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BIBER 12_23_OLA

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3<br />

minuten<br />

mit<br />

Fatima<br />

Sidibe<br />

African Hairstyles, Schwarze<br />

Vorbilder, Racial Profiling<br />

und historische Fakten, die ihr<br />

bestimmt nicht in der Schule<br />

gelernt habt: Fatima Sidibe alias<br />

African Diva spricht im Netz<br />

über Black und African History<br />

und lernt dadurch, ihre eigenen<br />

Wurzeln in Guinea zu schätzen.<br />

Interview: Filip Lazar<br />

Foto: Ina Aydogan<br />

<strong>BIBER</strong>: Woher kam die Idee, auf Instagram<br />

über African/Black Culture und<br />

History zu sprechen?<br />

FATIMA SIDIBE: Ich habe während meiner<br />

Schullaufbahn gemerkt, dass nicht<br />

viel über Black History und Schwarze<br />

Kultur unterrichtet wird. Klar lernt man<br />

über Sklaverei oder Hungersnot. Aber<br />

wir haben zu diesem Themengebiet<br />

nie etwas Positives gelernt. Da ich<br />

sehr neugierig war, begann ich mich<br />

selbst mit der afrikanischen Geschichte<br />

auseinanderzusetzen und merkte<br />

dabei schnell, dass Afrika sehr reich an<br />

Geschichte und Kultur ist. So machte<br />

ich es mir zur Aufgabe, auch anderen<br />

PoCs (People of Colour) durch Social<br />

Media zu zeigen, dass wir viel mehr als<br />

nur Sklaverei und Armut haben.<br />

Wie entscheidest du, über welche Themen<br />

du berichtest? Wie aufwendig sind<br />

deine Videos?<br />

Es ist meist ein Mix aus Eigeninteresse<br />

und Themenvorschlägen meiner Community.<br />

Für ein 5-minütiges YouTube-<br />

Video rechne ich schon mit 10-<strong>12</strong><br />

Stunden Arbeitszeit. Für ein kurzes Reel<br />

brauche ich ein paar Stunden.<br />

Bekommst du Hass im Netz ab?<br />

Zu 90 % bekomme ich nur positives<br />

und ermutigendes Feedback – das<br />

macht mich sehr glücklich. Es kam<br />

auch schon vor, dass mir ältere PoCs<br />

schreiben, dass sie ihren Kindern<br />

schon immer etwas über Black History<br />

beibringen wollten und sie meinen<br />

Kanal deswegen hilfreich finden. Das<br />

ist richtig schön. Hin und wieder gibt es<br />

leider auch rassistische Kommentare,<br />

es ist aber nie zu extrem.<br />

Abgesehen von deinem Bildungscontent<br />

schreibst du auch viel Poesie.<br />

Denkst du, Gedichte sind ein gutes<br />

Medium, um Black Culture in den<br />

öffentlichen Diskurs zu bringen?<br />

Definitiv! Ich denke, dass Poesie ein<br />

gutes Mittel ist, um ein Statement in<br />

der Öffentlichkeit zu setzen. Wenn ich<br />

auf Bühnen stehe und ich ein großes<br />

Publikum habe, dem ich meine Gedichte<br />

vortrage, ist es mit viel Emotion ver-<br />

bunden. Viele meiner Gedichte haben<br />

einen tiefgründigen Unterton, den das<br />

Publikum dann auch spürt und manche<br />

sogar zu Tränen rührt. Ich möchte Black<br />

People empowern und sie stolz auf<br />

ihre Herkunft machen. Ich hatte früher<br />

immer das Gefühl, mich wegen meiner<br />

guineischen Herkunft schämen zu müssen,<br />

weil ich dachte „es gibt ja nichts<br />

Positives über mein Land zu sagen“. Ich<br />

möchte einfach, dass PoCs sehen, wie<br />

interessant die Länder Afrikas eigentlich<br />

sind.<br />

Wer sind deine Vorbilder beziehungsweise<br />

deine größte Inspiration?<br />

Das ist auf jeden Fall Königin Nzinga.<br />

Sie war eine angolanische Königin im<br />

17. Jahrhundert und kämpfte gegen die<br />

portugiesische Kolonialherrschaft und<br />

setzte sich für die Unabhängigkeit ihres<br />

Volkes ein.<br />

Ihr findet Fatima auf Instagram:<br />

@africaandivaa<br />

/ 3 MINUTEN / 3


3 3 MINUTEN MIT<br />

AFRICAN DIVA<br />

Die <strong>23</strong>-jährige Black History-Bloggerin<br />

im Schnellinterview.<br />

8 IVANAS WELT<br />

Warum Mehrsprachigkeit nicht<br />

immer von Vorteil ist.<br />

10 KLIMA-NEWS<br />

Interessante Zahlen, Daten und Fakten<br />

rund um das Thema Umweltschutz.<br />

POLITIKA<br />

<strong>12</strong> MEINUNGSMACHE<br />

Politische Themen kurz, komprimiert<br />

und mit scharf.<br />

14 „WEIL WIR ANDERS ALS<br />

DIE AUSSENWELT SIND.“<br />

So lebt die Community der<br />

ultraorthodoxen Juden in Wien.<br />

20<br />

„HERR SCHALLENBERG, WIE LANGE WIRD<br />

DIE EU BESTEHEN BLEIBEN?“<br />

Außenminister Alexander Schallenberg im Interview.<br />

24<br />

DER TRAUM VOM<br />

SCHNELLEN GELD<br />

Wie die Finanz-<br />

Trading-Akademie ihre<br />

Mitglieder anlockt.<br />

IN HALT SEPTEMBER<br />

20<strong>23</strong><br />

30 TABUTHEMA: AUFKLÄRUNG<br />

Wenn Migrantinnen die Scham der Eltern<br />

erben.<br />

36 „KANN ES SEIN, DASS DU<br />

TRANS BIST?“<br />

Transfrau Nikki spricht über ihren Weg zu<br />

ihrem wahren Ich.<br />

38 SCHNITZEL UND<br />

SCHAWARMA<br />

Amina und Arash erzählen von ihrem Leben<br />

als Foodblogger in Wien.<br />

LIFE&STYLE<br />

42 FUSSBALL IST AUCH<br />

FRAUENSACHE<br />

Şeyda Gün will sich ihren Lieblingssport<br />

nicht nehmen lassen.<br />

19 BALKAN NEWS<br />

Dennis Miskić erklärt, warum niemand<br />

mehr in Bosnien leben will.<br />

20 „HERR SCHALLENBERG,<br />

WIE VIELE ZIGARETTEN<br />

RAUCHEN SIE AM TAG?“<br />

Biber fragt in Worten, Außenminister Alexander<br />

Schallenberg antwortet mit einer Zahl.<br />

22 „ES GIBT KEIN REZEPT,<br />

UM OBDACHLOSE VOR<br />

MESSERATTACKEN ZU<br />

SCHÜTZEN.“<br />

Susanne Peter, Leiterin der Streetwork, im<br />

Interview über ihre Arbeit.<br />

RAMBAZAMBA<br />

24 MIT DEM RICHTIGEN<br />

MINDSET REICH WERDEN<br />

Inside-Reportage über die Finanz-Trading-<br />

Akademie „Team Alpha“.<br />

14<br />

ULTRAORTHODOXES<br />

JUDENTUM IN WIEN<br />

Einblicke in die sonst streng<br />

verschlossene Community.<br />

30<br />

„ÜBER SEX<br />

SPRICHT MAN<br />

NICHT“<br />

Migrantinnen<br />

gefangen zwischen<br />

Tabus und Sexmythen.<br />

© Zoe Opratko, © Thomas Süß, © Aliaa Abou Khaddour Cover: © Zoe Opratko<br />

KARRIERE&KOHLE<br />

46 WAS TUN WENN DAS<br />

PROJEKT „LAZYGIRL“<br />

NICHT KLAPPT<br />

Šemsa Salioski gibt Tipps für eine<br />

steilere Karriere.<br />

48 WOHNEN IN WIEN,<br />

ABER WIE?<br />

Coole Tipps und Tricks für deinen Umzug<br />

in die Großstadt.<br />

KULTURA<br />

52 KULTURA NEWS<br />

Nada El-Azar-Chekh über das kulturelle Fühler<br />

ausstrecken und Neues entdecken.<br />

54 QUOTEN-ALMANCI<br />

Kolumnistin Özben Önal spricht über<br />

Parallelgesellschaften in ihrer Heimat.


IMPRESSUM<br />

Liebe Leser:innen,<br />

MEDIENINHABER:<br />

Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />

Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />

WEBSITE: www.dasbiber.at<br />

HERAUSGEBER:<br />

Simon Kravagna<br />

„<br />

Schabbat-Herdplatten,<br />

Verkupplungen und<br />

Abschottung als Reaktion auf<br />

ein kollektives Trauma: Wie<br />

wird orthodoxes Judentum<br />

in Wien gelebt? Wir sind der<br />

Frage ab S. 14 nachgegangen.<br />

Aleksandra “ Tulej,<br />

Chefredakteurin<br />

„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder einfach<br />

auftauchen, wenn man heiratet.“ Mythen über das Jungfernhäutchen,<br />

Tabus und Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />

kommt in Migra-Communities oft zu kurz – vor allem bei<br />

den Töchtern. Doch was macht das mit ihrer Sexualität im<br />

Erwachsenenleben? Unsere Coverstory könnt ihr ab Seite 30<br />

nachlesen.<br />

Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes Matchmaking<br />

bis hin zur eigenen Infrastruktur und einer strengen<br />

Abschottung als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Die<br />

ultraorthodoxe jüdische Community in Wien wächst mit dem<br />

Gedanken auf, „irgendwie anders“ als der Rest der Gesellschaft<br />

zu sein. Ab Seite 14 könnt ihr euch einen Einblick die<br />

sonst streng verschlossene Community verschaffen.<br />

Außerdem haben wir Außenminister Alexander Schallenberg<br />

gefragt, wie viele Kolleg:innen aus der ÖVP ihm auf die Nerven<br />

gehen und wie lange die EU seiner Einschätzung nach<br />

noch bestehen bleibt. Das Interview in Zahlen findet ihr auf<br />

Seite 20.<br />

Ohne Abschluss ein eigenes Business aufbauen und dabei<br />

auch noch einen Haufen Kohle verdienen? Mit diesen<br />

Versprechungen lockt die Finanz-Trading-<br />

Akademie „Team Alpha“ junge und häufig<br />

migrantische Menschen an. Man bräuchte<br />

nur das richtige Mindset und schon würde<br />

alles wie von selbst laufen. Redakteurin Dione<br />

Azemi warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />

online-Bildungsplattform und berichtet darüber,<br />

was wirklich hinter ihrem Konzept steht.<br />

Lest die Reportage ab Seite 24.<br />

Viel Spaß beim Lesen,<br />

eure biber-Redaktion<br />

6 / MIT SCHARF /<br />

SCHARFE<br />

POST:<br />

In unserem<br />

wöchentlichen<br />

Newsletter senden<br />

wir dir die<br />

spannendsten<br />

Beiträge aus der<br />

schärfsten Redaktion<br />

des Landes<br />

in dein Postfach.<br />

Hier kannst du ihn<br />

gleich abonnieren:<br />

© Zoe Opratko<br />

CHEFREDAKTEURIN:<br />

Aleksandra Tulej<br />

KULTUR & LEITUNG AKADEMIE:<br />

Nada El-Azar-Chekh<br />

FOTOCHEFIN:<br />

Zoe Opratko<br />

ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />

LEKTORAT: Florian Haderer<br />

REDAKTION, FOTOGRAFIE & ILLUSTRATION:<br />

Nada Chekh, Delna Antia-Tatić, Amar Rajković, Ivana Cucujkić-Panić<br />

, Simon Kravagna, Thomas Süß<br />

VERLAGSLEITUNG :<br />

Aida Durić<br />

REDAKTIONSHUND:<br />

Casper<br />

BUSINESS DEVELOPMENT:<br />

Andreas Wiesmüller<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />

Wilfried Wiesinger<br />

KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />

E-1.4, 1070 Wien<br />

redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />

<br />

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<br />

<br />

ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ 2022:<br />

Druckauflage 85.000 Stück<br />

Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />

Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />

www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />

DRUCK: Mediaprint<br />

Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />

In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />

jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />

der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.<br />

<br />

AMS WIEN_BIZ_<strong>BIBER</strong>_207x135.indd 1 31.08.<strong>23</strong> 09:09


DIE ERFINDUNG<br />

VON <strong>BIBER</strong><br />

Von Fake-Gucci bis<br />

zur Balkan-Meile:<br />

Gründer Simon<br />

Kravagna über den<br />

Launch der ersten<br />

biber-Ausgabe 2006<br />

Ich war damals 35, Innenpolitik-<br />

Redakteur beim Kurier und ehrlicherweise<br />

etwas gelangweilt von<br />

den typischen Storys rund um Jörg<br />

Haider und Co. Da erreichte mich unter<br />

dem Betreff „Bewerbung für die Neue<br />

Wiener Multi-Kulti-Zeitung“ folgendes<br />

Mail: „Sehr geehrtes Team dieser neuen<br />

wunderbaren Zeitung. Ich war gerade<br />

auf der Uni und sah, dass Journalisten<br />

für eine Stadtzeitung gesucht werden.<br />

Ich bin gebürtige bosnische Kroatin und<br />

kenne mich in der Balkanszene bestens<br />

aus.“ Die Bewerberin schrieb weiter:<br />

„Life-Style und Mode in unserer Stadt<br />

sind mir bekannt. Von aufgeklebten<br />

Fälschungen, etwa das „G“ zu „ucci“, bis<br />

hin zu Pumaschuhen vom Südbahnhof-<br />

Flohmarkt kann ich Bände schreiben.<br />

Musik, Konzerte, Events fangen in der<br />

Ottakringerstraße an, gehen über die<br />

türkischen Diskos bis hin zum Nachtwerk<br />

im <strong>23</strong>. Bezirk, wo wir immer wieder Balkansternchen<br />

bewundern können. Wien,<br />

Vienna, Beć oder Viyana – viele Namen,<br />

eine Stadt!!!“<br />

Es war keine klassische Bewerbung<br />

für einen Job im Journalismus, aber es<br />

war die richtige Bewerbung für mein Projekt.<br />

Ein paar Tage zuvor hatte ich Zettel<br />

an den Schwarzen Brettern in den Unis<br />

aufgehängt. Das war damals so üblich,<br />

Instagram noch nicht erfunden und<br />

selbst Facebook gerade erst am Start.<br />

Ich wollte ein neues Medium gründen<br />

und suchte nach dem, was mir in den<br />

etablierten Redaktionen fehlte: junge<br />

Journalist:innen mit Migrationsbackground,<br />

die Medien mehr Kompetenz<br />

geben würden. Durch ihre Sprachkenntnisse,<br />

ihre Netzwerke und Geschichten<br />

aus ihrer Lebenswelt.<br />

Ich suchte damals, das wusste ich<br />

nach diesem Mail, Menschen wie Ivana<br />

Martinović. Die Studentin und spätere<br />

Online-Chefin von biber schrieb mir aus<br />

Ottakring und kannte jeden Balkan-Club<br />

dort. Und es gab nicht nur eine Ivana,<br />

die sich meldete. Auch Ivana Cucujkić,<br />

später meine erste stellvertretende<br />

Chefredakteurin von biber, schickte<br />

eine Bewerbung. Im Sommer 2006 gab<br />

es dann ein Team von rund 10 jungen<br />

Talenten, verstärkt um ein paar journalistische<br />

Profis und Fotografen, die das<br />

Projekt unterstützten. Jetzt gab es nur<br />

ein Problem. Diese neue Stadtzeitung<br />

gab es zu diesem Zeitpunkt noch gar<br />

nicht. Es gab nicht einmal den Namen<br />

„biber“. Es gab in Wahrheit gar nichts:<br />

keine Redaktion, kein Geld, kein Produkt.<br />

Es gab nur eine Idee. Die Idee für<br />

ein Medium, das von Journalist:innen<br />

gestaltet wird, die Wiens viele Sprachen<br />

sprechen – und verstehen.<br />

Wie konnte im September 2006<br />

dann überhaupt die erste biber-Ausgabe<br />

produziert werden? Durch „unbezahlte<br />

Arbeit“ und „Selbstausbeutung“, wie es<br />

heute heißen würde. Konkret: Wir druckten<br />

erst, als wir genug Inserate hatten,<br />

um die Mediaprint zu bezahlen. Sonst<br />

bekam niemand Geld. Das verdienten wir<br />

damals alle in anderen Jobs.<br />

Vor dem Druck brauchte unser Magazin<br />

noch einen Namen. So richtig wollte<br />

zuerst keiner passen. Der Balkanfraktion<br />

gefielen die türkischen Vorschläge nicht.<br />

Die Wiener:innen mit türkisch-kurdischen<br />

Wurzeln wiederum konnten nichts mit<br />

den balkanischen Begriffen anfangen.<br />

8 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 9


Und einen österreichischen Namen<br />

wollte sowieso niemand. Es brauchte<br />

viele Runden, meist abends in Lokalen,<br />

um den Durchbruch zu schaffen.<br />

„biber“ – das gefiel allen. Der jungen<br />

türkisch-kurdischen Gruppe, weil es für<br />

Pfefferoni steht, den Ex-YU-Leuten, weil<br />

es Pfeffer bedeutete und den „echten“<br />

Österreicher:innen weil biber doch ein<br />

nettes Tierchen ist. Wir haben dann noch<br />

den Begriff „Multi-Kulti“ eliminiert und<br />

fertig war „biber. Stadtmagazin für Wien,<br />

Viyana und Beć“.<br />

Völlig enthusiastisch ließen<br />

wir von der ersten Ausgabe<br />

„Balkan, aber richtig!“ gleich<br />

20.000 Stück drucken und<br />

(ohne zu fragen) bei U-Bahnstationen<br />

verteilen. In der<br />

„Community“ war die Resonanz<br />

enorm und unsere abendlichen<br />

Redaktionssitzungen wurden<br />

immer größer. Die hielten wir im<br />

damaligen Jugendverein Echo<br />

von Co-Gründer Bülent Özteplu<br />

ab. Damals schon dabei: Amar<br />

Rajković, bis 2022 stellvertretender<br />

Chefredakteur und Eser<br />

Akaba, später erste Marketingleiterin<br />

von biber. Nach<br />

jeder neuen Ausgabe verpackten<br />

wir gemeinsam die Magazine<br />

in Kuverts und sendeten<br />

Hunderte davon an Entscheidungsträger<br />

und Institutionen.<br />

Dabei ließen wir Pizza kommen<br />

und besprachen die nächsten<br />

Storys.<br />

Nach den ersten Ausgaben<br />

professionalisierten wir unsere<br />

Strukturen, indem wir etwa<br />

Vertriebskooperationen mit McDonalds,<br />

Anker, Spar, Billa und anderen eingingen.<br />

Die Redaktion zog von einem kleinen<br />

Gassenlokal ins angesagte Museumsquartier.<br />

Aber vor allem führten wir die<br />

biber-Akademie ein. Das Ziel: Mit Hilfe<br />

von Förderern und Sponsoren journalistische<br />

Talente auszubilden. Wie ein<br />

Fußballclub scouteten wir systematisch<br />

Talente, bildeten sie aus und kamen<br />

unserem Ziel näher, die heimische<br />

Medienlandschaft zu bereichern: mit<br />

guten Journalist:innen, die die anderen<br />

Welten in Wien kennen, weil sie aus<br />

Arbeiter:innenfamilien stammen, Ramadan<br />

feiern oder aus Damaskus nach<br />

Wien geflüchtet sind und sich hier ein<br />

neues Leben aufbauen.<br />

War immer alles super? Natürlich<br />

nicht. Vor allem in den Anfangsjahren<br />

spalteten nationale Konflikte zwischen<br />

Kurd:innen und Türken:innen sowie<br />

Serb:innen und Bosnier:innen immer wieder<br />

das Team. Es brauchte Zeit, bis die<br />

Redaktion wichtiger als die Herkunftsländer<br />

wurden. Später wurde dann das<br />

Kopftuch heftig debattiert und die zunehmende<br />

Religiosität junger Muslim:innen<br />

wurde zum großen Thema. Früher als<br />

andere spürten wir auch die Radikalisierung<br />

einer kleinen Szene. Die Story<br />

„Suren der Leidenschaft – Sex im Islam“<br />

brachte uns Drohungen von Salafisten<br />

ein. Auf Anraten des Verfassungsschutzes<br />

bauten wir eine Sicherheitstür ein.<br />

Gegen rechtsradikale polnische Trolle im<br />

Internet, die Chefredakteurin Aleks Tulej<br />

im Netz verfolgten, hat die Stahltür leider<br />

nicht geholfen. Migrantische Vereine<br />

sahen in biber zudem oft eine Konkurrenz.<br />

Wir würden ihnen „ihre“ Jugendlichen<br />

wegnehmen, hieß es.<br />

In all den Jahren war „Integration“<br />

ein Fremdwort für uns. Bei uns wurde<br />

niemand integriert: Wir haben das Beste<br />

aus vielen Welten angenommen und zu<br />

möglichst gutem Journalismus gemacht.<br />

Was zählte, waren vor allem Ideen für<br />

gute Geschichten und Leistung. Wir<br />

zogen damit Jungjournalistinnen an,<br />

die biber immer wieder Relevanz gaben<br />

wie Aleks Tulej, Delna Antia-Tatić, Nada<br />

Chech, Melisa Erkurt, Alexandra Stanić,<br />

Marina Delcheva und viele mehr.<br />

In all den 16 Jahren hatten wir finanziell<br />

immer wieder zu kämpfen. Gleichzeitig<br />

gab es auch viel Unterstützung:<br />

von Menschen, Firmen und Institutionen.<br />

Dafür möchte ich mich<br />

bedanken! Auch bei meinem<br />

Partner Andreas Wiesmüller,<br />

der mit seinem Investment die<br />

Gründung der biber-GmbH im<br />

Jahr 2007 ermöglichte. Sowie<br />

bei Wilfried Wiesinger, biber-<br />

Geschäftsführer seit 2007, der<br />

mit Nerven aus Stahl den vielen<br />

Krisen trotzte und Verlagsleiterin<br />

Aida Durić, die für biber<br />

mehr als nur eine zentrale Rolle<br />

einnahm.<br />

Ist jetzt alles vorbei? Nein,<br />

denn biber hat mehr als 150<br />

junge Menschen geprägt,<br />

die auf ihrem Weg durch die<br />

Institutionen sind oder selbst<br />

Neues – in Print, auf Instagram<br />

oder TikTok – aufbauen.<br />

Absolvent:innen unserer Akademie<br />

arbeiten in etablierten<br />

Medien. Und noch mehr davon<br />

wirken in Firmen oder Institutionen<br />

wie Siemens, REWE,<br />

Ärzte ohne Grenzen, Teach for<br />

Austria, dem Parlament oder<br />

im Kanzleramt. Das Schöne an<br />

einer Idee ist, dass sie von Menschen<br />

weitergetragen werden kann. Unabhängig<br />

von einer fixen Organisationsform.<br />

Wir sind ein Netzwerk und viele von uns<br />

werden Wien weiter prägen und neue<br />

Initiativen starten. Diese Stadt hat noch<br />

so viel Potenzial. Wir müssen es nur<br />

heben!<br />

biber-Gründer Simon Kravagna führte<br />

biber als Chefredakteur und Herausgeber<br />

mehr als 10 Jahre. 2019 wechselte<br />

der frühere Innenpolitik-Journalist als<br />

Geschäftsführer zum forum journalismus<br />

und medien (fjum).<br />

10 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 11


Für Sebastian Kurz’ Porträt<br />

in der Dönerbude aus unserer<br />

Maiausgabe 2011 beneideten uns<br />

so manch andere Medien.<br />

Einmal Sebastian Kurz „mit alles“, Michael Häupl<br />

und die starken Männer oder Beate Meinl-Reisinger<br />

beim Kaffeesudlesen: Biber hat Politiker:innen immer<br />

wieder in unerwartbaren Lebenslagen abgelichtet.<br />

Zum Autor: Amar Rajković war Politik-Ressortleiter bei biber und arbeitet jetzt als Community Manager bei der Volkshilfe Wien.<br />

MIT UNS AM<br />

KEBAPSTAND<br />

Das ist der Politiker, der so alt<br />

ist wie wir und jetzt irgendwas<br />

mit Ausländern macht.<br />

Aber was genau – keine<br />

Ahnung.“ Die Passanten am Brunnenmarkt<br />

staunten 2011 nicht schlecht, als<br />

sie den designierten Integrationsstaatssekretär<br />

Sebastian Kurz lächelnd und mit<br />

perfekter Frisur hinter der Kebapbude<br />

für das biber-Cover posen sahen. Der<br />

25-Jährige galt damals als die größte<br />

Polithoffnung seit Bruno Kreisky und<br />

überraschte mit ausländerfreundlichen<br />

Aussagen viele Migrant:innen in Österreich.<br />

Bei dem anschließenden Kreuzverhör<br />

im türkischen Restaurant trank er<br />

Çay, offenbarte ein paar kleine Schwächen<br />

in der Wiener Allgemeinbildung<br />

(wusste nicht, wer oder was ein „Schwabo“<br />

ist), erzählte stolz von guten Schulfreundinnen<br />

mit Kopftuch und hielt sogar<br />

„Türkisch“ als Maturafach für vorstellbar.<br />

Ach, wie sich die Zeiten ändern.<br />

Ein paar Hundert Meter weiter initiierte<br />

biber einen diplomatischen Gipfel im<br />

Kent, der so in keinem anderen Medium<br />

vorstellbar war. Wiens damaliger Bürgermeister<br />

Michael Häupl, Ottakrings langjähriger<br />

Bezirksvorsitzender Franz Prokop<br />

und der damalige türkische Botschafter<br />

erzählten von ihrer Jugend, politischen<br />

Vorbildern und Lieblingsessen. Das Foto,<br />

das Michael Häupl vor einer türkischen<br />

Fahne und den türkischen Botschafter<br />

vor einer österreichischen Fahne zeigt,<br />

war schon damals ein Hinschauer – heute<br />

würde sich kein heimischer Spitzenpolitiker<br />

gerne so fotografieren lassen.<br />

DER BÜRGERMEISTER, DER<br />

BOXER UND DER RAPPER<br />

Michael Häupl war jener Politiker, der in<br />

den ersten Jahren wohl am öftesten von<br />

biber interviewt wurde. Kein Wunder,<br />

er war das Oberhaupt der „Multi-Kulti“-<br />

Stadt, in der wir uns alle so wohlfühlen<br />

und sorgte als „Papa Schlumpf“ (O-Ton<br />

einer biber-Kollegin) für Recht, Ordnung<br />

und Sichtbarkeit von Migrant:innen. Im<br />

September 2010 lief das Netz heiß, als er<br />

auf einem rosa Enzo im Museumsquartier<br />

zusammen mit Rapper Nazar und Boxer<br />

Gogi Knezević breitbeinig posierte. 2015<br />

war er Protagonist in einer von der SPÖ<br />

geschalteten „Foto-Love-Story“, bei der<br />

er einer im Regen stehengelassenen<br />

Wählerin den Regenschirm anbot. Das<br />

letzte Interview fand im „Pitawerk“ auf<br />

der äußeren Mariahilferstraße statt, wo<br />

Häupl kurz vor seinem Abgang als Wiener<br />

Bürgermeister noch einmal Schmäh<br />

führte und Burek mit Joghurt schnabulierte.<br />

Diese Tradition setzten wir fort und<br />

zwängten den amtierenden Bürgermeister<br />

Michael Ludwig 2020 auf die Sitzbank<br />

des bosnischen „Željo Grill Burek“ auf<br />

der Thaliastraße.<br />

POLITIK IM SUD<br />

Es altes, türkisches Sprichwort sagt:<br />

„Glaube nicht an den Kaffeesud, aber<br />

bleibe nicht ohne Kaffeesud.“ Weil in<br />

manchen migrantischen Communities<br />

der Aberglaube stark ausgeprägt<br />

ist (Ich sage nur „Promaja“, übersetzt<br />

die Zugluft, die laut Balkan-Eltern eine<br />

sofortige Lungenentzündung oder gar<br />

den Tod nach sich zieht), verzichteten<br />

wir auf Wahl-Analysen und ausgeleierte<br />

Fragen. Wir engagierten für die<br />

Wiener Gemeinderatswahlen 2015 eine<br />

Wahrsagerin (Danke an dieser Stelle<br />

an Zeynep Alan), die den damaligen<br />

Spitzenkandidat*innen ihr Kismet voraus-<br />

Im September 2020 stärkten wir uns zum Wahlkampfauftakt<br />

mit Michael Ludwig bei Željo auf der Thaliastraße.<br />

<strong>12</strong> / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / 13


xxx<br />

verbrachten oft mehrere Wochen im Jahr<br />

direkt in Schulen und viele Schüler:innen<br />

waren bei uns in der Redaktion. Eine<br />

sonst so goscherte 14-jährige Schülerin,<br />

die bei uns Praktikum machte, verdiente<br />

sich ihren großen Auftritt im Justizministerium,<br />

weil sie sich die besten Fragen<br />

überlegt hatte. Als Alma Zadić dann<br />

tatsächlich vor ihr auftauchte, brachte sie<br />

anfangs kaum ein Wort heraus.<br />

Meine persönliche Lieblings-Polit-<br />

Geschichte war die Cover-Story „I‘m<br />

muslim, don‘t panic“ – aus dem Jahr<br />

20<strong>12</strong>. Dabei ging es um die differenzierte<br />

Betrachtung von Muslimen weltweit.<br />

Einerseits kritisierte ich dabei die<br />

westlich gefärbte, oft sehr einseitige<br />

Betonung von radikalen Muslimen, die<br />

angeblich die Mehrheit in der islamischen<br />

Welt ausmachten. Andererseits gingen<br />

mir die Hobby-Imame auf den Keks, die<br />

politisch hetzten statt Frieden zu säen.<br />

Mit unseren Themen waren wir meistens<br />

ein bisschen voraus.<br />

Es ist so fies, ein Best-of für die<br />

letzte Ausgabe zusammenzustellen.<br />

Dabei war jede Ausgabe eine Gaudi, ein<br />

chaotisches Treiben, ein Herantasten an<br />

ernste Themen, ohne den Humor dabei<br />

zu verlieren. Mir wird der biber fehlen<br />

aber auch ewig einen ganz besonderen<br />

Platz in meinem Herzen behalten. ●<br />

sagte. Beate Meinl-Reisinger durfte sich<br />

über zwei galoppierende Pferde freuen,<br />

die als Glückbringer interpretiert wurden.<br />

Maria Vassilakou bildeten wir Jahre<br />

zuvor in High-Heels ab, bevor sie in<br />

ihren Kaffeesud blickte und sich dabei<br />

über den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“<br />

echauffierte.<br />

KATER & ROLEX<br />

Übrigens, auch FPÖ-Politiker haben wir<br />

immer wieder getroffen. Mit Ausnahme<br />

von Herbert Kickl. Für einen Termin mit<br />

dem aktuellen FPÖ-Chef fanden sich<br />

einfach keine Freiwilligen mehr in der<br />

biber-Redaktion. Im allseits beliebten<br />

Interview-Format „Interview in Zahlen“<br />

besuchte Herausgeber Simon Kravagna<br />

aber unter anderem 2016 Präsidentschaftskandidat<br />

Norbert Hofer und seinen<br />

Kater in seinem Garten in Pinkafeld.<br />

(Juli 2016) Ein paar Jahre zuvor bezifferte<br />

Serbenfreund und Hauptdarsteller<br />

des Ibiza-Krimis HC Strache (O-Ton: „Alle<br />

Journalisten sind Huren“) im „Interview<br />

in Zahlen“ den Wert seiner Rolex und<br />

gab an, 10.000 Euro für das teuerste<br />

Geschenk an eine Frau ausgegeben zu<br />

haben. Welche Frau das war, ist nicht<br />

überliefert. Das Zahleninterview wurde<br />

zum „Big Mac“ des biber, geteilt von<br />

Journo-Größen wie Armin Wolf. Apropos<br />

Wolf. Der ZiB2-Anchorman ließ es sich<br />

nicht nehmen, selbst als Befragter beim<br />

Zahlenformat aufzutreten.<br />

„KIFFEN SIE, HERR WOLF?“<br />

Unser damaliger Schüler-Redakteur Muamer<br />

Bečirović wollte in einem anderen<br />

Interview vom ORF-Moderator wissen:<br />

„Kiffen Sie, Herr Wolf?“ Spoiler: Er tut es<br />

nicht.<br />

Die Einbindung von Schüler:innen in<br />

die Redaktion war kein bloßes Lippenbekenntnis<br />

oder ein Marketing-Gag.<br />

Wir hatten wohl die einzige Schüler-<br />

Redaktion, die diesen Namen so richtig<br />

verdiente. Redakteur:innen von biber<br />

P.b.b., Verlagspostamt 1070, Vetragsnummer 09Z038106 M<br />

www.dasbiber.at<br />

Magazin für neue Österreicher<br />

mit scharf<br />

OKTOBER<br />

20<strong>12</strong><br />

kost auch in<br />

der Krise nix<br />

mEIN ISLAm KENNT KEINE bOmbEN<br />

DER<br />

ÖSTERREICHISCHE<br />

JOURNALIST<br />

grAtisMAgAZin des JAhres20<strong>12</strong><br />

++ DR. LADY bITCH RAY ++ WINNETOU LEbT ++ KREUzzUg gEgEN POKEmON ++<br />

14 / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / 15


„Jung, Brutal,Kriminell“- 2019<br />

trafen wir Mitglieder krimineller<br />

Jugendgangs in Wien.<br />

Ob untergetauchte Asylwerber, kriminelle<br />

Jugendgangs, tschetschenische Sittenwächter<br />

oder ein polnisch-kurdischer<br />

Zufall in einem belarussischen Grenzgebiet,<br />

der unsere Reportage gerettet hat: „Wie<br />

habt ihr das bitte schon wieder aufgetrieben?<br />

Wie kommt ihr immer an die Leute?”,<br />

wurden wir oft nach unseren Recherchen<br />

gefragt. Wir wiederum stellten uns immer<br />

die Frage: Wie sehen die Lebenswelten<br />

hinter den Schlagzeilen wirklich aus? Wie<br />

schafft man es, mit quasi null Ressourcen<br />

lebensnahe Reportagen zu bringen, die<br />

sonst keiner erzählen kann? Ein letzter Blick<br />

behind the scenes.<br />

Zur Autorin: Aleksandra Tulej war die letzte Chefredakteurin von biber.<br />

GESCHICHTEN,<br />

DIE NUR DAS LEBEN<br />

(UND <strong>BIBER</strong>) SCHREIBT.<br />

Mein Freund hat mir erzählt, dass man mit dir<br />

gut reden kann. Können wir uns treffen? Aber<br />

bitte ohne Polizei und ohne Erwachsene.” Im<br />

April 2019 erreicht mich auf Instagram eine<br />

Nachricht eines damals 15-jährigen Omar*, der, wie sich<br />

herausstellt, Mitglied einer kriminellen Jugendgang ist.<br />

Besagten Freund hatte ich in seiner Klasse kennengelernt, in<br />

der wir im Rahmen unseres Newcomer-Projekts unterwegs<br />

waren. Etwas erstaunt über das Vertrauen, das der damals<br />

Fremde zu mir zu haben scheint, sage ich einem Treffen zu.<br />

Nach und nach weiht Omar mich in seine Kreise ein – und<br />

prompt entsteht daraus die Reportage „Jung, brutal, kriminell<br />

– Inside Wiener Jugendgangs”. Der Artikel schlägt hohe<br />

Wellen, es tritt das ein, was nach großen <strong>BIBER</strong>- Reportagen<br />

immer passiert ist: Plötzlich rieseln die Anfragen größerer<br />

Medien ein, man möge doch bitte die Kontakte weitergeben,<br />

man sei doch unter Kolleg:innen, man wolle doch dasselbe.<br />

Naja. Mit einem kleinen aber nicht unwesentlichen Unterschied.<br />

<strong>BIBER</strong> konnte das, was andere nicht konnten: Das Vertrauen<br />

der Menschen hinter den Schlagzeilen für sich gewinnen.<br />

Weil wir nicht über sie gesprochen haben, sondern<br />

mit ihnen. Wir hatten den Zugang, sie haben sich in dem<br />

Magazin wiedergefunden.<br />

„Das ist nicht unser Jihad“ - Drei ehemalige IS-<br />

Sympathisanten haben uns 2020 über ihren Ausstieg erzählt.<br />

„WIR REDEN EIGENTLICH NICHT MIT<br />

JOURNALISTEN. ABER MIT <strong>BIBER</strong><br />

SPRECHEN WIR, IHR SEID ANDERS.”<br />

„Wir reden eigentlich nicht mit Journalisten. Aber mit <strong>BIBER</strong><br />

sprechen wir, ihr seid anders.” Es ist dieser Satz, der uns<br />

wieder und wieder zu den besten Reportagen gebracht hat.<br />

Ob das etwas ist, womit man angeben kann, wird sich der<br />

ein oder andere jetzt fragen. Durchaus waren unsere Protagonisten<br />

ja oft problematisch, um es gelinde auszudrücken.<br />

Dabei ist es ganz einfach: Ich war nie Fan davon, Konflikte<br />

schönzureden. In den Migra-Communities in Wien gibt es<br />

durchaus große Probleme, die angesprochen gehören. Aber<br />

der springende Punkt hierbei ist: Es geht darum, wer sie<br />

anspricht und wie man sie anspricht.<br />

Bussi-Bussi mit Entscheidungsträgern in Politik und Medien<br />

hat <strong>BIBER</strong> nie interessiert. Mag sein, dass man mit dieser<br />

Einstellung, die manch einer als kindisch und trotzig empfinden<br />

kann, in der österreichischen Medienbranche nicht<br />

weit kommt. Was uns umso mehr interessiert hat, sind die<br />

Menschen hinter den Schlagzeilen. Was daraus entstand, ist<br />

ein riesiges Netzwerk an Personen, „an die man sonst nicht<br />

rankommt”, wie wir oft von anderen Journo-Kolleg:innen<br />

zu hören bekamen. Wir hatten nie die Ressourcen oder die<br />

finanziellen Möglichkeiten, die große Medien haben – was<br />

wir hatten, waren die Menschen dahinter. Jene Menschen,<br />

die uns dann von einer Reportage auf das nächste Thema<br />

gebracht haben: Ob ehemalige IS-Sympathisanten, Straßenkonflikte<br />

zwischen afghanischen und tschetschenischen<br />

Jugendlichen in Wien, Graue Wölfe, illegale Tuning-Autorennen<br />

am Kahlenberg und und und. Die Liste wurde mit jedem<br />

Jahr länger. Dabei stellten sich uns auch immer wieder<br />

moralische Fragen, vor allem da wir oft mit Jugendlichen zu<br />

tun hatten, die gerne einmal zu viel und zu ungefiltert erzählen<br />

– mehr als ihnen guttut: Wie macht man eine Geschichte<br />

über minderjährige Drogenabhängige im Stadtpark, ohne sie<br />

selbst in Gefahr zu bringen? Wie spricht man mit Frauen aus<br />

16 / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / 17


„Wir regeln das unter uns“ – 2021 haben wir den<br />

„Straßenkonflikt“ zwischen afghanischen und<br />

tschetschenischen Jugendlichen von innen beleuchtet.<br />

In „Das Leben mit den Sittenwächtern“ lieferten<br />

tschetschenische Frauen 2020 Einblicke in ihre<br />

streng verschlossene Community.<br />

In „Asylstatus:Untergetaucht“ erzählten Asylwerber ohne<br />

Aufenthaltsstatus von ihrem Leben im Versteck.<br />

„Die Kinder vom Stadtpark“ trafen wir 2022 – und<br />

sprachen mit ihnen über Drogen, Prostitution und<br />

eine Parallelwelt mitten in Wien.<br />

Communitys, bei denen die Familien nicht erfahren dürfen,<br />

wer da mit <strong>BIBER</strong> gesprochen hat? Das Credo: Indem man<br />

mit ihnen auf Augenhöhe spricht. Was auch oft bedeutet hat,<br />

mit Leib und Seele über Wochen in Milieus einzutauchen, mit<br />

denen man sonst nicht in Berührung kommen würde.<br />

„DAS KANNST DU NICHT SCHREIBEN.”<br />

„Das kannst du nicht schreiben. Alles, nur nicht das. Misch<br />

dich da nicht ein“, wurde mir im Sommer 2020 von allen Seiten<br />

geraten. Damals war das Thema der tschetschenischen<br />

Sittenwächter, die ihre Landsfrauen verfolgt und bedroht<br />

hatten, wieder einmal in aller Munde. Die Politik hat sich<br />

darüber aufgeregt, die üblichen Twitter-Experten haben wie<br />

so oft ihre Elfenbeinturm-Meinungen dazu abgegeben, die<br />

Schlagzeilen haben sich gehäuft. „Warum, zur Hölle, spricht<br />

aber niemand mit den Frauen selbst? Mit denen, um die es<br />

bei dieser ganzen Debatte eigentlich geht?”, die Frage ging<br />

mir damals nicht aus dem Kopf. Also hat <strong>BIBER</strong> es getan.<br />

Weil <strong>BIBER</strong>, wie so oft, den Zugang hatte. Mit den Frauen aus<br />

der Reportage habe ich bis heute Kontakt und sie liefern mir<br />

immer wieder Einblicke in eine Community, die sehr verschlossen<br />

lebt.<br />

Dabei sind es ja oft Themen, die von Politik und Boulevard<br />

nur so zerrissen werden – immer wieder sprach man in<br />

Österreich von untergetauchten Asylwerber:innen, die hier<br />

ohne Aufenthalt leben. Aber: Wer sind diese „U-Boote”, von<br />

denen die Politik so viel spricht? Was sind ihre Beweggründe<br />

und wie kann man in Österreich untergetaucht leben? Diese<br />

Fragen lassen mich nicht los. Etliche Streifzüge durch Wien<br />

bleiben ohne Erfolg. Ich telefonierte damals innerhalb von<br />

zwei Tagen über 200 Kontakte durch, bis ich endlich eine<br />

Spur hatte. „Du bist doch fix eine Zivilpolizistin!”, begrüßt<br />

mich einer der Protagonisten bei unserem Treffen am Praterstern.<br />

Als ich ihm meinen Presseausweis zeige, vertraut er<br />

mir immer noch nicht. „Nein, zeig dein Insta, erst dann glaub<br />

ich dir.” Gesagt, getan, Kontakte bekommen, Reportage<br />

geschrieben. Und dann die nächste Frage:<br />

„WO KRIEGEN WIR HEUTE NOCH EINEN<br />

AFGHANISCHEN PASS HER?”<br />

<strong>BIBER</strong>-Geschichten waren immer bildstark. Wie bebildert<br />

man Geschichten, auf denen die Protagonist:innen nicht<br />

erkennbar sein dürfen? Fade Stockfotos und Symbolbilder<br />

waren nie unser Ding. Unsere Fotochefin Zoe Opratko grübelte<br />

immer von Sekunde eins mit uns, wie wir die Bildebene<br />

am besten gestalten. Bei dieser Reportage war sofort klar:<br />

Ein afghanischer, syrischer und irakischer Pass muss her.<br />

Aber wo treibt man so etwas auf, ohne offizielle Kontakte?<br />

Wir hatten die Requisiten innerhalb weniger Stunden in der<br />

Hand – wie immer. Immer hatte jemand einen Cousin, dessen<br />

Schwager, dessen Ex-Freundin jemanden kennt und…<br />

ach, ihr wisst schon, <strong>BIBER</strong> halt. Übrigens:<br />

Wie oft wir für unsere Shootings den Inhalt unserer<br />

Kühl- und Kleiderschränke, unsere Wohnungen, Geschwister,<br />

Partner oder eigene Körperteile hergeborgt haben – darüber<br />

schreibt Delna Antia-Tatić noch ausführlicher auf S. 26<br />

Beim Ausräumen der Redaktionsräumlichkeiten stieß ich<br />

letztens auf unsere Requisiten-Lade: Wenn jemand einen<br />

positiven Schwangerschaftstest, eine zerschnittene Türkei-<br />

Flagge oder einen aufblasbaren Globus braucht, gebt gern<br />

Bescheid. Gebetsteppiche, Kruzifixe und Talare hätten wir da<br />

auch im Angebot.<br />

Wir konnten jedenfalls aus nichts viel machen. Das war<br />

<strong>BIBER</strong>. Auch unsere Sprachenvielfalt in der Redaktion nutzten<br />

wir zum Vorteil: Nach dem verheerenden Erdbeben in der<br />

Türkei und in Syrien im Februar 20<strong>23</strong> waren wir das erste<br />

Medium, das Kontakte vor Ort hatte. Wie so oft trudelten<br />

dann Anfragen größerer Medien ein. Im April sind wir dann<br />

nach Hatay geflogen, um die Trümmer des Hauses der Familie<br />

unserer Kolumnistin Özben Önal zu dokumentieren. Das<br />

waren Reportagen, die nicht nur trockene Berichterstattung<br />

von außen waren, sondern Bestandsaufnahmen von Ereignissen,<br />

von denen unsere Redakteur:innen selbst betroffen<br />

waren – was alles doppelt schwierig machte, gleichzeitig<br />

aber auch doppelt sinnvoll. Wir hatten keine Fixer, keine<br />

Fahrer, keine Dolmetscher. Das waren alles wir selbst, unsere<br />

Familien und Bekannte vor Ort – was journalistisch ein Vorteil<br />

war, war auf der persönlichen Ebene dann aber doch schwierig.<br />

Umso stärker war dann das Endergebnis.<br />

In unserer kleinen Redaktion hat so ziemlich jede:r alles<br />

gemacht. Was nach außen oft nicht sichtbar war: Wir waren<br />

eine Handvoll Menschen, die immer 110 % gegeben haben.<br />

Die Engelsgeduld unserer Verlagsleiterin Aida Durić bei<br />

etlichen Social-Media-Shistorms, die aus unterschiedlichsten<br />

Communities daherkamen, gehört hier auch einmal erwähnt.<br />

Ich hätte an ihrer Stelle längst einfach das Internet gelöscht.<br />

Wir haben oft improvisiert, jeden Tag uns etwas selbst<br />

beigebracht und Neues gelernt. Vor allem bei schwierigen<br />

Recherchen.<br />

Das Credo unseres ersten Chefredakteurs und letzten<br />

Herausgebers Simon Kravagna lautete übrigens immer:<br />

„Mach, wie du glaubst. Und wenns nicht geht, bin ich da.”<br />

Für diese Herangehensweise werde ich ihm immer dankbar<br />

sein – nur so hat biber-Journalismus funktioniert.<br />

DIE <strong>BIBER</strong>’SCHEN ZUFÄLLE<br />

Oft waren es aber auch Zufälle, die nur in unserer Redaktion<br />

möglich waren, wie im Sommer 2021. Ich werde nie vergessen,<br />

als unser Politik-Ressortleiter Amar Rajković und ich<br />

auf der berühmten Grübel-Couch der Redaktion saßen und<br />

uns den Kopf darüber zerbrochen haben, wo wir denn jetzt<br />

Protagonisten für eine Geschichte über Afghanen in Wien,<br />

die mit den Taliban sympathisieren, herbekommen. Plötzlich<br />

platzt, mir nichts, dir nichts, ein junger Afghane in unsere<br />

18 / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / 19


Redaktion – die Hochsicherheitseingangstür stand nicht nur<br />

sprichwörtlich immer offen – und will uns ein Theaterstück<br />

eines afghanischen Filmemachers vorstellen. Die Szene war<br />

tatsächlich filmreif: Wir wechseln ein paar Blicke und Worte<br />

und es wird klar: Theaterstück uninteressant, seine Erzählungen<br />

umso spannender. Wir haben unseren Protagonisten.<br />

Unsere Geschichte ist uns wortwörtlich in den Schoß gefallen<br />

– oder in die Redaktion hereinspaziert. Manchmal spazierten<br />

sie auch auf Dächern:<br />

„Du, ich komme heute etwas später. Du wirst nicht glauben,<br />

was mir heute Nacht passiert ist. Meine Katze ist weggelaufen,<br />

wir haben sie die ganze Nacht gesucht. Aber weißt<br />

du, wem das Dach von meinem Haus gehört?” Diese kryptische<br />

Nachricht unserer Kulturressortleiterin Nada Chekh an<br />

mich brachte uns zu einer Geschichte über ultraorthodoxes<br />

Judentum in Wien. Einer, die man sonst nie so gelesen hat,<br />

wie wir als Feedback bekamen.<br />

Bis heute kann ich übrigens nicht glauben, dass diese<br />

klassisch bibereske Situation wirklich so passiert ist:<br />

November 2021, wir stehen frierend vor einem Krankenhaus<br />

in Bielsk-Podlaski, einer kleinen Ortschaft in Polen direkt<br />

an der Grenze zu Belarus, der damaligen Sperrzone, die<br />

Polen eingerichtet hatte. Wir, das sind unsere Kamerafrau<br />

Soza Jan und ich – und unzählige andere internationale<br />

Journalist:innen und Kamera-Teams: CNN, Reuters, die<br />

ganz Großen eben. Keiner von uns dürfte offiziell hier sein,<br />

aber wir nutzen das Chaos. Alle tummeln sich hier, um ein<br />

Interview mit dem Oberarzt des Spitals, Dr. Arsalan Azzadin,<br />

zu bekommen. Der gebürtige Kurde behandelt hier Flüchtlinge,<br />

die durch Push-Backs aus Belarus wieder nach Polen<br />

gebracht werden: unterkühlt, ausgehungert, und dann auch<br />

noch mitten in der Pandemie. „Ich habe wirklich keine Zeit<br />

für Interviews, sie müssen verstehen, das geht einfach ni…<br />

Warte! Warte! Bist du Kurdin? Ich glaube, ich kenne deine<br />

Familie!”, fragt der Oberarzt unsere Kamerafrau Soza und<br />

pickt sie aus der Menge raus. Tatsächlich – sie tauschen<br />

einige Worte auf Kurmanji aus und es stellt sich heraus, dass<br />

der Oberarzt des Krankenhauses in einem kleinen polnischen<br />

Dorf die Familie unserer Kamerafrau in Syrien kennt. „Bei<br />

Gott, das ist Schicksal, das kann kein Zufall sein! Ihr kommt<br />

rein, aber nur ihr!” Wir bekommen als einziges Medium ein<br />

Interview mit ihm, das Gespräch wird ein wesentlicher und<br />

exklusiver Bestandteil unserer Reportage über die Sperrzone<br />

im polnisch-belarussischen Grenzgebiet, wo wir übrigens als<br />

einziges österreichisches Medium waren. Ach ja: Die Grenzsoldaten<br />

haben wir dort undercover über Tinder ausfindig<br />

gemacht, aber das ist eine ganz eigene Geschichte. Ressourcen<br />

hatten wir nie, dafür haben wir gelernt, kreativ über alle<br />

Tellerränder zu blicken.<br />

Diese besonderen Zufälle – oder eher Schicksale wie diese<br />

Szenen – passieren nur bei <strong>BIBER</strong>. Die Redaktion wird jetzt<br />

ihre Türen schließen, aber was bleibt, sind die Menschen, die<br />

daran mitgewirkt haben. Wir werden alles dafür tun, unsere<br />

Geschichten, unsere Berichterstattung und vor allem unsere<br />

Ideen mitzunehmen und sie in möglichst vielen Redaktionen<br />

des Landes zu streuen – ihr kommt sowieso nicht um uns<br />

herum, wir sind mittlerweile zu viele. ●<br />

EIN DANKE MIT SCHARF.<br />

Biber-Journalismus hat zu einem großen Teil nur<br />

funktioniert, weil unzählige Menschen mir und uns<br />

immer und immer wieder bedingungslos geholfen und<br />

vertraut haben. Menschen, die nie für biber gearbeitet<br />

haben, aber einen großen Part geleistet haben, damit<br />

die Reportagen entstehen konnten. Ihr gehört endlich<br />

mal vor den Vorgang geholt: Mein größter Dank<br />

gebührt Fabian Reicher, der mir bei so vielen Geschichten<br />

zur Seite gestanden ist und mich immer wieder<br />

motiviert hat, weiterzumachen. Genauso Rami Ali, Julian<br />

Pehm, Derai Al Nuaimi, Obada Karzoon, Even Assad,<br />

Ahmad Mitaev, Cheda, Hawa, Amina, Omar, Ahmet und<br />

all den anderen, die nicht namentlich erwähnt werden<br />

wollen oder können – ihr wisst, wer ihr seid. Ohne<br />

euch wären die meisten dieser Geschichten niemals<br />

entstanden. Ihr werdet für mich im Herzen immer „mit<br />

scharf” bleiben.<br />

xxx<br />

20 / POLITIKA /


WIR WAREN <strong>BIBER</strong><br />

Das Ende von biber ist auch das Ende der biber-Akademie. Sie war<br />

Kaderschmiede für unzählige Journalist:innen mit Migrationshintergrund<br />

und das erste journalistische Zuhause für jene, die weder Deutsch noch<br />

Qualtinger mit der Muttermilch aufgesogen haben.<br />

Zur Autorin: Marina Delcheva war Akademie-Leiterin bei biber und leitet jetzt das Wirtschaftsressort bei profil.<br />

Amra Durić, Alexandra Stanić,<br />

Naz Küçüktekin und Marina Delcheva<br />

(v.l.n.r.) lassen ihre Zeit in der biber<br />

Akademie Revue passieren.<br />

Ich will eigentlich nur schreiben. Ich weiß,<br />

es gibt nicht so viele von meiner Sorte“,<br />

sagte sie und zeigte auf ihr Kopftuch, „aber<br />

ich glaube, ich kann das!“ Urheberin dieser<br />

Aussage ist Menerva Hammad und sie sagte<br />

das beim Vorstellungsgespräch für die biber-<br />

Akademie 2014. Heute schreibt sie immer noch<br />

und das sehr erfolgreich, sie ist Buchautorin.<br />

Jahrzehntelang bekamen heimische Chefredakteure<br />

– es waren jahrzehntelang fast nur Männer<br />

– Sätze wie diese so gut wie nie zu hören. In<br />

den bunten Räumen der biber-Redaktion und<br />

bei den unzähligen Vorstellungsgesprächen für<br />

die biber-Akademie fielen Sätze wie diese aber<br />

ganz oft.<br />

„Am liebsten habe ich die Geschichte über<br />

den bosnischen Müllbaron geschrieben. Er<br />

hat sich in der bosnischen Stadt Prijedor ein<br />

Müllimperium geschaffen und zusammen mit<br />

korrupten Beamten ein lukratives Business<br />

aufgebaut“, erzählt Alexandra Stanić. Und es<br />

kam noch sehr viel mehr: Missbrauchsvorwürfe<br />

an der Grazer Oper, die heimlichen Symbole der<br />

serbischen Nationalisten, eine transfeindliche<br />

Montessori-Schule. Stanić ist heute erfolgreiche<br />

Autorin, Fotografin und Influencerin.<br />

Begonnen hat aber alles in<br />

der biber-Akademie vor über zehn<br />

Jahren. Seit 2011 hat die Akademie<br />

gut 300 jungen Menschen<br />

– fast immer mit und selten ohne<br />

Migrationshintergrund – journalistisch<br />

ausgebildet, ihnen den Raum<br />

und die Zeit gegeben, ihre eigenen<br />

Geschichten zu erzählen und ihnen<br />

„<br />

Ich kenne fast keine<br />

Journalist:innen<br />

mit Migrationshintergrund<br />

in Österreich,<br />

die nicht bei<br />

biber waren.<br />

“<br />

Biber war für die vier Journalistinnen das<br />

Sprungbrett in die Medienbranche.<br />

Praktika in den großen Medienhäusern des<br />

Landes vermittelt. Die Mission: Mehr Menschen<br />

mit Migrationshintergrund in die österreichische<br />

Medienlandschaft zu bringen. Doch es ging auch<br />

über die Landesgrenzen hinaus: Seit 2021 hatte<br />

biber eine Kooperation mit jetzt.de, dem Onlinemagazin<br />

der Süddeutschen Zeitung in München<br />

– wo einige talentierte biber-Stipendiat*innen ihr<br />

Folgepraktikum absolviert haben. Und das mit<br />

Erfolg.<br />

„Ich kenne fast keine Journalist:innen mit<br />

Migrationshintergrund in Österreich, die nicht<br />

bei biber waren“, sagt Amra Durić. Bis vor<br />

kurzem war sie stellvertretende Online-Chef-<br />

22 / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / <strong>23</strong>


edakteurin von „Heute“ – immerhin eine der<br />

größten Tageszeitungen Österreichs. Jetzt ist<br />

sie stellvertretende Leiterin des Newsrooms der<br />

Parlamentsdirektion. So richtig begonnen hat<br />

aber alles hier, mit einer Geschichte, die so noch<br />

niemand erzählt hatte: „Geld gegen Trauschein<br />

und den wertvollen österreichischen Pass.“<br />

Die biber-Akademie wurde über die Jahre<br />

die erste Anlaufstelle für viele junge Menschen<br />

mit Wurzeln auf der ganzen Welt. Die Chance<br />

für Kinder mit Migrationshintergrund, in Österreich<br />

irgendwann Journalist:innen zu werden,<br />

stand mehr als schlecht. Dieses Magazin hat<br />

die Statistik ganz maßgeblich verbessert. Denn<br />

ohne biber wären viele wohl nie im Journalismus<br />

gelandet, auch wir nicht. „Ich habe lange<br />

überlegt, ob ich Journalistin werden will, ob ich<br />

mir das zutraue, ob ich das Zeug dazu habe.<br />

Dank biber weiß ich: Ich kann das.“, sagt Naz<br />

Kücüktekin. Sie hat 2020 die biber-Akademie<br />

absolviert. Danach war sie beim „Kurier“ für das<br />

Projekt „Mehr Platz“ zuständig, wo sie weiterhin<br />

aus den migrantischen Communitys berichtete.<br />

Heute ist sie freie Journalistin und schreibt<br />

für zahlreiche österreichische<br />

Medien. Biber war das Zuhause<br />

der coolen Außenseiter<br />

und die biber-Akademie war<br />

eine Drehtür in verschiedene<br />

Welten – für die alteingesessenen<br />

Österreicher:innen in<br />

unsere, und für uns in ihre. Wir<br />

haben die Nächte bei geheimen<br />

„<br />

Ich habe lange überlegt,<br />

ob ich Journalistin werden<br />

will, ob ich mir das zutraue.<br />

Dank biber weiß ich: Ich<br />

kann das.<br />

“<br />

Blättern in den alten Ausgaben: Nostalgie pur.<br />

„Biber ist wie die erste große Beziehung“,<br />

so Alexandra Stanić.<br />

Gürtel-Rennen verbracht, uns in Islam-Kindergärten<br />

geschlichen, waren undercover betteln<br />

und haben radikalen IS-Kämpfern nachgespürt.<br />

Wir haben vom Super-Gau mit der Balkanfrau<br />

erzählt und von den absurden Sexmythen superstrenger<br />

muslimischer Eltern.<br />

Melisa Erkurt (die Chefredaktion), Ali Deniz<br />

Cem (FM4), Delna Antia-Tatić (Süddeutsche<br />

Zeitung), Jelena Pantić-Panić (Gründerin von<br />

medien.geil), Vanessa Spanbauer (Historikerin<br />

und Journalistin), Aleksandra Tulej (letzte Chefredakteurin<br />

von biber), Nada Chekh (Autorin)<br />

– all diese Journalist:innen haben ihre Reise in<br />

der biber-Akademie begonnen. Und auch ein<br />

paar waschechte Österreicher:innen wie Marian<br />

Smetana (Salzburger Nachrichten) und Clemens<br />

Neuhold (profil), der ebenfalls Leiter der<br />

biber-Akademie war, sind im Laufe der Jahre<br />

durch die bunte biber-Schule gegangen. Früher<br />

oder später sind alle weitergezogen. „Biber ist<br />

wie die erste große Beziehung“, sagt Alexandra<br />

Stanić, die neun Jahre bei biber war und später<br />

ebenfalls die biber-Akademie leitete. „Irgendwann<br />

geht die Beziehung zu Ende und du musst<br />

weiterziehen und erwachsen werden.“ Dass<br />

die nächste Generation junger migrantischer<br />

Journalist:innen ohne biber erwachsen werden<br />

muss, ist ein großer Verlust für alle Medien. ●<br />

24 / POLITIKA /


„Hijabi Style“ - Geht<br />

das? Darf das? Biber<br />

darf! - sagten wir<br />

schon 20<strong>12</strong>.<br />

LIFESTYLE MIT<br />

HINTERGRUND<br />

Ob Hijabi-Style, koschere Perücken oder ein<br />

Laufsteg in Favoriten zur EU-Wahl. Ein Rückblick<br />

von Delna Antia-Tatić auf Lifestyle bei Biber und<br />

wie Bilder für Empowerment sorgen.<br />

Zur Autorin: Delna Antia-Tatić war Chefredakteurin bei biber und schreibt jetzt für die Süddeutsche Zeitung.<br />

Manchmal gibt es eine<br />

Geschichte abseits der<br />

Hauptgeschichte. Bei biber<br />

kam das öfter vor. Meine<br />

liebste Nebengeschichte handelt von<br />

Klopapier. Ich will sie erzählen, jetzt,<br />

wo biber das letzte Mal Geschichten<br />

schreibt. Es war das Jahr 2014, eine<br />

EU-Wahl stand an und biber hatte sich<br />

in den Kopf gesetzt, junge Menschen zur<br />

Wahl zu mobilisieren. Und weil wir uns<br />

Brüssel damals so „männlich, sakkograu<br />

und über 50“ vorstellten, dachten wir<br />

uns eine Fashionshow aus: „Get dressed<br />

for Europe!“ Wir ließen acht junge Modedesigner<br />

aus ganz Europa einfliegen, von<br />

Helsinki bis Ljubljana. Wir baten sie eine<br />

extra Europa-Kollektion zu entwerfen und<br />

buchten Models, die die Kreationen auf<br />

einem Laufsteg in Favoriten präsentierten.<br />

Wir luden ganz Wien zur After-Party<br />

in die kultige Ankerbrotfabrik und der<br />

ORF berichtete in der ZiB-Nacht. Es war<br />

ein toller Erfolg. Auf der Bühne – und<br />

ja: Behind the Scenes. Denn eine Party<br />

brilliert oder scheitert an einem Ort, so<br />

hatte uns der Technikmeister damals<br />

eingebläut: dem Klo. Schön herausgeputzt<br />

vorne, bestens abgeputzt hinten<br />

– so das Eventgeheimnis. Engagierte<br />

Migrant:innen wie wir sind, wollten wir<br />

als Gastgeber natürlich keinesfalls einen<br />

schlechten Eindruck hinterlassen und<br />

tischten üppig auf. So hat Mama uns<br />

das schließlich beigebracht, wenn Gäste<br />

kommen – noch dazu aus der ganzen<br />

Welt. Biber bestellte Klopapier und<br />

Papierhandtücher und zwar in solchen<br />

Mengen, dass selbst ein akuter Noro-<br />

Virus uns nicht in Bedrängnis gebracht<br />

hätte. Wir alle erinnern uns zu gern an<br />

die Paletten-Türme voller Papierrollen,<br />

die sich in der Halle stapelten. Und wie<br />

wir am Morgen danach mit drei vollbepackten<br />

PKWs, beladen mit Klopapierrollen<br />

von Kofferraum bis unters Dach,<br />

in die Redaktion fuhren. Dort zehrten wir<br />

noch lange davon, Jahre um genau zu<br />

sein. Auf dem Klo und in der Erinnerung.<br />

Es waren tolle Jahre bei biber, wir<br />

haben die Welt bewegt. Damals war<br />

ich stv. Chefredakteurin und für das<br />

Lifestyle-Ressort verantwortlich. Ich habe<br />

dieses Ressort von der ersten Minute<br />

an geliebt. Als Philosophiestudentin und<br />

Quereinsteigerin aus der Organisationsberatung<br />

kommend, lag das Thema zwar<br />

nicht in meinem offiziellen Kompetenzbereich.<br />

Aber biber ist wohl der letzte<br />

Ort, wo ein Zeugnis verlangt wird, nur<br />

um irgendetwas leiten zu dürfen. Wenn<br />

ich in diesen Tagen durch die Lifestyle-<br />

Zeiten blättere, fallen mir solche Projekte<br />

xxx<br />

wie die EU-Fashionshow ein. Denn auch<br />

Lifestyle besaß bei biber, oft einen „Hintergrund“.<br />

„FÜR ANDERE MAGAZINE<br />

WÄREN DIE BILDER ZU<br />

EGDY“<br />

Prominentes Beispiel war die September<br />

Ausgabe 20<strong>12</strong>: „Hijabi Style: High<br />

Heels, Slim-Jeans & Kopftuch“ hieß<br />

jene Fashionstrecke, die ein Tabu brach.<br />

Kopftuch und Fashion – geht das? Und<br />

vor allem, darf das? Dazu muss man<br />

26 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 27


Fremde Haare und Tabubruch: 2013 portraitierten wir Jüdinnen mit ihren Perücken.<br />

sagen, dass diese Strecke vor jener Zeit<br />

erschien, als große Modehäuser wie<br />

Dolce & Gabbana begannen, eigene<br />

Hijab-Kollektionen für den arabischen<br />

Markt zu entwerfen. Inzwischen sind<br />

muslimische Models, die Kopftuch tragen<br />

und etwa für Sport-Kampagnen wie Nike<br />

modeln, sichtbar(er). Damals, 20<strong>12</strong>, war<br />

das neu und provozierte – innerhalb und<br />

außerhalb der Community. Fotografiert<br />

hat die Strecke Marko Mestrović. Es<br />

war sein erstes Cover für biber. Heute<br />

erinnert sich Marko: „Biber war das erste<br />

Magazin in Österreich, das eine Frau<br />

mit Kopftuch auf sein Cover setze. Das<br />

gab es vorher so nicht.“ Jedenfalls nicht<br />

positiv konnotiert und schon gar nicht<br />

selbstbestimmt. Doch so bahnbrechend<br />

uns die Strecke damals erschien, heute,<br />

10 Jahre später, könnten wir sie so nicht<br />

mehr fotografieren. Da sind Marko und<br />

ich uns einig. Denn das Model war nicht<br />

muslimisch. Die Stylistin allerdings war<br />

es: Melek Birkent, eine muslimische<br />

Fashion-Bloggerin und Lehrerin aus<br />

Wien. Im biber-Interview erzählte sie:<br />

Das Kopftuch kann „Mode“ sein. Heute<br />

würde dieses Statement aus der Zeit<br />

gefallen wirken.<br />

Marko und ich hängen am Handy<br />

wie in alten Zeiten und schwelgen in<br />

Retrospektiven. Und ich frage den langjährigen<br />

Fotochef, welche Bilder für ihn<br />

in seinen sieben Jahren wichtig waren.<br />

Das „Burkini“-Cover habe ihn 2014 in<br />

der österreichischen Fotografen-Branche<br />

auf den Radar gesetzt. Und das „Danke<br />

Putin“-Cover schließlich internationalen<br />

Ruhm beschert. Jenes Cover, das drei<br />

ukrainische Kriegsverletzte mit Beinprothesen<br />

in Österreich zu Zeiten der ersten<br />

Krim-Krise zeigt. Dieses Bild machte<br />

ihn 2015 zum Superstar auf Instagram.<br />

„Damals war Insta noch ganz frisch und<br />

die Community klein. Es gab diesen<br />

#weekly-Hashtag, mein Foto wurde<br />

markiert und über Nacht gewann ich<br />

35.000 Follower auf einmal dazu.“ Seine<br />

heutige Social-Media-Reichweite habe<br />

er diesem Cover zu verdanken, sagt<br />

Marko mir am Telefon, der mittlerweile<br />

in der Fotografen-Champions-League<br />

mitspielt, eine Agentur in Berlin hat und<br />

für internationale Kampagnen gebucht<br />

wird. Daran sieht man, dass biber nicht<br />

nur für Schreiberlinge ein Sprungbrett<br />

sein konnte. Die Freiheit, sich ausprobieren<br />

zu können, bot das Magazin stets<br />

auch auf Bildebene. „Biber hat eine völlig<br />

andere Herangehensweise an Cover<br />

und war offen für Provokatives“, erzählt<br />

Marko. „Bei anderen Magazinen hätte ich<br />

manche Bilder gar nicht erst geschossen,<br />

weil ich wusste, es wäre ihnen zu edgy.“<br />

HIJABI-STYLE UND<br />

SEXYNESS MIT<br />

AUGENZWINKERN<br />

Das biber „edgy“ sein will, macht die<br />

erste Ausgabe am Cover klar. Der Community-Journalismus<br />

„mit scharf“ findet<br />

in Bild und Wort statt. Ivana Cucujkić<br />

hat das federführend geprägt. Gerade<br />

in der ersten Zeit, wo das Magazin vor<br />

allem die Balkan-Community anspricht,<br />

verstand sie es, „Sexyness mit Augenzwinkern“<br />

so zu verbinden, dass das<br />

Klischee der Jugo-Migrantin von innen<br />

heraus sowohl konterkariert wurde, als<br />

auch eine Selbstbehauptung erfuhr. Die<br />

Fotoebene wird in vielen Medien stiefmütterlich<br />

behandelt, bei biber besitzt<br />

sie stets Priorität. Die Gleichwertigkeit<br />

von Text und Foto spiegelt sich auch in<br />

einer meiner liebsten Lifestyle-Reportagen<br />

wider. „Meine fremden Haare“ war<br />

eine Geschichte über streng-orthodoxe<br />

Jüdinnen und ihre Perücken. Ich hatte<br />

im Frühsommer 2013 eine der beiden<br />

Protagonistinnen in der Umkleide eines<br />

Fitnessstudios kennengelernt. Die junge<br />

Frau erzählte mir damals beim Föhnen,<br />

warum Jüdinnen ihre sogenannten<br />

„Scheitel“ tragen und welche Arten es<br />

gibt. So entstand die Geschichte. Marko<br />

fotografierte eine der Frauen dafür im<br />

Studio. Die Cover-Strecke sorgte für viel<br />

Aufsehen: „Kosher-Style: Meine fremden<br />

Haare.“ Noch heute denke ich mit Stolz<br />

an diese Gemeinschaftsarbeit zurück.<br />

Auf der Bildebene vermag kaum<br />

ein österreichisches Magazin biber das<br />

Wasser zu reichen. Das sehe ich damals<br />

wie heute so. Was nicht bedeutet, dass<br />

die Bilder nicht kontrovers waren. „Mit<br />

scharf“ war Voraussetzung – aber was<br />

genau heißt das? Darüber war sich auch<br />

die Redaktion längst nicht immer einig.<br />

Im Gegenteil. Es gab Generationsbrüche.<br />

Vieles würden wir sicher heute so nicht<br />

mehr shooten. Mit Zoe Opratko kam ein<br />

neuer Stil ins Heft. Die Bildchefin setzt<br />

seit vier Jahren verstärkt auf Illustrationen<br />

und Collagen. „Damit wollte ich<br />

mehr Diversität in die Bildsprache bringen“,<br />

erzählt sie mir. „Und mich freut es,<br />

dass es aufgegangen ist. Denn anfangs<br />

war die Redaktion durchaus skeptisch:<br />

Kann eine Illustration genauso „scharf“<br />

sein wie ein Foto?“ Sie kann. Das wissen<br />

wir inzwischen. Zoe erzählt auch, wie<br />

wichtig ihr die Selbstbestimmung der<br />

Autorinnen und Protagonistinnen in<br />

ihrer Fotoarbeit ist. „Gerade bei der<br />

Empowerment-Reihe! Ich habe oft 20<br />

Minuten mit den Autorinnen telefoniert.<br />

Immerhin ging es um ihre persönliche<br />

Geschichte und da war es mir wichtig,<br />

zuzuhören und zu verstehen, wie sie sich<br />

die Bebilderung ihrer Story vorstellen.“<br />

Im Empowerment-Special erzählen junge<br />

Frauen seit drei Jahren regelmäßig,<br />

wie sie in ihrem Leben für Selbstbestimmung<br />

gekämpft haben. „Manche<br />

haben mir dann gesagt: Jetzt fühle ich<br />

mich doppelt selbstbestimmt.“ Wenn<br />

Migrant:innen ihr Bild in der Gesellschaft<br />

selbst bestimmen, gerade die Frauen,<br />

gehen Text und Bild Hand in Hand.<br />

So divers und kontrovers die Lifestyle-Seiten<br />

der biber-Jahre waren, eins<br />

war bei jeder Fotostrecke konstant – und<br />

zwar egal für welches Ressort. Der volle<br />

Körpereinsatz der gesamten Redaktion.<br />

Weil biber nie Geld hatte, um Models zu<br />

buchen, gehörte es zur ersten biber-<br />

Journalist*innen-Pflicht stets und überall<br />

als Model herzuhalten. Ob mit Gesicht<br />

und Haaren, ob nur Bauch oder Hände,<br />

ob von hinten oder von oben, ganz<br />

oder halb, es gab immer Bedarf. Und<br />

xxx<br />

ich bedanke mich an dieser Stelle bei<br />

allen Schwestern, Müttern, Vätern und<br />

anderen Verwandten, als auch bei allen<br />

Freunden, Ex-Freundinnen und Entfernt-<br />

Bekannten für ihren Körpereinsatz.<br />

Und eine kurze Nebengeschichte zum<br />

Schluss: Bei einem der letzten Shootings<br />

von Zoe stellten zwei Models fest: „Hey,<br />

sind wir nicht verwandt?“ So ist biber.<br />

Und so schön war es. ●<br />

28 / RAMBAZAMBA /<br />

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Was Sünde ist, entscheiden sie:<br />

Muslimische Teenager haben ein<br />

neues Jugendwort: „Haram!“<br />

heißt es auf YouTube, Instagram<br />

und im Klassenzimmer. Was als<br />

Spaß begann, entwickelt sich<br />

zu einem gefährlichen Trend.<br />

biber-Redakteurin Melisa Erkurt<br />

über pubertierende Großmäuler,<br />

radikale Tendenzen und eine neue<br />

Verbotskultur mitten in Wien.<br />

DER TEXT IST IN DER DEZEMBER-<br />

AUSGABE 2015 ERSCHIENEN.<br />

„Generation Haram“ wurde 2016 zur<br />

„Story des Jahres“ bei den Österreichischen<br />

Journalismustagen gekürt.<br />

GENERATION<br />

HARAM<br />

Diese drei Jungs haben sich nur als<br />

Models hergegeben, in echt verurteilen<br />

sie religiöse Machtausübung.<br />

Zur Autorin: Melisa Erkurt war Chefreporterin und Leiterin der Schülerredaktion bei biber und leitet jetzt Die_Chefredaktion.<br />

30 / POLITIKA /<br />

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Das ist haram!“, ruft die halbe Klasse im<br />

Chor als Antwort auf meine Frage, weshalb<br />

sich ein Junge über den V-Ausschnitt<br />

seiner Klassenkollegin aufregt. Was genau<br />

daran haram ist, möchte ich wissen. Mensur*, der<br />

14-Jährige, der seine Klassenkollegin Merve * aufgefordert<br />

hatte, ihren Ausschnitt zu bedecken, erklärt es mir<br />

ganz selbstverständlich: „Es ist ihre Sache, wie sie sich<br />

anzieht, aber wenn ich da hinschaue und ihren Busenschlitz<br />

sehe, ist das haram. Dann sündige ich wegen<br />

ihr.“ Mensurs Sitznachbar lacht: „Ja, haram, Bruder!“<br />

Natürlich wusste ich schon vor Mensurs Antwort,<br />

was die Klasse mit haram meint. Als Muslima kenne<br />

ich den Begriff. Haram ist ein arabisches Adjektiv und<br />

beschreibt all das, was laut der Scharia verboten ist.<br />

Wer etwas tut, was als haram definiert ist, der begeht<br />

eine Sünde. Das Gegenteil von haram ist halal, also<br />

„erlaubt“. Aber dass haram abseits von Glaubensschriften<br />

mittlerweile seinen Weg in die Jugendsprache<br />

gefunden hat, war mir noch vor ein paar Monaten nicht<br />

bewusst.<br />

In den letzten Wochen war ich an verschiedenen<br />

Wiener Schulen und habe mit dem biber-Schulprojekt<br />

„Newcomer“ jeweils in einer Woche versucht einer<br />

Klasse einen Einblick in die mediale Welt zu gewähren,<br />

Rollenbilder zu hinterfragen und Trends zu diskutieren.<br />

Dieses Semester habe ich mit circa <strong>12</strong>0 Jugendlichen<br />

zwischen 14 und 19 Jahren zusammengearbeitet. Die<br />

Schulen, an denen ich war - von NMS bis AHS und<br />

BHS - gelten größtenteils als „Brennpunktschulen“. Der<br />

Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund ist<br />

hoch, die meisten kommen aus bildungsfernen Elternhäusern<br />

– diesmal waren besonders viele Jugendliche<br />

aus muslimischen Familien dabei. SchülerInnen mit<br />

diesem Background sind nicht neu für mich. Seit zwei<br />

Jahren bin ich nun schon mit dem „Newcomer-Projekt“<br />

in Wiener Schulklassen unterwegs. Ich habe über<br />

engagierte LehrerInnen und talentierte SchülerInnen<br />

geschrieben. Aber auch über Frauenfeindlichkeit und<br />

über Chancenlosigkeit aus diesen Klassenzimmern<br />

berichtet. Ich dachte, mich könnte eigentlich nichts<br />

mehr verwundern, aber da habe ich die Rechnung ohne<br />

„Generation haram“ gemacht.<br />

Ich möchte von Mensur und den anderen SchülerInnen,<br />

die scheinbar so genau darüber informiert sind,<br />

was im Islam verboten ist, wissen, wofür der Islam<br />

eigentlich steht. Ich bekomme keine Antwort. Diese<br />

Situation wiederholt sich in fast jeder Klasse. Auf die<br />

Frage, wer gläubig ist, zeigen meistens alle muslimischen<br />

Schüler auf. Will ich von ihnen wissen, was den<br />

Islam ausmacht, was er vermitteln soll, herrscht Stille.<br />

Frage ich die Jugendlichen aber, was haram oder halal<br />

bedeutet, antworten sie brav.<br />

AUSWENDIG LERNEN<br />

Alles, was sie über den Islam wissen, haben sie<br />

auswendig gelernt. Kein Wunder, funktioniert so in<br />

manchen österreichischen Schulen der islamische<br />

Religionsunterricht: Suren auswendig lernen. In ein paar<br />

Fällen sogar nur auf Arabisch. SchülerInnen, die kein<br />

Arabisch sprechen, verstehen also gar nicht, was sie<br />

da nachsagen. Aber auch wenn sie die Suren in einer<br />

Sprache, die sie können, lernen, so hinterfragen sie die<br />

Bedeutung nicht immer – die SchülerInnen geben oft<br />

nur wieder, was sie gelernt haben, ohne zu reflektieren.<br />

Und weil sie im Islamunterricht oft nur Suren lernen,<br />

suchen sie die restlichen Informationen zum Islam eben<br />

wahllos aus dem Internet zusammen oder informieren<br />

sich im Freundeskreis.<br />

Nach Schulschluss setze ich mich in eine Shisha-<br />

Bar. Eine Frau alleine Wasserpfeife rauchend in einer<br />

Bar, haram würden meine Schüler sagen, die mir zuvor<br />

erklärt hatten, dass Shisha rauchen für Frauen haram<br />

ist, es schaut zu lasziv aus, wenn sie die Wasserpfeife<br />

zum Mund führen und den Rauch ausblasen. Tatsächlich<br />

sind an dem Tag nur Männer zwischen 16 und 25 in<br />

der Shisha-Bar. Alle stylisch gekleidet mit Frisuren und<br />

getrimmten Bärten, als kämen sie frisch vom Barbier.<br />

Dem Äußeren nach zu urteilen moderne Burschen. Ich<br />

frage eine Gruppe von vier jungen Männern, ob sie<br />

den Begriff haram kennen und verwenden. Sie lachen.<br />

Einer von ihnen, Mert*, zückt sein Handy und zeigt<br />

mir die letzte Konversation in einer seiner WhatsApp-<br />

Gruppen: „Haraaaam“ steht da unter einem Foto von<br />

einer Frau im Bikini. Mert nimmt einen Zug von seiner<br />

Shisha, im Hintergrund läuft das Lied „Shisha Bar“ von<br />

zwei deutsch-türkischen YouTubern. „Schau dir mal<br />

das Musikvideo von denen auf YouTube an“, sagt Mert.<br />

Unter dem Video, in dem Frauen leicht bekleidet tanzen,<br />

stehen unzählige „haram“–Kommentare in Bezug<br />

auf das freizügige Erscheinungsbild der Frauen.<br />

Mert und zwei andere aus der Gruppe sind Muslime.<br />

Ob sie gläubig sind, frage ich sie, alle drei nicken.<br />

Einer von ihnen, Halil*, fügt hinzu: „Leider bin ich<br />

nicht strenggläubig, so wie es sein sollte. Dafür ist die<br />

Verlockung hier in Österreich einfach zu groß. Aber<br />

eines Tages werde ich es sein“, sagt der 19-Jährige.<br />

Mit Verlockung meint er Alkohol, Partys und Frauen.<br />

Sein Freund Goran * lacht. Der gebürtige Kroate ist fast<br />

nur mit Muslimen befreundet. Er beobachtet in den<br />

letzten Jahren einen Anstieg der Religiosität innerhalb<br />

seines Freundeskreises: „Ein paar meiner Freunde,<br />

für die Religion nie ein Thema war, sagen auf einmal,<br />

sie widmen ihr Leben jetzt Allah.“ Ich möchte von ihm<br />

wissen, ob er eine Vermutung hat, woher der plötzliche<br />

Wandel kommt. „Auf jeden Fall durch das Internet.<br />

Vines, Memes, YouTube-Videos – Islam ist überall ein<br />

Thema. Früher haben viele meiner Freunde nicht einmal<br />

erwähnt, dass sie Muslime sind, heute leben sie ihren<br />

Glauben offen, weil es durch das Internet und Deutsch-<br />

Rap cool geworden ist, Moslem zu sein.“<br />

DEUTSCHRAP & SOCIAL MEDIA<br />

Halil stimmt ihm zu. Er und seine Freunde hören am<br />

Susanne Einzenberger<br />

youtube.com<br />

liebsten Deutschrap von Kollegah, Bushido und Alpa-<br />

Gun. Bushido und Alpa-Gun sind von ihrer Herkunft her<br />

Muslime, Kollegah ist mit 15 zum Islam konvertiert. In<br />

seinen Songtexten und Interviews spricht er über den<br />

Islam – offen, verständlich und lässig – das kommt bei<br />

den Jugendlichen an. Der 32-jährige Kollegah rappt<br />

aber auch über „Fotzen“ und „ficken“ und die Jugendlichen<br />

feiern ihn, weil er Moslem ist. Dass seine Songtexte<br />

gar nicht zu einer religiösen Haltung passen, spielt<br />

keine Rolle.<br />

„Kollegah ist harmlos. Aber es gibt radikale Prediger<br />

wie Pierre Vogel, von dem lassen sich Jugendliche<br />

beeinflussen. Wenn die mit <strong>12</strong> Jahren schon Zugang<br />

zum Internet haben, ist das ein Problem. In dem Alter<br />

wissen die nicht, was richtig oder falsch ist“, erklärt mir<br />

Halil. Ob Kollegahs Songtexte harmlos sind, darüber<br />

lässt sich streiten – dass der deutsche salafistische<br />

Hassprediger Pierre Vogel, der unter anderem von Muslimen<br />

verlangt für den Islam zu sterben, gefährlich ist,<br />

steht jedoch fest. Auf YouTube, eine der beliebtesten<br />

Sozialen Plattformen der Jugendlichen, kann sich jeder<br />

seine Predigten anhören – vom 14-jährigen Teenie, der<br />

in einer Identitätskrise steckt, bis hin zum 16-jährigen<br />

Schulabbrecher ohne Perspektive.<br />

RADIKALISIERUNG<br />

Soziale Netzwerke wie YouTube sind zur wichtigsten<br />

Informationsquelle für Jugendliche geworden. Dass<br />

Internet-Sittenwächter wissen immer, was haram ist.<br />

32 / POLITIKA /


Sie rappen über „Fotzen“ und „ficken“ und werden von den Jugendlichen als Muslime gefeiert.<br />

man in dem Alter besonders schwer zwischen normal<br />

islamischen und radikal islamistischen Inhalten differenzieren<br />

kann, könnte beim Thema Religion gefährlich<br />

werden.<br />

Wie gefährlich zeigt eine im Oktober veröffentliche<br />

Studie der Stadt Wien, die die Bereitschaft zur<br />

islamistischen Radikalisierung von Jugendlichen in<br />

Wiener Jugendzentren untersucht hat – mit erschreckenden<br />

Ergebnissen. Konkret sollen 27 Prozent der<br />

muslimischen Jugendlichen zwischen 14 und 17<br />

Jahren, die von Jugendarbeitern betreut werden,<br />

gefährdet sein, sich zu radikalisieren, so die Studienautoren<br />

Kenan Güngör und Caroline Nik Nafs. 57 von<br />

214 befragten muslimischen Jugendlichen vertreten<br />

unter anderem Meinungen wie: „Religiöse Gesetze<br />

sind wichtiger als die österreichischen Gesetze ...<br />

Die islamische Welt soll sich mit Gewalt gegen den<br />

Westen verteidigen … Es soll im Namen der Religion<br />

getötet werden dürfen“.<br />

Wieso gerade Jugendliche anfällig für Radikalisierung<br />

sind, liegt auf der Hand: Identitätskrise während<br />

der Pubertät, Rebellion, aber auch ein verstärktes<br />

Dazugehören-Wollen prägen die Teenager-Zeit.<br />

Dazugehören wollte auch Florian * , ein Freund von<br />

Halil, der mit 18 zum Islam konvertiert ist, weil alle<br />

seine Freunde Muslime sind. Dass er nach wie vor<br />

Alkohol trinkt und den anderen „Versuchungen“, wie<br />

Halil sie nennt, nicht widerstehen kann, ist nicht weiter<br />

schlimm für die Freunde, Hauptsache er ist jetzt<br />

auch einer von ihnen. „Inshallah, werden wir eines<br />

Tages nach dem Koran leben“, sagt Mert tröstend<br />

und nimmt einen Schluck von seinem Bier. Nachher<br />

ist er mit seinen Freunden im Wettbüro verabredet.<br />

„HARAMSTUFE ROT“<br />

Zurück in der Schule schauen sich die Jugendlichen<br />

Durch das<br />

Internet<br />

und<br />

Deutsch-<br />

Rap ist<br />

es cool<br />

geworden,<br />

Moslem zu<br />

sein.<br />

in der Pause einen Sketch auf Facebook an, in dem<br />

ein junger Mann eine junge Frau in den Kofferraum<br />

sperrt, weil sie fälschlicherweise behauptet hatte,<br />

Jungfrau zu sein. Die Burschen lachen über das<br />

Video, die obligatorischen „Oha – haram!“ Rufe<br />

gehen durch die Reihen, als rauskommt, dass die junge<br />

Frau aus dem Video keine Jungfrau mehr ist. Die<br />

Mädchen lächeln verlegen. Ich frage die Mädchen,<br />

die sich bisher wenig zu dem Thema haram geäußert<br />

haben, ob und in welchem Zusammenhang sie<br />

den Begriff verwenden. „Wenn meine Freundin einen<br />

kurzen Rock oder bauchfrei trägt, sage ich im Spaß<br />

haram zu ihr“, erzählt die 16-jährige Dilan * .<br />

Sie und ihre Freundinnen haben einige haram-<br />

Wortspiele auf Lager: „Machst du kein haram, ist<br />

alles tamam (in Ordnung)“ oder „haramstufe rot“ sind<br />

Sätze, die unter den Freundinnen häufig fallen – aber<br />

nur im Spaß, versichern sie mir. Ob sie das Gefühl<br />

haben, dass ihre männlichen Klassenkollegen die<br />

haram-Äußerungen auch nur lustig meinen? „Nein!<br />

Sie wissen immer, was für uns Mädchen haram ist:<br />

Shisha rauchen, Ausschnitt zeigen - neulich hat einer<br />

in Biologie haram gerufen, als unsere Lehrerin über<br />

die Menstruation gesprochen hat“, sagt Dilan.<br />

Ich frage eine Lehrerin, wie sich solche vermeintlichen<br />

Tabus auf den Schulalltag auswirken.<br />

Sie erzählt mir, dass in den letzten Jahren die Zahl<br />

der Nichtschwimmerinnen unter ihren Schülerinnen<br />

enorm gestiegen ist. Sie kann mit den Klassen keinen<br />

Ausflug ins Schwimmbad machen, weil die Mädchen<br />

nicht schwimmen können oder nicht dürfen – sich im<br />

Bikini vor Männern zu zeigen ist nämlich haram.<br />

Mädchen wie Merve, die aus einem modernen<br />

muslimischen Elternhaus stammen und von ihren<br />

Eltern aus auf jeden Fall mit ins Schwimmbad gehen<br />

dürften, trauen sich trotzdem nicht: „Die Jungs würden<br />

schlecht über mich reden und bestimmt Fotos<br />

von mir im Bikini rumschicken“, sagt die 15-Jährige.<br />

Auf der letzten Schullandwoche hat ein Klassenkollege<br />

Merves Kleidungsstil kommentiert. „Er hat gesagt,<br />

es wäre haram sich als Muslima so zu kleiden. Dabei<br />

hatte ich nur Jeans und ein etwas engeres T-Shirt<br />

an.“<br />

EIN MÄNNLICHES PROBLEM<br />

Meine Gespräche mit den Jugendlichen zeigen<br />

mir, dass es mehrheitlich die Burschen sind, die im<br />

Namen der Religion Verbote für andere erstellen und<br />

so das Leben ihres (weiblichen) Umfelds einschränken.<br />

Auch die Studie der Stadt Wien macht deutlich:<br />

Radikalisierung ist männlich. Doch diese männlichen<br />

Jugendlichen, vor denen sich zur Zeit alle fürchten,<br />

haben in Wirklichkeit keine Ahnung von dem, was<br />

sie sagen. Sie tun ja nicht einmal selber das, was sie<br />

predigen. Sie widersprechen sich in allem, was sie<br />

sagen – denn sie sagen es nur, um cool zu sein.<br />

Ich habe das Gefühl, dass sie in Wirklichkeit die<br />

Mädchen beneiden, die die besseren Noten haben,<br />

die blühenderen Zukunftsaussichten, die keinen auf<br />

„harten Kerl“ machen müssen. Die Mädchen, die<br />

sich so gut integrieren konnten und an ihnen vorbeiziehen.<br />

Wenn ich die SchülerInnen frage, was sie<br />

mal werden wollen, antworten die Mädchen „Ärztin“<br />

oder „Anwältin“, die Buben grinsend mit „AMS“ oder<br />

„Bombenleger“ – sie wissen, dass sie nicht mithalten<br />

können und kontern mit Provokation, veralteten Rollenbildern<br />

und gefährlichen Verhaltensvorschriften.<br />

ISLAM IST MACHT<br />

Sie, die Burschen, die Fünfer schreiben, durchfliegen,<br />

schief angeschaut werden, wollen sich zumindest<br />

in einem Punkt mächtig fühlen. Sie haben erkannt,<br />

dass die Leute Angst vor dem Islam haben. Sie<br />

stellen ihren Handyklingelton in „Allahu Akbar“ („Gott<br />

ist groß“) Rufe um und genießen die verängstigten<br />

Blicke der anderen in der U-Bahn, wenn ihr Handy<br />

klingelt. Sie posen auf jedem ihrer Profilfotos mit<br />

dem angehobenen Isis-Zeigefinger. Sie teilen die<br />

Anti-Islam-Posts der FPÖ und lesen stolz die Hass-<br />

Kommentare von Strache-Fans.<br />

Sie wissen, da draußen gibt es hunderttausende<br />

Erwachsene, die sie am liebsten abschieben würden,<br />

weil sie Angst vor ihnen - ein paar Teenagern<br />

– haben. Der Islam steht für sie für die Macht über die<br />

Ängste der anderen und sie wollen mächtig sein in<br />

einer Gesellschaft, in der sie sowieso schon als Verlierer<br />

gelten, die sie abgeschrieben hat, die ihnen eh<br />

nichts mehr zutraut, außer den Weg in den Dschihad.<br />

PROBLEM ANSPRECHEN<br />

So wie die Studie der Stadt Wien gibt auch dieser<br />

Bericht nur einen Überblick über einen kleinen Teil<br />

der muslimischen Jugendlichen in Wien. Aber er<br />

„Was wollt<br />

ihr mal<br />

werden?“<br />

„AMS oder<br />

Bombenleger“<br />

zeigt einen Trend auf, der sich schnell verstärken<br />

könnte, wenn nicht bald etwas geschieht. Wenn nicht<br />

deutlich mehr Geld für Sozialarbeiter in Schulen und<br />

Jugendprojekte gesteckt wird, aber auch, wenn es<br />

von Seiten der muslimischen Vertreter kein echtes<br />

Eingeständnis dafür gibt, dass es dieses Problem<br />

gibt und der Islam damit auch mitten in Österreich<br />

die Unterdrückung von Frauen und Verachtung von<br />

Andersdenkenden legitimiert.<br />

Ja richtig, es ist nur ein kleiner Teil der Jugendlichen,<br />

die so drauf sind. Aber diese Gruppe von<br />

pseudo-religiösen Jung-Machos wird größer, einflussreicher<br />

und damit gefährlicher. Und ja richtig, natürlich<br />

ist die Mehrheit der muslimischen Jugendlichen<br />

nicht so drauf. Aber es gibt solche Jugendliche und<br />

dieses wachsende Problem müssen wir als biber-<br />

JournalistInnen ansprechen, ansonsten missbrauchen<br />

rechte Parteien diesen Zustand für ihre politischen<br />

Zwecke, obwohl ja gerade sie mit ihrer anti-muslimischen<br />

Hetze solche Teenager noch mehr antreiben.<br />

Ob die Jugendlichen, die ich kennengelernt habe,<br />

Dschihadisten werden, bezweifle ich stark. Aber<br />

das ist ja auch kein Maßstab. So wie sie jetzt sind,<br />

müssen sie sich schon ändern. Und zwar schnell und<br />

deutlich. Denn pubertäre Großmäuler, die keinen<br />

Respekt vor Frauen und der österreichischen Gesellschaft<br />

haben, werden Erwachsene ohne Perspektive,<br />

die ihre Kinder genauso erziehen könnten. Und<br />

während der eine Teil der Gesellschaft diese Jugendlichen<br />

fürchtet, sie am liebsten abschieben würde,<br />

leugnet der andere Teil das Gefahrenpotential und die<br />

Jugendlichen bleiben wieder sich selbst überlassen<br />

und kreieren sich ihre eigene Welt – voll von Widersprüchen,<br />

Einschränkungen und ganz viel haram. ●<br />

*Namen von der Redaktion geändert<br />

WAS SAGT DIE AUTORIN HEUTE?<br />

Als ich 2016 die Reportage „Generation<br />

Haram“ veröffentlichte, traf ich einen Nerv.<br />

Journalist*innen, Politiker*innen, Lehrer*innen,<br />

Jugendliche – noch nie bekam ich so viele Reaktionen.<br />

Sieben Jahre später ist der Text leider noch<br />

immer aktuell. Es hat sich nicht viel geändert. Noch<br />

immer bleiben junge, muslimische Männer auf der<br />

Strecke, was sich im schlimmsten Fall in Sexismus<br />

oder Antisemitismus äußert. Meistens aber sind sie<br />

selber die Leidtragenden. Noch immer braucht es<br />

mehr positive Identifikationsfiguren, mehr Zugang<br />

zu ihren Emotionen, mehr Bewusstsein dafür, dass<br />

sie auch einen anderen Platz haben, als den, denen<br />

manche Teile unserer Gesellschaft für sie vorgesehen<br />

haben.<br />

MELISA ERKURT, Journalistin und Autorin<br />

34 / POLITIKA /<br />

/ POLITIKA / 35


Die erste Liebe vergisst man nicht. Die erste<br />

Redaktionssitzung mit scharf auch nicht. Es war<br />

biber auf den ersten Blick. Ein zusammengewürfelter<br />

Haufen Kids of Dijaspora, die auf der<br />

Suche nach dem (beruflichen) Sinn des Lebens waren, im<br />

Inserat nicht genau gelesen haben, dass das nicht bezahlt<br />

wird, oder einfach eine neue Flirtzone abchecken wollten.<br />

Wir saßen zu fünfzehnt, in einem unbeheizten Keller(?)<br />

raum und versuchten, das erste deutschsprachige Diversitymagazin<br />

zu machen. Pioniervibes lagen in der Luft. Und wir<br />

hatten ziemliche Narrenfreiheit.<br />

<strong>BIBER</strong> PIONIRI<br />

Wir durften Vieles ausprobieren, fast alles war erlaubt. Manches<br />

davon peinlich, einiges scharf an der Grenze des guten<br />

Geschmacks und würden wir heute wohl so nicht mehr<br />

schreiben.<br />

Es war ein Open Space der Identitätsfindung junger<br />

Menschen, die zum ersten Mal "irgendwas mit Medien"<br />

machten und sich handwerklich ausprobierten. Und da saßen<br />

sie dann, die erste Redaktion des biber im Gassenlokal eines<br />

Bobo-Bezirks, in dem fast niemand von ihnen nicht ansässig<br />

war.<br />

Manche mit Kriegserfahrung, manche geflüchtet oder<br />

hier geboren. Erste, zweite, dritte Generation. Alle mit einem<br />

Rucksack Identität, Verlust, kulturellem Dilemma, Stolz, Wut,<br />

Neugier, Humor und dieser unglaublichen Überzeugung, hier<br />

passiert grad etwas Einzigartiges und wir sind dabei. Ja, es<br />

war einzigartig.<br />

PIZZA GABS ALS DANKESCHÖN<br />

Manchmal verhedderten wir uns in den Redaktionssitzungen<br />

in ethnische Konflikte, trugen die Konflikte der alten Heimat<br />

in Wien Neubau aus, waren beleidigt, haben geflucht.<br />

Und weil wir trotzdem alle am Ende des Tages Wiener<br />

Tschuxln waren, machten wir in der Redaktion den Griller<br />

an und drehten ein paar Čevapi, während die letzten Texte<br />

fertiggetippt wurden für die nächste Ausgabe. Die wir dann<br />

gemeinsam verpackt und mit Postpickerl beklebt haben.<br />

Zigtausende. Bis in die Nacht hinein. Gratis. Nein. Pizza gabs<br />

als Dankeschön. Naja. Aber der Pioniergeist war zu sehr<br />

angefixt und wir Jugos und Türken zu tief im Muster unserer<br />

Gastarbeiter-Eltern, für den Arbeitgeber Leib und (Privat)<br />

Leben zu geben.<br />

Genau diese toxische Kombination aus naivem jugendlichen<br />

Idealismus und Überzeugung, bei etwas echt Geilem<br />

dabei zu sein, und tiefsitzender, generationsübergreifender<br />

Dankbarkeitspflicht trieb so viele Leute an, ihre Spuren im<br />

biber-Magazin zu hinterlassen.<br />

ICH WAR JUNG UND BRAUCHTE DAS<br />

GELD<br />

Mich trieb es jedenfalls über Nacht von Belgrad in den Bus<br />

zurück nach Wien. Es waren Sommerferien. Runterfahren<br />

natürlich. Der Plan war, die nächsten zwei Monate mit einem<br />

gehobenen Maß an Ernsthaftigkeit ins Belgrader Nachtleben<br />

einzutauchen und vor dem 30. August nicht nüchtern und<br />

ohne Wimperntusche wieder aufzutauchen. Der Anruf des<br />

Chefredakteurs aus Wien warf diese life goals in die Donau,<br />

die auch durch Serbien fließt: „Das Shooting für die erste<br />

Ausgabe findet in drei Tagen statt. Du kannst eh kommen<br />

gell?" Jaja, klar, genau das war immer mein Plan gewesen.<br />

Tja, long story short – die Busreise dauerte 15 Stunden.<br />

50 km vor der ungarischen Grenze kam mein Vater mich in<br />

Hegyeshalom abholen, weil die Buskolonne einfach nicht<br />

kürzer wurde und der Rauch in meinem "Zoran Reisen"-Bus<br />

(jap, damals durfte mal noch im Busmikrokosmos rauchen)<br />

irgendwann arg an die Lungen gingen, nicht so arg wie der<br />

Turbofolk, der aus den Boxen dröhnte. Aber hey, ein Shooting<br />

in einem echten Fotostudio, von einem echten Fotografen<br />

und das nicht für die Seite drei. Ich bin jung und ...bekam<br />

dafür eh kein Geld. Aber meine Jugofamily reichte die Ausgabe<br />

bis ins vlahische Dorf in Ostserbien weiter.<br />

DAMIT DIE ELTERN STOLZ SIND<br />

Es war der Stolz der Eltern, die Früchte ihrer Schufterei in<br />

diesem Land, die Kompensation für die Wertschätzung, die<br />

sie nie bekamen, das respekterweisende Nicken der Verwandtschaft<br />

- "Ehhh, dein Junge ist jetzt Žurnalist, ahh?".<br />

Solche Motive trieben viele Redakteur:innen an, mitzubibern.<br />

All die Ivanas, Amars, Esers, Delnas, Monikas, Dinos,<br />

Aleksandras, Bülents, Alis, Dakis, Ljubos, Damirs, Zwetelinas,<br />

Cems, Todors, Güness, Bojans, Antonios, Radas, Darkos,<br />

Semras und viele, viele mehr. Zu schreiben, Anzeigen zu<br />

verkaufen, die Bürosessel selber zusammenzuschrauben,<br />

bei Bedarf das Klopapier beizusteuern oder selber zu modeln<br />

für die Fotostrecken und Cover, weil das Budget knapp war,<br />

knapp blieb, oder einfach fehlte. Dann haben wir einfach<br />

das gemacht, was sonst mit uns gemacht wurde: Wir haben<br />

unsere Familien emotional erpresst („Du kommst aufs Cover,<br />

ich schwöre!“) und sie unbezahlt vor die Fotolinse, in – Hand<br />

aufs Herz – unmögliche, teilweise genreübergreifende Outfits<br />

und Setups gesetzt.<br />

OHNE SCHARF<br />

Am Ende ist die Rechnung für das biber doch nicht aufgegangen.<br />

So schnell wieder vorbei. Wie ein heftiger Sommerflirt.<br />

Die Erinnerung an eine heftige Ferienliebe. Ein<br />

bittersüßes Techtelmechtel, das einen über Jahre nicht<br />

losließ und prägte.<br />

Was ist das Vermächtnis von biber? So eine Ferienliebe<br />

hinterlässt eine Kerbe im Herzen. Diese hier vermachte<br />

mir eine Handvoll Menschen, die ich heute Freunde nenne.<br />

Mit denen ich Frühstücksdates verabrede, Urlaube plane,<br />

Kinderfotos tausche und wenn es die Zeit und die körperliche<br />

Verfassung zulassen, hin und wieder mit einem gewissen<br />

Maß an Ernsthaftigkeit in den Partyvibe vom Sommer 2006<br />

abtauche. Und dafür, liebes biber-Magazin, bekommst du<br />

von mir ein aufrichtiges Hvala, danke & Živeli! Mach’s gut. ●


„Wir sind hier nicht<br />

DER TEXT IST IN DER SOMMER-<br />

AUSGABE 2014 ERSCHIENEN.<br />

sie an und meinte ganz gelassen:“Diese junge Dame hat<br />

Eintritt gezahlt, keinem was getan UND ich sehe ihre Badekleidung<br />

nicht als unpassend. Sie dagegen haben für Aufruhr<br />

gesorgt, unsere Schwimmgäste belästigt und jemanden<br />

beleidigt. Ich bitte nun Sie zu gehen.“<br />

in der Türkei!“<br />

Julie Brass<br />

Was passiert, wenn Redakteurin<br />

Menerva Hammad in ihrem neuen<br />

Burkini im Kongressbad schwimmen<br />

geht? Alle glotzen, ein Badegast will<br />

sie in die Türkei schicken, doch der<br />

Bademeister eilt zu Hilfe.<br />

Diese Frau muss hier raus! Ich kann das nicht<br />

länger ansehen! Wie können Sie zulassen, dass<br />

hier jemand in einem Burkini schwimmt?!“ Mit<br />

dieser Aussage, einem Zeigefinger in meine<br />

Richtung ausgestreckt und einer wütenden Miene kam eine<br />

mir unbekannte Frau im Freibad auf mich zu. Sie hatte zwei<br />

Bademeister an ihrer Seite und mit der Beschwerde gerufen,<br />

eine Dame – in dem Fall war das ich – sei vollständig bekleidet<br />

im Wasser.<br />

POSTLEITZAHL AUF POBACKE<br />

Alle Leute im Wasser schauten mich fragend an, die Bademeister<br />

waren verwirrt und ich ging aus dem Wasser. Die<br />

Dame konnte nicht aufhören mit ihrem drohenden Zeigefinger<br />

vor meiner Nase zu fuchteln und schimpfte mit mir:“Ich<br />

habe Sie gesehen, Sie kamen mit diesem Gewand schon<br />

hier herein! Das ist unhygienisch!“ Ich versuchte mich zu<br />

verteidigen:“Schauen Sie, das ist ein Burkini, und der Stoff<br />

aus dem der gemacht wurde, ist wie der von einem stinknormalen<br />

Badeanzug, es ist nur mehr Stoff dran.“ Sie sah mich<br />

unglaubwürdig an und fasste meinen Burkini ohne mich zu<br />

fragen an. Als sie bemerkte, dass ich Recht hatte, kam die<br />

nonplusultra Aussage von ihrer Seite :“ Trotzdem, wir sind<br />

hier nicht in der Türkei! Sie müssen SOFORT gehen!“<br />

Das regte mich so sehr auf, zumal meine Eltern aus<br />

Ägypten sind, dass mir nur diese Antwort einfiel: “Ich verstehe,<br />

ich muss mich also ausziehen, um Österreicherin zu sein?<br />

Schön! Was wollen Sie denn von mir sehen? Meine Brüste,<br />

davon könnte ich Ihnen zwei anbieten, eine Pobacke, davon<br />

hätt ich eine ganze Postleitzahl, so groß ist mein Hintern!<br />

Oder vielleicht lieber ein bisserl Wampe? Ich habe viel Wampe,<br />

man sieht das nur nicht. Ich kann Ihnen aber leider nichts<br />

zeigen, was Sie nicht ohnehin schon kennen und wenn Sie<br />

sich hier umsehen, dann werden Sie viel Brust und vor allem<br />

Wampe sehen, ist es denn so schlimm, wenn das dann eine<br />

Person nicht von sich zeigt?“ Sie ignorierte meine zu direkte<br />

Antwort, lief rot an und drehte sich zum Bademeister:“Ich<br />

möchte, dass diese junge Dame geht!“ Der Bademeister sah<br />

MEIN HELD, DER BADEMEISTER<br />

Die Frau und ich waren sehr verwundert, sie, dass sie gehen<br />

musste und ich, dass ich bleiben durfte. Ich bedankte mich<br />

sehr bei ihm und sah sie nicht einmal mehr an. Als ich später<br />

in der Umkleidekabine das Geschehen gedanklich vor Augen<br />

hatte, musste ich kurz überlegen. Im Prinzip ist es egal was<br />

ich tue, was meine Eltern durchgemacht haben, um in dieses<br />

Land zu kommen, wie viele Jobs mein Vater hatte, damit er<br />

sich meine Ausbildung leisten konnte, was ich studiert habe,<br />

was ich arbeite, wie sehr ich mich anstrenge, oder was ich<br />

für dieses Land tue, ich bleibe immer die Ausländerin. Und<br />

wenn mich mein äußeres Erscheinungsbild nicht verrät, dann<br />

tut das mein Name. Ich frage mich, ob es jemals besser sein<br />

wird, denn einfach ist es nicht, nein, einfach ist es nicht.<br />

Aber solange es Menschen wie meinen Bademeister gibt,<br />

die sich für den Menschen im Menschen einsetzen, sich von<br />

keinerlei Äußerlichkeiten täuschen lassen und keine Angst<br />

haben gegen den Strom zu schwimmen, stirbt meine Hoffnung<br />

nicht. Als ich mich auf den Heimweg machte, bat ich<br />

ihn noch um ein Selfie mit mir, denn auch wenn ich nicht auf<br />

den Mund gefallen bin und immer meine Frau stehe, so war<br />

ich heute ein hilfloses Mädchen und habe durch ihn gelernt,<br />

dass Helden nicht immer maskiert sind. ●<br />

WAS SAGT DIE AUTORIN HEUTE?<br />

„SIND SIE DIE <strong>BIBER</strong>-BURKINIFRAU?“<br />

Diese Geschichte bedeutet mir nicht nur viel, weil sie<br />

meine erste und einzige Cover-Story für Biber ist, sondern<br />

weil ich durch sie herausgefunden habe, welche<br />

Emotion meine innere Schreibfeder bewegt: Wut.<br />

Ich habe damals im Freiband mit einer Rassistin<br />

(nennen wir das Kind einfach beim Namen, oder?) zu<br />

tun gehabt, der mein Burkini nicht gefallen hat, der<br />

Bademeister hat mich in Schutz genommen, die Situation<br />

ist eskaliert und mir ging es danach richtig beschissen.<br />

Fragen wie „Warum sind Menschen in diesem Land<br />

so einseitig im Kopf?“ beschäftigten mich danach sehr<br />

und ich habe einfach den Frust in die Tasten gehauen.<br />

Stunden später zeigte die Story Online über 100.000<br />

Klicks, Tage später wurde ich von TV- und Radiosendern<br />

kontaktiert, erste Jobangebote trudelten ein, und so<br />

kam ich eigentlich zum nächsten Praktikum bei einem<br />

großen TV-Sender.<br />

Ich werde heute – 9,5 Jahre später – immer noch<br />

auf der Straße von Menschen erkannt, die auf mich zeigen<br />

und mich fragen : „Sind Sie die biber-Burkinifrau?“<br />

MENERVA HAMMAD, Autorin und Sexualpädagogin<br />

38 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 39


DER SYRER,<br />

DER NACH<br />

ÖSTERREICH<br />

KAM UND<br />

TRAMFAHRER<br />

WURDE<br />

Bilal Albeirouti flüchtete als Journalist nach Österreich.<br />

Nun ist er Straßenbahnfahrer in Wien. Eine<br />

Geschichte über das Scheitern, die Hartnäckigkeit,<br />

den Erfolg – und die verschlungenen Wege<br />

der Integration.<br />

"Foa", sagt der Fahrlehrer. „Vor? Wohin vor?“, denkt sich<br />

der 39-jährige Fahrschüler Bilal Albeirouti. "Foa!",wiederholt<br />

der Fahrlehrer sein Kommando. "Vor?" Bilal versteht noch<br />

immer nur Bahnhof und erstarrt am Fahrersitz. "Fahren!",wird<br />

der Fahrlehrer langsam unrund. Jetzt versteht der Syrer und<br />

drückt den schwarzen Hebel mit der linken Hand nach vorn.<br />

Die Tramway setzt sich in Bewegung.<br />

Das war vor zwei Monaten. Seit zwei Wochen lenkt Bilal<br />

die Straßenbahnen der Wiener Linien allein durch die Stadt<br />

– mit bis zu 200 Fahrgästen im Rücken. Mit dem 2er oder<br />

D-Wagen umkreist er das Zentrum Wiens, den 38er oder<br />

43er führt er vom Schottentor weit hinauf in die Weinberge<br />

und wieder zurück. Insgesamt zehn Linien umfasst das Streckennetz,<br />

das er von seinem Bahnhof Hernals aus betreut.<br />

Der Syrer ist einer der ersten neuen Flüchtlinge in diesem<br />

Job.<br />

Als er Anfang 2016 am Hauptbahnhof in Wien ankommt,<br />

springen ihm diese "Maschinen" sofort ins Auge. Straßenbahnen<br />

kennt er aus den Erzählungen seiner Mutter und<br />

von Bildern des historischen Damaskus. In der syrischen<br />

Hauptstadt wurden die Tramways 1967 eingestellt und durch<br />

Busse abgelöst. Dass er eine dieser Maschinen eines Tages<br />

selbst lenken würde, kommt Bilal damals nicht in den Sinn. Er<br />

hat ganz andere Pläne.<br />

Bilal Albeirouti arbeitet als Sport- und Chronikjournalist,<br />

bis er vor dem Syrienkrieg in den Libanon und dann weiter<br />

nach Österreich flüchtet. In Damaskus hat er einen Bachelor<br />

in Kommunikation abgeschlossen. Das Studium wird in<br />

Österreich anerkannt. Hier versucht er, im alten Beruf Fuß<br />

zu fassen. Er scheitert. Und steckt sich neue Ziele. Seine<br />

Geschichte zeigt, was gelingende Integration auch bedeutet:<br />

sich nicht an Träume vom leichten Leben im Westen zu<br />

klammern, an Bilder, die nicht selten die Schlepper zeichnen.<br />

Sondern: sich realistische Ziele zu setzen und diese hartnäckig<br />

zu verfolgen.<br />

Bilal lerne ich 2017 in der "biber"-Akademie kennen. Das<br />

Migrantenmagazin hat eine eigene Klasse für Flüchtlinge<br />

eingerichtet, ich leite einen Kurs. Bilal fällt mir auf, weil er zu<br />

allem etwas zu sagen hat und auch nicht vor heiklen Themen<br />

zurückschreckt. Nach der Akademie wird er freier Mitarbeiter<br />

bei "biber". Er schreibt über ältere Österreicherinnen ("Sugar<br />

Mamas"), die sich junge Flüchtlinge als Liebhaber nehmen<br />

und sie gegen Sex finanziell aushalten; über kleine Kinder,<br />

die Kopftuch tragen; Syrer, die "Millionen" in ihre alte Heimat<br />

transferieren; Flüchtlinge, die ihre Selfies mit Sebastian Kurz<br />

löschen, weil sie mittlerweile Angst vor dem harten Kanzler<br />

haben. Wichtige Geschichten, die von anderen Medien<br />

aufgegriffen werden – und Bilal doch nicht zum Durchbruch<br />

als Journalist verhelfen. Denn er schreibt die Storys nicht<br />

allein. Sein Deutsch ist nicht gut genug dafür. Und er muss<br />

schmerzhaft erfahren, dass Journalismus im neuen Land keine<br />

sichere Bank ist, sondern eine Branche, in der es selbst<br />

für Österreicher immer schwerer wird. Bilal will einen stabilen<br />

Job, um seine Familie zu ernähren.<br />

Ich erinnere mich, wie er vor vier Jahren mit seiner Frau,<br />

seinem achtjährigen Sohn Mohamed und seiner eineinhalbjährigen<br />

Tochter Mira am Wiener Brunnenmarkt auftaucht.<br />

Wir arbeiten mit der biber-Akademie an einer Story über den<br />

türkisch geprägten Markt, auf dem sich syrische Händler<br />

immer stärker ausbreiten. Bilal zeigt uns stolz seine Tochter.<br />

Die Familie ist am Vortag aus dem Libanon angekommen. Er<br />

hat das Land verlassen, als seine Frau schwanger war. Erst<br />

am Wiener Flughafen konnte er Tochter Mira zum ersten Mal<br />

im Arm wiegen. Noch drei Monate lang nennt die Kleine ihn<br />

"Onkel".<br />

Bilal arbeitet als Rezeptionist in einem Hotel, lernt aus<br />

den Gesprächen mit älteren Gästen. Doch der Kampf mit der<br />

Sprache geht weiter. Er wechselt in die Security-Branche.<br />

Steht den ganzen Tag "wie eine Säule" vor Banken. Stumm.<br />

Sein Deutsch schwindet wieder. Im Herbst 2020 wird er<br />

gekündigt. Einfach so. Zuvor schon hat er einen Lehrgang<br />

zum Einzelhandelskaufmann absolviert und Hunderte Bewerbungen<br />

verschickt. Kaum Rückmeldungen. Wenn doch:<br />

Lager. Bei den Wiener Linien klappt es erst im dritten Anlauf.<br />

Die letzte Hürde sind elf Kilo, die er zu viel auf die Waage<br />

bringt. Er speckt innerhalb von drei Monaten ab und startet<br />

im Jänner 2021 mit elf weiteren Personen. Drei Monate dauert<br />

die bezahlte Ausbildung in Theorie und Praxis. Verdienst:<br />

1800 Euro brutto.<br />

40 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 41


"Weiche. Schiene. Disponent. Am Anfang habe ich kein<br />

Wort verstanden", erinnert sich Bilal. Drei Mal ist er kurz<br />

davor, aufzugeben. Seine Frau macht ihm Mut. Seine Ausbildner<br />

schenken ihm nichts. Der Job ist mit großer Verantwortung<br />

verbunden. Nur wer bei seiner ersten Solofahrt so<br />

sicher ist, dass er seine gesamte Familie mitnehmen würde,<br />

kommt durch den Kurs, lautet das Credo des Ausbildners.<br />

Bilal bezahlt einen ägyptischen Bekannten, der ihm die<br />

Skripten in einfache Worte übersetzt. Er lernt sie auswendig,<br />

auch am Wochenende. Bei der Prüfung beantwortet er alle<br />

<strong>23</strong> Fragen korrekt. Er besteht als einer von vier Kursteilnehmern.<br />

Andere Migranten, die hier geboren sind und länger<br />

Zeit hatten, Deutsch zu lernen, fallen durch. Bilal hat diesen<br />

Extraantrieb, der von seinen Vorgesetzten registriert und<br />

honoriert wird. Auf seiner Jungfernfahrt besteht Wiens neuer<br />

Bimfahrer aus Syrien darauf, dass seine gesamte Familie mit<br />

an Bord ist.<br />

Der Alltag eines Journalisten kann auf vielerlei Pfade<br />

führen, beim Straßenbahnfahren ist der Weg durch Schienen<br />

klar vorgegeben. Im Journalismus gibt es für gute Geschichten<br />

Likes im Internet und Schulterklopfer in der Redaktion.<br />

Beim Straßenbahnfahren ist es Pflicht, nicht Kür, die Intervalle<br />

einzuhalten, Kollegen rechtzeitig abzulösen, zwischen vier<br />

und fünf Uhr aufzustehen und Dienst am Wochenende zu<br />

schieben (freie Wochenenden sind ein Privileg von Dienstälteren).<br />

Wie geht es meinem Kollegen Bilal mit diesem beruflichen<br />

Spurwechsel? Zunächst einmal ist er stolz. Auf die<br />

Tätigkeit, auf die Uniform. „Die Österreicher haben mich<br />

dorthin geführt, wo ich jetzt bin. Jetzt führe ich sie durch die<br />

Stadt. In die Arbeit, zu Freunden, durchs Wochenende." In<br />

der Fahrerkabine fühlt er sich als Herr der Straße, begegnet<br />

anderen Kollegen auf Augenhöhe. Selbst Polizisten grüßen<br />

ihn mit seiner Uniform wertschätzend. Wie sich das anfühlt,<br />

könne nur jemand nachvollziehen, der aus einem Land wie<br />

Syrien kommt, wo man Polizisten mit Angst begegnet, sagt<br />

Bilal.<br />

Als Journalist konnte mein Ex-Kollege sicher freier und<br />

kreativer arbeiten. Doch ohne Anstellung war er existenziell<br />

unfrei. Nun bekommt er 2100 Euro brutto, 14 Mal im Jahr,<br />

mit Zulagen für Nachtdienste und Wochenenden. Die Freiheit<br />

eines Bimfahrers ist anders gelagert. „Ich hole mir in der<br />

Früh am Bahnhof den Wagenpass und Fahrplan ab, dann<br />

nehme ich mir einen Zug. Nach der letzten Fahrt gehe ich<br />

nach Hause. Dazwischen habe die volle Verantwortung, was<br />

auf der Fahrt passiert und bin mein eigener Chef."<br />

Im Pausenraum sitzt Bilal einer Kollegin gegenüber, die<br />

vor 21 Jahren begonnen hat – als eine der ersten Frauen. Sie<br />

macht ihren Job noch immer gerne. „Junge Kollegen geben<br />

heute schneller auf", ist ein langgedienter Kollege überzeugt.<br />

Manche schaffen den Umstieg im Unternehmen und werden<br />

Disponenten (so heißen jene Taktgeber, die über die Einhaltung<br />

des Fahrplans wachen).<br />

Vorerst passt es für Bilal. Er fühlt sich zu "100 Prozent"<br />

angekommen. Was rät er Landsleuten, die noch unterwegs<br />

sind, die Mindestsicherung beziehen, Kurse belegen, Jobs<br />

wieder verloren haben – oder gar nicht versuchen, ins<br />

System Österreich hineinzukommen? Die weniger Antrieb<br />

oder Bildung haben als Bilal? Er kennt Familienväter, die in<br />

der Mindestsicherung nicht sehr viel weniger bekommen als<br />

er bei den Wiener Linien. 48 Prozent der Syrer in Österreich<br />

sind arbeitslos, Tendenz zuletzt wieder steigend.<br />

Bilal rät: „Gebt nicht auf. Ihr müsst nicht perfekt Deutsch<br />

sprechen. Probiert es einmal, zehn Mal, 100 Mal. Österreich<br />

wartet auf euch." Und noch eines motiviert ihn, um vier Uhr<br />

aufzustehen: die Staatsbürgerschaft. Die gibt es nur mit Job.<br />

Bilal will schon nächstes Jahr Österreicher werden. Danach<br />

fehlt eigentlich nur noch: eine Runde im Wiener Dialekt. Na<br />

oisdonn!<br />

HINTER DER GESCHICHTE<br />

Clemens Neuhold (46) schreibt seit 2015 für das<br />

Nachrichtenmagazin profil und ist ein biber-Urgestein.<br />

Neben seiner Tätigkeit als Kurier-Redakteur steuerte er<br />

Texte für die ersten biber-Ausgaben im Jahr 2007 bei.<br />

Danach wurde er biber-Textchef und Mitbegründer der<br />

Journalismus-Akademie, in der er immer wieder unterrichtete.<br />

2017 lernte er in der biber-Flüchtlingsklasse<br />

den Syrer Bilal Albeirouti kennen. Er verfolgte dessen<br />

beruflichen Werdegang mit allen Höhen und Tiefen über<br />

Jahre – bis zu dessen Einfahrt in die Tram-Remise der<br />

Wiener Linien. Bei einer Testfahrt mit exzellenter Kurvenlage<br />

trafen sie sich für diese Geschichte, die 2021<br />

im profil erschien, wieder. Die Story über Bilal wurde mit<br />

dem Winfra-Preis der Wiener Lienen und dem Anerkennungspreis<br />

des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF)<br />

ausgezeichnet. Albeirouti ist weiterhin als Tramfahrer in<br />

Wien unterwegs.<br />

CLEMENS NEUHOLD. Seit 2015 Allrounder in der profil-<br />

Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin<br />

biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am<br />

Einwanderungsland Österreich.<br />

42 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 43


DER TEXT IST IN DER DEZEMBER-<br />

AUSGABE 2010 ERSCHIENEN.<br />

Dem Koran nach hat Sexualität einen<br />

großen Stellenwert im Islam. Ran darf<br />

man aber erst, wenn man verheiratet<br />

ist. Junge Muslime erzählen über ihre<br />

Gratwanderung zwischen frommer<br />

Tradition und dem Bedürfnis nach Lust.<br />

Von Anna Thalhammer und Linda Say, Fotos: Lucia Bartl<br />

Zur Autorin: Anna Thalhammer war Chefin vom Dienst bei biber und ist<br />

heute Chefredakteurin von profil.<br />

Sex und Islam – diese zwei Wörter in einem Satz zu<br />

verwenden ist schon hochexplosives Material und<br />

die Recherche zu diesem Artikel spiegelt das Dilemma<br />

wider, in dem sich junge Muslime befinden. „Das<br />

könnt ihr nicht drucken, ihr werdet alle Leser verlieren, denn<br />

darüber spricht man nicht“, wurde uns gesagt. Jemanden zum<br />

Reden zu bringen war nicht so einfach, denn die Angst erkannt<br />

zu werden, war groß. Dennoch dauerte jedes einzelne Interview<br />

mehr als eine Stunde und von vielen hörten wir „Ich bin<br />

so froh endlich einmal darüber reden zu können.“ Die Namen<br />

der Protagonisten wurden von der Redaktion geändert.<br />

MEHR ALS NUR SEX<br />

„Über Sex in dem Sinn habe ich mit meinen Eltern nie gesprochen.<br />

Nur, dass das Jungfernhäutchen bis zur Hochzeit nicht<br />

kaputt werden darf, das wurde mir eingebläut.“ Dunja ist 26<br />

Jahre alt, kommt aus dem Iran und ist in einer traditionellen<br />

muslimischen Familie groß geworden. Ihre Mutter, eine von vielen,<br />

„die es auch so erlebt hatten“, hat ihre Tochter nach eben<br />

diesen traditionellen Wertvorstellungen erzogen, die aber nicht<br />

unbedingt in Dunjas Welt passen.<br />

So lebt sie wie viele ihrer muslimischen Freunde in einer<br />

Doppelwelt zwischen überholten Moralvorstellungen und Löffelchenstellung.<br />

„Es geht nicht nur darum, dass ich keinen Sex<br />

haben darf. Den hatte ich schon mit 16. Das Problem ist viel<br />

tiefgreifender und dringt in etliche Bereiche des Lebens ein:<br />

ich durfte nie reiten, o.b. hab’ ich immer heimlich verwendet<br />

und die unbenutzten Binden in den Mistkübel geworfen. Reisen<br />

konnte ich nie. Jetzt lebe ich mit meinem Freund zusammen<br />

und hab ein Alibi-Zimmer in einem Mädchenstudentenheim. Ich<br />

habe mich nicht an ein sexloses Leben vor der Ehe gehalten<br />

und mir ist das bisschen Haut wurscht. Die Ehre einer Frau liegt<br />

nicht zwischen ihren Beinen. Aber vielen meiner Freundinnen<br />

ist das ganz wichtig. Sie haben dann eben Analsex, damit<br />

nichts passiert. Ich und viele andere führen ein ständiges Doppelleben,<br />

das aus einem Konstrukt von Lügen besteht.“<br />

Gerne würde Dunja mit ihren Eltern ihre Gefühle teilen und<br />

ihnen auch ihren Freund vorstellen, der das Versteckspiel seit<br />

Jahren mitspielt.<br />

„Aber für sie würde eine Welt einstürzen. Ich möchte das<br />

gute Verhältnis nicht gefährden“, sagt die schöne Perserin und<br />

zuckt ratlos mit den Schultern<br />

KEINE REINE FRAUENSACHE<br />

Wir treffen ein junges muslimisches Pärchen im Caféhaus, das<br />

während des Gesprächs nicht die Finger voneinander lassen<br />

kann. Zu frisch ist die junge Liebe. „Mein erstes Mal hatte ich<br />

mit 19“, erzählt der 28-jährige Salih, ein türkischer Österrei-<br />

44 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 45


„ICH UND VIELE ANDERE<br />

FÜHREN EIN STÄNDIGES<br />

DOPPELLEBEN, DAS AUS<br />

EINEM KONSTRUKT VON<br />

LÜGEN BESTEHT.“<br />

cher, der sich selbst als einen jener Moslems bezeichnet „der<br />

halt kein Schweinefleisch isst, aber sonst von der Religion<br />

wenig Ahnung hat“. Auch jungen muslimischen Männern ist<br />

vorehelicher Sex verboten. Salih findet das nicht zeitgemäß,<br />

aber auch er hätte sich niemals getraut mit seinen Eltern darüber<br />

zu sprechen.<br />

„Für sie wäre wahrscheinlich das größte Problem gewesen,<br />

was die Nachbarn denken. Wenn man muslimischen Background<br />

hat, dann gibt es keine Zweisamkeit. Man bekommt<br />

erstens sowieso die Familie mit und dann sogar noch die<br />

Nachbarn und möglicherweise die moralische Keule der ganzen<br />

Community.“ Seine beiden älteren Brüder wurden mit zwei<br />

Frauen aus der Türkei verheiratet. „Für mich geht das gar nicht.<br />

Ich frage mich immer: Wo bleibt bei diesem ganzen Gerede<br />

von Ehe, Sex oder Enthaltsamkeit die Liebe? Meine Mutter hat<br />

immer gesagt, das kommt mit der Zeit in der Ehe, aber für mich<br />

ist das absurd.“<br />

Salih ist nicht verheiratet, hat aber eine Freundin und ist<br />

schwer verknallt: Sarah heißt seine Flamme, sie ist <strong>23</strong> und<br />

Halbsyrerin, ihr Vater lebt noch immer dort.<br />

„Das Thema Sex ist bei meinem Vater einfach keines“, sagt<br />

sie. „Ich glaube, er weiß, dass ich hier in Österreich anders<br />

lebe als er sich das wünscht, aber darüber geredet wird nicht.<br />

Aber als meine kleine siebenjährige Schwester einmal bei mir<br />

in Österreich war, bekam sie mit, dass ich einen französischen<br />

Film schaute, wo in einer Soft-Sex-Szene ein bisschen nackte<br />

hüpfende Brust zu sehen war. Sie hat das meinem Vater<br />

erzählt, der vollkommen ausgerastet ist und behauptet hat, ich<br />

habe meiner Schwester die Unschuld geraubt. Bei meiner syrischen<br />

Familie läuft den ganzen Tag Al Jazeera im Fernsehen,<br />

wo man Menschen mit abgehackten Köpfen, Krieg und Blut<br />

sieht. Gewalt und Brutalität ist weniger schlimm als Sex? Die<br />

Verhältnismäßigkeiten stimmen einfach nicht, das ist absurd.“<br />

Ein Doppelleben zwischen Glaube und Versuchung<br />

das für junge Muslime wichtig wäre. Das weiß Baghajati auch<br />

aus seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger, wo er mit jungen<br />

Häftlingen unter anderem über Sex und Selbstbefriedigung<br />

spricht. „Wenn es um Wissen geht, kannte auch der Prophet<br />

keine Tabus. So stellten ihm Frauen mit heute verblüffendem<br />

Selbstbewusstsein alle möglichen Fragen, sogar zur Sexualität.“<br />

Warum fällt es heute also trotzdem so schwer, darüber zu<br />

sprechen? „In vielen Traditionen herrscht der Irrglaube, dass<br />

zu viel Wissen zu Fehlverhalten führt.“ Man würde also eher<br />

auf den Geschmack kommen, wenn man weiß wie’s geht.<br />

andererseits sind sie tief in ihren Familien und deren Traditionen<br />

verwurzelt. Beidem zu entsprechen ist schwierig, also wie<br />

schaffen es junge Muslime, mit diesem Thema umzugehen?<br />

„Die Bandbreite zwischen häufigem Sex mit ständig<br />

wechselnden Partnern und Enthaltsamkeit bis zur Ehe ist groß.<br />

Jeder muss nach seinen eigenen Wertvorstellungen einen Weg<br />

finden“, sagt der <strong>23</strong>-jährige Gökhan, der sich selbst als sehr<br />

gläubig bezeichnet. Auch er hatte schon Sex, mit einer Frau,<br />

die er sehr geliebt hat. Einen One-Night-Stand würde er aber<br />

niemals haben. „Jede Sünde ist beim jüngsten Gericht vor<br />

Allah höchstpersönlich zu rechtfertigen, für so was zahlt sich<br />

das nicht aus. Aber für eine Frau, die ich liebe, stehe ich gerne<br />

grade, denn im Islam zählt nur die gute Absicht.“ Sich vor Gott<br />

zu rechtfertigen, damit hat er kein Problem, bei seiner Familie<br />

aber umso mehr. Seine Pubertät gestaltete sich schwierig.<br />

„Erklär’ einmal einer Frau, dass du sie zwar attraktiv findest<br />

und auch nicht homosexuell bist, aber trotzdem nicht mit ihr<br />

schlafen willst.“ Seine zukünftige Frau sollte schon eine Muslimin<br />

sein. Nicht unbedingt der Religion wegen, sondern weil<br />

er sich wünscht, dass sie seine Werte teilt. Ähnlich sehen das<br />

auch Mohammed, Erkan und Melih, Göknur und Dunja. Sie alle<br />

haben ihre Religion für sich neu interpretiert.<br />

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT<br />

Wo also ansetzen? „Die Gesellschaft muss sich besser kennenlernen,<br />

auch der Umgang zwischen den jungen Menschen<br />

kommt mir sehr verkrampft vor. Nicht jedes Lächeln ist gleich<br />

als Anmache zu verstehen“, sagt der Imam. Die Auseinanderhaltung<br />

der Geschlechter beginnt schon in der Moschee, die<br />

eigentlich der Ort der Zusammenkunft aller Gläubigen ist. „Das<br />

entspricht nicht der Moschee des Propheten. Zwischen Mann<br />

und Frau war höchstens eine Schnur gespannt. Die Frauen<br />

saßen zwar hinten, aber nur da die Gebetshaltung vor den<br />

Männern für sie unangenehm gewesen wäre.“ ●<br />

„WENN ES UM WISSEN<br />

GEHT, KANNTE AUCH DER<br />

PROPHET KEINE TABUS. SO<br />

STELLTEN IHM FRAUEN MIT<br />

HEUTE VERBLÜFFENDEM<br />

SELBSTBEWUSSTSEIN ALLE<br />

MÖGLICHEN FRAGEN, SOGAR<br />

ZUR SEXUALITÄT“<br />

GOTT ODER BETT?<br />

Empfindet der Islam demnach Sex als etwas Schlechtes? „Ganz<br />

und gar nicht“, sagt der Wiener Imam Tarafa Baghajati. „Prinzipiell<br />

hat der Islam eine äußerst positive Einstellung zur Sexualität<br />

zwischen Mann und Frau. Dies ist in unzähligen Stellen<br />

aus dem Koran, Hadithe des Propheten und der islamischen<br />

Tradition und Literatur belegt. Sex gehört aber eindeutig in die<br />

Ehe.“ Vor Allah gilt es sogar als gute Tat, wenn sich die Ehepartner<br />

gegenseitig befriedigen. Schlechter Sex ist sogar ein<br />

Scheidungsgrund – auch für Frauen. Zudem wird der zeitlich<br />

befristete sexuelle Höhepunkt als Vorgeschmack aufs Paradies<br />

gesehen, wo diese Freuden dann dauerhaft erlebt werden<br />

können.<br />

Zu schön, um wahr zu sein? „Zwischen Theorie und Praxis<br />

gibt es große Unterschiede“, sagt Baghajati. Ein offener<br />

Umgang mit dem Thema Sex ist meist nicht möglich, obwohl<br />

SCHULD ODER SÜHNE?<br />

Viele Muslime, die hier groß geworden sind stehen zwischen<br />

zwei Welten: Einerseits gehen sie hier zur Schule und bekommen<br />

dort westliche, meist freizügigere Werte vermittelt,<br />

„WENN MAN MUSLIMISCHEN<br />

BACKGROUND HAT, DANN GIBT<br />

ES KEINE ZWEISAMKEIT. MAN<br />

BEKOMMT ERSTENS SOWIESO<br />

DIE FAMILIE MIT UND DANN<br />

SOGAR NOCH DIE NACHBARN<br />

UND MÖGLICHERWEISE DIE<br />

MORALISCHE KEULE DER<br />

GANZEN COMMUNITY.“<br />

46 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 47


KONTROVERSE<br />

2017<br />

Österreichische Post AG; MZ 09Z038106 M; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

NEWCOMER<br />

SCHOOL<br />

EDITION<br />

WINTER 2017/18<br />

DIE LETZTEN<br />

ÖSTERREICHER<br />

AFGHANINNEN<br />

ÜBER TABUS<br />

ZU DICK FÜR<br />

DIE LIEBE<br />

+<br />

RAF<br />

CAMORA<br />

GEWINNE<br />

T<br />

I C K E T S<br />

BETEN &<br />

SAUFEN<br />

ZWISCHEN GLAUBE UND HEIMLICH VERSUCHUNG<br />

HARAM<br />

Hijab und Bierflasche: Dürfen wir das? Dieses<br />

Cover sorgte gleichermaßen für Staunen,<br />

Bewunderung aber auch Entsetzen. Ein klarer Fall<br />

von „Würden wir heute nicht mehr so machen.“<br />

2017 haben wir‘s aber gemacht, um die Reportage<br />

„Heimlich Haram“ zu bebildern. Aleksandra<br />

Tulej sprach damals mit jungen Muslimen in<br />

Wien, die ein Doppelleben zwischen Glaube und<br />

Versuchung führten. Es war auch das erste Cover<br />

unserer späteren Fotochefin Zoe Opratko.<br />

<strong>BIBER</strong> 11_17 ME _AS.indd 1 28.11.17 02:32<br />

48 / MIT SCHARF /


EMPOWERMENT<br />

2020<br />

Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

NEWCOMER<br />

SCHOOL<br />

EDITION<br />

WINTER 2020/2021<br />

+<br />

NEUE LIPPEN<br />

MIT 16<br />

+<br />

VORWURF:<br />

„WUTMUSLIMAS“<br />

+<br />

KHORCHIDE<br />

IN ZAHLEN<br />

+<br />

REVOLUTION<br />

Wie junge Frauen aus den Communitys<br />

ihre Selbstbestimmung erkämpfen<br />

WIR BESTIMMEN. PUNKT.<br />

In unserer beliebten Empowerment-Reihe haben<br />

Frauen aus den unterschiedlichen Migra-Communities<br />

in Wien immer wieder ihre persönlichen<br />

Selbstbestimmungs-Geschichten erzählt und<br />

somit Tabus und veraltete Rollenbilder durchbrochen.<br />

Ob Jungfrauenmythos, Sexualität, konservative<br />

Familienverhältnisse: Unzählige Leser:innen<br />

haben sich in diesen Geschichten wiedergefunden.<br />

Die Reihe wurde durch den ÖIF finanziert.<br />

50 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 51


RAMBAZAMBA<br />

2022<br />

Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

OKTOBER<br />

2022<br />

+<br />

IRANISCHE<br />

REVOLUTION IN WIEN<br />

+<br />

HÄUPL IN ZAHLEN<br />

+<br />

LIEBE ZU DRITT<br />

+<br />

WIR FAHREN NICHT<br />

MEHR RUNTER<br />

NIEMAND FÄHRT MEHR RUNTER.<br />

Die Sommer in der Heimat sind nicht mehr so, wie<br />

WENN DAS HEIMATDORF DER ELTERN wir sie aus unserer AUSSTIRBT<br />

Kindheit kennen: Man trifft auf<br />

Stille statt großen Familienfesten und Grabkerzen<br />

statt Pralinen. Sind wir die letzte Generation, die<br />

noch „runterfährt?“ Wir haben darüber geschrieben,<br />

warum immer mehr Migra-Kids nicht mehr<br />

die Heimat ihrer Eltern besuchen wollen: Maria<br />

Lovrić-Anušić hat mit dieser Geschichte einen<br />

Nerv getroffen, die Resonanz aus der Ex-Yu-Community<br />

war riesig.<br />

52 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 53


COVER<br />

2016<br />

VERHÜLLTE MISSION<br />

Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />

von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />

selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />

undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />

- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />

Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />

keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />

radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />

journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />

Preise.<br />

54 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 55


UNDERCOVER<br />

2016<br />

VERHÜLLTE MISSION<br />

Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />

von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />

selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />

undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />

- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />

Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />

keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />

radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />

journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />

Preise.<br />

56 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 57


OLD<br />

2016<br />

VERHÜLLTE MISSION<br />

Als Reaktion auf die umstrittene „Islam-Kindergarten-Studie“<br />

von Ednan Aslan hat biber sich 2014<br />

selbst ein Bild gemacht: Nour Khelifi besuchte<br />

undercover 14 der sogenannten „Islam-Kindergärten“<br />

- unter dem Vorwand, ihren ausgedachten<br />

Sohn dort anmelden zu wollen. Das Fazit: In<br />

keinem der Kindergärten konnte die Journalistin<br />

radikale Tendenzen aufspüren - für die großartige<br />

journalistische Leistung rieselte es wohlverdiente<br />

Preise.<br />

58 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 59


REPORTAGE<br />

2022<br />

Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

SEPTEMBER<br />

2022<br />

+<br />

HEINZ FISCHER SPIELT<br />

FUSSBALL<br />

+<br />

MARCO POGO<br />

IN ZAHLEN<br />

+<br />

HAUPTBERUF<br />

VERSUCHSKANINCHEN<br />

+<br />

WIR KINDER<br />

VOM STADTPARK<br />

HEROIN, PROSTITUTION UND OBDACHLOSIGKEIT:<br />

WIENS VERGESSENE JUGEND WIR KINDER VOM STADTPARK<br />

Speed, Heroin, Crystal Meth, Prostitution und<br />

Obdachlosigkeit gehören zu ihrem Alltag, sie sind<br />

+ + + WAHL-SPEZIAL: DIE BP-KANDIDATEN durch alle IM sozialen CHECK Netze + gefallen: + + Wir trafen<br />

Wiens vergessene Kinder, die von der Gesellschaft<br />

längst aufgegeben wurden und selbst<br />

keine Zukunft mehr sehen. Die Reportage schlug<br />

hohe Wellen, danach zog es auch große Medien<br />

wie den Falter in den Stadtpark. Das Cover<br />

wurde für die Geschichte übrigens, wie so oft in<br />

biber‘scher Tradition - nachgestellt.<br />

60 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 61


ILLUSTRATION<br />

20<strong>23</strong><br />

Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

APRIL<br />

20<strong>23</strong><br />

+<br />

ARZT ODER<br />

ENTTÄUSCHUNG<br />

+<br />

SCHULDIG<br />

GESHOPPT<br />

+<br />

2 MONATE NACH<br />

DEM ERDBEBEN<br />

+<br />

„ABENDLAND IN<br />

MIGRANTENHAND?“<br />

DEN NAGEL AUF DEN KOPF<br />

Bei Cover-Entscheidungen waren wir uns selten<br />

WIE AUSLÄNDERHASS WIEDER gleich SALONFÄHIG alle einig, oft haben WIRDwir viel herumdiskutiert<br />

und gegrübelt. Außer da: Als Aliaa<br />

Abou Khaddour im April 20<strong>23</strong> diese kreative<br />

und smarte Illu für uns entwarf, gab es aus der<br />

Redaktion ein einstimmiges „Das beste Cover,<br />

das wir je hatten“. Die Illu für die Coverstory über<br />

den Rechtsruck und Ausländerhass in Österreich<br />

erfreute sich auf Instagram großer Beliebtheit.<br />

Nur zurecht, wie wir finden.<br />

62 / MIT SCHARF /<br />

/ MIT SCHARF / 63


VOM TABUBRUCH<br />

ZUM BUCH<br />

Nicht über die Communitys<br />

zu sprechen, sondern mit<br />

ihnen – das war immer das<br />

Credo von biber. Was es<br />

bedeutet, wenn die Storys<br />

über das Persönliche hinausgehen<br />

und warum das<br />

fehlen wird.<br />

Von Nada Chekh, Fotos: Marko Mestrovic und Zoe Opratko<br />

Zur Autorin: Nada Chekh war Kulturressortleiterin bei biber und ist<br />

seit kurzem auch Buch-Autorin.<br />

Es gibt heutzutage herzlich wenig Menschen, die<br />

voller Stolz von sich behaupten können, dass<br />

sie sich mit ihrer Arbeit identifizieren. Bei biber<br />

kamen Menschen aus den unterschiedlichsten<br />

Communitys zusammen, die alle dieses unglaubliche Privileg<br />

teilen, Journalismus zu machen, der sie selbst betrifft und<br />

sie antreibt. Es galt die unausgesprochene Devise: Wir sind<br />

biber und biber ist Wir. Wir arbeiten nicht nur für das Magazin,<br />

sondern leben es – schließlich sind wir gleichzeitig die<br />

Zielgruppe. Und so, wie wir das Magazin lebten, ernährten<br />

wir es auch mit den Geschichten aus unseren Elternhäusern<br />

und unserer Kindheit. Womöglich gab es für jeden einzelnen<br />

biber-Journalisten diese eine Story, die einen inneren Fluch<br />

brach – oder endlich ein Problem sezierte, das innerlich<br />

lange und schwer herumgetragen worden war. Für mich<br />

ist diese eine Geschichte „Meine Tochter, meine Perle“,<br />

in der es um muslimische Mütter als Vorarbeiterinnen des<br />

Patriarchats ging, und wie ein toxisches Klima der Überwachung<br />

vor allem zum Leidwesen der Töchter in der arabischmuslimischen<br />

Community herrscht. Die Geschichte entstand<br />

angetrieben durch meine persönliche Erfahrung und Erziehung<br />

in der Community und wurde letztlich ausgelöst durch<br />

ein türkisches Cousinenpaar, das mir nach einem Workshop<br />

in einer Mittelschule in Wien-Meidling nicht mehr aus dem<br />

Kopf ging. Die Art und Weise, wie eine der Cousinen die<br />

andere auf Schritt und Tritt begleitete und kontroverse Dinge<br />

sagte, wie „Frauen müssen ein Kopftuch tragen, weil sie wie<br />

kostbare Perlen sind, die man vor den Blicken der Männer<br />

schützen muss“, erinnerten mich stark an die jungen Mädchen,<br />

mit denen ich aufgewachsen war und vor denen kein<br />

Geheimnis sicher gewesen war.<br />

Je nach Sprache und Kulturkreis variiert dieses Bild der<br />

Frau als Perle – mal sind sie Blumen, mal sind sie Edelsteine<br />

oder Schmuck. Aber niemals sind sie (erwachsene) Menschen,<br />

die auf sich selbst aufpassen können. Die Vorstellung<br />

einer „Familienehre“, die auf den Schultern der Töchter lastet,<br />

prägt viele junge Frauen aus konservativen Communitys<br />

– seien sie muslimisch oder nicht. Ich veröffentlichte diese<br />

Story im Juni 2019 – und gewann dafür den JournalistInnenpreis<br />

Integration in der Kategorie Print des Österreichischen<br />

Integrationsfonds.<br />

Tabus zu brechen erfordert dabei viel innere Kraft und<br />

sprachliches Geschick – vor allem bei jenen Storys, die weit<br />

über das Persönliche gehen und einen verletzbar für die<br />

eigene Community machen. Denn fehlende (Selbst-)Kritik<br />

ist erst der Grund, weshalb sich so viele althergebrachten,<br />

sexistischen Bilder in migrantischen Communitys so hartnäckig<br />

halten. All die rigiden Wertvorstellungen und Mythen<br />

über Geschlechterrollen, der Kult um Jungfräulichkeit bis zur<br />

Ehe oder die Mechanismen zur (sexuellen) Überwachung von<br />

Frauen in der arabisch-muslimischen Community lassen sich<br />

kaum ohne Gegenwind kritisch aufarbeiten. Doch wer sollte<br />

diese Tabus sonst endlich brechen, wenn nicht Menschen<br />

aus den Communitys selbst? Biber war nicht nur ein Medium,<br />

sondern auch eine Plattform, bei der man Zuflucht und<br />

Verständnis für die eigene Situation finden konnte: Das, was<br />

die „neuen“ Österreicherinnen und Österreicher bewegt,<br />

sind jedoch keine Themen vom „Rand der Gesellschaft“, wie<br />

manche Menschen wohl über die Zielgruppe denken würden<br />

– im Gegenteil: Es sind die Themen, die eigentlich direkt aus<br />

der Mitte unserer Gesellschaft kommen, aber sonst kein<br />

64 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 65


Gehör und allem voran keine sensible Aufarbeitung in den<br />

Medien finden würden. Biber hatte einen sozialen Auftrag, den<br />

Journalismus in Österreich von innen heraus zu unterwandern,<br />

um letzten Endes die Vielfalt in der Gesellschaft auch in den<br />

Medien widerzuspiegeln.<br />

In meinem Fall waren Storys wie „Meine Tochter, meine Perle“<br />

ein wahrer Katalysator für die Karriere. Die Themen, die mich<br />

in meiner über sechsjährigen Laufbahn bei biber immer wieder<br />

beschäftigten – Islam, Feminismus, weibliche Selbstbestimmung<br />

und das Recht auf eine Privatsphäre – landeten kürzlich<br />

sogar in einem Buch mit dem Titel „Eine Blume ohne Wurzeln“.<br />

Ohne biber wäre weder dieses Projekt jemals zustande gekommen,<br />

noch dieser wichtige Raum für Debatten überhaupt offen<br />

gestanden – denn nur biber gab mir die einzigartige Möglichkeit,<br />

diese Themen journalistisch zu erforschen. Das Ende von<br />

biber bedeutet für mich: das Ende eines Lebensabschnittes.<br />

Ich frage mich, wie viele potenzielle Herzensgeschichten nun<br />

im Sand der Zeit verfließen werden, ohne jemals eine Leserschaft<br />

zu erreichen, um Flüche zu brechen. ●<br />

66 / RAMBAZAMBA /<br />

/ RAMBAZAMBA / 67


KARRIERE & KOHLE<br />

Para gut, alles gut<br />

Von Šemsa Salioski<br />

FOMO („FEAR OF MISSING OUT“) WAR GESTERN!<br />

New year new me! Lasst uns ehrlich sein, jede*r von uns hat diesen<br />

Satz schon mal gesagt. Für viele Menschen ist das neue Jahr wie ein<br />

Neustart. Lästige Angewohnheiten werden im alten Jahr gelassen und<br />

im neuen Jahr wird voll durchgestartet. Fair enough! Aber wer hat das<br />

wirklich langfristig durchgezogen? Oft braucht es eine Stütze, jemanden,<br />

der uns beisteht und mit uns unseren inneren Schweinehund bekämpft.<br />

Die VHS ist unser Fels in der Brandung. Mit Kreativkursen, Kochkursen,<br />

Bewegungskursen, Kursen zur Persönlichkeitsentwicklung und vielen mehr<br />

bietet sie nicht nur eine riesige Auswahl an guten neuen Gewohnheiten,<br />

sondern hilft uns auch noch diese langfristig beizubehalten. First Step um<br />

den inneren Schweinehund loszuwerden -> vorbeischauen auf www.vhs.at<br />

MEINUNG<br />

Wenn sich eine Tür schließt,<br />

öffnet sich eine andere<br />

Meine letzten Wochen waren zugegebenermaßen<br />

sehr tränenreich.<br />

Ich musste mich nämlich gleich von<br />

zwei Jobs verabschieden: Einmal via<br />

Kündigung von einer Vollzeitstelle als<br />

Redakteurin, die mir zwar meine lang<br />

ersehnte finanzielle Sicherheit geboten<br />

hatte, aber vom toxischsten Chefredakteur,<br />

der mir je über den Weg gelaufen<br />

war, geführt wurde. Und zum Zweiten<br />

musste ich Tschüss zu Biber sagen,<br />

meiner ersten journalistischen Liebe,<br />

die ich seit der Schulzeit kannte und für<br />

die ich seit 2016 gearbeitet habe. Einer<br />

der beiden Abschiede ist mir klarerweise<br />

schwerer gefallen als der andere.<br />

Biber, der Spirit und das vielfältige<br />

Team dahinter, vor allem unter der<br />

Leitung unserer unfassbar talentierten<br />

Chefredakteurin Aleksandra, werden<br />

niemals ersetzt werden können. Das<br />

Magazin bleibt wohl als eines der<br />

wertvollsten Medienprodukte dieses<br />

Landes in Erinnerung. Wir wissen alle,<br />

dass Leute mit Namen wie dem meinen<br />

sich in Österreich ohne Biber oft nur<br />

in ihren Träumen hätten Journalist:in<br />

nennen können. Passend dazu wird mir<br />

natürlich auch meine Kolumne schrecklich<br />

fehlen, die es mir erlaubt hat, zwei<br />

Jahre lang als Migra-Arbeiter:innenkind<br />

Struggles und Tipps rund um Uni oder<br />

Arbeit mit anderen zu teilen. Ob gute<br />

oder schlechte Erfahrungen – Abschied<br />

bedeutet immer Unsicherheit. Ich<br />

habe den Satz, den ich für meine<br />

letzte Kolumne als Titel gewählt habe,<br />

selbst immer gehasst. Ja, ich bin<br />

ein Gewohnheitstier, aber manchmal<br />

muss man darauf vertrauen, dass sich<br />

nach einem bitteren Ende die nächste<br />

Tür öffnet. Dass es bei mir so schnell<br />

ging, hat mich selbst überrascht. Die<br />

Zusage für meinen neuen Job, um<br />

den ich mich ohne Kündigung niemals<br />

beworben hätte, kam nur zehn Tage<br />

danach. Und wisst ihr was? Ich habe<br />

vor rund zwei Jahren in einem Podcast<br />

erwähnt, dass ich, neben meiner<br />

Arbeit als Journalistin, „irgendwann“ im<br />

Bereich Entwicklungszusammenarbeit<br />

tätig sein will. „Irgendwann“ scheint<br />

jetzt zu sein – und das gleich als<br />

Referentin für Öffentlichkeitsarbeit mit<br />

eigenem „Biro“ – das lässt die Herzen<br />

von Balkan-Arbeiter:inneneltern gleich<br />

höher schlagen! Nein, im Ernst. Ich bin<br />

überglücklich und werde Biber ewig<br />

dafür dankbar sein, dass es Leuten<br />

wie mir den Weg zu unseren Träumen<br />

erleichtert hat.<br />

salioski@dasbiber.at<br />

CONTENT<br />

CREATOR:INNEN,<br />

DENEN IHR<br />

FOLGEN SOLLTET<br />

Die Idee, andere bei Geld- oder<br />

Karrierefragen zu unterstützen, hatte<br />

natürlich nicht nur ich. Folgt, wenn ihr<br />

nach Inspiration oder Problemlösungen<br />

sucht, gerne den folgenden drei<br />

Instagram-Profilen:<br />

<br />

<br />

<br />

parween.mander: Hier erwarten<br />

euch Themen wie besseres<br />

Geldmanagement, „Money Trauma“<br />

in Migrant:innenfamilien und<br />

zahlreiche persönliche Geschichten<br />

der Business Insider-Autorin<br />

workhap: Hier erwarten euch Tipps<br />

rund um Bewerbungsgespräche,<br />

Anschreiben, Gehaltserhöhungen,<br />

sowie lustige Memes und rants einer<br />

„LinkedIn Top Voice“<br />

loewhaley: Hier erwarten euch<br />

nachgestellte Alltagszenen, bei<br />

denen Vorgesetzte oder Kolleg:innen<br />

Grenzen überschreiten. Die<br />

Creatorin zeigt dabei, wie man auf<br />

professionelle Art Weise mit solchen<br />

Situationen umgehen kann.<br />

68 / KARRIERE /


Selbermacher<br />

Mehmet Gün führt gemeinsam mit<br />

seinem Bruder Orhan ein Premium-<br />

Burgerlokal in der Langen Gasse 74.<br />

Selbstverständlich<br />

vegan<br />

70 / KARRIERE /<br />

Die Brüder Mehmet und<br />

Orhan Gün haben vor rund<br />

einem Jahr das Burger-Restaurant<br />

„Flip n Dip Burger“<br />

in der Lange Gasse eröffnet.<br />

Ihr Spezialgebiet: Premium<br />

plant-based Burger, die auch<br />

den leidenschaftlichsten<br />

Fleischessern schmecken<br />

werden.<br />

Von Nada El-Azar-Chekh,<br />

Fotos: Zoe Opratko<br />

Beim Betreten des Lokals merkt<br />

man sofort: Es steckt viel Liebe<br />

zum Detail drin. Vom Neonschild<br />

bis hin zu den knalligen Menükarten wurde<br />

nichts dem Zufall überlassen. Es kommt<br />

ein bisschen „American Diner“-Feeling<br />

auf, aber mit modernem Ambiente. Doch<br />

was unterscheidet „Flip n Dip Burger“ von<br />

anderen veganen Restaurants? „Bei uns ist<br />

‚Premium Burger‘ keine Floskel, sondern<br />

wirklich unser Hauptanliegen und die Lücke,<br />

die wir in der Wiener Gastro-Landschaft<br />

schließen wollen“, erzählt Mehmet, den wir<br />

krankheitsbedingt ohne seinen Bruder im<br />

Lokal antreffen.<br />

Geboren wurden Mehmet und Orhan<br />

in der irakischen Hauptstadt Baghdad. Ihre<br />

Mutter ist turkmenischer Herkunft und der<br />

Vater war ein Türke, der im Irak für die UNO<br />

arbeitete. Als in den früher 80er-Jahren<br />

der Krieg im Irak ausbrach, zogen die Eltern<br />

über Istanbul nach Wien, als die Brüder<br />

noch Kinder waren. „Wir haben unseren<br />

Geschmackssinn von unserer Mama geerbt<br />

und und haben früh erkannt, dass alles, was<br />

sie auf den Tisch zauberte auch unseren<br />

Freunden sehr gut schmeckte“, erzählt<br />

Mehmet.<br />

BEKÖMMLICHE BURGER<br />

Von den Burgern bis zu den Milkshakes ist<br />

die Auswahl bei Flip n Dip komplett vegan.<br />

Doch das Wort vegan vermisst man im<br />

Lokal gänzlich – und das ist gute Absicht.<br />

Zu viele potenzielle Kund:innen, vor allem<br />

der älteren Generationen, würde das sonst<br />

erfahrungsgemäß abschrecken. „Ich kann<br />

diese ablehnende Reaktion gut verstehen<br />

– wenn man irgendwo schon einmal einen<br />

trockenen veganen Burger gegessen hat,<br />

ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Aber<br />

mittlerweile kann man mit Beyond Meat<br />

richtig gute Pattys machen, wo man keinen<br />

Unterschied zu echtem Fleisch schmeckt.“<br />

Die Speisekarte versteht sich von Haus aus<br />

als „plant-based“, auch bei den Shakes wie<br />

dem Strawberry Swirl ist vom fruchtigen<br />

Sirup bis zum veganen Sahnehäubchen kein<br />

einziges tierisches Produkt enthalten.<br />

Der gute Geschmack geht in allem<br />

vor – von den eigens für das Lokal entwickelten<br />

fluffigen Brioche Buns, bis zu den<br />

kräftigen Saucen und natürlich den Burger<br />

Pattys von Beyond Meat oder dem hausgemachten<br />

Crispy Chik’n aus Erbsenprotein.<br />

Mehmet betont: „Diese Burger liegen nach<br />

dem Essen nicht wie ein Ziegel im Magen,<br />

sondern sind außergewöhnlich leicht und<br />

bekömmlich.“ Absolutes Unikat ist der<br />

Flip n Dip Burger, dessen Brioche in Lauge<br />

getunkt wird, am besten mit knusprigen<br />

Fries dazu.<br />

Bis zu „Flip n Dip“ durchlief Mehmet<br />

viele Stationen im Laufe seiner Karriere:<br />

Durch seine Vorgeschichte in der Wiener<br />

Clubszene, wo er als DJ Met D’Phunk einigen<br />

Leuten ein Begriff sein könnte, kennt<br />

er sich bestens damit aus, wie man ein<br />

VON DER IDEE<br />

BIS ZUR<br />

GRÜNDUNG<br />

Der schnellste<br />

Weg zu unseren<br />

Services.<br />

Basis-Informationen und Tools zur Gründung<br />

finden Sie auf unserer Webseite.<br />

www.gruenderservice.at<br />

gutes Projekt auf die Beine stellt. Sein drei<br />

Jahre jüngerer Bruder Orhan kommt aus<br />

einer ganz anderen Ecke – nämlich aus der<br />

Sozialarbeitsszene und bringt ein Händchen<br />

für gute Burger mit. Gemeinsam mit dem<br />

Küchenchef Réné Salfenauer entwickelten<br />

sie das Menü – an die tollen Rezepte kommt<br />

niemand heran. „Das ist ein Betriebsgeheimnis“,<br />

so Mehmet.<br />

Flip n Dip Burger<br />

Lange Gasse 74, 1080 Wien<br />

Ein „Strawberry Swirl“ passt ganz<br />

wunderbar zum plant-based Burger-Menü<br />

bei Flip n Dip.<br />

WKO-WIEN HILFT<br />

Im Gründerservice der<br />

WKO-Wien kann man bei<br />

einem Beratungsgespräch<br />

alle Fragen stellen, die die<br />

Gründung eines Unternehmens<br />

betreffen. Im Vorhinein<br />

kann man sich auch<br />

schon eigenständig online<br />

informieren. Ob generelle<br />

Tipps zur Selbstständigkeit,<br />

rechtliche Voraussetzungen,<br />

Amtswege oder<br />

Finanzierungs- und Förderungsmöglichkeiten:<br />

Auf<br />

der Website kommt man<br />

mit wenigen Klicks zu allen<br />

wichtigen Informationen.<br />

wko.at/wien<br />

www.gruenderservice.at<br />

Die Selbermacher-Serie ist<br />

eine redaktionelle Kooperation<br />

von das biber mit der<br />

Wirtschaftskammer Wien.<br />

© Halfpoint/stock.adobe.com


An dieser Stelle im Heft hat der verstorbene biber-Kolumnist Jad Turjman Ausgabe für Ausgabe seine scharfsinnigen Gedanken geteilt.<br />

„MEIN SOHN, WAS HABEN DIE<br />

EUROPÄER MIT DIR GEMACHT?“<br />

Auf Arabisch gibt es einen Spruch, der besagt:<br />

Wenn man sich bei einem Stamm vierzig Tage<br />

aufhält, wird man einer von ihnen. Damit ist<br />

gemeint, dass man seine Sitten und Gebräuche<br />

übernimmt. Nach sieben Jahren in Österreich<br />

kann ich nicht genau sagen, welche Aspekte<br />

ich von dem „österreichischen“ Lebensstil<br />

verinnerlicht habe. Ich glaube aber, dass sein<br />

Einfluss auf mich inzwischen sehr groß ist. Ich<br />

gehe mittlerweile wandern und das mache ich<br />

freiwillig und gerne. Falls Sie sich jetzt fragen, was daran<br />

so bemerkenswert sei, würde ich Sie bitten, einmal kurz<br />

innezuhalten: Das erste Mal, als ich meiner Mutter vom<br />

Wandern erzählte, verstand sie das einfach nicht. „Mein<br />

Sohn! Bist du bekloppt? Was haben die Europäer mit dir<br />

gemacht?“, wurde sie laut und verständnislos am Handy.<br />

Ich fand auch kein arabisches Wort für ‘wandern’ oder<br />

‚Wanderlust‘, um ihr das zu erklären. Bei uns geht, läuft,<br />

spaziert oder bummelt man, aber wandern, nein, das tut<br />

sich niemand an. In der Freizeit will man in einer schattigen,<br />

kühlen Ecke mit seiner Liebsten sitzen, Sonnenblumenkerne<br />

knabbern, Mokka und Matetee trinken, sich<br />

gegenseitig Geschichten erzählen, die bei jeder erneuten<br />

Erzählung mehr an Gewürzen und Spektakeln bekommen.<br />

Auf den Berg zu gehen ist viel zu heiß und anstrengend.<br />

Außerdem prangen auf den Bergspitzen in Syrien keine<br />

Gipfelkreuze, sondern Militärbasen, und man läuft dort<br />

Gefahr, erschossen zu werden. Meine erste Wandererfahrung<br />

wurde mir aufgezwungen. Es war ein Betriebsausflug<br />

meiner ehemaligen Arbeitsstätte auf den Gaisberg.<br />

WIESO HABT IHR FÜR ALLES<br />

ANDERE SCHUHE?<br />

Oggi, mein damaliger Arbeitskollege, meinte, ich bräuchte<br />

Wanderschuhe. Ich verstand nicht, was er von mir wollte.<br />

Dabei stellte ich fest, dass jede Tätigkeit in Österreich<br />

eine eigene Schuhkategorie benötigt. In Syrien kennt man<br />

nur Sportschuhe und formelle Schuhe. Und<br />

das war es dann. Jetzt in Österreich habe ich<br />

Laufschuhe, Freizeitschuhe, Wanderschuhe,<br />

Skischuhe, Fußballschuhe, Hallenschuhe,<br />

Fahrradschuhe, Eislaufschuhe, Winterschuhe,<br />

formelle Schuhe, und ich bezeichne mich als<br />

Kleinverdiener. Vermutlich gibt es Schuhe,<br />

deren Namen ich gar nicht kenne.<br />

Von Jad Turjman,<br />

Mittlerweile liebe ich wandern. Ich gehe<br />

im Oktober 2020<br />

am liebsten ganz alleine, und zwar immer<br />

auf denselben Berg. Ich weiß nicht, warum ich immer<br />

dieselbe Wanderstrecke nehme und für andere Wege<br />

nicht aufgeschlossen bin. Ich bemühe mich, auf diesem<br />

Wanderweg jedes einzige Detail der Gegend in mein<br />

Unterbewusstsein einzuprägen, jeden Baum, jeden<br />

gebrochenen Ast und jeden Stein. Ich habe mir schon<br />

gemerkt, um viel Uhr die Sonne an einer bestimmten<br />

Neigung steht und durch den ganzen Wald strahlt und<br />

alle Blätter beleuchtet. Wahrscheinlich ist das der Versuch,<br />

um dieses eine Gefühl wieder erleben zu können:<br />

Heimat. Ich habe mit dem Berg und dem Wald, durch<br />

den ich immer gehe, eine Freundschaft auf Augenhöhe<br />

geschlossen. Ich kenne jeden einzelnen Baum, und<br />

sie kennen mich inzwischen gut. Ich kann mich beim<br />

Wandern ohne Wenn und Aber diesem Wald und diesem<br />

Berg zugehörig fühlen. Ich musste gar nicht beweisen,<br />

dass ich nicht schlimm wie meinesgleichen bin, auch<br />

keine Leistung erbringen, um willkommen zu sein. Ich<br />

rede mit ihnen sogar auf Arabisch und sie verstehen<br />

mich. Meine Anwesenheit, meine Gedanken, meine<br />

Sprache, meine Emotionen und Gefühle und meine ganze<br />

Existenz wirken für den Wald und den Berg selbstverständlich<br />

und vorbehaltlos. Wenn mir auf dem Weg<br />

neue Gesichter begegnen, fühle ich mich sogar wie der<br />

Einheimische und empfinde sie als die Fremden. Wobei<br />

ich nicht glauben will, dass ein Mensch in der Natur<br />

fremd sein kann.<br />

IN MEMORIAM<br />

Am 29. Juli 2022 ist Autor, Kolumnist und<br />

schauenden Lebenseinstellung wie seiner<br />

Schriftsteller Jad Turjman bei einem Unfall in den Bergen<br />

tödlich verunglückt. Jad war ein Ausnahmeschrift-<br />

Er hat bei biber über sein Leben in Österreich geschrie-<br />

alles möglich sein kann.<br />

steller, der auch die schwersten Etappen seines Lebens ben, und hatte die unglaubliche Gabe, ernste Themen<br />

mit viel Humor und Weitblick beschreiben konnte – und stets humorvoll aufzugreifen, ohne sie dabei ins Lächerliche<br />

zu ziehen. Jad wurde nur 32 Jahre alt.<br />

das in einer Sprache, die er erst nach seiner Flucht<br />

erlernte. Mit seinen Romanen, Kolumnen und Stand-Up- Was bleibt, sind seine wundervollen Bücher und Kolumnen,<br />

die für die Ewigkeit zeigen, was für ein außerge-<br />

Programmen hat er nicht nur Menschen im gesamten<br />

deutschsprachigen Raum in ihrem tiefsten Inneren<br />

wöhnlicher Mensch und ein Vorbild er gewesen ist.<br />

berührt, sondern auch gezeigt, was mit einer vorraus-<br />

Ruhe in Frieden, Jad.<br />

Robert Herbe<br />

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74 / MIT SCHARF /<br />

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