BIBER 12_23_OLA
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„ICH UND VIELE ANDERE<br />
FÜHREN EIN STÄNDIGES<br />
DOPPELLEBEN, DAS AUS<br />
EINEM KONSTRUKT VON<br />
LÜGEN BESTEHT.“<br />
cher, der sich selbst als einen jener Moslems bezeichnet „der<br />
halt kein Schweinefleisch isst, aber sonst von der Religion<br />
wenig Ahnung hat“. Auch jungen muslimischen Männern ist<br />
vorehelicher Sex verboten. Salih findet das nicht zeitgemäß,<br />
aber auch er hätte sich niemals getraut mit seinen Eltern darüber<br />
zu sprechen.<br />
„Für sie wäre wahrscheinlich das größte Problem gewesen,<br />
was die Nachbarn denken. Wenn man muslimischen Background<br />
hat, dann gibt es keine Zweisamkeit. Man bekommt<br />
erstens sowieso die Familie mit und dann sogar noch die<br />
Nachbarn und möglicherweise die moralische Keule der ganzen<br />
Community.“ Seine beiden älteren Brüder wurden mit zwei<br />
Frauen aus der Türkei verheiratet. „Für mich geht das gar nicht.<br />
Ich frage mich immer: Wo bleibt bei diesem ganzen Gerede<br />
von Ehe, Sex oder Enthaltsamkeit die Liebe? Meine Mutter hat<br />
immer gesagt, das kommt mit der Zeit in der Ehe, aber für mich<br />
ist das absurd.“<br />
Salih ist nicht verheiratet, hat aber eine Freundin und ist<br />
schwer verknallt: Sarah heißt seine Flamme, sie ist <strong>23</strong> und<br />
Halbsyrerin, ihr Vater lebt noch immer dort.<br />
„Das Thema Sex ist bei meinem Vater einfach keines“, sagt<br />
sie. „Ich glaube, er weiß, dass ich hier in Österreich anders<br />
lebe als er sich das wünscht, aber darüber geredet wird nicht.<br />
Aber als meine kleine siebenjährige Schwester einmal bei mir<br />
in Österreich war, bekam sie mit, dass ich einen französischen<br />
Film schaute, wo in einer Soft-Sex-Szene ein bisschen nackte<br />
hüpfende Brust zu sehen war. Sie hat das meinem Vater<br />
erzählt, der vollkommen ausgerastet ist und behauptet hat, ich<br />
habe meiner Schwester die Unschuld geraubt. Bei meiner syrischen<br />
Familie läuft den ganzen Tag Al Jazeera im Fernsehen,<br />
wo man Menschen mit abgehackten Köpfen, Krieg und Blut<br />
sieht. Gewalt und Brutalität ist weniger schlimm als Sex? Die<br />
Verhältnismäßigkeiten stimmen einfach nicht, das ist absurd.“<br />
Ein Doppelleben zwischen Glaube und Versuchung<br />
das für junge Muslime wichtig wäre. Das weiß Baghajati auch<br />
aus seiner Arbeit als Gefängnisseelsorger, wo er mit jungen<br />
Häftlingen unter anderem über Sex und Selbstbefriedigung<br />
spricht. „Wenn es um Wissen geht, kannte auch der Prophet<br />
keine Tabus. So stellten ihm Frauen mit heute verblüffendem<br />
Selbstbewusstsein alle möglichen Fragen, sogar zur Sexualität.“<br />
Warum fällt es heute also trotzdem so schwer, darüber zu<br />
sprechen? „In vielen Traditionen herrscht der Irrglaube, dass<br />
zu viel Wissen zu Fehlverhalten führt.“ Man würde also eher<br />
auf den Geschmack kommen, wenn man weiß wie’s geht.<br />
andererseits sind sie tief in ihren Familien und deren Traditionen<br />
verwurzelt. Beidem zu entsprechen ist schwierig, also wie<br />
schaffen es junge Muslime, mit diesem Thema umzugehen?<br />
„Die Bandbreite zwischen häufigem Sex mit ständig<br />
wechselnden Partnern und Enthaltsamkeit bis zur Ehe ist groß.<br />
Jeder muss nach seinen eigenen Wertvorstellungen einen Weg<br />
finden“, sagt der <strong>23</strong>-jährige Gökhan, der sich selbst als sehr<br />
gläubig bezeichnet. Auch er hatte schon Sex, mit einer Frau,<br />
die er sehr geliebt hat. Einen One-Night-Stand würde er aber<br />
niemals haben. „Jede Sünde ist beim jüngsten Gericht vor<br />
Allah höchstpersönlich zu rechtfertigen, für so was zahlt sich<br />
das nicht aus. Aber für eine Frau, die ich liebe, stehe ich gerne<br />
grade, denn im Islam zählt nur die gute Absicht.“ Sich vor Gott<br />
zu rechtfertigen, damit hat er kein Problem, bei seiner Familie<br />
aber umso mehr. Seine Pubertät gestaltete sich schwierig.<br />
„Erklär’ einmal einer Frau, dass du sie zwar attraktiv findest<br />
und auch nicht homosexuell bist, aber trotzdem nicht mit ihr<br />
schlafen willst.“ Seine zukünftige Frau sollte schon eine Muslimin<br />
sein. Nicht unbedingt der Religion wegen, sondern weil<br />
er sich wünscht, dass sie seine Werte teilt. Ähnlich sehen das<br />
auch Mohammed, Erkan und Melih, Göknur und Dunja. Sie alle<br />
haben ihre Religion für sich neu interpretiert.<br />
ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT<br />
Wo also ansetzen? „Die Gesellschaft muss sich besser kennenlernen,<br />
auch der Umgang zwischen den jungen Menschen<br />
kommt mir sehr verkrampft vor. Nicht jedes Lächeln ist gleich<br />
als Anmache zu verstehen“, sagt der Imam. Die Auseinanderhaltung<br />
der Geschlechter beginnt schon in der Moschee, die<br />
eigentlich der Ort der Zusammenkunft aller Gläubigen ist. „Das<br />
entspricht nicht der Moschee des Propheten. Zwischen Mann<br />
und Frau war höchstens eine Schnur gespannt. Die Frauen<br />
saßen zwar hinten, aber nur da die Gebetshaltung vor den<br />
Männern für sie unangenehm gewesen wäre.“ ●<br />
„WENN ES UM WISSEN<br />
GEHT, KANNTE AUCH DER<br />
PROPHET KEINE TABUS. SO<br />
STELLTEN IHM FRAUEN MIT<br />
HEUTE VERBLÜFFENDEM<br />
SELBSTBEWUSSTSEIN ALLE<br />
MÖGLICHEN FRAGEN, SOGAR<br />
ZUR SEXUALITÄT“<br />
GOTT ODER BETT?<br />
Empfindet der Islam demnach Sex als etwas Schlechtes? „Ganz<br />
und gar nicht“, sagt der Wiener Imam Tarafa Baghajati. „Prinzipiell<br />
hat der Islam eine äußerst positive Einstellung zur Sexualität<br />
zwischen Mann und Frau. Dies ist in unzähligen Stellen<br />
aus dem Koran, Hadithe des Propheten und der islamischen<br />
Tradition und Literatur belegt. Sex gehört aber eindeutig in die<br />
Ehe.“ Vor Allah gilt es sogar als gute Tat, wenn sich die Ehepartner<br />
gegenseitig befriedigen. Schlechter Sex ist sogar ein<br />
Scheidungsgrund – auch für Frauen. Zudem wird der zeitlich<br />
befristete sexuelle Höhepunkt als Vorgeschmack aufs Paradies<br />
gesehen, wo diese Freuden dann dauerhaft erlebt werden<br />
können.<br />
Zu schön, um wahr zu sein? „Zwischen Theorie und Praxis<br />
gibt es große Unterschiede“, sagt Baghajati. Ein offener<br />
Umgang mit dem Thema Sex ist meist nicht möglich, obwohl<br />
SCHULD ODER SÜHNE?<br />
Viele Muslime, die hier groß geworden sind stehen zwischen<br />
zwei Welten: Einerseits gehen sie hier zur Schule und bekommen<br />
dort westliche, meist freizügigere Werte vermittelt,<br />
„WENN MAN MUSLIMISCHEN<br />
BACKGROUND HAT, DANN GIBT<br />
ES KEINE ZWEISAMKEIT. MAN<br />
BEKOMMT ERSTENS SOWIESO<br />
DIE FAMILIE MIT UND DANN<br />
SOGAR NOCH DIE NACHBARN<br />
UND MÖGLICHERWEISE DIE<br />
MORALISCHE KEULE DER<br />
GANZEN COMMUNITY.“<br />
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