
schwer verknallt: Sarah heißt seine Flamme, sie ist <strong>23</strong> und<br />
Halbsyrerin, ihr Vater lebt noch immer dort.<br />
„Das Thema Sex ist bei meinem Vater einfach keines“, sagt<br />
sie. „Ich glaube, er weiß, dass ich hier in Österreich anders<br />
lebe als er sich das wünscht, aber darüber geredet wird nicht.<br />
Aber als meine kleine siebenjährige Schwester einmal bei mir<br />
in Österreich war, bekam sie mit, dass ich einen französischen<br />
Film schaute, wo in einer Soft-Sex-Szene ein bisschen nackte<br />
hüpfende Brust zu sehen war. Sie hat das meinem Vater<br />
erzählt, der vollkommen ausgerastet ist und behauptet hat, ich<br />
habe meiner Schwester die Unschuld geraubt. Bei meiner syrischen<br />
Familie läuft den ganzen Tag Al Jazeera im Fernsehen,<br />
wo man Menschen mit abgehackten Köpfen, Krieg und Blut<br />
sieht. Gewalt und Brutalität ist weniger schlimm als Sex? Die<br />
Verhältnismäßigkeiten stimmen einfach nicht, das ist absurd.“<br />
Ein Doppelleben zwischen Glaube und Versuchung<br />
das für junge Muslime wichtig wäre. Das weiß Baghajati auch<br />
aus seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger, wo er mit jungen<br />
Häftlingen unter anderem über Sex und Selbstbefriedigung<br />
spricht. „Wenn es um Wissen geht, kannte auch der Prophet<br />
keine Tabus. So stellten ihm Frauen mit heute verblüffendem<br />
Selbstbewusstsein alle möglichen Fragen, sogar zur Sexualität.“<br />
Warum fällt es heute also trotzdem so schwer, darüber zu<br />
sprechen? „In vielen Traditionen herrscht der Irrglaube, dass<br />
zu viel Wissen zu Fehlverhalten führt.“ Man würde also eher<br />
auf den Geschmack kommen, wenn man weiß wie’s geht.<br />
andererseits sind sie tief in ihren Familien und deren Traditionen<br />
verwurzelt. Beidem zu entsprechen ist schwierig, also wie<br />
schaffen es junge Muslime, mit diesem Thema umzugehen?<br />
„Die Bandbreite zwischen häufigem Sex mit ständig<br />
wechselnden Partnern und Enthaltsamkeit bis zur Ehe ist groß.<br />
Jeder muss nach seinen eigenen Wertvorstellungen einen Weg<br />
finden“, sagt der <strong>23</strong>-jährige Gökhan, der sich selbst als sehr<br />
gläubig bezeichnet. Auch er hatte schon Sex, mit einer Frau,<br />
die er sehr geliebt hat. Einen One-Night-Stand würde er aber<br />
niemals haben. „Jede Sünde ist beim jüngsten Gericht vor<br />
Allah höchstpersönlich zu rechtfertigen, für so was zahlt sich<br />
das nicht aus. Aber für eine Frau, die ich liebe, stehe ich gerne<br />
grade, denn im Islam zählt nur die gute Absicht.“ Sich vor Gott<br />
zu rechtfertigen, damit hat er kein Problem, bei seiner Familie<br />
aber umso mehr. Seine Pubertät gestaltete sich schwierig.<br />
„Erklär’ einmal einer Frau, dass du sie zwar attraktiv findest<br />
und auch nicht homosexuell bist, aber trotzdem nicht mit ihr<br />
schlafen willst.“ Seine zukünftige Frau sollte schon eine Muslimin<br />
sein. Nicht unbedingt der Religion wegen, sondern weil<br />
er sich wünscht, dass sie seine Werte teilt. Ähnlich sehen das<br />
auch Mohammed, Erkan und Melih, Göknur und Dunja. Sie alle<br />
haben ihre Religion für sich neu interpretiert.<br />
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT<br />
Wo also ansetzen? „Die Gesellschaft muss sich besser kennenlernen,<br />
auch der Umgang zwischen den jungen Menschen<br />
kommt mir sehr verkrampft vor. Nicht jedes Lächeln ist gleich<br />
als Anmache zu verstehen“, sagt der Imam. Die Auseinanderhaltung<br />
der Geschlechter beginnt schon in der Moschee, die<br />
eigentlich der Ort der Zusammenkunft aller Gläubigen ist. „Das<br />
entspricht nicht der Moschee des Propheten. Zwischen Mann<br />
und Frau war höchstens eine Schnur gespannt. Die Frauen<br />
saßen zwar hinten, aber nur da die Gebetshaltung vor den<br />
Männern für sie unangenehm gewesen wäre.“ ●<br />
„WENN ES UM WISSEN<br />
GEHT, KANNTE AUCH DER<br />
PROPHET KEINE TABUS. SO<br />
STELLTEN IHM FRAUEN MIT<br />
HEUTE VERBLÜFFENDEM<br />
SELBSTBEWUSSTSEIN ALLE<br />
MÖGLICHEN FRAGEN, SOGAR<br />
ZUR SEXUALITÄT“<br />
GOTT ODER BETT?<br />
Empfindet der Islam demnach Sex als etwas Schlechtes? „Ganz<br />
und gar nicht“, sagt der Wiener Imam Tarafa Baghajati. „Prinzipiell<br />
hat der Islam eine äußerst positive Einstellung zur Sexualität<br />
zwischen Mann und Frau. Dies ist in unzähligen Stellen<br />
aus dem Koran, Hadithe des Propheten und der islamischen<br />
Tradition und Literatur belegt. Sex gehört aber eindeutig in die<br />
Ehe.“ Vor Allah gilt es sogar als gute Tat, wenn sich die Ehepartner<br />
gegenseitig befriedigen. Schlechter Sex ist sogar ein<br />
Scheidungsgrund – auch für Frauen. Zudem wird der zeitlich<br />
befristete sexuelle Höhepunkt als Vorgeschmack aufs Paradies<br />
gesehen, wo diese Freuden dann dauerhaft erlebt werden<br />
können.<br />
Zu schön, um wahr zu sein? „Zwischen Theorie und Praxis<br />
gibt es große Unterschiede“, sagt Baghajati. Ein offener<br />
Umgang mit dem Thema Sex ist meist nicht möglich, obwohl<br />
SCHULD ODER SÜHNE?<br />
Viele Muslime, die hier groß geworden sind stehen zwischen<br />
zwei Welten: Einerseits gehen sie hier zur Schule und bekommen<br />
dort westliche, meist freizügigere Werte vermittelt,<br />
„WENN MAN MUSLIMISCHEN<br />
BACKGROUND HAT, DANN GIBT<br />
ES KEINE ZWEISAMKEIT. MAN<br />
BEKOMMT ERSTENS SOWIESO<br />
DIE FAMILIE MIT UND DANN<br />
SOGAR NOCH DIE NACHBARN<br />
UND MÖGLICHERWEISE DIE<br />
MORALISCHE KEULE DER<br />
GANZEN COMMUNITY.“<br />
46 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 47
KONTROVERSE<br />
2017<br />
Österreichische Post AG; MZ 09Z038106 M; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
www.dasbiber.at<br />
MIT SCHARF<br />
NEWCOMER<br />
SCHOOL<br />
EDITION<br />
WINTER 2017/18<br />
DIE LETZTEN<br />
ÖSTERREICHER<br />
AFGHANINNEN<br />
ÜBER TABUS<br />
ZU DICK FÜR<br />
DIE LIEBE<br />
+<br />
RAF<br />
CAMORA<br />
GEWINNE<br />
T<br />
I C K E T S<br />
BETEN &<br />
SAUFEN<br />
ZWISCHEN GLAUBE UND HEIMLICH VERSUCHUNG<br />
HARAM<br />
Hijab und Bierflasche: Dürfen wir das? Dieses<br />
Cover sorgte gleichermaßen für Staunen,<br />
Bewunderung aber auch Entsetzen. Ein klarer Fall<br />
von „Würden wir heute nicht mehr so machen.“<br />
2017 haben wir‘s aber gemacht, um die Reportage<br />
„Heimlich Haram“ zu bebildern. Aleksandra<br />
Tulej sprach damals mit jungen Muslimen in<br />
Wien, die ein Doppelleben zwischen Glaube und<br />
Versuchung führten. Es war auch das erste Cover<br />
unserer späteren Fotochefin Zoe Opratko.<br />
<strong>BIBER</strong> 11_17 ME _AS.indd 1 28.11.17 02:32<br />
48 / MIT SCHARF /
EMPOWERMENT<br />
2020<br />
Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
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MIT SCHARF<br />
NEWCOMER<br />
SCHOOL<br />
EDITION<br />
WINTER 2020/2021<br />
+<br />
NEUE LIPPEN<br />
MIT 16<br />
+<br />
VORWURF:<br />
„WUTMUSLIMAS“<br />
+<br />
KHORCHIDE<br />
IN ZAHLEN<br />
+<br />
REVOLUTION<br />
Wie junge Frauen aus den Communitys<br />
ihre Selbstbestimmung erkämpfen<br />
WIR BESTIMMEN. PUNKT.<br />
In unserer beliebten Empowerment-Reihe haben<br />
Frauen aus den unterschiedlichen Migra-Communities<br />
in Wien immer wieder ihre persönlichen<br />
Selbstbestimmungs-Geschichten erzählt und<br />
somit Tabus und veraltete Rollenbilder durchbrochen.<br />
Ob Jungfrauenmythos, Sexualität, konservative<br />
Familienverhältnisse: Unzählige Leser:innen<br />
haben sich in diesen Geschichten wiedergefunden.<br />
Die Reihe wurde durch den ÖIF finanziert.<br />
50 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 51
RAMBAZAMBA<br />
2022<br />
Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
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MIT SCHARF<br />
OKTOBER<br />
2022<br />
+<br />
IRANISCHE<br />
REVOLUTION IN WIEN<br />
+<br />
HÄUPL IN ZAHLEN<br />
+<br />
LIEBE ZU DRITT<br />
+<br />
WIR FAHREN NICHT<br />
MEHR RUNTER<br />
NIEMAND FÄHRT MEHR RUNTER.<br />
Die Sommer in der Heimat sind nicht mehr so, wie<br />
WENN DAS HEIMATDORF DER ELTERN wir sie aus unserer AUSSTIRBT<br />
Kindheit kennen: Man trifft auf<br />
Stille statt großen Familienfesten und Grabkerzen<br />
statt Pralinen. Sind wir die letzte Generation, die<br />
noch „runterfährt?“ Wir haben darüber geschrieben,<br />
warum immer mehr Migra-Kids nicht mehr<br />
die Heimat ihrer Eltern besuchen wollen: Maria<br />
Lovrić-Anušić hat mit dieser Geschichte einen<br />
Nerv getroffen, die Resonanz aus der Ex-Yu-Community<br />
war riesig.<br />
52 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 53
COVER<br />
2016<br />
VERHÜLLTE MISSION<br />
Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />
von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />
selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />
undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />
- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />
Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />
keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />
radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />
journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />
Preise.<br />
54 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 55
UNDERCOVER<br />
2016<br />
VERHÜLLTE MISSION<br />
Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />
von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />
selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />
undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />
- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />
Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />
keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />
radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />
journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />
Preise.<br />
56 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 57
OLD<br />
2016<br />
VERHÜLLTE MISSION<br />
Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />
von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />
selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />
undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />
- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />
Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />
keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />
radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />
journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />
Preise.<br />
58 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 59
REPORTAGE<br />
2022<br />
Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
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MIT SCHARF<br />
SEPTEMBER<br />
2022<br />
+<br />
HEINZ FISCHER SPIELT<br />
FUSSBALL<br />
+<br />
MARCO POGO<br />
IN ZAHLEN<br />
+<br />
HAUPTBERUF<br />
VERSUCHSKANINCHEN<br />
+<br />
WIR KINDER<br />
VOM STADTPARK<br />
HEROIN, PROSTITUTION UND OBDACHLOSIGKEIT:<br />
WIENS VERGESSENE JUGEND WIR KINDER VOM STADTPARK<br />
Speed, Heroin, Crystal Meth, Prostitution und<br />
Obdachlosigkeit gehören zu ihrem Alltag, sie sind<br />
+ + + WAHL-SPEZIAL: DIE BP-KANDIDATEN durch alle IM sozialen CHECK Netze + gefallen: + + Wir trafen<br />
Wiens vergessene Kinder, die von der Gesellschaft<br />
längst aufgegeben wurden und selbst<br />
keine Zukunft mehr sehen. Die Reportage schlug<br />
hohe Wellen, danach zog es auch große Medien<br />
wie den Falter in den Stadtpark. Das Cover<br />
wurde für die Geschichte übrigens, wie so oft in<br />
biber‘scher Tradition - nachgestellt.<br />
60 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 61
ILLUSTRATION<br />
20<strong>23</strong><br />
Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
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MIT SCHARF<br />
APRIL<br />
20<strong>23</strong><br />
+<br />
ARZT ODER<br />
ENTTÄUSCHUNG<br />
+<br />
SCHULDIG<br />
GESHOPPT<br />
+<br />
2 MONATE NACH<br />
DEM ERDBEBEN<br />
+<br />
„ABENDLAND IN<br />
MIGRANTENHAND?“<br />
DEN NAGEL AUF DEN KOPF<br />
Bei Cover-Entscheidungen waren wir uns selten<br />
WIE AUSLÄNDERHASS WIEDER gleich SALONFÄHIG alle einig, oft haben WIRDwir viel herumdiskutiert<br />
und gegrübelt. Außer da: Als Aliaa<br />
Abou Khaddour im April 20<strong>23</strong> diese kreative<br />
und smarte Illu für uns entwarf, gab es aus der<br />
Redaktion ein einstimmiges „Das beste Cover,<br />
das wir je hatten“. Die Illu für die Coverstory über<br />
den Rechtsruck und Ausländerhass in Österreich<br />
erfreute sich auf Instagram großer Beliebtheit.<br />
Nur zurecht, wie wir finden.<br />
62 / MIT SCHARF /<br />
/ MIT SCHARF / 63
VOM TABUBRUCH<br />
ZUM BUCH<br />
Nicht über die Communitys<br />
zu sprechen, sondern mit<br />
ihnen – das war immer das<br />
Credo von biber. Was es<br />
bedeutet, wenn die Storys<br />
über das Persönliche hinausgehen<br />
und warum das<br />
fehlen wird.<br />
Von Nada Chekh, Fotos: Marko Mestrovic und Zoe Opratko<br />
Zur Autorin: Nada Chekh war Kulturressortleiterin bei biber und ist<br />
seit kurzem auch Buch-Autorin.<br />
Es gibt heutzutage herzlich wenig Menschen, die<br />
voller Stolz von sich behaupten können, dass<br />
sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Bei biber<br />
kamen Menschen aus den unterschiedlichsten<br />
Communitys zusammen, die alle dieses unglaubliche Privileg<br />
teilen, Journalismus zu machen, der sie selbst betrifft und<br />
sie antreibt. Es galt die unausgesprochene Devise: Wir sind<br />
biber und biber ist Wir. Wir arbeiten nicht nur für das Magazin,<br />
sondern leben es – schließlich sind wir gleichzeitig die<br />
Zielgruppe. Und so, wie wir das Magazin lebten, ernährten<br />
wir es auch mit den Geschichten aus unseren Elternhäusern<br />
und unserer Kindheit. Womöglich gab es für jeden einzelnen<br />
biber-Journalisten diese eine Story, die einen inneren Fluch<br />
brach – oder endlich ein Problem sezierte, das innerlich<br />
lange und schwer herumgetragen worden war. Für mich<br />
ist diese eine Geschichte „Meine Tochter, meine Perle“,<br />
in der es um muslimische Mütter als Vorarbeiterinnen des<br />
Patriarchats ging, und wie ein toxisches Klima der Überwachung<br />
vor allem zum Leidwesen der Töchter in der arabischmuslimischen<br />
Community herrscht. Die Geschichte entstand<br />
angetrieben durch meine persönliche Erfahrung und Erziehung<br />
in der Community und wurde letztlich ausgelöst durch<br />
ein türkisches Cousinenpaar, das mir nach einem Workshop<br />
in einer Mittelschule in Wien-Meidling nicht mehr aus dem<br />
Kopf ging. Die Art und Weise, wie eine der Cousinen die<br />
andere auf Schritt und Tritt begleitete und kontroverse Dinge<br />
sagte, wie „Frauen müssen ein Kopftuch tragen, weil sie wie<br />
kostbare Perlen sind, die man vor den Blicken der Männer<br />
schützen muss“, erinnerten mich stark an die jungen Mädchen,<br />
mit denen ich aufgewachsen war und vor denen kein<br />
Geheimnis sicher gewesen war.<br />
Je nach Sprache und Kulturkreis variiert dieses Bild der<br />
Frau als Perle – mal sind sie Blumen, mal sind sie Edelsteine<br />
oder Schmuck. Aber niemals sind sie (erwachsene) Menschen,<br />
die auf sich selbst aufpassen können. Die Vorstellung<br />
einer „Familienehre“, die auf den Schultern der Töchter lastet,<br />
prägt viele junge Frauen aus konservativen Communitys<br />
– seien sie muslimisch oder nicht. Ich veröffentlichte diese<br />
Story im Juni 2019 – und gewann dafür den JournalistInnenpreis<br />
Integration in der Kategorie Print des Österreichischen<br />
Integrationsfonds.<br />
Tabus zu brechen erfordert dabei viel innere Kraft und<br />
sprachliches Geschick – vor allem bei jenen Storys, die weit<br />
über das Persönliche gehen und einen verletzbar für die<br />
eigene Community machen. Denn fehlende (Selbst-)Kritik<br />
ist erst der Grund, weshalb sich so viele althergebrachten,<br />
sexistischen Bilder in migrantischen Communitys so hartnäckig<br />
halten. All die rigiden Wertvorstellungen und Mythen<br />
über Geschlechterrollen, der Kult um Jungfräulichkeit bis zur<br />
Ehe oder die Mechanismen zur (sexuellen) Überwachung von<br />
Frauen in der arabisch-muslimischen Community lassen sich<br />
kaum ohne Gegenwind kritisch aufarbeiten. Doch wer sollte<br />
diese Tabus sonst endlich brechen, wenn nicht Menschen<br />
aus den Communitys selbst? Biber war nicht nur ein Medium,<br />
sondern auch eine Plattform, bei der man Zuflucht und<br />
Verständnis für die eigene Situation finden konnte: Das, was<br />
die „neuen“ Österreicherinnen und Österreicher bewegt,<br />
sind jedoch keine Themen vom „Rand der Gesellschaft“, wie<br />
manche Menschen wohl über die Zielgruppe denken würden<br />
– im Gegenteil: Es sind die Themen, die eigentlich direkt aus<br />
der Mitte unserer Gesellschaft kommen, aber sonst kein<br />
64 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 65
Gehör und allem voran keine sensible Aufarbeitung in den<br />
Medien finden würden. Biber hatte einen sozialen Auftrag, den<br />
Journalismus in Österreich von innen heraus zu unterwandern,<br />
um letzten Endes die Vielfalt in der Gesellschaft auch in den<br />
Medien widerzuspiegeln.<br />
In meinem Fall waren Storys wie „Meine Tochter, meine Perle“<br />
ein wahrer Katalysator für die Karriere. Die Themen, die mich<br />
in meiner über sechsjährigen Laufbahn bei biber immer wieder<br />
beschäftigten – Islam, Feminismus, weibliche Selbstbestimmung<br />
und das Recht auf eine Privatsphäre – landeten kürzlich<br />
sogar in einem Buch mit dem Titel „Eine Blume ohne Wurzeln“.<br />
Ohne biber wäre weder dieses Projekt jemals zustande gekommen,<br />
noch dieser wichtige Raum für Debatten überhaupt offen<br />
gestanden – denn nur biber gab mir die einzigartige Möglichkeit,<br />
diese Themen journalistisch zu erforschen. Das Ende von<br />
biber bedeutet für mich: das Ende eines Lebensabschnittes.<br />
Ich frage mich, wie viele potenzielle Herzensgeschichten nun<br />
im Sand der Zeit verfließen werden, ohne jemals eine Leserschaft<br />
zu erreichen, um Flüche zu brechen. ●<br />
66 / RAMBAZAMBA /<br />
/ RAMBAZAMBA / 67
KARRIERE & KOHLE<br />
Para gut, alles gut<br />
Von Šemsa Salioski<br />
FOMO („FEAR OF MISSING OUT“) WAR GESTERN!<br />
New year new me! Lasst uns ehrlich sein, jede*r von uns hat diesen<br />
Satz schon mal gesagt. Für viele Menschen ist das neue Jahr wie ein<br />
Neustart. Lästige Angewohnheiten werden im alten Jahr gelassen und<br />
im neuen Jahr wird voll durchgestartet. Fair enough! Aber wer hat das<br />
wirklich langfristig durchgezogen? Oft braucht es eine Stütze, jemanden,<br />
der uns beisteht und mit uns unseren inneren Schweinehund bekämpft.<br />
Die VHS ist unser Fels in der Brandung. Mit Kreativkursen, Kochkursen,<br />
Bewegungskursen, Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung und vielen mehr<br />
bietet sie nicht nur eine riesige Auswahl an guten neuen Gewohnheiten,<br />
sondern hilft uns auch noch diese langfristig beizubehalten. First Step um<br />
den inneren Schweinehund loszuwerden -> vorbeischauen auf www.vhs.at<br />
MEINUNG<br />
Wenn sich eine Tür schließt,<br />
öffnet sich eine andere<br />
Meine letzten Wochen waren zugegebenermaßen<br />
sehr tränenreich.<br />
Ich musste mich nämlich gleich von<br />
zwei Jobs verabschieden: Einmal via<br />
Kündigung von einer Vollzeitstelle als<br />
Redakteurin, die mir zwar meine lang<br />
ersehnte finanzielle Sicherheit geboten<br />
hatte, aber vom toxischsten Chefredakteur,<br />
der mir je über den Weg gelaufen<br />
war, geführt wurde. Und zum Zweiten<br />
musste ich Tschüss zu Biber sagen,<br />
meiner ersten journalistischen Liebe,<br />
die ich seit der Schulzeit kannte und für<br />
die ich seit 2016 gearbeitet habe. Einer<br />
der beiden Abschiede ist mir klarerweise<br />
schwerer gefallen als der andere.<br />
Biber, der Spirit und das vielfältige<br />
Team dahinter, vor allem unter der<br />
Leitung unserer unfassbar talentierten<br />
Chefredakteurin Aleksandra, werden<br />
niemals ersetzt werden können. Das<br />
Magazin bleibt wohl als eines der<br />
wertvollsten Medienprodukte dieses<br />
Landes in Erinnerung. Wir wissen alle,<br />
dass Leute mit Namen wie dem meinen<br />
sich in Österreich ohne Biber oft nur<br />
in ihren Träumen hätten Journalist:in<br />
nennen können. Passend dazu wird mir<br />
natürlich auch meine Kolumne schrecklich<br />
fehlen, die es mir erlaubt hat, zwei<br />
Jahre lang als Migra-Arbeiter:innenkind<br />
Struggles und Tipps rund um Uni oder<br />
Arbeit mit anderen zu teilen. Ob gute<br />
oder schlechte Erfahrungen – Abschied<br />
bedeutet immer Unsicherheit. Ich<br />
habe den Satz, den ich für meine<br />
letzte Kolumne als Titel gewählt habe,<br />
selbst immer gehasst. Ja, ich bin<br />
ein Gewohnheitstier, aber manchmal<br />
muss man darauf vertrauen, dass sich<br />
nach einem bitteren Ende die nächste<br />
Tür öffnet. Dass es bei mir so schnell<br />
ging, hat mich selbst überrascht. Die<br />
Zusage für meinen neuen Job, um<br />
den ich mich ohne Kündigung niemals<br />
beworben hätte, kam nur zehn Tage<br />
danach. Und wisst ihr was? Ich habe<br />
vor rund zwei Jahren in einem Podcast<br />
erwähnt, dass ich, neben meiner<br />
Arbeit als Journalistin, „irgendwann“ im<br />
Bereich Entwicklungszusammenarbeit<br />
tätig sein will. „Irgendwann“ scheint<br />
jetzt zu sein – und das gleich als<br />
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit mit<br />
eigenem „Biro“ – das lässt die Herzen<br />
von Balkan-Arbeiter:inneneltern gleich<br />
höher schlagen! Nein, im Ernst. Ich bin<br />
überglücklich und werde Biber ewig<br />
dafür dankbar sein, dass es Leuten<br />
wie mir den Weg zu unseren Träumen<br />
erleichtert hat.<br />
salioski@dasbiber.at<br />
CONTENT<br />
CREATOR:INNEN,<br />
DENEN IHR<br />
FOLGEN SOLLTET<br />
Die Idee, andere bei Geld- oder<br />
Karrierefragen zu unterstützen, hatte<br />
natürlich nicht nur ich. Folgt, wenn ihr<br />
nach Inspiration oder Problemlösungen<br />
sucht, gerne den folgenden drei<br />
Instagram-Profilen:<br />
<br />
<br />
<br />
parween.mander: Hier erwarten<br />
euch Themen wie besseres<br />
Geldmanagement, „Money Trauma“<br />
in Migrant:innenfamilien und<br />
zahlreiche persönliche Geschichten<br />
der Business Insider-Autorin<br />
workhap: Hier erwarten euch Tipps<br />
rund um Bewerbungsgespräche,<br />
Anschreiben, Gehaltserhöhungen,<br />
sowie lustige Memes und rants einer<br />
„LinkedIn Top Voice“<br />
loewhaley: Hier erwarten euch<br />
nachgestellte Alltagszenen, bei<br />
denen Vorgesetzte oder Kolleg:innen<br />
Grenzen überschreiten. Die<br />
Creatorin zeigt dabei, wie man auf<br />
professionelle Art Weise mit solchen<br />
Situationen umgehen kann.<br />
68 / KARRIERE /
Selbermacher<br />
Mehmet Gün führt gemeinsam mit<br />
seinem Bruder Orhan ein Premium-<br />
Burgerlokal in der Langen Gasse 74.<br />
Selbstverständlich<br />
vegan<br />
70 / KARRIERE /<br />
Die Brüder Mehmet und<br />
Orhan Gün haben vor rund<br />
einem Jahr das Burger-Restaurant<br />
„Flip n Dip Burger“<br />
in der Lange Gasse eröffnet.<br />
Ihr Spezialgebiet: Premium<br />
plant-based Burger, die auch<br />
den leidenschaftlichsten<br />
Fleischessern schmecken<br />
werden.<br />
Von Nada El-Azar-Chekh,<br />
Fotos: Zoe Opratko<br />
Beim Betreten des Lokals merkt<br />
man sofort: Es steckt viel Liebe<br />
zum Detail drin. Vom Neonschild<br />
bis hin zu den knalligen Menükarten wurde<br />
nichts dem Zufall überlassen. Es kommt<br />
ein bisschen „American Diner“-Feeling<br />
auf, aber mit modernem Ambiente. Doch<br />
was unterscheidet „Flip n Dip Burger“ von<br />
anderen veganen Restaurants? „Bei uns ist<br />
‚Premium Burger‘ keine Floskel, sondern<br />
wirklich unser Hauptanliegen und die Lücke,<br />
die wir in der Wiener Gastro-Landschaft<br />
schließen wollen“, erzählt Mehmet, den wir<br />
krankheitsbedingt ohne seinen Bruder im<br />
Lokal antreffen.<br />
Geboren wurden Mehmet und Orhan<br />
in der irakischen Hauptstadt Baghdad. Ihre<br />
Mutter ist turkmenischer Herkunft und der<br />
Vater war ein Türke, der im Irak für die UNO<br />
arbeitete. Als in den früher 80er-Jahren<br />
der Krieg im Irak ausbrach, zogen die Eltern<br />
über Istanbul nach Wien, als die Brüder<br />
noch Kinder waren. „Wir haben unseren<br />
Geschmackssinn von unserer Mama geerbt<br />
und und haben früh erkannt, dass alles, was<br />
sie auf den Tisch zauberte auch unseren<br />
Freunden sehr gut schmeckte“, erzählt<br />
Mehmet.<br />
BEKÖMMLICHE BURGER<br />
Von den Burgern bis zu den Milkshakes ist<br />
die Auswahl bei Flip n Dip komplett vegan.<br />
Doch das Wort vegan vermisst man im<br />
Lokal gänzlich – und das ist gute Absicht.<br />
Zu viele potenzielle Kund:innen, vor allem<br />
der älteren Generationen, würde das sonst<br />
erfahrungsgemäß abschrecken. „Ich kann<br />
diese ablehnende Reaktion gut verstehen<br />
– wenn man irgendwo schon einmal einen<br />
trockenen veganen Burger gegessen hat,<br />
ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Aber<br />
mittlerweile kann man mit Beyond Meat<br />
richtig gute Pattys machen, wo man keinen<br />
Unterschied zu echtem Fleisch schmeckt.“<br />
Die Speisekarte versteht sich von Haus aus<br />
als „plant-based“, auch bei den Shakes wie<br />
dem Strawberry Swirl ist vom fruchtigen<br />
Sirup bis zum veganen Sahnehäubchen kein<br />
einziges tierisches Produkt enthalten.<br />
Der gute Geschmack geht in allem<br />
vor – von den eigens für das Lokal entwickelten<br />
fluffigen Brioche Buns, bis zu den<br />
kräftigen Saucen und natürlich den Burger<br />
Pattys von Beyond Meat oder dem hausgemachten<br />
Crispy Chik’n aus Erbsenprotein.<br />
Mehmet betont: „Diese Burger liegen nach<br />
dem Essen nicht wie ein Ziegel im Magen,<br />
sondern sind außergewöhnlich leicht und<br />
bekömmlich.“ Absolutes Unikat ist der<br />
Flip n Dip Burger, dessen Brioche in Lauge<br />
getunkt wird, am besten mit knusprigen<br />
Fries dazu.<br />
Bis zu „Flip n Dip“ durchlief Mehmet<br />
viele Stationen im Laufe seiner Karriere:<br />
Durch seine Vorgeschichte in der Wiener<br />
Clubszene, wo er als DJ Met D’Phunk einigen<br />
Leuten ein Begriff sein könnte, kennt<br />
er sich bestens damit aus, wie man ein<br />
VON DER IDEE<br />
BIS ZUR<br />
GRÜNDUNG<br />
Der schnellste<br />
Weg zu unseren<br />
Services.<br />
Basis-Informationen und Tools zur Gründung<br />
finden Sie auf unserer Webseite.<br />
www.gruenderservice.at<br />
gutes Projekt auf die Beine stellt. Sein drei<br />
Jahre jüngerer Bruder Orhan kommt aus<br />
einer ganz anderen Ecke – nämlich aus der<br />
Sozialarbeitsszene und bringt ein Händchen<br />
für gute Burger mit. Gemeinsam mit dem<br />
Küchenchef Réné Salfenauer entwickelten<br />
sie das Menü – an die tollen Rezepte kommt<br />
niemand heran. „Das ist ein Betriebsgeheimnis“,<br />
so Mehmet.<br />
Flip n Dip Burger<br />
Lange Gasse 74, 1080 Wien<br />
Ein „Strawberry Swirl“ passt ganz<br />
wunderbar zum plant-based Burger-Menü<br />
bei Flip n Dip.<br />
WKO-WIEN HILFT<br />
Im Gründerservice der<br />
WKO-Wien kann man bei<br />
einem Beratungsgespräch<br />
alle Fragen stellen, die die<br />
Gründung eines Unternehmens<br />
betreffen. Im Vorhinein<br />
kann man sich auch<br />
schon eigenständig online<br />
informieren. Ob generelle<br />
Tipps zur Selbstständigkeit,<br />
rechtliche Voraussetzungen,<br />
Amtswege oder<br />
Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:<br />
Auf<br />
der Website kommt man<br />
mit wenigen Klicks zu allen<br />
wichtigen Informationen.<br />
wko.at/wien<br />
www.gruenderservice.at<br />
Die Selbermacher-Serie ist<br />
eine redaktionelle Kooperation<br />
von das biber mit der<br />
Wirtschaftskammer Wien.<br />
© Halfpoint/stock.adobe.com
An dieser Stelle im Heft hat der verstorbene biber-Kolumnist Jad Turjman Ausgabe für Ausgabe seine scharfsinnigen Gedanken geteilt.<br />
„MEIN SOHN, WAS HABEN DIE<br />
EUROPÄER MIT DIR GEMACHT?“<br />
Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der besagt:<br />
Wenn man sich bei einem Stamm vierzig Tage<br />
aufhält, wird man einer von ihnen. Damit ist<br />
gemeint, dass man seine Sitten und Gebräuche<br />
übernimmt. Nach sieben Jahren in Österreich<br />
kann ich nicht genau sagen, welche Aspekte<br />
ich von dem „österreichischen“ Lebensstil<br />
verinnerlicht habe. Ich glaube aber, dass sein<br />
Einfluss auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich<br />
gehe mittlerweile wandern und das mache ich<br />
freiwillig und gerne. Falls Sie sich jetzt fragen, was daran<br />
so bemerkenswert sei, würde ich Sie bitten, einmal kurz<br />
innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom<br />
Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein<br />
Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit dir<br />
gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am Handy.<br />
Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’ oder<br />
‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht, läuft,<br />
spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein, das tut<br />
sich niemand an. In der Freizeit will man in einer schattigen,<br />
kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne<br />
knabbern, Mokka und Matetee trinken, sich<br />
gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder erneuten<br />
Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln bekommen.<br />
Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und anstrengend.<br />
Außerdem prangen auf den Bergspitzen in Syrien keine<br />
Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und man läuft dort<br />
Gefahr, erschossen zu werden. Meine erste Wandererfahrung<br />
wurde mir aufgezwungen. Es war ein Betriebsausflug<br />
meiner ehemaligen Arbeitsstätte auf den Gaisberg.<br />
WIESO HABT IHR FÜR ALLES<br />
ANDERE SCHUHE?<br />
Oggi, mein damaliger Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte<br />
Wanderschuhe. Ich verstand nicht, was er von mir wollte.<br />
Dabei stellte ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich<br />
eine eigene Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man<br />
nur Sportschuhe und formelle Schuhe. Und<br />
das war es dann. Jetzt in Österreich habe ich<br />
Laufschuhe, Freizeitschuhe, Wanderschuhe,<br />
Skischuhe, Fußballschuhe, Hallenschuhe,<br />
Fahrradschuhe, Eislaufschuhe, Winterschuhe,<br />
formelle Schuhe, und ich bezeichne mich als<br />
Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe,<br />
deren Namen ich gar nicht kenne.<br />
Von Jad Turjman,<br />
Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe<br />
im Oktober 2020<br />
am liebsten ganz alleine, und zwar immer<br />
auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum ich immer<br />
dieselbe Wanderstrecke nehme und für andere Wege<br />
nicht aufgeschlossen bin. Ich bemühe mich, auf diesem<br />
Wanderweg jedes einzige Detail der Gegend in mein<br />
Unterbewusstsein einzuprägen, jeden Baum, jeden<br />
gebrochenen Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon<br />
gemerkt, um viel Uhr die Sonne an einer bestimmten<br />
Neigung steht und durch den ganzen Wald strahlt und<br />
alle Blätter beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch,<br />
um dieses eine Gefühl wieder erleben zu können:<br />
Heimat. Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch<br />
den ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe<br />
geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und<br />
sie kennen mich inzwischen gut. Ich kann mich beim<br />
Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und diesem<br />
Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht beweisen,<br />
dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen bin, auch<br />
keine Leistung erbringen, um willkommen zu sein. Ich<br />
rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie verstehen<br />
mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken, meine<br />
Sprache, meine Emotionen und Gefühle und meine ganze<br />
Existenz wirken für den Wald und den Berg selbstverständlich<br />
und vorbehaltlos. Wenn mir auf dem Weg<br />
neue Gesichter begegnen, fühle ich mich sogar wie der<br />
Einheimische und empfinde sie als die Fremden. Wobei<br />
ich nicht glauben will, dass ein Mensch in der Natur<br />
fremd sein kann.<br />
IN MEMORIAM<br />
Am 29. Juli 2022 ist Autor, Kolumnist und<br />
schauenden Lebenseinstellung wie seiner<br />
Schriftsteller Jad Turjman bei einem Unfall in den Bergen<br />
tödlich verunglückt. Jad war ein Ausnahmeschrift-<br />
Er hat bei biber über sein Leben in Österreich geschrie-<br />
alles möglich sein kann.<br />
steller, der auch die schwersten Etappen seines Lebens ben, und hatte die unglaubliche Gabe, ernste Themen<br />
mit viel Humor und Weitblick beschreiben konnte – und stets humorvoll aufzugreifen, ohne sie dabei ins Lächerliche<br />
zu ziehen. Jad wurde nur 32 Jahre alt.<br />
das in einer Sprache, die er erst nach seiner Flucht<br />
erlernte. Mit seinen Romanen, Kolumnen und Stand-Up- Was bleibt, sind seine wundervollen Bücher und Kolumnen,<br />
die für die Ewigkeit zeigen, was für ein außerge-<br />
Programmen hat er nicht nur Menschen im gesamten<br />
deutschsprachigen Raum in ihrem tiefsten Inneren<br />
wöhnlicher Mensch und ein Vorbild er gewesen ist.<br />
berührt, sondern auch gezeigt, was mit einer vorraus-<br />
Ruhe in Frieden, Jad.<br />
Robert Herbe<br />
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