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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />
www.dasbiber.at<br />
MIT SCHARF<br />
+<br />
INSIDE ORTHODOXES<br />
JUDENTUM<br />
+<br />
SCHAWARMA<br />
STATT SCHNITZEL<br />
+<br />
SCHALLENBERG<br />
SEPTEMBER<br />
20<strong>23</strong><br />
IN ZAHLEN<br />
+<br />
ZWISCHEN TABUS<br />
UND SEXMYTHEN<br />
WENN MIGRANTINNEN DIE SCHAM<br />
IHRER ELTERN ERBEN
schert<br />
sich<br />
ums Klima.<br />
Amählie<br />
Solarschaf<br />
Für den Klimaschutz in und um Wien setzen wir alle Hebel in Bewegung. Damit Sie zuhause<br />
nachhaltig mit Strom und Wärme versorgt sind und e-mobil mit 100 % Ökostrom<br />
unterwegs sein können. Wie wir bis 2040 klimaneutral werden und was das mit einem<br />
Solarschaf zu tun hat: wienenergie.at/Amählie<br />
Wien Energie, ein Unternehmen der Wiener Stadtwerke-Gruppe.
3<br />
minuten<br />
mit<br />
Fatima<br />
Sidibe<br />
African Hairstyles, Schwarze<br />
Vorbilder, Racial Profiling<br />
und historische Fakten, die ihr<br />
bestimmt nicht in der Schule<br />
gelernt habt: Fatima Sidibe alias<br />
African Diva spricht im Netz<br />
über Black und African History<br />
und lernt dadurch, ihre eigenen<br />
Wurzeln in Guinea zu schätzen.<br />
Interview: Filip Lazar<br />
Foto: Ina Aydogan<br />
<strong>BIBER</strong>: Woher kam die Idee, auf Instagram<br />
über African/Black Culture und<br />
History zu sprechen?<br />
FATIMA SIDIBE: Ich habe während meiner<br />
Schullaufbahn gemerkt, dass nicht<br />
viel über Black History und Schwarze<br />
Kultur unterrichtet wird. Klar lernt man<br />
über Sklaverei oder Hungersnot. Aber<br />
wir haben zu diesem Themengebiet<br />
nie etwas Positives gelernt. Da ich<br />
sehr neugierig war, begann ich mich<br />
selbst mit der afrikanischen Geschichte<br />
auseinanderzusetzen und merkte<br />
dabei schnell, dass Afrika sehr reich an<br />
Geschichte und Kultur ist. So machte<br />
ich es mir zur Aufgabe, auch anderen<br />
PoCs (People of Colour) durch Social<br />
Media zu zeigen, dass wir viel mehr als<br />
nur Sklaverei und Armut haben.<br />
Wie entscheidest du, über welche Themen<br />
du berichtest? Wie aufwendig sind<br />
deine Videos?<br />
Es ist meist ein Mix aus Eigeninteresse<br />
und Themenvorschlägen meiner Community.<br />
Für ein 5-minütiges YouTube-<br />
Video rechne ich schon mit 10-12<br />
Stunden Arbeitszeit. Für ein kurzes Reel<br />
brauche ich ein paar Stunden.<br />
Bekommst du Hass im Netz ab?<br />
Zu 90 % bekomme ich nur positives<br />
und ermutigendes Feedback – das<br />
macht mich sehr glücklich. Es kam<br />
auch schon vor, dass mir ältere PoCs<br />
schreiben, dass sie ihren Kindern<br />
schon immer etwas über Black History<br />
beibringen wollten und sie meinen<br />
Kanal deswegen hilfreich finden. Das<br />
ist richtig schön. Hin und wieder gibt es<br />
leider auch rassistische Kommentare,<br />
es ist aber nie zu extrem.<br />
Abgesehen von deinem Bildungscontent<br />
schreibst du auch viel Poesie.<br />
Denkst du, Gedichte sind ein gutes<br />
Medium, um Black Culture in den<br />
öffentlichen Diskurs zu bringen?<br />
Definitiv! Ich denke, dass Poesie ein<br />
gutes Mittel ist, um ein Statement in<br />
der Öffentlichkeit zu setzen. Wenn ich<br />
auf Bühnen stehe und ich ein großes<br />
Publikum habe, dem ich meine Gedichte<br />
vortrage, ist es mit viel Emotion ver-<br />
bunden. Viele meiner Gedichte haben<br />
einen tiefgründigen Unterton, den das<br />
Publikum dann auch spürt und manche<br />
sogar zu Tränen rührt. Ich möchte Black<br />
People empowern und sie stolz auf<br />
ihre Herkunft machen. Ich hatte früher<br />
immer das Gefühl, mich wegen meiner<br />
guineischen Herkunft schämen zu müssen,<br />
weil ich dachte „es gibt ja nichts<br />
Positives über mein Land zu sagen“. Ich<br />
möchte einfach, dass PoCs sehen, wie<br />
interessant die Länder Afrikas eigentlich<br />
sind.<br />
Wer sind deine Vorbilder beziehungsweise<br />
deine größte Inspiration?<br />
Das ist auf jeden Fall Königin Nzinga.<br />
Sie war eine angolanische Königin im<br />
17. Jahrhundert und kämpfte gegen die<br />
portugiesische Kolonialherrschaft und<br />
setzte sich für die Unabhängigkeit ihres<br />
Volkes ein.<br />
Ihr findet Fatima auf Instagram:<br />
@africaandivaa<br />
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT<br />
AFRICAN DIVA<br />
Die <strong>23</strong>-jährige Black History-Bloggerin<br />
im Schnellinterview.<br />
8 IVANAS WELT<br />
Warum Mehrsprachigkeit nicht<br />
immer von Vorteil ist.<br />
10 KLIMA-NEWS<br />
Interessante Zahlen, Daten und Fakten<br />
rund um das Thema Umweltschutz.<br />
POLITIKA<br />
12 MEINUNGSMACHE<br />
Politische Themen kurz, komprimiert<br />
und mit scharf.<br />
20<br />
„HERR SCHALLENBERG, WIE LANGE WIRD<br />
DIE EU BESTEHEN BLEIBEN?“<br />
Außenminister Alexander Schallenberg im Interview.<br />
14 „WEIL WIR ANDERS ALS<br />
DIE AUSSENWELT SIND.“<br />
So lebt die Community der<br />
ultraorthodoxen Juden in Wien.<br />
19 BALKAN NEWS<br />
Dennis Miskić erklärt, warum niemand<br />
mehr in Bosnien leben will.<br />
20 „HERR SCHALLENBERG,<br />
WIE VIELE ZIGARETTEN<br />
RAUCHEN SIE AM TAG?“<br />
Biber fragt in Worten, Außenminister Alexander<br />
Schallenberg antwortet mit einer Zahl.<br />
22 „ES GIBT KEIN REZEPT,<br />
UM OBDACHLOSE VOR<br />
MESSERATTACKEN ZU<br />
SCHÜTZEN.“<br />
Susanne Peter, Leiterin der Streetwork, im<br />
Interview über ihre Arbeit.<br />
14<br />
ULTRAORTHODOXES<br />
JUDENTUM IN WIEN<br />
Einblicke in die sonst streng<br />
verschlossene Community.<br />
IN<br />
RAMBAZAMBA<br />
24 MIT DEM RICHTIGEN<br />
MINDSET REICH WERDEN<br />
Inside-Reportage über die Finanz-Trading-<br />
Akademie „Team Alpha“.
30 TABUTHEMA: AUFKLÄRUNG<br />
Wenn Migrantinnen die Scham der Eltern<br />
erben.<br />
36 „KANN ES SEIN, DASS DU<br />
TRANS BIST?“<br />
Transfrau Nikki spricht über ihren Weg zu<br />
ihrem wahren Ich.<br />
24<br />
DER TRAUM VOM<br />
SCHNELLEN GELD<br />
Wie die Finanz-<br />
Trading-Akademie ihre<br />
Mitglieder anlockt.<br />
HALT SEPTEMBER<br />
20<strong>23</strong><br />
30<br />
„ÜBER SEX<br />
SPRICHT MAN<br />
NICHT“<br />
Migrantinnen<br />
gefangen zwischen<br />
Tabus und Sexmythen.<br />
38 SCHNITZEL UND<br />
SCHAWARMA<br />
Amina und Arash erzählen von ihrem Leben<br />
als Foodblogger in Wien.<br />
LIFE&STYLE<br />
42 FUSSBALL IST AUCH<br />
FRAUENSACHE<br />
Şeyda Gün will sich ihren Lieblingssport<br />
nicht nehmen lassen.<br />
KARRIERE&KOHLE<br />
46 WAS TUN WENN DAS<br />
PROJEKT „LAZYGIRL“<br />
NICHT KLAPPT<br />
Šemsa Salioski gibt Tipps für eine<br />
steilere Karriere.<br />
48 WOHNEN IN WIEN,<br />
ABER WIE?<br />
Coole Tipps und Tricks für deinen Umzug<br />
in die Großstadt.<br />
© Zoe Opratko, © Thomas Süß, © Aliaa Abou Khaddour Cover: © Zoe Opratko<br />
KULTURA<br />
52 KULTURA NEWS<br />
Nada El-Azar-Chekh über das kulturelle Fühler<br />
ausstrecken und Neues entdecken.<br />
54 QUOTEN-ALMANCI<br />
Kolumnistin Özben Önal spricht über<br />
Parallelgesellschaften in ihrer Heimat.
Liebe Leser:innen,<br />
„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder einfach<br />
auftauchen, wenn man heiratet.“ Mythen über das Jungfernhäutchen,<br />
Tabus und Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />
kommt in Migra-Communities oft zu kurz – vor allem bei<br />
den Töchtern. Doch was macht das mit ihrer Sexualität im<br />
Erwachsenenleben? Unsere Coverstory könnt ihr ab Seite 30<br />
nachlesen.<br />
„<br />
Schabbat-Herdplatten,<br />
Verkupplungen und<br />
Abschottung als Reaktion auf<br />
ein kollektives Trauma: Wie<br />
wird orthodoxes Judentum<br />
in Wien gelebt? Wir sind der<br />
Frage ab S. 14 nachgegangen.<br />
Aleksandra “ Tulej,<br />
Chefredakteurin<br />
Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes Matchmaking<br />
bis hin zur eigenen Infrastruktur und einer strengen<br />
Abschottung als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Die<br />
ultraorthodoxe jüdische Community in Wien wächst mit dem<br />
Gedanken auf, „irgendwie anders“ als der Rest der Gesellschaft<br />
zu sein. Ab Seite 14 könnt ihr euch einen Einblick die<br />
sonst streng verschlossene Community verschaffen.<br />
Außerdem haben wir Außenminister Alexander Schallenberg<br />
gefragt, wie viele Kolleg:innen aus der ÖVP ihm auf die Nerven<br />
gehen und wie lange die EU seiner Einschätzung nach<br />
noch bestehen bleibt. Das Interview in Zahlen findet ihr auf<br />
Seite 20.<br />
Ohne Abschluss ein eigenes Business aufbauen und dabei<br />
auch noch einen Haufen Kohle verdienen? Mit diesen<br />
Versprechungen lockt die Finanz-Trading-<br />
Akademie „Team Alpha“ junge und häufig<br />
SCHARFE<br />
migrantische Menschen an. Man bräuchte<br />
POST:<br />
nur das richtige Mindset und schon würde<br />
In unserem<br />
alles wie von selbst laufen. Redakteurin Dione wöchentlichen<br />
Newsletter senden<br />
wir dir die<br />
Azemi warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />
online-Bildungsplattform und berichtet darüber,<br />
was wirklich hinter ihrem Konzept steht. Beiträge aus der<br />
spannendsten<br />
schärfsten Redaktion<br />
des Landes<br />
Lest die Reportage ab Seite 24.<br />
in dein Postfach.<br />
Hier kannst du ihn<br />
Viel Spaß beim Lesen,<br />
gleich abonnieren:<br />
eure biber-Redaktion<br />
© Zoe Opratko<br />
6 / MIT SCHARF /
IMPRESSUM<br />
MEDIENINHABER:<br />
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />
HERAUSGEBER:<br />
Simon Kravagna<br />
CHEFREDAKTEURIN:<br />
Aleksandra Tulej<br />
KULTUR & LEITUNG AKADEMIE:<br />
Nada El-Azar-Chekh<br />
FOTOCHEFIN:<br />
Zoe Opratko<br />
ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />
KOLUMNIST:INNEN:<br />
Ivana Cucujkić-Panić, Dennis Miskić, Özben Önal<br />
LEKTORAT: Florian Haderer<br />
REDAKTION, FOTOGRAFIE & ILLUSTRATION:<br />
Maria Lovrić-Anušić, Šemsa Salioski, Dione Azemi, Filip Lazar,<br />
Mathias Psilinakis, Emir Dizdarević, Atila Vadoc, Ina Aydogan, Aliaa<br />
Abou Khaddour, Thomas Süß<br />
VERLAGSLEITUNG :<br />
Aida Durić<br />
MARKETING & ABO:<br />
Şeyda Gün<br />
REDAKTIONSHUND:<br />
Casper<br />
BUSINESS DEVELOPMENT:<br />
Andreas Wiesmüller<br />
GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />
Wilfried Wiesinger<br />
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />
E-1.4, 1070 Wien<br />
redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />
WEBSITE: www.dasbiber.at<br />
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ 2022:<br />
Druckauflage 85.000 Stück<br />
Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />
www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />
DRUCK: Mediaprint<br />
Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />
jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />
der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.
In „Ivanas Welt“ berichtet die biber-Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić<br />
über ihr Leben - Glamour zwischen Balkan und Baby<br />
IVANAS WELT<br />
IMMER FLEISSIG. IMMER ARBEITEN.<br />
NIE AUFSTEIGEN.<br />
BACK TO SCHOOL UND ZURÜCK AUF DEN<br />
SCHULHOF, WO IHR BITTE NUR DEUTSCH<br />
SPRECHTS!<br />
Am 26. September feiern wir den Tag der Mehrsprachigkeit,<br />
das irritiert uns aber nicht weiter. Pack deine<br />
Sprachskills zurück in die Schultüte. Präsentieren solltest<br />
du sie frühestens beim Bewerbungsgespräch für deinen<br />
ersten Job. Weil da, aber auch nur vielleicht, könnte das<br />
ein Wettbewerbsvorteil sein.<br />
MIT VIEL VITAMIN Ö<br />
Wenn man bei gleicher Qualifikation viel Pech, aber ganz<br />
wenig Vitamin B oder Vitamin Ö hat, kriegt nicht Hassan,<br />
sondern Hans den Junior-Accounter Job.<br />
Zwei Etagen weiter im gläsernen Hochhaus brütet die<br />
HR-Verantwortliche Lena mit dem Management über innovative<br />
Konzepte, wie man wohl mehr Lejlas, also mehr<br />
Diversity und Inklusion ins Unternehmen bringen kann.<br />
MAG. DR. TAXIFAHRER<br />
Vielleicht hat Hassans Vater, der promovierte Taxifahrer,<br />
der gerade draußen vorbeifährt, eine Idee? Aber wer<br />
hört schon auf ihn, obwohl er tagtäglich mit den Folgen<br />
konfrontiert wird, die entstehen, wenn man ihm bei der<br />
Anerkennung seiner Qualifikationen Steine in den Weg<br />
legt? Na, den fragen wir nicht. Der und all die vielen<br />
anderen Reinigungskräfte und Niedriglohnverdiener mit<br />
Diplom aus der Heimat verdonnern uns ja erst zu dieser<br />
Fleißaufgabe.<br />
Deren Hassans und Lejlas versauen uns heute die Statistik:<br />
Jede:r zweite Schüler:in in Wien lebt mit nichtdeutscher<br />
Muttersprache. Liest sich erst mal bedrohlich. Von<br />
Rekord und Höchststand in den Bezirken wird berichtet.<br />
Liest sich wie ein Problem. Aber was oder wer ist das<br />
Problem?<br />
cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt<br />
LEJLA, DU BIST DAS PROBLEM!<br />
Anscheinend Hassan und Lejla. Anscheinend die nichtdeutsche<br />
Sprache, die sie zuhause sprechen. Warum,<br />
wird nie wirklich erklärt. Anscheinend nicht der Mangel<br />
an mehrsprachigen Pädagog:innen (und überhaupt<br />
Lehrer:innen). Anscheinend nicht die jahrzehntelange<br />
Ignoranz politischer Verantwortlicher, ein veraltetes,<br />
nicht zeitgemäßes Bildungssystem zu ändern. Und<br />
weil’s jetzt bissl brennt, lassen progressive Ansätze aufhorchen:<br />
Im Schulhof soll nur mehr Deutsch gesprochen<br />
werden dürfen. Alles andere schafft Probleme, Gruppenbildung,<br />
schließt die Mitschüler:innen aus, blaaaa. Man<br />
könnte hier ja auch prinzipiell am Zusammenhalt in der<br />
Klasse, Kameradschaft, Freundschaft, Inklusion arbeiten<br />
und die Klassenvorstände, Direktion an ihren Job erinnern.<br />
Aber nein, behandeln wir einfach das Symptom.<br />
SARMA STATT KARRIERE<br />
Und die Message an alle Hassans und Lejlas: Alle anderen<br />
Sprachen, die du beherrscht, sind nichts wert, machen<br />
Probleme, wollen wir hier nicht, bringen dich nicht<br />
weiter.<br />
Mit diesem Glaubenssatz performt Hassan für seinen<br />
ersten Job. Und bekommt ihn nicht. Es kann sein, dass<br />
Hans besser war. Oder nur super selbstbewusst aufgetreten<br />
ist. Es kann sein, dass Hassan bis zum fünften<br />
Stock und dann an die gläserne Decke gestoßen ist.<br />
Enttäuscht isst er noch schnell etwas in der Unternehmenskantine.<br />
Es gibt wieder „Balkan-Wochen“. Hat sich<br />
die HR-Abteilung einfallen lassen. Um die Vielfalt im Unternehmen<br />
zu feiern, gibt es als Mittagsmenü Sarma mit<br />
Püree, nach dem Rezept von Branka, die an der Rezeption<br />
arbeitet.<br />
Wird ihm vielleicht sauer aufstoßen, die Diversity-<br />
Krautrollade. Kultureller Reichtum auf dem Speiseplan:<br />
njam, im Konferenzraum oder Klassenzimmer: pfuj. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
8 / MIT SCHARF /
NEMA PROBLEMA<br />
TELENOVELA<br />
BEZAHLTE ANZEIGE<br />
Nenads Freund Adrian kommt zum Zocken vorbei.<br />
Doch Adrian kann nur an die Schule denken. Auch ihm<br />
ist bewusst geworden, dass die HTL nichts für ihn ist,<br />
aber er weiß nicht genau, was er machen soll. Nenad<br />
erzählt ihm von der L14 Messe und macht ihm Mut.<br />
NEUES AUS DEM LEBEN<br />
DER FAMILIE PRAVDOVIĆ<br />
Boah<br />
sei froh, dass<br />
du jetzt HAK und<br />
nicht mehr HTL gehst…<br />
ich packs dort gar<br />
nimma.<br />
Es taugt<br />
mir einfach gar<br />
nicht mehr. Meine<br />
Motivation = 0<br />
Hey chill, ich<br />
kenn das! Kennst<br />
du die L14? Das ist<br />
so eine Bildungs- &<br />
Berufsinfomesse von der<br />
AK. Da war ich letztes<br />
Jahr mit Mama.<br />
Warum, was<br />
is los? Du bist<br />
eh so fleißig.<br />
Äh nein.<br />
Hat dir das<br />
geholfen?<br />
Schau! Ja<br />
Bruder, es war<br />
echt nice! Kannst in<br />
der Jopsy App davor<br />
auch einen Test machen,<br />
dann weißt du welcher<br />
Weg für dich der<br />
Beste wäre.<br />
Hier gehts zur<br />
Jopsy App:<br />
Hey<br />
danke Mann<br />
für deine Hilfe!<br />
Kein Ding!<br />
Da wirst du echt<br />
gut beraten – das<br />
schauen wir uns<br />
zusammen an!<br />
TIPP Arbeiterkammer:<br />
Bei der AK Bildungsund<br />
Berufsinfomesse<br />
L14 können sich<br />
Schüler:innen allein<br />
oder gemeinsam mit<br />
ihren Eltern über<br />
Lehrberufe und weiterführende<br />
schulische<br />
Aus bildun gen, die zu<br />
deinem persönlichen<br />
Profil passen, informieren.<br />
Die Messe findet<br />
vom 8.–11. November<br />
20<strong>23</strong> statt.<br />
Alle Infos gibt’s auf<br />
www.l14.at.<br />
Fotos: Zoe Opratko
LIMANEWS<br />
Von Filip Lazar<br />
Klima- und Umweltschutz gehen uns alle etwas an! Wir liefern einige<br />
interessante Fakten und Tipps für ein nachhaltigeres Leben.<br />
GREENWASHING,<br />
WAS IST DAS?<br />
AB INS<br />
GRÜNE!<br />
Ein Spaziergang in der Natur<br />
kann Stress reduzieren,<br />
die Fitness verbessern und<br />
dein Wohlbefinden steigern:<br />
In Wien gibt es zahlreiche<br />
Erholungswälder, in denen<br />
du deine Freizeit verbringen<br />
kannst. Hier siehst du alle<br />
Erholungsgebiete in Wien auf<br />
einen Blick:<br />
www.wien.gv.at/<br />
umwelt/wald/<br />
erholung/index.<br />
html<br />
„T-Shirt aus recycelten<br />
Kunststoffflaschen“, „klimaneutraler<br />
Versand“ oder<br />
„ozeanfreundlicher Sonnenschutz“:<br />
Mit solchen Labels<br />
wird häufig „Greenwashing“<br />
betrieben. Das bedeutet,<br />
dass sich Unternehmen und<br />
Konzerne umweltfreundlicher<br />
darstellen, als sie sind – wenn<br />
nötig auch mit einem gekauften<br />
Umweltsiegel. Eine neue<br />
EU-Richtlinie soll verhindern,<br />
dass Käufer:innen durch<br />
irreführende Werbeaussagen<br />
getäuscht werden, und immer<br />
mehr ungeprüfte Umweltzertifikate<br />
auf den Markt<br />
kommen. So kannst du dich<br />
schützen:<br />
1. Sei vorsichtig bei Produktversprechen<br />
mit „grünen“ Begriffen wie "natürlich" oder<br />
"nachhaltig". Achte auf offizielle Zertifikate<br />
wie das EU-Umweltzeichen oder das EU-<br />
Bio-Logo für biologische Lebensmittel.<br />
2. Bleibe kritisch und hinterfrage deine<br />
Käufe immer: Kann ein Einmalprodukt<br />
wirklich umweltfreundlich sein? Ist Erdgas<br />
tatsächlich klimaneutral? Werden bei einem<br />
Unternehmen nur bestimmte Produkte oder<br />
das gesamte Sortiment nachhaltig hergestellt?<br />
3. Information und Recherche: Durch<br />
einfache Internetrecherchen kann man herausfinden,<br />
ob Produkte oder Unternehmen<br />
bereits bei einem Verbraucherschutz als<br />
zweifelhaft bewertet wurden.<br />
© unsplash.com/Alexey Elfimov, unsplash.com/Brian Yurasits<br />
10 / MIT SCHARF /
© unsplash.com/Christian Lue, unsplash.com/Mitchell Luo<br />
KLIMA<br />
FAKTEN<br />
Der Meeresspiegel<br />
ist um ca.<br />
3,2 Millimeter<br />
im letzten Jahrzehnt<br />
gestiegen.<br />
Die weltweite Durchschnittstemperatur<br />
lag<br />
Anfang Juli bei<br />
17,01˚ Celsius.<br />
Zuletzt lag der Hitzerekord<br />
bei 16,92˚ im<br />
August 2016.<br />
Bei einer globalen<br />
Erderwärmung von<br />
1,5˚ Celsius werden<br />
wahrscheinlich<br />
14 Prozent der<br />
landlebenden Tierarten<br />
einem hohen Aussterberisiko<br />
ausgesetzt sein.<br />
20–50 %<br />
der weltweiten<br />
Gletscherflächen<br />
werden, laut einer Studie<br />
der Fachzeitschrift<br />
„Nature“, bis Ende des<br />
Jahrhunderts schmelzen.<br />
Greta Thunbergs erster<br />
Klimastreik war am<br />
20. August genau<br />
5 Jahre her.<br />
LEILA<br />
SICHERE<br />
ROUTEN<br />
MIT DEM<br />
FAHRRAD<br />
Mit dem Routenplaner<br />
der Mobilitätsagentur<br />
Wien lassen<br />
sich Fahrradrouten<br />
durch die ganze<br />
Stadt problemlos planen:<br />
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DIE BIBLIOTHEK FÜR DINGE<br />
Ausleihen statt kaufen: Du brauchst ein Waffeleisen, Bohrmaschine<br />
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/ MIT SCHARF / 11
MEINUNGSMACHE MIT SCHARF<br />
Aktuelle politische Themen im Überblick: komprimiert, kurz und mit scharf.<br />
INTERNATIONAL ÖSTERREICH BOSNIEN<br />
ALTERNATIVES<br />
BÜNDNIS MIT<br />
ZUKUNFT?<br />
Das Staatenbündnis BRICS wirbt<br />
um aufstrebende Länder mit dem<br />
Wunsch nach mehr Gewicht in<br />
der Weltpolitik. Kürzlich wurde<br />
der erste BRICS-Gipfel ins Leben<br />
gerufen, der „BRICS Plus“ als<br />
neuen, globalen Verbund präsentierte:<br />
Brasilien, Russland, Indien,<br />
China und Südafrika begrüßen bald<br />
Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien<br />
und Iran im Bündnis. Eine potenziell<br />
explosive Mischung, wenn<br />
es um einzelne Interessen geht.<br />
Besonders attraktiv für sie bleibt<br />
jedoch: Bei BRICS mische man sich<br />
nicht in die Politik der Partner ein<br />
– es gäbe keine Moralisierung „von<br />
oben“, wie es in der EU geschehe.<br />
Auch deshalb finden sich unter den<br />
Mitgliedsstaaten viele vom Westen<br />
enttäuschte Underdogs wieder.<br />
Der Grat zwischen einem nichtwestlichen<br />
und einem anti-westlichen<br />
Verbund ist schmal. Ob sich<br />
BRICS+ bewährt, oder an inneren<br />
Machtkämpfen scheitern wird, ist<br />
aufmerksam zu beobachten.<br />
DR. MAG.<br />
LANGES LEBEN<br />
Rechtzeitig zu Schulbeginn zeigt<br />
eine neue Studie der Statistik<br />
Austria, dass ein höherer Bildungsabschluss<br />
auch eine höhere<br />
Lebenserwartung mit sich bringt.<br />
Die Ergebnisse sind eindeutig und<br />
kaum überraschend: Dass Bildung<br />
(im weitesten Sinne) die Basis<br />
für ein schönes Leben ist, hätten<br />
wohl die Wenigsten abgestritten.<br />
Meine Frage also: Wieso haben<br />
wir bis heute kein inklusives<br />
Bildungssystem? Weiterhin wird<br />
akademischer Erfolg in Österreich<br />
vererbt. Weiterhin werden<br />
Begriffe wie „Brennpunktschulen“<br />
verwendet, um Menschen eine<br />
adäquate pädagogische Begleitung<br />
zu verweigern. Weiterhin<br />
entscheidet die Herkunft über die<br />
Möglichkeiten, die man bekommt<br />
– oder eben nicht bekommt. Alle<br />
haben das Recht auf ein langes<br />
und erfülltes Leben. Bildung ist<br />
dafür die Grundlage.<br />
„ŠUTI I TRPI!“<br />
„Šuti i trpi!“ ist ein Satz, den viele<br />
Frauen aus dem Balkan hören,<br />
wenn sie sich über ihre Partner<br />
beschweren. Es bedeutet so<br />
viel wie „Sei leise und halte es<br />
aus!“. Meist sagen ihn Frauen im<br />
höheren Alter, die im gleichen<br />
Atemzug davon erzählen, wie sie<br />
Schikanen und Handgreiflichkeiten<br />
ihrer Männer ihr Leben lang<br />
„ausgehalten“ haben. Jahrelang<br />
dachte ich, dass es eine Form von<br />
internalisierter Misogynie ist. Mittlerweile<br />
verstehe ich, dass es zum<br />
Selbstschutz dienen soll. Denn in<br />
den letzten Wochen konnten wir<br />
in Bosnien deutlich sehen, was<br />
passieren kann, wenn sich Frauen<br />
auf dem Balkan zur Wehr setzen –<br />
zwei Femizide in nur einem Monat.<br />
Jetzt haben die Frauen aber<br />
genug. Sie gehen auf die Straßen,<br />
kritisieren die mangelnde Hilfe<br />
der Polizei und die zu leichten<br />
Strafen für Täter. Sie fordern eine<br />
Nulltoleranz für Gewalt. Härtere<br />
Strafen allein werden jedoch nicht<br />
reichen, die sexistische Denkweise<br />
muss gebrochen werden, denn<br />
keine Frau sollte Angst vor ihrem<br />
Mann haben.<br />
Nada El-Azar-Chekh,<br />
Ressortleitung Kultur<br />
el-azar@dasbiber.at<br />
Mathias Psilinakis,<br />
biber-Akademie<br />
redaktion@dasbiber.at<br />
Maria Lovrić-Anušić,<br />
Redakteurin<br />
lovric-anusic@dasbiber.at<br />
© Zoe Opratko<br />
12 / MEINUNGSMACHE MIT SCHARF /
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Meine Idee für Wien?<br />
Ein Dschungel in der Stadt!<br />
Dein Wien for Future.<br />
Wie soll die Zukunft unserer Stadt aussehen? Um das herauszufinden, sucht die<br />
Stadt Wien bis 15. November die besten Ideen für ein besseres Morgen. Mitmachen<br />
können alle Wiener*innen von 5 bis 20 Jahren. Die spannendsten Vorschläge werden<br />
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junges.wien.gv.at
„WEIL WIR<br />
ANDERS ALS DIE<br />
AUSSENWELT SIND“<br />
ULTRAORTHODOXES JUDENTUM IN WIEN<br />
Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes<br />
Matchmaking bis hin zur eigenen Infrastruktur<br />
und einer strengen Abschottung<br />
als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Wie<br />
leben ultraorthodoxe Jüd:innen in Wien?<br />
Einblicke in eine der aktivsten und gleichzeitig<br />
verschlossensten Communitys der Stadt.<br />
Von Aleksandra Tulej und Nada El-Azar-Chekh,<br />
Illustration: Aliaa Abou Khaddour<br />
Mit elf Jahren habe ich das erste Mal nichtkoschere<br />
Schokolade gegessen – damals<br />
hatte ich starke Schuldgefühle“, erinnert sich<br />
Mirijam * , die heute Anfang zwanzig ist, an ihre<br />
Kindheit zurück. „Dabei schmeckt sie genau gleich, aber es<br />
war so tabuisiert, dass sich das in dem Moment angefühlt<br />
hat, als hätte ich etwas Schreckliches getan.“ Mirijam ist in<br />
einem ultraorthodoxen chassidischen jüdischen Haushalt<br />
in Wien aufgewachsen, als vorletztes von insgesamt acht<br />
Geschwistern. „Das ist noch gar nichts, mein Nachbar hat<br />
sogar 18 Geschwister!“, fügt sie lachend hinzu. Mirijam<br />
spricht mit einem leicht jiddischen Akzent, trägt ein Spaghetti-Kleid<br />
und darunter ein T-Shirt, ihre braunen Haare sind zu<br />
einem schlichten Zopf gebunden. Bei unserem Treffen erzählt<br />
Mirijam viel und gerne über ihr Leben – unter der Bedingung,<br />
dass wir ihren Namen nicht nennen: In der Community kenne<br />
schließlich jeder jeden.<br />
Schätzungen der Israelitischen Kultusgemeinde zufolge<br />
sollen in ganz Österreich etwa 15.000 Menschen jüdischen<br />
Glaubens leben, manche sind praktizierender als andere, es<br />
gibt unterschiedliche Strömungen, „das eine Judentum“,<br />
gibt es also nicht. Der Chassidismus ist eine Strömung des<br />
Judentums, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden<br />
ist. Wir haben einen Eindruck der chassidischen Welt durch<br />
Netflix-Serien wie „Unorthodox“ oder „Shtisel“ gewonnen<br />
– wie akkurat sind diese Darstellungen? Und vor allem: wie<br />
sieht das Leben in dieser Gemeinschaft in Wien aus? Es ist<br />
eine geschlossene Community, in die es so gut wie keine<br />
Einblicke gibt: Man kennt die Winkel im Zweiten Bezirk, die<br />
jüdischen Supermärkte, die auffällig gekleideten Männer im<br />
schwarzen Mantel und Hut. Aber wie sieht der Alltag aus?<br />
Welche Strukturen herrschen innerhalb dieser Community?<br />
Aus Medien kennt man entweder nur oberflächliche Berichterstattung<br />
von außen oder reißerische Geschichten über<br />
Aussteiger:innen – Mirijam erzählt von innen: ehrlich, reflektiert<br />
und detailliert.<br />
KEINE SEXUALKUNDE, KEIN URKNALL,<br />
KEINE EVOLUTIONSTHEORIE<br />
„Wir wussten von klein auf, dass wir anders als die Außenwelt<br />
und irgendwie einzigartig sind, das wurde uns immer<br />
wieder eingebläut.“ Den Begriff „Außenwelt“ wählt Mirijam<br />
ganz bewusst. Diese Außenwelt liegt nicht nur mitten in<br />
Wien, sie ist überall, wo nicht nach jüdischen Regeln gelebt<br />
wird. Auch wenn man in einer kleinen, orthodoxen Community<br />
aufwächst, bekommt man auch als Kind mit, wie das<br />
Leben „außerhalb“ aussieht. Wenn Mirijam bei ihrer Familie<br />
oder in der Schule Fragen gestellt hat, warum sie dies und<br />
jenes anders machen würden als „die Anderen“, kam als<br />
Antwort: „Weil wir anders sind.“ Ihre Kindheit in Wien hat<br />
Mirijam sehr glücklich und unbeschwert in Erinnerung.<br />
Ihre Schullaufbahn begann in der Beth-Jakov-Schule,<br />
einer orthodoxen jüdischen Mädchenschule in Wien – damals<br />
war die Schule in der Malzgasse, heute befindet sich das<br />
Schulgebäude in der großen Stadtgutgasse. Die Uniform:<br />
14 / POLITIKA | WIEN /
POLITIKA | WIEN / 15
ist du nicht arm dran. Da gibt es immer Unterstützung von<br />
der Community, man ist immer gut aufgehoben. Das finde<br />
ich sehr schön.“<br />
Für den Schabbat wird das Essen bereits freitags vorbereitet.<br />
Ein hellblaues Hemd und ein dunkler Rock, der über das<br />
Knie ging. Die Unterrichtssprache ist Deutsch, Religion wird<br />
auf Jiddisch unterrichtet – in der Schule hat man Deutsch,<br />
Jiddisch und Englisch miteinander gesprochen.<br />
Sexualkunde, Urknalltheorie und Evolutionstheorie hat<br />
Mirijam nicht gelernt. Auch die Schulbücher waren auf<br />
Deutsch, allerdings wurden laut Mirijam in ihrer Schulzeit,<br />
also zu Beginn der Nullerjahre, Wörter und Ausdrücke, die als<br />
problematisch angesehen wurden, vorab mit einem Marker<br />
geschwärzt und erst dann an die Schülerinnen ausgeteilt.<br />
Dazu zählten laut Mirijam beispielsweise Wörter wie „Busen“.<br />
„Wir schwärzen nichts aus Schulbüchern, allerdings<br />
achten wir darauf, welche Inhalte wir unseren Schülerinnen<br />
vermitteln“, erzählt auf unsere Nachfrage Arieh Bauer, der<br />
Generalsekretär des Israelitischen Tempel- und Schulvereins<br />
Machsike Hadass, zu dem auch die Beth-Jakov-Schule<br />
gehört. Dazu zähle beispielsweise die Theorie rund um die<br />
Welterschaffung. Es gehe nicht darum, den Kindern absichtlich<br />
etwas vorzuenthalten, sondern darum, dass man die<br />
Schüler:innen nicht mit Inhalten und Bildern konfrontieren<br />
wolle, die sie nicht gewohnt seien. „Viele Familien ziehen<br />
extra wegen unserer Schule nach Wien, viele dieser Kinder<br />
schauen nicht fern, haben keine Smartphones, lesen keine<br />
Zeitung – das ist einfach ein anderer Lebensstil“, erklärt Bauer.<br />
Das Schulgeld beträgt 400 € im Monat „So viel zahlt aber<br />
fast niemand, wir haben oft kinderreiche Familien bei uns,<br />
da gibt es Rabatte – oder man unterstützt<br />
finanziell schlechter gestellte Familien.“<br />
Mirijam hat ihre Volksschulzeit sehr gut<br />
in Erinnerung. „Es herrschte ein sehr starkes<br />
Gemeinschaftsgefühl, ich habe mich<br />
immer sehr wohl gefühlt, kaum jemand<br />
wurde gemobbt oder ausgeschlossen.“<br />
Das Gemeinschaftsgefühl hört nicht bei der<br />
Schule auf, sondern wird kollektiv gelebt,<br />
auch wenn es um finanzielle Absicherung<br />
geht: „Als ärmere jüdische Familie in Wien<br />
„<br />
Es gibt immer<br />
Unterstützung von<br />
der Community,<br />
man ist immer gut<br />
aufgehoben. Das<br />
finde ich sehr schön.<br />
“<br />
HOLOCAUST-LEUGNUNG UND ANTI-<br />
SEMITISCHE AGGRESSIONEN IN WIEN<br />
Man hilft einander, schaut aufeinander und bleibt gerne<br />
unter sich. Man passe auf „seine Leute“ auf. Grund dafür<br />
sind auch die Gefahren, denen sichtbar jüdische Menschen<br />
in Österreich ausgesetzt sind: Allein im Jahr 2021 hat die<br />
Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien 965<br />
antisemitische Vorfälle verzeichnet. Darunter fallen u.a.<br />
Beschimpfungen, Angriffe, Bedrohungen, Verschwörungstheorien<br />
oder Holocaust-Leugnung. Im Jahr 2022 waren es<br />
719 Vorfälle. In dem Antisemitismus-Bericht der Meldestelle<br />
werden Fälle genannt, in denen sichtbar jüdische Teenager<br />
auf offener Straße zusammengeschlagen wurden – oft von<br />
Gleichaltrigen. Angeführt sind aber auch Erwachsene, denen<br />
versucht wurde, die Kippa vom Kopf zu reißen, die Schimpftiraden<br />
über sich ergehen lassen mussten – die Liste der Vorfälle<br />
ist lang. Offen gelebter Antisemitismus ist in Österreich<br />
für viele jüdische Menschen trauriger Alltag.<br />
Mirijam denkt kurz nach. „Die Gemeinschaft ist aber auch<br />
deswegen so stark, weil wir einen gemeinsamen ‚Feind‘<br />
haben“ – sie formt Anführungszeichen mit ihren Fingern.<br />
DER GEMEINSAME FEIND<br />
„Als chassidischer Jude läuft man mit dem Gedanken<br />
herum: Wir sind nicht die Außenwelt“, sagt die Studentin.<br />
Die Außenwelt, damit meint sie die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft.<br />
„Das sind die Täter:innen, in dem Sinne,<br />
dass sie uns in der Geschichte immer wieder als Zielscheibe<br />
gesehen haben. Wir sind quasi die Opfer. Ich würde auch<br />
argumentieren, dass der Chassidismus eine Reaktion auf das<br />
kollektive Trauma der jüdischen Geschichte ist.“ Es wird als<br />
Lösung empfunden, sich von der Außenwelt abzugrenzen<br />
und zu isolieren – als Antwort auf das kollektive Trauma, das<br />
Jüd:innen in der Weltgeschichte mit Verfolgung und insbesondere<br />
durch den Holocaust zugetragen wurde. „Vielleicht<br />
liegt der Grund für unsere Leidensgeschichte darin, dass wir<br />
nicht religiös genug waren. Abgrenzung ist der einzige Weg,<br />
um uns zu schützen. Ich weiß, diese Aussage zu treffen, ist<br />
hart, aber viele Chassiden glauben auch daran, dass Gott<br />
verlangt, dass wir ihm mehr dienen – denn nur so könnten<br />
wir dem Leiden entgehen“, so Mirijam. Dieser Aspekt einer<br />
kollektiv getragenen Schuld wird in der Community sehr kontrovers<br />
gesehen. „Viele chassidische Juden<br />
glauben fest daran. Ich glaube nicht daran,<br />
aber ich glaube sehr wohl an Gott – an<br />
einen wohlwollenden Gott“, sagt Mirijam.<br />
Nach der Volksschule kam Mirijam an<br />
die Lauder-Chabad-Schule, deren Campus<br />
im Augarten liegt. „Dort ist es nicht mehr<br />
ganz so streng. Meiner Erfahrung nach<br />
versucht man, dort eine gute Balance zwischen<br />
religiösen und profanen Fächern zu<br />
finden und die beiden zu vereinbaren.“ So<br />
© MIGUEL RIOPA / AFP / picturedesk.com<br />
16 / POLITIKA | WIEN /
lernte sie dort auch über die Urknalltheorie und Evolution als<br />
Konzepte der Welterklärung. Heute bewegt sich Mirijam auch<br />
in Kreisen, in denen auch nicht-jüdische Menschen sind,<br />
beispielsweise an der Uni – sie hofft, dieses Jahr noch ihr<br />
Studium abzuschließen.<br />
© Katja Heinemann / laif / picturedesk.com<br />
AUTOMATISIERTE LICHTSCHALTER UND<br />
AUTOMATISCHE KOCHPLATTEN:<br />
DER MODERNE SCHABBAT<br />
Eine Tradition, an der Mirijam sehr gerne festhält, ist der<br />
Schabbat, auf den sie sich jede Woche freut: Schabbat<br />
begeht man jede Woche von Freitag bei Sonnenuntergang,<br />
bis zum nächsten Sonnenuntergang am Samstag. In dieser<br />
Zeit ist es orthodoxen Jüd:innen untersagt, zu arbeiten,<br />
Technologie zu nutzen, Hausarbeit wie Kochen und Putzen<br />
zu leisten oder auch nur einen Lichtschalter zu betätigen.<br />
Für Mirijam sind die wöchentlichen Vorbereitungen auf<br />
den Schabbat ein ganz natürlicher Prozess. „Wenn man<br />
damit aufwächst, ist es komplett automatisiert. Am Freitagabend<br />
schalte ich mein Handy aus, und auch mein Kopf<br />
schaltet um. Ich merke, wie mein Körper total ruhig wird,<br />
sobald wir die Kerzen am Freitagabend anzünden, um den<br />
Schabbat einzuleiten. Die Freitage sind bis zum Abend dafür<br />
sehr hektisch“, lacht die 22-Jährige.<br />
Mirijam verrät uns einige Tricks, mit denen sich der<br />
Schabbat leichter begehen lässt: „Wir haben beispielsweise<br />
eine Schabbat-Kochplatte, die das vorgekochte Essen in<br />
den Töpfen 25 Stunden lang, also von Anfang bis Ende des<br />
Schabbats, warmhält.“ Auch kommen automatisierte Lichtschalter<br />
zum Einsatz – falls man sich zuhause nicht alleine<br />
am natürlichen Licht orientieren will. Mit Klatschen oder per<br />
Stimme das Licht zu bedienen, verstößt nämlich auch gegen<br />
die Regeln. „Die Quintessenz des Schabbats ist, dass man<br />
die Natur der Welt nicht verändert, also ich darf nichts in<br />
Gange bringen, sei es nur ein Lichtschalter. Früher durften<br />
die Bauern ihre Tiere nicht arbeiten lassen, die Tiere mussten<br />
auch ruhen. Es geht um eine geistige und körperliche Ruhe“,<br />
erklärt Mirijam.<br />
Im Notfall ist es im Übrigen immer möglich, entgegen den<br />
Regeln des Schabbats zum Beispiel ein Handy zu verwenden.<br />
„Das Leben ist die höchste Priorität, es steht über allem<br />
anderen, da werden alle anderen jüdischen Gesetze ungültig,<br />
sobald das Leben gefährdet ist – bei einem Herzinfarkt darf<br />
man also klarerweise die Rettung rufen.“<br />
Apropos Gesundheitsversorgung: „Wir gehen alle zu<br />
Dr. Tamir im Zweiten“, lacht Mirijam. Man kenne sich untereinander,<br />
auch die Berufe, die man ausübt:<br />
Es gibt Anwälte, Ärzte, Notare und reichlich<br />
Cafés und Supermärkte, die von der<br />
Community frequentiert werden. Man gehe<br />
lieber zu jenen, die man kenne.<br />
VERKUPPELT, VERLIEBT,<br />
VERLOBT<br />
Wie sieht es in Sachen Liebe und Dating<br />
aus? Kuppeln ist sehr weit verbreitet:<br />
Jewish Matchmaking nennt man „Schid-<br />
„<br />
Wir habene eine<br />
Schabbat-Kochplatte,<br />
die das vorgekochte<br />
Essen in den Töpfen<br />
25 Stunden lang<br />
warmhält.<br />
“<br />
„Ich merke, wie mein Körper total ruhig wird,<br />
sobald wir die Kerzen am Freitagabend anzünden,<br />
um den Schabbat einzuleiten.“<br />
duch“. „Das ist meistens ein Paar, das zusammenarbeitet.<br />
Wenn man sich auf ein Date trifft und nicht mehr weitermachen<br />
will, dann teilen das die Matchmaker der Person<br />
mit. Sie sind professionell ausgebildet und wissen, wie man<br />
Ablehnung gut kommuniziert.“<br />
Wenn Interesse besteht, trifft man sich mit der Person.<br />
Man trifft sich zu zweit, aber im öffentlichen Raum, also<br />
entweder in einem Café oder in der Lobby eines Hotels. Die<br />
Dienste von Matchmakern in Anspruch zu nehmen, kostet<br />
selbstverständlich etwas – aber sowohl der Mann als auch<br />
die Frau haben jederzeit die Möglichkeit, abzusagen. „Ich<br />
kenne Frauen, die 50 erste Dates hatten, bis sie ihren Mann<br />
gefunden haben. Das ist möglich und nicht verpönt, man<br />
kann das so lange machen, bis man die richtige Person<br />
bekommt. Wenn es passt, verlobt man sich.“ Zwischen der<br />
Verlobung und der Hochzeit vergeht in der Regel nicht viel<br />
Zeit. Für verlobte Paare gibt es dann auch im Rahmen von<br />
vorehelichen Kursen Aufklärungsunterricht in Sachen Sex<br />
– der Unterricht erfolgt für die Frau und den Mann einzeln:<br />
„Männern wird da erklärt, dass sie ihre Frau sexuell befriedigen<br />
müssen und wie sie das schaffen könnten; und umgekehrt<br />
wird auch den Frauen dargelegt, dass sie sich um die<br />
Bedürfnisse der Männer zu kümmern hätten – und auch,<br />
dass man, während die Frau ihre Periode hat, in getrennten<br />
Betten schläft. Das gehört alles zur Religion.“<br />
Als Tochter aus einer chassidischen<br />
Familie war für Mirijam die Geschlechtertrennung<br />
ein wesentlicher Bestandteil<br />
ihrer Erziehung. „Freundschaften zwischen<br />
Männern und Frauen gibt es so nicht –<br />
stattdessen ist man mit ganzen Familien<br />
befreundet.“<br />
Es gibt bei traditionellen chassidischen<br />
Hochzeiten eine Trennwand zwischen Män-<br />
/ POLITIKA | WIEN / 17
nern und Frauen, wie man es beispielsweise<br />
auch bei traditionell muslimischen Hochzeiten<br />
kennt. In der Realität ist das alles<br />
aber auch flexibler und flüssiger, berichtet<br />
die Studentin. Die Hochzeitsszene aus der<br />
Netflix-Produktion „Unorthodox“ empfindet<br />
Mirijam als eine der wenigen, wirklich<br />
authentischen Darstellungen in dieser<br />
Serie. „Das Einzige, was es in der jüdischen<br />
Infrastruktur noch nicht gibt, ist ein eigener<br />
Hochzeitssaal. Stattdessen werden ordinäre<br />
Säle angemietet“, lacht Mirijam.<br />
KEINE DOPPELSTANDARDS<br />
Wie steht es um die Frauen in der Community? Das ist eine<br />
brennende Frage, die Mirijam häufig gestellt wird. „Unabhängig<br />
davon, wie viele Einschränkungen es gibt, etwa bei<br />
Kleidung und Bescheidenheit, es gibt zumindest wenige<br />
Doppelstandards. Das bedeutet, auch Männer müssen<br />
bescheiden gekleidet sein, nicht nur die Frauen. Das gefällt<br />
mir. Wenn man sagt, Frauen dürfen keinen Sex vor der Ehe<br />
haben, dürfen das Männer auch nicht. Und sie halten sich<br />
auch daran. Ich habe nichts gegen Einschränkungen, solange<br />
sie keine Doppelmoral sind“, erklärt Mirijam.<br />
Im Ehevertrag sind für Frauen drei Dinge fixiert: finanzielle<br />
Absicherung, Versorgung mit Essen und Kleidung sowie<br />
ein Recht auf sexuelle Befriedigung. Dieser Vertrag wird<br />
unter Anwesenheit zweier Zeugen unterschrieben. „Die jüdische<br />
Identität wird über die Mutter weitervererbt. Also wenn<br />
ein jüdischer Mann eine nicht-jüdische Frau heiraten möchte,<br />
dann muss er in Kauf nehmen, dass die Kinder nach der<br />
Halacha, also dem jüdischen Gesetz, nicht als jüdisch gelten.<br />
Das ist in der orthodoxen Community verpönt“, erklärt sie.<br />
In der chassidischen Community gilt Assimilation als<br />
Bedrohung, die bekämpft werden muss, so Mirijam. Sie<br />
selbst hatte während ihrer Zeit an der Mädchenschule keine<br />
nicht-jüdischen Freunde. Abschottung der Community ist<br />
zum gängigen Schutzmechanismus geworden. Es gibt jedoch<br />
unzählige Vereine und Organisationen, in denen sich die<br />
jüdische Jugend trifft. Daraus entstehen nicht selten auch<br />
Ehen untereinander.<br />
DIE JÜDISCHE DIASPORA UND ISRAEL<br />
Kürzlich war Mirijam in Israel unterwegs, wo seit Monaten<br />
große Teile der Bevölkerung gegen die ultrarechte Regierung<br />
demonstrieren. „Ich war auf einer Demo mit 200.000 Menschen.<br />
Ich begrüße die Justiz-Reform ganz und gar nicht,<br />
das ist schrecklich und ein Schritt zurück in der Demokratie<br />
von Israel“, sagt Mirijam. Kritik an der Politik Israels und<br />
Antisemitismus sind für die junge Jüdin zwei verschiedene<br />
Sachen. „Ich persönlich kritisiere Israels Politik ständig, ich<br />
finde politische Kritik unglaublich wichtig. Ich wünsche mir<br />
eine ganz andere Regierung. Wenn ich sage, der israelische<br />
Präsident Netanyahu muss zurücktreten, dann ist das anders,<br />
als wenn ich sage, die Juden in Israel sind wie Nazis. Das<br />
wäre klar antisemitisch. Das wäre ein eindrückliches Beispiel<br />
für antizionistischen Antisemitismus, also wenn der Jude mit<br />
„<br />
Wenn man mit uns<br />
reden will, sollte man<br />
keine Scheu haben. Wir<br />
sind pluralistisch, wir<br />
sind da, und das schon<br />
seit Jahrhunderten.<br />
“<br />
dem Israeli gleichgesetzt wird, das passiert<br />
leider die ganze Zeit. Ich habe die israelische<br />
Staatsbürgerschaft, die meisten Juden<br />
hier aber nicht“, so Mirijam. Die Problematik<br />
in der Aussage, dass Juden in Israel wie<br />
Nazis seien, liege nicht nur in der Gleichsetzung<br />
von Juden und Israelis, sondern auch<br />
in der impliziten Vergleichung des Nahostkonflikts<br />
mit dem Holocaust – dies könnte<br />
als sekundärer Antisemitismus interpretiert<br />
werden, erklärt sie weiter.<br />
Eines ihrer großen Anliegen an die Gesellschaft ist, ein<br />
Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es bei Weitem nicht nur<br />
„ein“ Judentum gibt. „Das Judentum wird in Österreich sehr<br />
vielfältig und bunt gelebt. Man muss auch ganz klar zwischen<br />
dem Chassidismus und dem Judentum unterscheiden, also<br />
was für was gilt. Shidduch ist zum Beispiel etwas, was nur<br />
im orthodoxen Judentum praktiziert wird. Man muss uns mit<br />
unseren Differenzen wahrnehmen. Wenn man mit uns reden<br />
will, sollte man keine Scheu haben. Wir sind pluralistisch, wir<br />
sind da, und das schon seit vielen Jahrhunderten.“<br />
Zum Schluss brannte uns noch eine Frage auf der Zunge:<br />
Was hat es mit sichtbar jüdischen Menschen und Scootern<br />
auf sich? Mirijam lacht darauf laut. „Ich wäre tatsächlich heute<br />
auch mit dem Roller gekommen. Es ist so praktisch! Es ist<br />
ein Trend, irgendwer aus der Community hat das gestartet<br />
und seitdem haben alle einen Roller. Einen religiösen Grund<br />
hat das nicht. Wir lachen ständig darüber; wir sagen immer,<br />
man ist nur Jude, wenn man einen Roller hat.“ ●<br />
* Name von der Redaktion geändert<br />
MEHR INFOS:<br />
Du möchtest mehr über das Judentum erfahren?<br />
Der Verein „Likrat“ (hebräisch für „aufeinander<br />
zugehen“) bietet Lehrgänge zum Judentum und<br />
Touren durch das jüdische Wien an, und hilft dabei<br />
Fragen zu beantworten und Vorurteile zu bekämpfen.<br />
Mehr Informationen unter: www.ikg-wien.at/likrat<br />
18 / POLITIKA | WIEN /
WAS GIBT’S NEUES AM BALKAN?<br />
Von Dennis Miskić<br />
WAS, WENN NIEMAND BLEIBT?<br />
© Zoe Opratko<br />
„Ich habe den Deutschkurs bestanden“, sagte<br />
mein Kindheitsfreund aus Bosnien-Herzegowina<br />
mit hoffnungsvollen Augen zu mir. Er hat sein ganzes<br />
Leben in Bosnien verbracht, sieht dort aber<br />
keine Zukunft mehr. Damit ist er wohl nicht allein.<br />
Nach dem Schulabschluss konzentrierte er sich<br />
nur noch darauf, so schnell wie möglich nach<br />
Deutschland zu kommen. Mein Angebot, nach<br />
Wien zu kommen, ließ er sich auch durch den<br />
Kopf gehen. Einfach nur raus aus Bosnien.<br />
B2-ZERTIFIKAT ALS<br />
TICKET NACH DRAUSSEN<br />
Die B2-Deutschprüfung zu bestehen<br />
ist hier wohl gleichgestellt mit einem<br />
Uni-Abschluss. Es ist das vermeintliche<br />
Versprechen einer besseren Zukunft,<br />
die Aussicht auf ein stabiles Leben, ein<br />
Ticket nach draußen. Und das, obwohl<br />
sie dafür ihr ganzes Leben zurücklassen müssen.<br />
Alle paar Monate berichten die Medien über<br />
„meterlange Schlangen“ vor der Deutschen<br />
Botschaft. Egal ob bei 35 Grad Hitze oder Minustemperaturen.<br />
Sie stehen an, denn das Visum in<br />
die EU ist es wohl wert. Und jetzt mal ehrlich, wer<br />
kann es ihnen übelnehmen?<br />
Auch wenn der Krieg mit dem Dayton-Friedensvertrag<br />
1995 beendet werden konnte, kann<br />
heute wohl kaum von einem Frieden gesprochen<br />
werden. Politikerinnen und Politiker bedienen sich<br />
ständig der gleichen nationalistischen Rhetorik,<br />
die es schon in den 90ern gab. Und in den Schulen<br />
wird dieser Hass greifbar.<br />
Kolumnist Dennis Miskić<br />
hat seinen Auslandsdienst<br />
in Srebrenica<br />
geleistet und engagiert<br />
sich in verschiedenen<br />
NGOs zum Thema Westbalkan<br />
und Migrationspolitik.<br />
In seiner Kolumne<br />
hält er euch über Politisches<br />
& Kulturelles vom<br />
Balkan am Laufenden.<br />
In den Geschichtsbüchern werden seit Jahrzehnten<br />
verschiedene Narrative der Geschichte<br />
erzählt. Anstatt zur Versöhnung beizutragen,<br />
spalten diese das Land nur weiter.<br />
„ZWEI SCHULEN UNTER<br />
EINEM DACH“<br />
Die Lehrpläne fokussieren sich auf die jeweilige<br />
Ethnie, so gibt es eben eine Erzählung der Bosniaken,<br />
Kroaten und Serben. Hier wird<br />
das „eigene Volk“ als Opfer dargestellt<br />
und „die anderen“ als Täter. Nur drei<br />
Gymnasien im ganzen Land versuchen<br />
eine „objektive“ Sicht zu erzählen.<br />
Die Teilung hört aber nicht bei den<br />
Büchern auf. Im kroatisch-bosniakischen<br />
Landesteil werden Schülerinnen<br />
und Schüler sogar physisch getrennt.<br />
Die Kinder haben eigene Schuleingänge<br />
und Klassenzimmer. Das Phänomen<br />
wurde „zwei Schulen unter einem Dach“ getauft<br />
und von der OSZE eingeführt.<br />
Wer kann schon in so einem System aufwachsen.<br />
Als ob die politischen und wirtschaftlichen Krisen<br />
nicht genug wären. Irgendwann platzt einem<br />
eben der Kragen vor Nationalismus, Kriegsangst<br />
und Hass. Oder man wird selbst zum Nationalisten.<br />
Wenn jedes Jahr aufs Neue die Cafés etwas<br />
leerer und Häuser verlassener wirken, stelle ich<br />
mir gezwungenerweise eine Frage: Was, wenn<br />
niemand bleibt? ●<br />
/ MIT SCHARF / 19
Herr Schallenberg,<br />
wie viele<br />
Zigaretten rauchen<br />
Sie am Tag?<br />
In wie vielen<br />
Ländern haben<br />
Sie schon<br />
gelebt?<br />
Wie hoch ist die<br />
Wahrscheinlichkeit<br />
(in %),<br />
dass Herbert<br />
Kickl nächster<br />
Kanzler wird?<br />
Welcher ist Ihr<br />
Lieblingsbezirk<br />
in Wien?<br />
Interview in Zahlen: In der Politik<br />
wird schon genug geredet. Biber<br />
fragt in Worten, Außenminister<br />
Alexander Schallenberg<br />
antwortet mit einer Zahl.<br />
6<br />
0<br />
1<br />
Von Aleksandra Tulej und Nada El-Azar-Chekh,<br />
Fotos: Zoe Opratko<br />
Auf 0% schätzt Alexander Schallenberg die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass Herbert Kickl der nächste Kanzler wird.<br />
Drei Kolleg:innen aus der ÖVP gehen dem studierten<br />
Juristen auf die Nerven.<br />
Wie oft im<br />
Monat fliegen<br />
Sie beruflich<br />
mit dem<br />
Flugzeug?<br />
Wann hatten<br />
Sie zuletzt<br />
Kontakt mit<br />
Sebastian<br />
Kurz?<br />
Wie viele<br />
Zigaretten<br />
rauchen Sie<br />
am Tag?<br />
Wie viele<br />
österreichische<br />
Kulturforen<br />
gibt es im<br />
Ausland?<br />
Wie lange<br />
wird die EU<br />
bestehen<br />
bleiben?<br />
8<br />
vor<br />
30+<br />
30<br />
2Monaten<br />
20 / POLITIKA /
Wie viele<br />
Stunden<br />
arbeiten Sie<br />
pro Woche?<br />
Wie viele<br />
Stunden<br />
schlafen Sie<br />
pro Nacht?<br />
In wie viele<br />
Länder<br />
würden Sie als<br />
Außenminister<br />
am liebsten nie<br />
wieder reisen?<br />
Wie viele österr.<br />
Staatsbürger:<br />
innen in der<br />
Ukraine sind<br />
beim Außenministerium<br />
registriert?<br />
Wie viele<br />
Parteien haben<br />
Sie in ihrem<br />
Leben gewählt?<br />
70<br />
6<br />
0<br />
51<br />
1<br />
Im Schnitt acht Mal fliegt Außenminister Schallenberg<br />
im Monat mit dem Flugzeug.<br />
Geht es nach dem Spitzendiplomaten, wird die EU<br />
für immer bestehen bleiben.<br />
Wie hoch ist<br />
die Wahrscheinlichkeit<br />
(in %), dass<br />
Österreich<br />
eines Tages der<br />
NATO beitritt?<br />
Wie viele<br />
Kolleg:innen<br />
aus der ÖVP<br />
gehen Ihnen auf<br />
die Nerven?<br />
Wie viel Zeit<br />
verbringen Sie<br />
pro Tag auf<br />
Social Media?<br />
Wie oft haben<br />
Sie überlegt,<br />
zurückzutreten?<br />
Wann hatten<br />
Sie das letzte<br />
Mal Kontakt<br />
mit Karin<br />
Kneissl?<br />
10<br />
3<br />
0<br />
0<br />
vor<br />
4Jahren<br />
/ POLITIKA / 21
„Gewalt ist für<br />
Obdachlose<br />
nichts Neues.“<br />
Drei Angriffe in weniger als einem Monat,<br />
zwei davon tödlich: Gewalt gegenüber<br />
Obdachlosen nimmt Ausmaße wie<br />
noch nie zuvor an. Doch auch vor den<br />
Angriffen hatten Obdachlose mit Gewalt<br />
und Marginalisierung zu kämpfen. Wir<br />
haben mit Susanne Peter, Leiterin von<br />
Streetwork, über die Angriffe, ihre Arbeit<br />
mit Obdachlosen und unsere Rolle als<br />
Zivilgesellschaft gesprochen.<br />
Von Mathias Psilinakis<br />
Susanne Peter, Leiterin von Streetwork<br />
<strong>BIBER</strong>: Wie nehmen Sie als Sozialarbeiterin die aktuelle<br />
Situation rund um die Messerattacken auf Obdachlose wahr?<br />
Wäre es angemessen, von einem noch nie dagewesenen<br />
Maß an Gewalt gegenüber Obdachlosen zu sprechen?<br />
SUSANNE PETER: In meiner Erfahrung im Wohnungslosenbereich,<br />
das sind ja doch schon über 30 Jahre, gab es so<br />
eine Art von Gewalt noch nie.<br />
Und die Obdachlosen selbst? Wie nehmen sie die Ereignisse<br />
der letzten Wochen wahr?<br />
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es gibt bei vielen<br />
sehr viel Angst. Manche Klient:innen haben aber noch gar<br />
nicht von den Ereignissen erfahren, weil obdachlose Menschen<br />
nicht unbedingt Tageszeitungen lesen oder auch weil<br />
sie oft die Nachrichtensprache nicht gut genug können.<br />
Teilweise sind sie ausschließlich mit ihren eigenen Grundbedürfnissen<br />
beschäftigt, also der Suche nach Essen oder<br />
Schlafplätzen. Manche schaffen es aufgrund ihrer psychischen<br />
Erkrankung nicht, die Situation wahrzunehmen. Manche<br />
hingegen nehmen es aber auch wahr und versuchen,<br />
sich zu schützen.<br />
Das Streetwork arbeitet mit Obdachlosen in ganz Wien und<br />
ist sieben Mal in der Woche im öffentlichen Raum unterwegs.<br />
Welche Hilfsangebote umfasst denn dieses Streetwork? Wie<br />
läuft es typischerweise ab?<br />
Typisches Streetwork gibt es keines (lacht). Wir sind mit<br />
dem Auto unterwegs, um Obdachlose in ganz Wien aufzusuchen.<br />
Wir haben Kleidung mit, wir haben Essen mit und wir<br />
versuchen seit kurzem, Trillerpfeifen und Taschenalarme zu<br />
verteilen, damit sich Obdachlose bemerkbar machen können.<br />
Wir haben eine eigene Datenbank, wo die Meldungen, die<br />
wir von Anrufer:innen erhalten, eingegeben werden. Außerdem<br />
hat die Gruft (Anm. d. Red.: Eine Caritas-Einrichtung<br />
für obdachlose Menschen) bestimmte Betreuungsplätze, zu<br />
denen wir regelmäßig fahren. Mit den Daten erstellen wir<br />
uns eine Tour und versuchen einzuschätzen, wer am dringendsten<br />
Hilfe braucht. Wenn es etwa kalt ist und wir zwei<br />
Meldungen bekommen, die erste von einer Person in einem<br />
Zelt und die zweite von jemandem auf einer Parkbank nur<br />
mit einer dünnen Decke, dann fahren wir natürlich zuerst zur<br />
Parkbank.<br />
Wie kam es dazu, dass Sie sich für eine Arbeit im Streetwork<br />
entschieden haben?<br />
(Lacht) Ich habe mich gar nicht entschieden. Ich habe mit<br />
16 Jahren in der Gruft angefangen, das war eine Aktion von<br />
16-jährigen Schülerinnen und Schülern. Angefangen haben<br />
wir mit Tee und Schmalzbrot, die Gruft wurde immer größer<br />
und irgendwann ist sie zum Tageszentrum geworden. Wir<br />
haben uns aber gefragt: Wenn wir abends zusperren – wo<br />
gehen die Klient:innen hin? Deswegen waren wir immer<br />
wieder auf der Straße unterwegs. Als dann 1994 die Stadt<br />
Wien meinte, es muss etwas für die Obdachlosen getan werden,<br />
haben wir angeboten, Streetwork zu machen. Ich war<br />
eine der ersten Sozialarbeiter:innen im Streetwork, seitdem<br />
mache ich das. Das Streetwork ist also mit der Gruft mitgewachsen.<br />
© Atila Vadoc<br />
22 / POLITIKA /
In Österreich sind rund 20 000 Menschen von Obdachlosigkeit<br />
betroffen. Wie passiert es, dass Menschen in die<br />
Obdachlosigkeit gelangen? Was sind häufige Ursachen?<br />
Trennung, Schicksalsschläge, psychische Erkrankungen, aber<br />
mittlerweile auch, dass sich Leute das Leben und die Miete<br />
nicht mehr leisten können. Ich habe auch schon gehört:<br />
„Meine Frau ist tot, mein Kind ist tot, es hat eh keinen Sinn<br />
mehr“. Menschen landen aus verschiedenen Gründen auf<br />
der Straße, und je nachdem, was die Gründe sind, können<br />
sie Unterstützung annehmen oder eben nicht. Je länger<br />
Menschen auf der Straße sind, desto schwieriger ist es oft<br />
für sie, Hilfe anzunehmen.<br />
Welchen Gefahren sind obdachlose Personen in Wien in<br />
ihrem Alltag ausgesetzt?<br />
Gewalt ist für Obdachlose nichts Neues, auch wenn es<br />
diese Art von Gewalt noch nie gab. Obdachlose Menschen<br />
sind immer wachsam, ob irgendetwas passiert oder sie<br />
irgendwer attackiert. Immer wieder erzählen uns obdachlose<br />
Menschen, dass sie attackiert worden sind, dass ihnen<br />
etwas gestohlen wurde, dass sie geschlagen worden sind.<br />
Teilweise schlafen sie deswegen auch schon mit offenem<br />
Schlafsack oder sogar mit Schuhen an, um schneller flüchten<br />
zu können. Viele erzählen auch, dass sie nur mit einem Auge<br />
schlafen. Das Problem: Irgendwann schlafen sie und genau<br />
dann sind sie am vulnerabelsten.<br />
Sie sind nun schon seit mehr als 30 Jahren im Streetwork<br />
tätig. Wie hat sich die Situation der Obdachlosen in den<br />
letzten Jahrzehnten verändert?<br />
Ich glaube, dass die Gewalt zugenommen hat. Aber auch von<br />
den Angeboten her hat es einen Quantensprung gegeben.<br />
Es gibt sehr viel Streetwork, sehr viele Tageszentren, es gibt<br />
betreutes Wohnen, es gibt Housing First. Da hat sich also<br />
schon sehr viel weiterentwickelt.<br />
Die Caritas hat als Reaktion auf die Messerattacken unter<br />
anderem begonnen, Trillerpfeifen und Taschenalarme auszuteilen.<br />
Im Internet kam unter anderem die Kritik, dass das<br />
nicht genug sei. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?<br />
„Viele schlafen mit offenem Schlafsack,<br />
um immer flüchten zu können“<br />
Die Frage ist, ob diese Kritiker:innen andere Ideen haben. Es<br />
sind natürlich nicht die einzigen Maßnahmen, es gibt zum<br />
Beispiel mehr Notquartiersplätze, die mit Unterstützung der<br />
Stadt Wien zur Verfügung gestellt werden. Trotz allem gibt<br />
es Menschen, die auf der Straße bleiben. Manche können<br />
oder möchten aus unterschiedlichen Gründen nicht in ein<br />
Notquartier gehen. Klar, da wirken Trillerpfeifen wie ein<br />
hilfloser Versuch, wir können aber auch keine Pfeffersprays<br />
oder Messer verteilen – das sind Waffen, das ist verboten.<br />
Letztens ist etwa ein Obdachloser in die Gruft gekommen<br />
und meinte: „Ich will auch so ein Pfeiferl haben, wo gibt’s<br />
die?“, das Angebot wird also angenommen. Natürlich ist<br />
es keine Garantie, um einen Täter abzuschrecken. Als<br />
Streetworker:innen können wir Klient:innen vor Kälte und<br />
Hitze schützen, wir können Schlafsäcke, Decken, Wasser und<br />
Sonnencreme vorbeibringen. Es gibt aber kein Rezept, um<br />
Obdachlose vor Messerattacken zu schützen.<br />
© Atila Vadoc, Willfried Gredler-Oxenbauer - picturedesk.com<br />
„Hostile Design“ nennt man die Gestaltung von z.B. Bänken, die<br />
so gebaut sind, dass Obdachlose hier nicht übernachten können.<br />
Welche Forderungen haben Sie an die Politik, um Obdachlosen<br />
besser zu helfen?<br />
Unabhängig von den aktuellen Messerattacken bräuchte es<br />
im Sommer mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork.<br />
Akut wurde von der Stadt Wien jetzt sehr gut reagiert, es<br />
gibt ja schon mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork.<br />
Natürlich kann man auch nicht von heute auf morgen alles<br />
bereitstellen.<br />
Wie können wir als Zivilgesellschaft Obdachlosen helfen?<br />
Es ist wichtig, Schlafplätze zu melden. Wenn jemand pfeift,<br />
sollte man schauen, ob die Person in Gefahr ist und wenn<br />
Gefahr besteht, 133 rufen. Wir verteilen gerade deswegen<br />
Trillerpfeifen und Alarme, als Passant:in muss man aber auch<br />
hinschauen und darauf reagieren. ●<br />
/ POLITIKA / <strong>23</strong>
„Du brauchst nur<br />
das Mindset!“<br />
INSIDE FINANZ-TRADING-AKADEMIE<br />
24 / RAMBAZAMBA /
Warte! Warte! Warte!<br />
Willst du ganz ohne Arbeiten reich werden? Willst<br />
du dein Leben verändern, dein eigener Boss sein? Du<br />
brauchst dafür nichts weiter als das richtige Mindset.<br />
Das verspricht: IM Team Alpha, eine Online-<br />
Bildungsplattform. Die Zielgruppe: jung, pleite und<br />
migrantisch. Redakteurin Dione Azemi war mit dabei.<br />
Von Dione Azemi, Illustrationen: Thomas Süß<br />
Wir bringen die Wall<br />
Street zur Mainstreet<br />
und verhelfen auch dir,<br />
die mächtigste Fähigkeit,<br />
die es auf diesem Planeten gibt,<br />
zu erlernen und zeitlich sowie ortsunabhängig<br />
ein Einkommen aufzubauen“,<br />
behauptet Team Alpha, ein österreichisches<br />
Unternehmen, das eine Online-<br />
Finanzakademie bewirbt. „Wie schaffen<br />
sie es, Leute von einer Mitgliedschaft zu<br />
überzeugen?“, frage ich mich und starte<br />
einen Selbstversuch. Ich werde bei Team<br />
Alpha einsteigen: Ich, Dione, eine junge<br />
Psychologiestudentin, die schnell und<br />
einfach Geld machen will.<br />
Weil ich über die zahlreichen Instagram-Profile,<br />
die ich durchstöbere, keine<br />
konkreten Informationen zu kommenden<br />
Events finde, kontaktiere ich Team Alpha<br />
über ein Kontaktformular auf ihrer Webseite<br />
und werde innerhalb der nächsten<br />
fünf Minuten über WhatsApp von einem<br />
der Gründer angeschrieben. Bei unserem<br />
ersten Telefonat macht er mir auffallend<br />
viele Komplimente und von Beginn an<br />
herrscht eine sehr vertraute Stimmung.<br />
Ich werde von ihm auf ein Event eingeladen,<br />
das extra dafür gedacht ist, neuen<br />
Leuten einen Einblick in die Academy<br />
zu gewähren. An einem Samstagabend<br />
komme ich also an die genannte Adresse,<br />
ein unscheinbarer Seminarsaal im<br />
fünften Bezirk Wiens. Und trotz meiner<br />
ausführlichen Recherche im Vorhinein,<br />
hätte mich nichts auf die dort herrschende<br />
Stimmung vorbereiten können.<br />
RICH DAD, POOR DAD<br />
Ein Mädchen, das ich dort zwischen<br />
den anderen etwa 400 Besucher:innen<br />
kennenlerne, erzählt mir mit voller<br />
Begeisterung in ihren Augen davon,<br />
dass sie schon seit drei Monaten dabei<br />
sei und die kommenden Reden mein<br />
Leben verändern würden. Während<br />
unseres Gespräches laufen über mehrere<br />
Bildschirme gleichzeitig heroische Slow-<br />
Motion-Videos von jubelnden Menschenmengen<br />
begleitet von lauter Partymusik.<br />
Als der erste Redner den Raum betritt,<br />
wird er mit ohrenbetäubendem Applaus<br />
empfangen und eröffnet damit das<br />
Event.<br />
„Kennt jemand von euch das Buch<br />
‚Rich dad, Poor dad?‘ – Say yes!“ Wie<br />
einstudiert folgt daraufhin ein im Chor<br />
gerufenes „YES!“. Dieses Buch habe sein<br />
Leben verändert, weil es ihn verstehen<br />
lassen habe, wie man reich werden<br />
könne. Mit leidenschaftlichen Worten<br />
und fesselnden Geschichten lockt er<br />
das Publikum in eine Welt jenseits der<br />
arbeitenden Mittelschicht, in der grenzenloser<br />
Reichtum und finanzielle Freiheit<br />
herrschen. Dabei heißt es, dass die Kurse<br />
der IM Master Academy die ultimative<br />
Geheimwaffe seien, um die Beschränkungen<br />
des traditionellen Bildungssystems<br />
und der „nine to five“ Arbeitswelt<br />
zu überwinden und dich und dein Leben<br />
stattdessen in eine Erfolgsgeschichte zu<br />
verwandeln. Das benötigte Wissen und<br />
vor allem das Mindset dazu bekommst<br />
du, indem du ihr Produkt kaufst.<br />
IM TEAM ALPHA<br />
Die IM Mastery Academy erweist sich auf<br />
dem Markt der Online-Bildungsplattformen<br />
in Österreich als äußerst erfolgreich.<br />
Mithilfe von Live-Streams und anderen<br />
Online-Tools sollen vor allem Jugendlichen<br />
Möglichkeiten gezeigt werden,<br />
über das Handy Geld zu verdienen. Bei<br />
der Mitgliedschaft handelt es sich um<br />
eine Art Abo, das dir Zugriff zu ausgewählten<br />
Modulen der Trading-Lehre oder<br />
der Social-Media-Nutzung verschafft.<br />
Je nach Umfang des Abos variieren die<br />
Monatsbeträge von 200 USD bis etwa<br />
500 USD. Für den Verkauf dieser Kurse<br />
und das damit verbundene Anwerben<br />
neuer Mitglieder ist jedoch nicht IM<br />
selbst zuständig. Dafür sorgen selbstorganisierte<br />
Strukturen – sogenannte<br />
Movements. Das österreichweit größte<br />
Movement nennt sich Team Alpha und ist<br />
so wie ihre Gründer im oberösterreichischen<br />
Wels beheimatet.<br />
DIE OBERSTEN 0,05%<br />
Den Jugendlichen wird erklärt, sie<br />
könnten hier lernen, wie man sich ein<br />
eigenes Business aufbaut. Als Einstieg<br />
gelte: Wenn sie weitere aktive Mitglie-<br />
/ RAMBAZAMBA / 25
Team Alpha präsentiert<br />
sich als Chance, der<br />
finanziellen Misere zu<br />
entkommen.<br />
der anwerben, erhalten sie Provisionen<br />
und können allein dadurch laut Angaben<br />
des Unternehmens schon bis zu 75.000<br />
USD monatlich verdienen. Vor allem für<br />
Schüler:innen, die sich den Monatsbeitrag<br />
anders nicht leisten könnten, ist das<br />
Anwerben neuer Mitglieder die einzige<br />
Möglichkeit, an dem Programm teilnehmen<br />
zu können. Begriffe wie „verkaufen“<br />
findet man hier nicht – bei Team Alpha<br />
redet man von „Leben verändern“, denn<br />
das wird den jungen Teilnehmer:innen<br />
auch versprochen: ein neues Leben. Auf<br />
der Webseite der IM Mastery Academy<br />
findet man ein Dokument, das die Einkommensverteilung<br />
des Unternehmens<br />
offenlegt. Daraus ist zu erkennen, dass<br />
über die Hälfte der Mitglieder mit ihrer<br />
Mitgliedschaft ins Minus gehen, denn sie<br />
müssen mehr in das Programm einzahlen<br />
als sie schlussendlich damit verdienen.<br />
Nur 0,4 % verdienen mehr als das österreichische<br />
Durchschnittsgehalt – ziemlich<br />
widersprüchlich, wenn man bedenkt,<br />
dass herkömmliche Lohnarbeit von Team<br />
Alpha als aussichtslos betitelt wird. Als<br />
die Gewinner dieses Systems zählen<br />
dann die obersten 0,05 %, denn deren<br />
Jahresgehalt liegt bei über 550.000 EUR.<br />
WIR SIND ALL-TIMER<br />
Die Besucher:innen der Veranstaltung<br />
sind augenscheinlich zwischen 16 und<br />
20 Jahre alt. Ihr Kleidungsstil ist nicht<br />
sonderlich auffallend, doch eine Gemeinsamkeit<br />
ist kaum übersehbar: Beinahe<br />
alle von ihnen haben einen Migrationshintergrund.<br />
Gerade migrantische<br />
Jugendliche finden sich oft am Rand des<br />
österreichischen Systems wieder, und<br />
kommen meist aus Elternhäusern mit<br />
geringem Einkommen. Team Alpha spielt<br />
meiner Auffassung nach geschickt mit<br />
dieser Verletzlichkeit und präsentiert sich<br />
als Ausweg – als Chance, der Misere zu<br />
entkommen und finanzielle Sicherheit zu<br />
erlangen. Zwischen den gesprochenen<br />
Der Traum vom schnellen Geld stürzt viele Anhänger<br />
von „Movements“ in den finanziellen Ruin.<br />
Zeilen des Events lassen sich gezielte<br />
Versuche raushören, die Jugendlichen<br />
von ihren Freund:innen und Familienmitgliedern<br />
zu entfernen. „Ich habe<br />
angefangen, mich nur noch mit Leuten<br />
zu umgeben, die das gleiche Ziel hatten<br />
wie ich. Das solltest du auch“, fordert<br />
einer der Redner. Bei meiner Recherche<br />
stoße ich auf ein YouTube-Video, in dem<br />
einer der Gründer erläutert, dass es<br />
vier Arten von Leuten gibt: Some-Timer,<br />
Part-Timer, Full-Timer und All-Timer.<br />
„Wir bei Team Alpha sind All-Timer.“ Er<br />
erzählt, er habe schon das vierte Jahr<br />
in Folge den Geburtstag seiner Mutter<br />
verpasst, weil er dauerhaft am Arbeiten<br />
war. „Aber wenn ich irgendwann genug<br />
gearbeitet hab und finanziell unabhängig<br />
bin, wird meine Mutter jeden Tag<br />
Geburtstag haben.“ Diese Haltung ist<br />
laut Psychologin und Geschäftsführerin<br />
der Bundesstelle für Sektenfragen, Ulrike<br />
Schiesser, eine besorgniserregende. „Je<br />
mehr eine Gruppe von einem verlangt<br />
– sei es Geld, Engagement, oder Zeit –<br />
entsteht schnell eine Art Gruppen-Trance.<br />
Man ist die ganze Zeit umgeben von<br />
denselben Menschen, man hört immer<br />
26 / RAMBAZAMBA /
dieselben Parolen. Wenn jede freie Minute<br />
damit gefüllt ist, hat man gar nicht<br />
mehr Zeit zu überlegen: Tut mir das gut?<br />
Will ich das überhaupt?“ Auch wenn<br />
Team Alpha keine sektenähnliche Organisation<br />
ist, ist es keine Seltenheit, dass<br />
Multi-Level-Marketing-Unternehmen<br />
manchmal Vertriebsstrategien verfolgen,<br />
die als sektenartig erlebt werden. „Dabei<br />
werden die Produkte emotional aufgeladen<br />
und die Vertiebsgemeinschaft<br />
bezeichnet sich als Familie“, veranschaulicht<br />
Ulrike.<br />
„DU BIST SCHULD“<br />
Nach dem Event lade ich mich selbst<br />
ein, um mit den Veranstaltern essen zu<br />
gehen. Sie nehmen mich „ausnahmsweise<br />
mit, denn eigentlich dürfen nur bereits<br />
erfolgreiche Mitglieder mit ins Büro.“<br />
Dort lerne ich Sara* kennen. Sie ist<br />
schon seit einem Jahr dabei, ursprünglich<br />
aus Afghanistan und wohnt im 15.<br />
Wiener Gemeindebezirk. Als ich sie frage,<br />
ob sie schon Erfolg im Trading habe<br />
oder vielleicht über neu angeworbene<br />
Mitglieder Geld verdiene, erzählt sie mir,<br />
sie sei „der Team-Member, der zu inkonstant<br />
ist, um was zu verdienen. Ich habe<br />
für jedes Problem eine Lösung. Suche<br />
den Fehler immer bei den Umständen<br />
und bin völlig uncoachable.“ In Saras<br />
Antwort finden sich Floskeln wieder, die<br />
den Jugendlichen in ihren Mindset-Kursen<br />
gepredigt werden. Denn auch wenn<br />
man sich die einzelnen Module bei seiner<br />
monatlichen Abo-Vereinbarung aussuchen<br />
kann, ist ein Mindset-Kurs immer<br />
miteinbegriffen. Mein Eindruck: Hier<br />
werden unqualifizierte Jugendliche auf<br />
einen hoch komplexen Markt losgelassen<br />
und ihnen wird die Illusion vermittelt,<br />
dass allein durch positives Denken und<br />
dem richtigen Mindset Gewinne erzielt<br />
werden können. Dabei wird neben dem<br />
Handel mit Kryptowährungen wie Bitcoin<br />
vor allem mit dem sogenannten Forex-<br />
Trading geworben. Darunter versteht<br />
man den Handel mit ausländischen Währungen,<br />
bei dem mit den Schwankungen<br />
der Kurse spekuliert wird, um Gewinne<br />
zu erzielen. Expert:innen jedoch warnen<br />
aufgrund des äußerst hohen Risikos vor<br />
dieser Handelsform. Bei einer Live-Trading-Session<br />
von Team Alpha wird von<br />
dem Vortragenden aber das Gegenteil<br />
behauptet: „Trading ist leicht. Der Markt<br />
Ein Aufstieg in der Hierarchie ist für die Mitglieder<br />
von Team Alpha ein großer Ansporn.<br />
ist berechenbar und es ist schnelles<br />
Geld. Wenn du Verluste machst, ist das,<br />
weil du deine Emotionen nicht im Griff<br />
hattest. Du bist schuld, nicht der Markt.“<br />
Auch mir wird während des Events von<br />
mehreren Mitgliedern gesagt, wie perfekt<br />
es sei, dass ich Psychologie studiere,<br />
denn: „Trading ist nur Kopfsache“.<br />
COPY - PASTE<br />
„My Story, his Glory“ war ein Zitat, das in<br />
den verschiedensten Kontexten aufkam<br />
und zuerst bei mir für Verwirrung sorgte,<br />
denn ich konnte die Bedeutung dahinter<br />
nicht erkennen. Mittlerweile ist mir klar,<br />
was damit gemeint ist. Die Geschichte,<br />
wie jemand zu Team Alpha gefunden<br />
hat, ist der Ruhm jener Person, die sie<br />
auf diesem Weg betreut hat. Im Regelfall<br />
werden die potentiell neuen Mitglieder<br />
nämlich über soziale Medien kontaktiert<br />
und mit der Absicht, selber Profit zu<br />
machen, wird ihnen das Unternehmen<br />
präsentiert. Ich bekam viele Gespräche<br />
mit, in denen meine Kontaktperson von<br />
Leuten, die sich in der Unternehmens-<br />
Hierarchie weiter unter ihr befanden,<br />
nach Anleitungen zur Rekrutierung neuer<br />
Mitglieder gefragt wurde. Bei Team-<br />
Alpha ist das keine Seltenheit. Ständig<br />
wird von „Mentoren“ und „Leadern“<br />
geredet, denn das gesamte Konstrukt<br />
basiert darauf, dass man den Leuten,<br />
die in der Hierarchie über einem stehen,<br />
blind vertraut und ihrer Führung<br />
folgt. Auf der Webseite von Team Alpha<br />
ist diese Hierarchie klar ersichtlich: an<br />
oberster Stelle der Gründer mit dem<br />
Rang Chairman 25 – die Zahl 25 soll markieren,<br />
dass er allein durch die Einnahmen<br />
der abgeschlossenen Abos unter<br />
ihm 25.000 USD monatlich verdient.<br />
Das macht ihn für alle anderen bei Team<br />
Alpha zum Vorbild. Basierend auf den<br />
Stimmungen, die ich dort wahrnehmen<br />
Das Konstrukt basiert<br />
darauf, dass man den<br />
Leuten, die in der<br />
Hierarchie über einem<br />
stehen, blind vertraut und<br />
ihrer Führung folgt.<br />
/ RAMBAZAMBA / 27
Ab einem gewissen Punkt<br />
ist es kaum mehr möglich,<br />
durch gutes Zureden<br />
jemandem die negativen<br />
Aspekte aufzuzeigen.<br />
Durch risikoreiches Trading ist Geld leicht zu verdienen - aber auch leicht zu verlieren.<br />
konnte, würde ich sogar sagen, dass<br />
auch von Vergötterung gesprochen<br />
werden kann. „Jungs, ein Chairman hat<br />
mir gerade einfach die Hand gegeben!“,<br />
höre ich jemanden in auffallend euphorischem<br />
Ton sagen. Alle wollen sein wie er<br />
und von ihm lernen. Doch das war nicht<br />
mal das Dubioseste daran. Seien es die<br />
Sprechchöre bei Live-Events oder die<br />
identisch aussehenden Instagram-Profile<br />
– ich war verblüfft, wie anpassungsfähig<br />
Individuen werden, sobald eine starke<br />
Gruppendynamik im Spiel ist. Egal mit<br />
wem ich mich unterhielt – sie nutzten alle<br />
ein sehr ähnliches Vokabular, predigten<br />
dieselben Lebensweisheiten und erzählten<br />
vom gleichen Entwicklungsgang. Es<br />
wirkte wie Copy-Paste.<br />
JUNG, PLEITE,<br />
MIGRANTISCH<br />
Obwohl ich im vollen Bewusstsein<br />
darüber war, dass durch dieses Unternehmen<br />
nur ein Bruchteil der Mitglieder<br />
überhaupt Gewinn machen kann, gelang<br />
ich selbst zeitweise zur Überzeugung, ich<br />
wäre der Ausnahmefall und könnte durch<br />
diese Organisation tatsächlich reich werden.<br />
Das nur, weil die Gründer mir das<br />
erfolgreich eingeredet haben. „Dione, du<br />
hast richtig viel Potential, das merkt man<br />
sofort“, wurde mir bei Gesprächen mehrmals<br />
gesagt. Was das wohl in Menschen<br />
auslösen muss, die sonst nie Wertschätzung<br />
erleben? Auch die Bundesstelle<br />
für Sektenfragen bestätigt mir, dass es<br />
kaum möglich sei, sich selbst zu schützen.<br />
Die Bundesstelle berät vorrangig<br />
Angehörige, deren Familienmitglieder in<br />
solche Systeme eingestiegen sind. Denn<br />
Freund:innen und Familie sind viel eher<br />
in der Lage, suspektes Verhalten schnell<br />
zu erkennen und die betroffene Person<br />
vor diesen Kreisen zu warnen. Ab einem<br />
gewissen Punkt ist es jedoch kaum mehr<br />
möglich, durch gutes Zureden oder<br />
kritische Fragen jemandem die negativen<br />
Aspekte eines Vorhabens oder Unternehmens<br />
aufzuzeigen.<br />
Und die Geister, die du rufst, wirst<br />
du auch so schnell nicht mehr los, denn<br />
bei Alpha wird viel Wert auf Bindung<br />
gelegt: Seit der ersten Kontaktaufnahme<br />
Anfang Juni sind mittlerweile mehrere<br />
Monate vergangen und obwohl ich nicht<br />
mehr wirklich antworte, werde ich noch<br />
immer regelmäßig von einem der Gründer<br />
gefragt, wie es mir geht und wann<br />
wir das nächste Mal telefonieren, denn<br />
ich passe genau in die Zielgruppe: jung,<br />
pleite und migrantisch. ●<br />
Anmerkung der Redaktion: Team Alpha<br />
hat bis Redaktions schluss nicht auf unsere<br />
Bitte um Stellungnahme zu dem Artikel<br />
reagiert.<br />
28 / RAMBAZAMBA /
KOMMENTAR<br />
MAMA, WIESO HAT ER KEINE SCHULTÜTE?<br />
Von Filip Lazar<br />
© unsplash.com/Note Thanun, Zoe Opratko<br />
Ich kann mich noch ganz genau an die Nacht<br />
vor meinem ersten Schultag erinnern. Meine<br />
Mutter und ich waren Tage zuvor neue<br />
Schulsachen, Kleidung und Schuhe für<br />
diesen besonderen Tag einkaufen. Ich war<br />
super aufgeregt und glücklich, die Nacht<br />
zuvor legte ich mein neues Schul-Outfit voller<br />
Vorfreude sogar neben mir ins Bett. „Nur noch<br />
einmal schlafen, dann ist es so weit, dann bin ich endlich<br />
ein Schulkind!" Diesen Satz redete ich mir ein, bis<br />
ich einschlief. Am nächsten Morgen platzte ich fast vor<br />
Nervosität, ich konnte es kaum erwarten, endlich in der<br />
Schule anzukommen. Auf dem Weg zur Schule fiel mir<br />
direkt auf, dass viele Kinder eine große mit Süßigkeiten<br />
befüllte Tüte in der Hand hatten. „Komisch, kriegt man<br />
das als Willkommensgeschenk?“, fragte ich mich.<br />
Spätestens als ich in meiner Klasse angekommen<br />
war, merkte ich, dass ich der Einzige war, der keine solche<br />
Tüte hatte. „Mama, warum hat er keine Schultüte?“,<br />
fragte einer meiner zukünftigen Klassekameraden seine<br />
Mutter und zeigte dabei auf mich. Ich sah wiederum<br />
mit einem fragenden Blick zu meiner Mutter hinauf, und<br />
sie blickte mit einem genauso fragenden Gesichtsausdruck<br />
zu mir herunter. Sie fragte die fremde Mama, wo<br />
man denn hier so einen „Süßigkeiten-Karton“ bekommen<br />
könnte. Den müsse man selbst besorgen, meinte<br />
sie - da kamen mir bereits die Tränen. Als ich dann<br />
auch noch sah, wie meine Klassenkameraden die Tüten<br />
aufmachten und untereinander Süßigkeiten tauschten,<br />
war das zu viel - ich verließ leise schluchzend das<br />
Klassenzimmer. Ich war so wütend auf meine<br />
Mutter - wie konnte sie bloß nicht wissen,<br />
dass es in Österreich Tradition ist, am ersten<br />
Schultag eine Schultüte mit in die Schule zu<br />
bringen? Sie, die Erwachsene? Die wissen<br />
doch immer alles? Rückblickend schäme ich<br />
mich für mein Verhalten: Meine Mutter stammt<br />
aus Rumänien, wo ich auch geboren bin – da gibt<br />
es diese Tradition nicht. Woher hätte sie sich denn<br />
auch mit österreichischen Schultraditionen auskennen<br />
sollen? Ich war ihr erstes Kind, eben auch das erste,<br />
das eingeschult wurde. Diesen September, 15 Jahre<br />
später, hatte mein kleiner Bruder seinen ersten Schultag<br />
– seine Schultüte mit Transformers-Motiv stand schon<br />
Tage davor in seinem Zimmer bereit. Schmunzelnd<br />
erinnere ich meine Mutter bei diesem Anblick an unser<br />
„Süßigkeiten-Karton“-Fiasko von 20<strong>09</strong>, und wir beginnen<br />
beide zu lachen.<br />
Ich habe es damals eben nicht besser gewusst, sie<br />
aber auch nicht. Doch sie hatte wie immer einen Plan:<br />
Am Heimweg von der Schule hielt meine Mutter beim<br />
Libro an und wies mich an, im Auto zu warten - sie kam<br />
wieder und überraschte mich mit der schönsten Schultüte:<br />
Richtig groß und auch noch mit einem Star-Wars<br />
Motiv verziert. Ich konnte es kaum erwarten, sie am<br />
nächsten Tag in die Schule mitzunehmen und natürlich<br />
all die leckeren Überraschungen darin zu entdecken.<br />
Gesagt, getan: Am zweiten Schultag war ich dann der<br />
einzige mit einer Schultüte – immerhin. ●<br />
/ RAMBAZAMBA / 29
Über Sex<br />
spricht man nicht.<br />
30 / RAMBAZAMBA /
„Bis ich 13 Jahre alt war,<br />
dachte ich, dass Kinder<br />
einfach auftauchen, wenn man<br />
heiratet.“ Mythen über das<br />
Jungfernhäutchen, Tabus und<br />
Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />
kommt in Migra-Communities<br />
oft zu kurz – vor allem bei den<br />
Töchtern. Doch was macht<br />
das mit ihrer Sexualität im<br />
Erwachsenenleben?<br />
Von: Maria Lovrić-Anušić, Fotos: Zoe Opratko<br />
Wenn ich mit meinem Partner intim<br />
werde, frage ich mich noch heute<br />
als 25-jährige Frau, ob das moralisch<br />
eigentlich in Ordnung ist“, erzählt Pinar<br />
bedrückt. Pinar ist in Wien aufgewachsen und hat<br />
türkische Wurzeln. In der türkischen Community hat<br />
die Jungfräulichkeit – vor allem, wenn es um Frauen<br />
geht – einen gesellschaftlich hohen Stellenwert. Das hat<br />
Pinar schon früh gelernt. Aber auch nur das. Jungfrau<br />
bleiben, bis man heiratet – das wird einem eingebläut.<br />
Aber alles rundherum bleibt ein Tabu. So auch bei Pinar:<br />
Sexuelle Aufklärung war nie ein Thema zwischen ihr<br />
und ihrer Mutter. Über Sex wurde nicht gesprochen,<br />
weder im positiven noch im negativen Sinne. Dieses<br />
Schweigen legte über die Jahre hinweg einen Schleier<br />
aus Scham und Schuldgefühlen über ihre eigene<br />
Sexualität. Wie diese fehlende Aufklärung ihr Leben als<br />
erwachsene Frau beeinflussen würde, war ihr damals<br />
noch nicht bewusst.<br />
Vielen Töchtern aus Migra-Communities wird von<br />
klein auf an eingetrichtert, dass sich die Ehre der Familie<br />
zwischen ihren Beinen befindet. Die Themen Sex<br />
und der weibliche Körper werden tabuisiert und häufig<br />
stillgeschwiegen. Die Töchter haben dementsprechend<br />
gar kein oder ein nur sehr fehlerhaftes Wissen zum<br />
Thema Sex und müssen sich durch die Medien, Bücher<br />
oder Pornos selbst aufklären – mit mäßigem Erfolg.<br />
Dieses Phänomen macht Social-Media-Kanäle zu einer<br />
wichtigen Plattform, auf der Jugendliche Antworten<br />
auf Fragen bekommen, die sie sich oft noch gar nicht<br />
gestellt haben. TikTokerinnen wie „Stachel“ reden<br />
offen über Sex, Dates und Selbstbefriedigung. In ihren<br />
Kommentarspalten tummeln sich Kommentare von<br />
erleichterten jungen Frauen. „Endlich spricht jemand<br />
darüber!“ und „Kannst du das genauer erklären?“ sind<br />
die Standardaussagen.<br />
Die Scham vor der eigenen Sexualität<br />
„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder<br />
einfach auftauchen, wenn man heiratet“, erzählt Pinar<br />
und lacht verlegen. Dass es dafür den Geschlechtsakt<br />
braucht, wurde ihr erst bewusst, nachdem sie ihre<br />
Cousine über Sex und die Geburt aufgeklärt hatte. Im<br />
Aufklärungsunterricht in der Schule habe sie nicht wirklich<br />
etwas gelernt, vor allem nichts über die weibliche<br />
Sexualität, bemängelt Pinar. Alles was sie heute über<br />
Sex weiß, musste sie sich selbst beibringen. „Dieses<br />
ständige Schweigen hat mein Leben beeinträchtigt. Ich<br />
bin eine erwachsene Frau und war aus Scham noch nie<br />
beim Frauenarzt“, erzählt sie wütend. Die Beziehung<br />
mit ihrem Freund hat sie über Jahre geheim gehalten<br />
– aus Scham. Sie wusste: Sie muss ihre Sexualität<br />
geheim halten, zu hoch ist die Angst davor, erwischt<br />
zu werden. „Dieses Verstecken resultiert aus der Angst<br />
vor den möglichen Konsequenzen, also davor, von den<br />
Eltern oder der Community verstoßen zu werden“,<br />
erklärt Sexualpädagogin Elif Gül. Verantwortlich dafür<br />
macht Pinar das System, in das sie reingeboren wurde<br />
und nicht ihre Mutter. „Meine Mutter hat selbst früh<br />
geheiratet, ohne irgendetwas über Sex zu wissen“,<br />
erzählt die 25-Jährige. Sie hat mit 16 Jahren geheiratet<br />
und ihr wurde nur gesagt, dass sich ihr Mann<br />
schon auskennen würde. Es wäre in ihrer Community<br />
schon immer so gewesen, dass die Frauen die unwis-<br />
„Jetzt, als erwachsene Frau, kann ich endlich meinen<br />
Körper und meine Sexualität richtig kennenlernen.“<br />
/ RAMBAZAMBA / 31
senden Jungfrauen spielen hätten müssen, erklärt<br />
Pinar – und oft eben auch unwissend waren. „Ein gutes<br />
Beispiel dafür, wie blöd das alles ist, ist das rote Band<br />
bei der Hochzeit“, erzählt sie genervt. Sie nimmt hier<br />
Bezug auf die türkische Tradition, bei der die Braut<br />
ein rotes Band, den „Kırmızı kuşak “, als Zeichen ihrer<br />
Reinheit um die Taille ihres Hochzeitskleids gebunden<br />
bekommt. Eigentlich stünde es für einen Neuanfang,<br />
den guten Charakter der Frau und Glück und nicht für<br />
deren Jungfräulichkeit. „Mittlerweile will meine Mutter<br />
offen mit mir über Sex reden, doch ich schäme mich<br />
zu sehr“, erzählt Pinar. Ihre Mutter versucht, ihr immer<br />
wieder Ratschläge zu geben, wie zum Beispiel, dass<br />
sie nicht oft Analsex haben sollte oder dass sie immer<br />
geschützten Sex haben müsse. „Ich verteidige mich in<br />
solchen Momenten sofort und frage sie, wie sie glauben<br />
könnte, dass ich Sex vor der Ehe haben würde“, erzählt<br />
die 25-Jährige traurig. Für Pinar sind diese Momente<br />
verstörend, da in ihrer Familie früher nie offen über Sex<br />
gesprochen wurde. Die Einstellung, dass Frauen ihre<br />
Jungfräulichkeit schützen müssten, hat sich in ihrem<br />
Gehirn so tief verankert, dass sie es nicht schafft, auf<br />
die neue Offenheit ihrer Mutter adäquat zu reagieren.<br />
„Ich kann ihre Ratschläge nicht mehr annehmen. Es ist<br />
einfach viel zu spät dafür“, resümiert Pinar.<br />
ANLAUFSTELLEN BEI<br />
FRAGEN RUND UM<br />
SEXUALITÄT<br />
Rat auf Draht → Telefon 147<br />
Die zweite Aufklärung →<br />
www.zweite-aufklaerung.at/<br />
First Love → firstlove.at/<br />
Liebe usw → www.liebe-usw.at/<br />
Sex als eheliche Pflicht<br />
„Ich habe erst durch die Techtelmechtel-Funktion im<br />
Computerspiel ´Sims´ erfahren, dass Sex überhaupt<br />
existiert“, erzählt Tamara und lacht beschämt auf.<br />
„Peinlich ist das aber schon“, wirft sie noch schnell<br />
hinterher. Zum damaligen Zeitpunkt war sie 13 Jahre<br />
alt und sah sich im Anschluss auch das erste Mal einen<br />
Porno an, um etwas mehr zu erfahren. Von ihrer Familie<br />
hatte sie nämlich nie Aufklärung genossen. Themen wie<br />
Menstruation, Geschlechtsverkehr und sexuelle Orientierungen<br />
waren für sie immer mit Angst verbunden.<br />
„Ich hatte oft Sex aus Pflichtgefühl, weil ich nicht wusste,<br />
dass ich ´Nein´ sagen darf“, erzählt die 27-Jährige<br />
mit serbischen Wurzeln kopfschüttelnd. Sie orientierte<br />
sich in ihrer Jugend an ihren Freundinnen, Pornos und<br />
am spärlichen Aufklärungsunterricht in der Schule. Als<br />
ihre Freundinnen bereits für den ersten Kuss, das erste<br />
Mal Petting oder Sex bereit waren, hatte sie eigentlich<br />
noch gar nicht das Bedürfnis, mit irgendjemandem<br />
intim zu werden. Getan hat sie es trotzdem – aus<br />
Angst, belächelt zu werden. Über Jahre hinweg staute<br />
sich in ihr Wut gegen das Schulsystem auf, welches<br />
ihr nur beigebracht hatte, was ein Kondom ist und wie<br />
Penetration funktioniert. Auch von ihrer Mutter war sie<br />
enttäuscht, bis sie realisierte, dass diese selbst nie ihre<br />
Sexualität hatte erkunden können. Tamaras Mutter ist<br />
mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Sex nur dafür<br />
da ist, Kinder zu bekommen und den Mann zu befriedigen.<br />
Es war nur eine eheliche Pflicht, welche sie erfüllen<br />
musste, ohne selber Spaß daran zu haben. Niemand<br />
hatte Tamara beigebracht, dass eine Frau selber über<br />
32 / RAMBAZAMBA /
ihren Körper bestimmen kann und das Sex aus mehr<br />
als nur männlicher Penetration besteht. Seit einigen<br />
Monaten entdeckt Tamara allerdings neue Gefühle, welche<br />
sie immer hatte unterdrücken müssen. Außerdem<br />
hinterfragt sie die ihr aufgezwungene heteronormative<br />
Sichtweise auf Sex und Liebe. Sie realisiert, dass sie<br />
eigentlich auch Frauen anziehend findet – etwas, das<br />
sie sich in ihrer Jugend niemals auszusprechen getraut<br />
hätte. Heute fühlt sie sich besonders in der queeren<br />
Community wohl, weil sie da offen über all ihre Bedürfnisse<br />
sprechen kann. „Jetzt, als erwachsene Frau, kann<br />
ich endlich meinen Körper und meine Sexualität richtig<br />
kennenlernen.“<br />
Veraltete Traditionen und Religion<br />
Häufig wird von den Eltern die jeweilige Religion als<br />
Grund für die Notwendigkeit, bis zur Ehe Jungfrau zu<br />
bleiben, angeführt. Religiöse Institutionen bieten häufig<br />
Aufklärungsunterricht an, jedoch wird auch erklärt, dass<br />
Sex nur innerhalb der Ehe gestattet ist. Aber nicht alles<br />
beruht auf Religion. „Es ist schwer, den Glauben von der<br />
Kultur abzutrennen“, so die Sexualpädagogin Elif Gül.<br />
„Überall auf der Welt gibt es unterschiedliche Einstellungen<br />
und Moralvorstellungen zum Thema Sexualität.“<br />
In den unterschiedlichen Communitys herrscht demnach<br />
das Bedürfnis, sich von den „anderen“ abzugrenzen.<br />
Nach dem Motto: „Wir sind nicht so verdorben wie<br />
die anderen. Das gibt es bei uns nicht.“ Um das Eigene<br />
zu wahren, herrscht bei vielen Eltern folgende Annahme:<br />
Wenn die Kinder wenig über Sex wissen, werden<br />
sie auch keinen Sex haben. Dabei hätten früh aufgeklärte<br />
Jugendliche tendenziell später ihr erstes Mal, erklärt<br />
Gül. Die Kinder in Unwissenheit zu belassen, wird von<br />
Eltern oft als eine Art Schutz für diese empfunden. Es<br />
gehe aber häufig auch darum, die Sexualität der Frauen<br />
zu kontrollieren und die gesellschaftlich geprägten Herrschaftsverhältnisse<br />
aufrecht zu erhalten. Gül erklärt,<br />
dass die Angst geschürt werde, aus den jeweiligen<br />
Communitys verbannt werden zu können, wenn man<br />
sich nicht an diese Gebote hält. Deshalb informieren<br />
sich viele Frauen heimlich und sprechen nicht über ihr<br />
Sexleben.<br />
Nur ein Stück Haut<br />
„Ich verstehe auch dieses ganze Gerede über das<br />
Jungfernhäutchen nicht“, erzählt Pinar genervt und<br />
verdreht ihre Augen. Sie spielt auf die absurde Obsession<br />
der migrantischen Communitys für das Hymen<br />
an. Bereits in der Schule reden alle Mädchen darüber,<br />
dass man keine Gymnastik machen dürfe, auch Fahrrad<br />
fahren sei schlecht und Tampons sollte man sowieso<br />
niemals benutzen – alles nur, damit das Häutchen bloß<br />
nicht reißt. Auf Social Media erzählen auch viele junge<br />
Frauen, dass sie sich vor ihrer Hochzeit ihr Hymen bei<br />
einem Frauenarzt leicht zunähen haben lassen, damit<br />
sie in der Hochzeitsnacht bluten. „Das sieht doch bei<br />
jeder Frau anders aus und reißen muss es beim Sex<br />
Schamkultur und Tabus rund um Sexualität sind eine<br />
große Hürde in migrantischen Familien.<br />
auch nicht“, ärgert sich Pinar. Unrecht hat sie damit<br />
nicht. Laut der Sexualpädagogin ist das Hymen eine<br />
sehr dehnbare Schleimhaut, welche auch nach dem Sex<br />
unverändert aussehen kann. Reißen muss da nichts.<br />
„Ich habe gedacht, dass ich jetzt<br />
dreckig bin.“<br />
„Du bist endlich eine Frau!“, beglückwünschte Maschas<br />
Mutter sie, als sie mit neun Jahren zum ersten Mal ihre<br />
Periode bekommen hatte. Was genau es jedoch bedeuten<br />
soll, eine Frau zu sein, erklärte sie ihrer Tochter<br />
nicht. Sie drückte Mascha nur eine Binde in die Hand.<br />
Dass die Periode zum Beispiel mit Unterleibsschmerzen<br />
verbunden sein, ein Zyklus unterschiedlich lange dauern<br />
oder auch mal ausbleiben kann, sagte ihr niemand. Die<br />
Mutter der heute 26-Jährigen mit russischen Wurzeln<br />
ist zwar nicht konservativ, nahm sich jedoch nie die<br />
Zeit, ihre Tochter zum Thema Sexualität aufzuklären,<br />
da sie dachte, dass sich ihre Tochter schon auskennen<br />
würde. Als Mascha noch ein Teenager war, wurde ihr in<br />
der Schule allerdings nur erklärt, wie man verhütet und<br />
wie der menschliche Körper aufgebaut ist. Aus diesem<br />
Grund informierte sie sich selbst zum weiblichen Körper,<br />
Sex und Verhütung und das über das Internet und Zeitschriften<br />
wie die „Bravo“. Das Thema Consent wurde in<br />
ihrer Jugend jedoch nie besprochen. Mit Consent meint<br />
man, dass alles, was du mit jemandem tun möchtest,<br />
/ RAMBAZAMBA / 33
Aufklärung der nächsten Generation<br />
Auch Adelina wurde von ihrer Familie nicht aufgeklärt,<br />
was dazu führte, dass sie jahrelang ihre Bedürfnisse<br />
nicht wahrnahm und ebenfalls Dinge tat, die sie eigentlich<br />
gar nicht wollte. „Es braucht offene Kommunikation“,<br />
erklärt die 36-Jährige mit albanischen Wurzeln.<br />
Heute ist Adelina Mutter eines 13-jährigen Sohnes.<br />
Bereits mit sechs Jahren hat sie ihm Kinderaufklärungsvideos<br />
auf YouTube gezeigt. Sie baute sich, anders als<br />
ihre Eltern, eine Beziehung zu ihrem Sohn auf, in der er<br />
ihr ohne Scham Fragen zum Thema Sex stellen kann.<br />
„Ich habe ihm erklärt, dass er selber über seinen Körper<br />
entscheiden kann, damit er lernt, wo seine persönlichen<br />
Grenzen sind“, erklärt sie. Bald möchte Adeline ihm<br />
zeigen, wie man verhütet und ein Kondom verwendet.<br />
Laut ihr hätten Menschen mit Migrationshintergrund<br />
eine verkorkste Vorstellung davon, wie Respekt den<br />
Eltern gegenüber gelebt werden könne, und hätten<br />
daher Angst, mit ihnen über intimere Themen zu<br />
reden. Sie will jedoch, dass sich ihr Sohn wohlfühlt<br />
und keine Angst hat. Sie will, dass er weiß, dass er mit<br />
jeder Unsicherheit zu ihr zu kommen kann. Das alles<br />
will sie, damit er nicht auf sich alleine gestellt ist – wie<br />
die Generationen vor ihm – und mit Irrglauben und<br />
Sex-Mythen aufwächst, die nur kontraproduktiv sind.<br />
Irgendwann geht sich das einfach nicht mehr aus. ●<br />
Traditionsbedingte Mythen um Jungfräulichkeit sind bis<br />
heute weit verbreitet.<br />
Die Fotos wurden für die Geschichte nachgestellt.<br />
nur passieren wird, wenn alle darauf Lust haben, damit<br />
einverstanden sind und Ja dazu sagen. Ein Nein ist<br />
ein Nein und ist so zu akzeptieren, ohne dass versucht<br />
wird, jemanden zu überreden oder umzustimmen. Das<br />
Wissen zum Thema Consent hätte sich Mascha vor<br />
sieben Jahren gewünscht. Mit 19 Jahren hatte sie ihr<br />
erstes Mal, jedoch war sie sich direkt danach sicher,<br />
dass es die falsche Entscheidung gewesen war. „Ich<br />
habe nach meinem ersten Mal geweint, weil ich dachte,<br />
dass ich dreckig bin“, erzählt sie. Er war ihr erster<br />
Freund und fragte sie immer wieder, bis sie unsicher<br />
zustimmte. Sie fühlte sich dazu gedrängt und so, als<br />
dürfte sie nicht schon wieder Nein sagen. Sie war nervös,<br />
angespannt und hatte Schmerzen. „Heutzutage ist<br />
es so, dass man darüber redet, dass man nicht immer<br />
Ja sagen muss und dass das Überreden zu etwas absolut<br />
falsch ist. Früher haben das nicht alle so gesehen“,<br />
erklärt die 26-Jährige. Diese Erfahrung ging nicht spurlos<br />
an ihr vorbei. Die Narben sitzen tief und haben in ihr<br />
eine Angst vor Intimität ausgelöst. „Ich bekomme bei<br />
dem Gedanken, mit einem Mann Sex zu haben, teilweise<br />
echt Panik“, erklärt die 26-Jährige. „Ich frage mich<br />
immer wieder: Wieso hat meine Mutter mich überhaupt<br />
bei meinem damaligen Freund übernachten lassen?<br />
Warum hat mir nie wer erklärt, dass ich nicht mit ihm<br />
schlafen muss, wenn ich mich nicht danach fühle?“<br />
Vor allem junge Frauen werden in ihrer Pubertät nicht<br />
ausreichend aufgeklärt.<br />
34 / RAMBAZAMBA /
Entgeltliche Einschaltung<br />
D A M I T S I E<br />
I H R E W O H N U N G<br />
B E H A L T E N<br />
Um die allgemeine Teuerung aufzufangen, gibt es für alle Wohnungsmieter*innen im Gemeindebau<br />
im Herbst den „Gemeindebau-Bonus“. Wer darüber hinaus Hilfe benötigt, findet sie schon jetzt bei der<br />
Wiener Wohnungssicherungsstelle unter der Telefonnummer 01 4000 11420.<br />
Mehr Infos über alle Unterstützungsmöglichkeiten für Gemeindebaumieter*innen: wienerwohnen.at/hilfe<br />
Sollten Sie Betroffene kennen, bitte weitersagen - helfen Sie uns beim Helfen!<br />
Service-Nummer 05 75 75 75<br />
wienerwohnen.at
„Aber bist du wirklich trans?“<br />
Nikki ist 21 und trans. Mit Biber spricht sie darüber, warum Transpersonen in Österreich<br />
von der Zwei-Klassen-Medizin betroffen sind – und über gesellschaftlichen<br />
Druck. Außerhalb und innerhalb der LGBTIQ+ Community. Von Emir Dizdarević, Foto: Zoe Opratko<br />
Das war so ein surrealer<br />
Moment“, erzählt die heute<br />
21-jährige Nikki von dem<br />
Tag, an dem sie das erste<br />
Mal Östrogen und Testosteron-Blocker<br />
genommen hat. „Es hat sich so angefühlt,<br />
als hätte mein ganzes Leben eine<br />
Stimme ununterbrochen in meinem Kopf<br />
geschrien. Als ich das erste Mal Hormone<br />
genommen habe, ist es auf einmal<br />
still geworden und ich habe mich einfach<br />
wohl und glücklich gefühlt.“<br />
Bis zu diesem befreienden Schritt<br />
hat es für Nikki 19 Jahre gedauert. Ihre<br />
Geschichte beginnt in der Steiermark,<br />
wo sie als Bub wahrgenommen wird. Als<br />
sie etwa vier Jahre alt ist, merkt sie zum<br />
ersten Mal, dass etwas nicht stimmt. Sie<br />
fühlt sich nicht als Bub, sondern als Mädchen.<br />
Das sagt sie auch den Erwachsenen<br />
in ihrer Umgebung. „Die haben dann<br />
einfach ‚Nein‘ gesagt und ich habe ihnen<br />
geglaubt.“ Schließlich kennen Erwachsene<br />
die Welt besser als Kinder, das wurde<br />
Nikki damals so eingetrichtert.<br />
„KANN ES SEIN, DASS DU<br />
TRANS BIST?“<br />
In der Pubertät sucht Nikki ihre Identität<br />
und beschreibt sich in dieser Phase als<br />
schwuler Mann. „Ich war schon immer<br />
sehr feminin und hatte vermehrt weibliche<br />
Freunde. Das wird oft Schwulen<br />
zugeschrieben und ich habe mir deswegen<br />
einreden lassen, dass ich schwul<br />
bin.“ Zudem konnte sich Nikki nicht vorstellen,<br />
„der Mann“ in einer Heterobeziehung<br />
zu sein. Doch auch das Schwulsein<br />
fühlt sich für Nikki befremdlich an. Das<br />
erste Outing geschieht durch eine Freundin,<br />
der Nikki ihre Gefühle beschreibt:<br />
„Kann es sein, dass du trans bist?“, fragt<br />
sie die Freundin damals.<br />
Ihre Transition (Anmerkung:<br />
Geschlechtsangleichung) beschreibt<br />
Nikki in zwei Phasen. Einer sozialen und<br />
einer körperlichen Transition. Ihre soziale<br />
Transition beginnt im Freund:innenkreis,<br />
wo sie beginnt, sich bei ihren liebsten<br />
Menschen zu outen. „Ich wurde akzeptiert,<br />
ohne mich körperlich zu verändern.<br />
36 / RAMBAZAMBA /
Für mich war das einfach ein sicherer Raum, in dem ich<br />
mich ausprobieren konnte. Das war sehr wichtig.“<br />
Für ihre körperliche Transition nimmt sich Nikki Zeit.<br />
Zwischen den beiden ersten Lockdowns zieht sie nach<br />
Wien und spürt, dass sie sich damit vielleicht zu viel<br />
Veränderung auf einmal zumutet. Erst nach einem halben<br />
Jahr geht sie das erste Mal zu einer Beratungsstelle und<br />
merkt für sich: Termine für psychotherapeutische Begleitung<br />
zu kriegen, ist sehr schwierig und mit dem Studium<br />
nicht zu vereinbaren. Nikki studiert in dieser Zeit an einer<br />
Privatuni und die Termine, die sie erhält, fallen meist in die<br />
Unterrichtszeit. Therapie und Studium sind für sie nebeneinander<br />
nicht sinnvoll zu machen. Als Nikki ihrer älteren<br />
Schwester von ihrer Transition erzählt, beschließt diese,<br />
sie finanziell zu unterstützen. Statt auf Krankenkasse wird<br />
Nikki seither privat medizinisch betreut.<br />
LANGWIERIGER PROZESS ZUR<br />
HORMONTHERAPIE<br />
Bevor man mit einer Hormontherapie beginnen kann,<br />
braucht es eine dreifache Diagnostik: ein psychotherapeutisches,<br />
ein klinisch-psychologisches und ein<br />
psychiatrisches Gutachten. Das sehen die „österreichischen<br />
Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei<br />
Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus“ vor. Nur<br />
speziell ausgebildete Personen können diese Gutachten<br />
ausstellen und die Wartezeiten sind oft lang. „Man kann<br />
sich das so vorstellen: Bei den öffentlichen Beratungsstellen<br />
kriegt man die Liste mit den Spezialist:innen erst nach<br />
zehn Sitzungen und muss dann alle durchtelefonieren.“<br />
Bei ihrer privat gezahlten Therapie bekommt sie eine Liste<br />
bereits nach zwei Sitzungen, inklusive Empfehlungen, welche<br />
Personen gut zu ihr passen könnten. „Für mich ist das<br />
eine Zwei-Klassen-Medizin“, sagt Nikki.<br />
2022. Als Nikki zum ersten Mal Hormone nimmt, fühlt<br />
sie sich „wie neu geboren. Ich hatte keine Ahnung, dass<br />
ich mich so toll fühlen kann.“ Für sie ist das die richtige<br />
Entscheidung.<br />
Wie es aber für sie in Zukunft weitergeht, weiß sie<br />
nicht. „Ich will gerade keine geschlechtsangleichende<br />
Operation machen, will es aber auch nicht ausschließen.“<br />
Seitdem hat Nikki viele Diskussionen geführt. Außerhalb<br />
der Community sind viele Menschen kritisch gegenüber<br />
Hormonbehandlungen: „Wenn du mal Hormone<br />
nimmst, kannst du das nicht rückgängig machen. Ist es<br />
dir das wirklich wert?“ Aber auch innerhalb der LGBTIQ+<br />
Community verspürt sie immer wieder einen merkwürdigen<br />
Druck. In manchen Fällen drängen sie Leute, möglichst<br />
schnell alle nötigen Gutachten einzuholen, auch<br />
wenn sie sich noch nicht bereit dafür fühlt. Wieder andere<br />
gehen sogar so weit zu sagen, dass man nur „wirklich<br />
trans“ sei, wenn man Hormone nimmt und sich Operationen<br />
unterzieht. Von all dem lässt sich Nikki nicht beeindrucken:<br />
„Alle sollten selbst über ihren eigenen Körper<br />
entscheiden können. Ich kenne mich selbst am besten und<br />
weiß daher auch selbst am besten, was mir guttut und was<br />
ich brauche, um mich in meinem Körper wohlzufühlen.“ ●<br />
DAS<br />
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und Jugend
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GEHT<br />
A U F ’ S<br />
HAUS!<br />
Sie kochen, kosten und kreieren:<br />
Amina (@yallahkitchen) und Arash<br />
(@djmosaken) vereinen die Kulturen<br />
und zeigen mit ihren Videos auf Social<br />
Media, wie divers Wiener Food-Content<br />
abseits der immer gleichen Bobo-<br />
Influencer aus Neubau sein kann. Wir<br />
haben uns mit den beiden auf eine Food-<br />
Tour durch Wiener Märkte begeben.<br />
Von Mathias Psilinakis, Fotos: Zoe Opratko und Atila Vadoc<br />
Schön, dass es hier so ein Stück arabische Welt mitten<br />
in Wien gibt, oder?“, schwärmt Amina, während<br />
wir in der Mittagshitze den Wiener Brunnenmarkt<br />
entlang schlendern. Selbstbewusst führt uns die<br />
Wienerin mit irakisch-iranischen Wurzeln durch den Markt, vorbei<br />
an Fleischspießen, dröhnenden Boxen mit syrischer Musik<br />
und Gewürzkisten. Wir schlängeln uns vorbei an Großfamilien<br />
mit Kinderwagen, alten Damen mit Plastikbeutel voller Gemüse<br />
und schreienden Kleinkindern auf Rollern.<br />
WÜRZIGE WURZELN<br />
Seit 2020 postet Amina Al-Rawi unter dem Handle Yallah Kitchen<br />
orientalische Rezepte auf Instagram und TikTok. Ihr Ziel:<br />
ihren Followern die kulinarische und kulturelle Vielfalt aufzuzeigen,<br />
die außerhalb der österreichischen Küche existiert.<br />
Türkische Desserts, syrische Snacks, irakische Vorspeisen und<br />
persische Reisgerichte – Aminas Feed zeigt auf, was die orientalische<br />
Küche alles zu bieten hat. Das Ergebnis ihrer Arbeit<br />
kann sich sehen lassen: 95k Follower auf Instagram.<br />
Die Liebe zur Kulinarik begleitet Amina schon seit ihrer<br />
Kindheit. „Das war etwas, was mich mit meiner Mama verbunden<br />
hat“, erklärt sie, während wir irakische Rindsspieße verkosten.<br />
Besonders bedeutend ist für sie die persische Küche,<br />
den Bezug zu ihren iranischen Wurzeln habe sie vor allem über<br />
die Küche gesucht. Aufgewachsen ist die 26-Jährige aber nicht<br />
38 / RAMBAZAMBA | WIEN /
nur mit orientalischem Essen. „Bei uns gab es auch österreichische<br />
Küche. Schnitzel, Knödel, Gulasch, all das wurde auch<br />
aufgetischt.“ Während wir spazieren, schwärmt Amina vom<br />
Gulasch ihrer Mutter, auf das sie schon seit Wochen Heißhunger<br />
hat. „Aber unbedingt mit Preiselbeeren!“<br />
STREETFOOD VOM FEINSTEN<br />
Restaurant-Tests sind ein weiterer fixer Bestandteil von Aminas<br />
Content. Regelmäßig zeigt sie ihren Followern Lokale in Wien,<br />
die bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit geblieben sind.<br />
Unser erster Stopp heute: Ashraf und sein syrischer Imbiss.<br />
Schon aus der Ferne grüßt uns Ashraf mit einem breiten<br />
Lächeln. Amina hat einen ihrer Besuche bei Ashraf auf Social<br />
Media gepostet, das Video ist viral gegangen. Sogar Bürgermeister<br />
Michael Ludwig war seitdem schon bei Ashraf zu<br />
Besuch, wie uns der Iraker stolz mitteilt.<br />
Wir bestellen Fettah und Falafel, immer wieder schwirrt<br />
Ashraf jedoch an uns vorbei und serviert Tee, Limonade, Torshi<br />
und Hummus – alles aufs Haus. „Die arabische Gastfreundschaft<br />
eben“, lacht Amina, „deswegen empfehle ich diesen<br />
Spot auch gerne. Die machen das von Herzen, das merkt<br />
man.“<br />
Anfragen für Restaurant-Testungen bekommt Amina mehr<br />
als genug. Während wir essen, erzählt Amina, dass sie selektiv<br />
sein muss und nicht nur der Geschmack vom Essen für sie<br />
entscheidend ist: „Wenn eine Geschichte dahintersteckt, wenn<br />
Tradition und Kultur miteinbegriffen sind, dann hat das für mich<br />
einen ganz anderen Stellenwert.“ Der österreichischen Food-<br />
Content-Szene fehlt es ihrer Meinung nach an Diversität: „Es<br />
kommt immer wieder dasselbe.“<br />
GEHT AUF'S HAUS!<br />
Das Kochen und Testen von Essen ist aber weiterhin nur ein<br />
Hobby für Amina, die trotz ihrer Reichweite vorerst kein Geld<br />
mit ihren Videos verdienen möchte. Wie sie einen Vollzeitjob<br />
als Consultant mit ihrem Food-Content vereinbart? „Es braucht<br />
ein sehr gutes Zeitmanagement. Leider hat mein Tag auch nur<br />
24 Stunden.“ Viel Freizeit bleibt Amina neben ihrem Job und<br />
Social Media also nicht – ihre Videos schneidet sie jeden Morgen<br />
in der U-Bahn.<br />
Wir ziehen weiter, denn wir sind noch lange nicht am<br />
Ende unserer heutigen Verkostung. „Der kennt meinen Vater,<br />
da müssen wir kurz stehenbleiben“, unterbricht Amina unser<br />
Gespräch und führt uns zu einem weiteren Lokal. Ihr Vater,<br />
Omar Al-Rawi, hat sich als Politiker einen Namen in der arabischen<br />
Community Wiens gemacht. Und so bekommen wir<br />
innerhalb weniger Sekunden Fladenbrot mit Zatar in die Hand<br />
gedrückt. „Er meinte, das geht aufs Haus, weil ich Araberin<br />
bin“, übersetzt Amina und führt uns zum nächsten Stand.<br />
Wie denn ihre Eltern zu ihrem Erfolg auf Social Media stünden,<br />
frage ich, während Amina in einer hölzernen Kiste voller<br />
Gewürzpäckchen gräbt. „Sie sind meine größten Supporter.<br />
Meine Mama will jedes einzelne Video zugeschickt bekommen.<br />
Und mein Vater begleitet mich oft, wenn ich ein neues<br />
Lokal austeste. Er ist schon fast beleidigt, wenn ich mal meine<br />
Schwester oder eine Freundin statt ihm mitnehme“, lacht sie.<br />
Dass ihre Geschwister begeistert sind, wundert Amina nicht:<br />
Amina Al-Rawi postet Food-Content auf Social Media –<br />
und das mit Erfolg.<br />
„Sie kriegen ja auch das ganze Essen, das ich koche.“ Sie verrät<br />
mir: „Eigentlich esse ich ja gar nicht so gerne. Oft vergesse<br />
ich vor lauter Kochen, dass ich auch essen sollte.“<br />
SCHLEMMEN MIT SINN<br />
Man würde denken, bei Aminas Content geht es schlichtweg<br />
um gute Gerichte. Falsch gedacht. Während wir weiter flanieren,<br />
erklärt mir Amina, dass sie mit ihren Videos einen Raum<br />
für Diskurs, Austausch und Toleranz schaffen möchte. Wir halten<br />
bei einem Supermarkt an und kaufen eiskalte Malzgetränke<br />
aus dem Irak, die wir mit unseren schweißgebadeten Händen<br />
kaum öffnen können. „Ich thematisiere sehr oft meinen Hintergrund,<br />
meine Religion, meine Kultur, ich gehe offen damit um“,<br />
erklärt mir Amina. Sie sieht in ihrer Arbeit einen Bildungsauftrag:<br />
„Ich fühle mich in der arabischen und persischen Kultur<br />
gleich wohl wie in der österreichischen – das möchte ich nach<br />
außen zeigen. Es ist kein Gegeneinander, ich kann das Eine und<br />
das Andere sein. Und das ist auch gut so.“<br />
VOM MISCHPULT AN DEN ESSTISCH<br />
Szenenwechsel. Am Wiener Vorgartenmarkt treffen wir Arash<br />
Rabbani, auch bekannt unter seinem Künstlernamen DJ Mosaken,<br />
mit dem er sich als Wiener Szene-Urgestein ein regelrechtes<br />
Content-Imperium aufgebaut hat. Es gibt wenig, was<br />
/ RAMBAZAMBA | WIEN / 39
ZWISCHEN DEN KULTUREN<br />
Unser erster Halt: eine Ramen-Bar. Elegant zieht Arash<br />
die Nudeln aus der Suppe, hält sie in die Kameralinse unseres<br />
Fotografen und macht große Augen. Man merkt sofort: Er<br />
macht das nicht zum ersten Mal. Das Essen ist schon lange<br />
eine Affinität des Foodbloggers. Während Arash an seinen<br />
Nudeln schlürft, erzählt er, dass für diese Leidenschaft vor<br />
allem die Kochkünste seiner Mama entscheidend waren, und<br />
schwärmt von persischen Eintöpfen. „Müsst ihr abchecken!“<br />
Gelernt hat er das Kochen von seiner Mutter aber nicht: „Sie ist<br />
zu ungeduldig und ich auch, da gibt es nur Fetzerei.“<br />
Doch auch die österreichische Küche liegt ihm nahe: „Das<br />
hat für mich auch etwas Heimisches. Eine Grießnockerlsuppe<br />
ist für mich genauso ein Stück Zuhause.“ Dass die österreichische<br />
und persische Esskultur sehr unterschiedlich sind, hat<br />
Arash jedoch früh gemerkt. Er erzählt: „Wenn meine Freunde<br />
zu uns nach Hause gekommen sind, haben sie gegessen, was<br />
das Zeug hält! Meine Mama hat sicher zehn Speisen aufgetischt.<br />
Bei ihnen daheim habe ich einen Apfel oder eine Birne<br />
bekommen – nicht mal beides!“ Er weiß diese Essensvielfalt<br />
aber zu schätzen, sein Fazit: „Je mehr, desto besser.“<br />
In ihren Gastro-Tests ist Amina in ganz Wien unterwegs –<br />
auch am Brunnenmarkt.<br />
der gebürtige Iraner nicht macht: Als DJ hat er sich schon vor<br />
Jahren einen Namen in der Wiener Musikszene gemacht und<br />
ist außerdem als Eventplaner, Geschäftsführer und eben auch<br />
Food-Content-Creator aktiv – mittlerweile mit 85k Followern<br />
auf TikTok.<br />
Schon als DJ postete Arash immer wieder Food-Content<br />
auf der Plattform, seinen Durchbruch erlebte der 41-Jährige<br />
aber erst während der Corona-Pandemie. „Ich konnte ja nicht<br />
auflegen. Ich bin ein Mensch, der sehr kreativ ist, ich brauche<br />
immer irgendwas zu tun. Da habe ich also begonnen, professionellere<br />
Food-Videos zu machen.“ Besonders erfolgreich sind<br />
hierbei seine Restaurant-Tests: Von Döner bis Pasta hat sich<br />
Arash schon in dutzenden Lokalen den Magen vollgeschlagen.<br />
Gute Restaurants in Wien zu finden, sei nicht schwierig, wie mir<br />
Arash erklärt. „Wien war schon immer eine multikulturelle Stadt<br />
und wird auch immer multikultureller. Man kann hier definitiv<br />
sehr gut essen.“<br />
Einen typischen Restaurantbesuch gibt es für den Foodblogger<br />
nicht. „Oft passiert's ganz spontan.“ Die Reaktionen<br />
der Restaurantbesitzer sind zum Glück immer positiv: „Wir sind<br />
in einer Zeit, in der Social Media unglaublich wichtig ist, da<br />
freut sich natürlich jeder, wenn du ein Video machst und deren<br />
Essen wertschätzt.“ Doch auch Anfragen für Reviews sind mittlerweile<br />
ein fester Teil seines Arbeitsalltags geworden – mittlerweile<br />
muss er sogar selektiv sein.<br />
KONTROVERSE KULINARIK<br />
Wir sind beim Nachtisch angelangt: Eiskaltes Matcha-Mochi ist<br />
bei 35 Grad die perfekte Abkühlung. „In meinem Kopf bin ich<br />
einfach nur Österreicher“, sagt Arash und nimmt einen Biss<br />
von der eiskalten Kugel. Als Content-Creator mit Migrationshintergrund<br />
ist er aber immer wieder mit Hass konfrontiert. Für<br />
Arash völlig unverständlich: „Ich mache Food-Content, das ist<br />
doch eigentlich das unpolitischste Thema, was es gibt. Jeder<br />
macht das, jeden Tag. Eigentlich verbindet man das gar nicht<br />
mit Hass. Es zeigt, wie krass Österreich gespalten ist.“<br />
Auch Naziparolen musste er schon unter seinen Videos<br />
lesen. Der Grund für diese Art von Hass: „Wenn Politiker auf<br />
Arash Rabbani: DJ und Feinschmecker.<br />
40 / RAMBAZAMBA | WIEN /
Plakaten Hassparolen schwingen, dann denken sich die Leute<br />
auf TikTok, dass sie das auch dürfen. Je anonymer man ist,<br />
desto mehr denken Leute, dass es ein rechtsfreier Raum ist.“<br />
Dass besonders seine Videos von ausländischem Essen zu<br />
Hass und Kritik führen, wundert Arash nicht. Der Hass kommt<br />
aber nicht nur von ausländerfeindlichen Österreicher:innen. Oft<br />
geht es auch um Nationalstolz, etwa wenn sich verschiedene<br />
Nationalitäten um die Herkunft eines Gerichts streiten. Auch<br />
hier sieht Arash die österreichische Fremdenfeindlichkeit als<br />
Hauptproblem: „Wenn zum Beispiel ein türkischer Junge in<br />
Österreich nie willkommen geheißen wird, dann muss er sich ja<br />
der Türkei näher fühlen, um Anschluss zu finden. Jeder möchte<br />
irgendwo dazugehören. Deswegen kommt es zu Nationalstolz,<br />
eben auch beim Essen.“<br />
UND DIE ZUKUNFT?<br />
Wir zahlen und schlendern durch den Vorgartenmarkt, vorbei<br />
an Gemüsemärkten mit glänzend roten Tomaten und Körben<br />
voller Feigen. Viel ist nicht los – kein Wunder bei dieser Hitze.<br />
Was er sich von der Zukunft erhoffe, frage ich. „Ich erhoffe<br />
mir keine Zahlen, ich will weiterhin Spaß damit haben. Ich bin<br />
mir sicher, dass, wenn wir uns in fünf Jahren treffen, etwas<br />
Großartiges entstanden sein wird.“ Damit sich diese Vorhersage<br />
auch erfüllt, arbeitet Arash hart, und das auch heute – wir<br />
verabschieden uns, weil er noch einen Food-Spot austesten<br />
will. Heute am Programm: ein österreichischer Burger, mit Brot<br />
aus Bier und ganz viel Schweinsbraten obendrauf. „Sicher auch<br />
mit weniger Hate-Kommentaren“, zwinkert Arash. ●<br />
Hass im Netz begleitet Arash tagtäglich. Für die Zukunft hat er<br />
aber trotzdem große Hoffnungen.<br />
Ich stelle meinen<br />
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nicht am Gehsteig<br />
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Die Stadt Wien beendet das Scooter-Chaos:<br />
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Alle Infos findest du unter:<br />
wien.gv.at/scooter
LIFE & STYLE<br />
Mache mir die Welt,<br />
wie sie mir gefällt<br />
Von Şeyda Gün<br />
MEINUNG<br />
Lasst mir<br />
mein Fußball!<br />
Als Kind habe ich es geliebt, mit<br />
meinem Papa und Opa Fußball zu<br />
schauen. Wir haben kein Spiel von<br />
Galatasaray im TV verpasst, schließlich<br />
ist es unser Lieblingsclub. Bis<br />
heute hat sich an meiner Liebe zu<br />
Fußball nicht viel geändert. Leider<br />
musste ich mir öfters verachtende<br />
Aussagen wie „Na gut, wenn du dich<br />
so gut mit Fußball auskennst, dann<br />
erklär mir doch mal das Abseits“<br />
oder „Du schaust sicher nur wegen<br />
den Fußballspielern, die dir gefallen“<br />
anhören. Ich habe das Gefühl, mich<br />
als Frau ständig dafür rechtfertigen<br />
zu müssen, warum ich es liebe,<br />
Fußball zu schauen. Dabei sollten<br />
alle doch schon längst wissen, dass<br />
Fußball nicht nur Männersache ist.<br />
Zum Glück habe ich Freunde und<br />
Kollegen aus der Schule in meinem<br />
Umfeld, die meine Liebe zu diesem<br />
Sport nicht so verachtend betrachten.<br />
Ganz im Gegenteil: Wir sprechen<br />
gerne untereinander über Fußball.<br />
Besonders gerne über die türkische<br />
Liga oder Champions League. Bitte,<br />
lasst mir mein Fußball!<br />
guen@dasbiber.at<br />
SCHLUSS MIT<br />
FAKE WIMPERN<br />
Die Mascara von Rare Beauty ist<br />
ein absolutes Must-have in deiner<br />
Schminktasche und betont alle<br />
Arten von Wimpern. Zu oft wurde<br />
ich schon auf meine langen und<br />
voluminösen Wimpern angesprochen,<br />
dabei trage ich nur die Rare<br />
Beauty Wimperntusche. Also holt<br />
sie euch, liebe bibericas – es ist<br />
meine absolute Empfehlung!<br />
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Jede:r spricht über yfood –<br />
doch was ist das eigentlich? Mit<br />
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vollwertige und ausgewogene<br />
Mahlzeit in Getränkeform. Gut<br />
geeignet, wenn sich mal keine<br />
Zeit für eine Mahlzeit ergibt.<br />
Egal ob Perfect Pistachio oder<br />
Fruitdy Drinks – mit insgesamt<br />
8 Sorten ist sicher für jede:n<br />
etwas dabei. Probiert es aus!<br />
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Pressefotos: Vom<br />
15.<strong>09</strong>–12.11.20<strong>23</strong> ist<br />
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Ausstellung World<br />
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sehen. Es ist eine der<br />
wichtigsten Ausstellungen<br />
im Rahmen<br />
der internationalen<br />
Pressefotografie –<br />
schaut unbedingt<br />
vorbei!<br />
© Zoe Opratko, Rare Beauty, Alessandro Cinque, Pulitzer Center/National Geographic, Daniela Alessandri<br />
42 / LIFESTYLE /
Geldsorgen adé:<br />
Lerne, wie du deine<br />
Finanzen meisterst!<br />
Gerade in Krisenzeiten ist der richtige<br />
Umgang mit Geld ein Thema<br />
mehr denn je. Mit dem Angebot<br />
der Bildungs direktion Wien können<br />
Jugendliche ihr Potenzial entfalten.<br />
Wie soll man, gerade in Zeiten der Teuerung und Inflation,<br />
ein nachhaltiges Polster für die Zukunft aufbauen?<br />
Diese Frage stellt sich auch die 18-jährige Mirela,<br />
die bald ein Studium beginnen wird. „Ich komme nicht<br />
aus einer Familie, in der ich jemals etwas erben werde.<br />
Da mache ich mir schon Sorgen um die Zukunft.<br />
Meine Eltern konnten leider niemals etwas auf die<br />
Seite legen – und ich kenne mich nur wenig mit Geld<br />
aus, obwohl mir Stabilität wichtig ist.“<br />
Der sichere Umgang mit Geld will gelernt sein: Das<br />
umfassende Finanzbildungsangebot der Bildungsdirektion<br />
für Wien bringt deshalb Schüler:innen den<br />
nötigen Überblick über ihre Finanzen nahe. Stabilität<br />
und bewusstes Handeln mit Geld sollen so auch<br />
jungen Menschen keine Fremdheit sein. „Je mehr<br />
ich über Finanzen lerne, desto mehr vertraue ich mir<br />
selbst“, weiß auch Mirela.<br />
In Kooperation mit der Schuldnerberatung Wien<br />
können junge Wiener:innen den Finanzführerschein<br />
absolvieren, der einen beson deren Schwerpunkt auf<br />
Wohnen, Wohnungs sicherung und kompetenten Konsum<br />
legt.<br />
Mithilfe von Workshops, Coachings und weiteren<br />
qualitätsgeprüften Angeboten können nicht<br />
nur Schüler:innen, sondern auch Lehrer:innen und<br />
Direktor:innen aller Schulen Bewusstsein schaffen.<br />
FINANZBILDUNGSCOACHES<br />
Auch die Wirtschaftsuniversität Wien<br />
unterstützt die Finanzbildungsinitiative<br />
der Bildungsdirektion mit viel Wissen und<br />
Engagement. Eine neu entwickelte Finanzbildungsinitiative<br />
der WU ist die Förderung von<br />
Finanzbildung in der Schule durch Finanzbildungscoaches.<br />
Wünscht sich eine Lehrperson<br />
für eine Klasse – egal ob in der Unter- oder<br />
Oberstufe – zu bestimmten Finanzbildungsthemen<br />
Unterstützung, kann sie auf der Website<br />
des Instituts für Wirtschaftspädagogik<br />
einen Finanzbildungscoach anfragen, der ein<br />
für die Klasse maßgeschneidertes und qualitätsgeprüftes<br />
Unterrichtskonzept entwickelt<br />
und auch umsetzt. Hier geht´s zum Formular:<br />
www.wu.ac.at/wipaed/uni-schule-ges/<br />
finanzbildungscoaches/<br />
© Omid Armin<br />
Mehr Informationen<br />
findest du beim<br />
Bildungshub.<br />
Dieses Special ist in Kooperation mit der Bildungsdirektion<br />
entstanden. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei biber.
LEBEN IM CONTAINERCAMP IN MALATYA:<br />
„Hauptsache, es geht weiter.”<br />
Ein halbes Jahr nach<br />
dem Erdbeben in der<br />
Türkei: Containercamps<br />
gehören mittlerweile zum<br />
Stadtbild und sind der<br />
neue Lebensmittelpunkt<br />
tausender Menschen. Wie<br />
sieht der Alltag in den<br />
Containern aus?<br />
Von Aleksandra Tulej<br />
Ich werde nicht über den Tag sprechen,<br />
als es passiert ist. Alles andere<br />
könnt ihr mich fragen”, stellt Songül<br />
sofort klar, als sie uns die Tür ihres<br />
Containers öffnet. Songül ist eine von<br />
1.500 Personen, die seit Juli hier in dem<br />
Camp in Malatya, der Hauptstadt der<br />
gleichnamigen ostanatolischen Provinz,<br />
wohnen. Das Camp ist überschaubar,<br />
die Container sind in Reihen angeordnet,<br />
die mittlerweile von den Bewohner:innen<br />
„Straßen” genannt werden – immerhin<br />
leben sie schon seit drei Monaten hier.<br />
Man kennt sich untereinander, nicht<br />
zuletzt durch kollektives Trauma-Bonding.<br />
Der Alltag im Camp ist längst eingetreten,<br />
zumindest an der Oberfläche.<br />
Das Erdbeben in der Türkei liegt nun<br />
sieben Monate zurück. Insgesamt sind<br />
laut offiziellen Angaben mehr als 57.000<br />
Menschen verstorben. Die Aufräumarbeiten<br />
sind in vielen Städten immer noch in<br />
Gange. Vereinzelt sieht man noch Zelte,<br />
in denen Familien unterkommen. Viele<br />
sind weggezogen – in andere Städte, in<br />
denen sie Familie oder Freunde haben.<br />
Aber vor allem in die Containersiedlungen,<br />
die mittlerweile zum Stadtbild gehören.<br />
Auch hier in Malatya, wo insgesamt<br />
über 20.000 Container stehen.<br />
In Malatya leben etwa 600.000<br />
Einwohner:innen. 2.300 Menschen sind<br />
hier beim Erdbeben ums Leben gekommen,<br />
etwa 300.000 haben ihr Zuhause<br />
verloren – manche auch ihre gesamte<br />
Familie. Wie Erol, der bei dem Erdbeben<br />
seine Tochter und seine zwei Enkel<br />
verloren hat. Er ist geschieden und lebt<br />
alleine in dem Container. Spartanisch<br />
eingerichtet: ein Bett, ein Sofa, ein<br />
kleiner Tisch, auf dem eine Zeitung und<br />
Zigaretten liegen. „Ich brauche nicht viel<br />
zum Leben. Der Container reicht völlig<br />
aus, ich beschwere mich nicht. Es ist auf<br />
jeden Fall besser als im Zelt.”<br />
SCHRITT FÜR SCHRITT IN<br />
DEN NEUEN ALLTAG<br />
In den meisten Containern leben ganze<br />
Familien mit oft bis zu sieben Personen.<br />
„Das wird dann schon eng. Wenn wir<br />
die Waschmaschine anmachen, dann<br />
wackelt der ganze Container. Wir sind<br />
sehr froh, ein Dach über dem Kopf zu<br />
haben, jetzt im Sommer war alles gut,<br />
aber wir haben alle Sorge davor, wie der<br />
Winter aussehen wird”, erzählt Nadrie.<br />
© Rahma Austria<br />
44 / OUT OF AUT /
Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde<br />
AFAD soll das Containercamp<br />
noch für die nächsten zwei<br />
Jahre bestehen bleiben, danach wolle<br />
man „je nach Schweregrad der einzelnen<br />
Situationen der Familien” graduell<br />
die Menschen in günstigen Wohnungen<br />
unterbringen, erzählt Metin, der AFAD-<br />
Koordinator im Camp. Wie oder wann<br />
genau das passieren wird, weiß noch<br />
niemand so richtig.<br />
Jetzt gilt es erstmal, den Alltag<br />
zu bewältigen, Schritt für Schritt. Der<br />
österreichische Spendenverein Rahma<br />
Austria stellt hier die Container auf, verteilt<br />
Lebensmittelpakete, Schultaschen,<br />
Hygieneprodukte – alles, was man hier<br />
eben zum Leben braucht. Am 9. September<br />
fand unter breiter Medienpräsenz die<br />
Eröffnungsfeier der Container statt. Die<br />
Feier hätte eigentlich im Juni stattfinden<br />
sollen, aber es hätte einige Probleme<br />
mit der Infrastruktur des Camps, wie<br />
beispielsweise den Wasserleitungen,<br />
gegeben und man hätte sichergehen<br />
wollen, dass alles stehe und funktioniere,<br />
bis man das Camp offiziell eröffne, so<br />
Tarkan Tek, Leiter von Rahma Austria.<br />
Für Kinder gibt es hier einen Spielplatz,<br />
eine kleine Kletterwand, eine<br />
Sandkiste – um ihnen einen möglichst<br />
normalen Alltag zu ermöglichen. „No<br />
happiness, no hope, stay positive”<br />
schreibt Medine immer und immer wieder<br />
mit lila Marker in ihren Notizblock.<br />
In ihren Zeichnungen verarbeitet sie das<br />
Erlebte: Sie zeichnet leere Schaukeln,<br />
Trümmer und dunkle Nächte. „Aber ich<br />
habe mich schon daran gewöhnt, dass<br />
wir hier jetzt leben: Ich stehe morgens<br />
auf, lese ein bisschen und gehe dann zur<br />
Schule, ganz normal eigentlich”, erzählt<br />
sie. Die Kinder hätten sich an das Leben<br />
im Camp am schnellsten akklimatisiert,<br />
so die Mutter des dreijährigen Umut.<br />
Ihr kleiner Sohn läuft uns in die Arme,<br />
begrüßt jeden, als wäre er der Hauptverantwortliche<br />
hier. Er weiß, wo was<br />
ist, kennt jeden, strahlt und lacht – man<br />
bekommt den Anschein, als wäre er<br />
noch zu klein, um zu verstehen, was passiert<br />
ist oder warum er hier lebt. „Als wir<br />
vor einiger Zeit in der Straße in Malatya<br />
waren, in der unser Haus einst stand”<br />
erzählt Umuts Mutter, „hat er begonnen,<br />
zu weinen, und meinte immer wieder:<br />
„Ich will in mein Zuhause, das hier ist<br />
mein Zuhause!“ Vom Haus der Familie<br />
erkennt man jedoch wirklich nichts<br />
mehr wieder, es ist alles dem Erdboden<br />
gleich. „Er kriegt das also sehr wohl<br />
mit“, bekräftigt Umuts Mutter, „auch<br />
wenn er sonst so glücklich herumläuft,<br />
das sitzt tief.” Den Tag des Erdbebens<br />
wollen alle hier am besten vergessen,<br />
man blickt in die Zukunft – immer wieder<br />
kommen Flashbacks, Rückschläge,<br />
Probleme – aber man versucht, das<br />
irgendwie gemeinsam zu überwinden:<br />
„Hauptsache, es geht weiter!“, ist hier<br />
die Devise. ●<br />
*Der Besuch erfolgte auf Einladung von Rahma<br />
Austria.<br />
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KARRIERE & KOHLE<br />
Para gut, alles gut<br />
Von Šemsa Salioski<br />
MEINUNG<br />
#Lazygirljob<br />
oder nicht?<br />
#Lazygirljob hat auf TikTok mittlerweile<br />
22 Mio Aufrufe. Die Videos fordern<br />
Frauen dazu auf, zukünftig nur noch<br />
Low-Effort-Jobs anzunehmen, die dennoch<br />
die Rechnungen zahlen können.<br />
Ähnlich wie Quiet Quitting gilt das als<br />
Versuch, sich gegen zu die etablierte<br />
Hustle Culture zu wehren. Ich kann das<br />
verstehen. Trotzdem finde ich, dass<br />
man diese „Scheiß-Auf-Arbeit”-Einstellung<br />
nur dann in Ruhe ausleben kann,<br />
wenn man sich noch nie Sorgen um die<br />
Zukunft machen musste. So möchten<br />
viele Migra-Arbeiter:innenkinder mit<br />
Eltern, die in Österreich oft für eine<br />
bessere Zukunft für sie gekämpft<br />
haben, meist “mehr aus sich machen”.<br />
Zudem waren anspruchsvolle Jobs<br />
immer jene, von denen behauptet<br />
wurde, dass “Leute aus ihren Kreisen”<br />
sie niemals ausüben könnten. Außerdem<br />
muss man sich fragen, wem man<br />
es genau zeigt, wenn man jegliche<br />
Karriereambitionen aus Trotz eliminiert.<br />
Mein Tipp: Habt bitte zumindest einen<br />
Plan B, denn es besteht die Möglichkeit,<br />
dass ihr den #Lazygirljob nicht bis<br />
65 durchziehen wollt. Und: KI könnte<br />
euch hier auch einen Strich durch die<br />
Rechnung machen.<br />
salioski@dasbiber.at<br />
FUTUREME: E-MAILS AN<br />
DAS ZUKÜNFTIGE ICH<br />
Der Schwerpunkt der Kolumne lässt mich häufig an mein jüngeres Ich<br />
denken. Gleichzeitig frage ich mich, wo ich in 10–20 Jahren sein werde. Ihr<br />
auch? Dann schnell auf https://www.futureme.org/ mit euch. Bei Futureme.<br />
org könnt ihr eurem zukünftigen Ich eine E-Mail schreiben - und zwar bis ins<br />
Jahr 2070. Natürlich muss der Inhalt nicht auf die Karriere bezogen sein.<br />
Vermutungen aufstellen und irgendwann nachsehen, ob ihr auf der richtigen<br />
Spur wart, könnte trotzdem lustig sein. Ich wäre, was meinen jetzigen Job<br />
betrifft, auf alle Fälle falsch gelegen - keine Archäologin, kein Superstar und<br />
keine H&M-Verkäuferin. Probiert es aus!<br />
TODOIST: AUS CHAOS WIRD ORDNUNG<br />
Willkommen zurück in der<br />
Schule / auf dem Campus!<br />
Als chaotischer Mensch<br />
hat mich nur eines davor<br />
bewahrt, in den ersten<br />
Wochen aufgrund von zu viel<br />
Input nicht durchzudrehen:<br />
Ordnung schaffen! Dafür<br />
benutze ich seit Jahren die<br />
App Todoist. Statt Chaos<br />
im Hirn kann man sich hier<br />
blitzschnell eine To-do-<br />
Liste mit Aufgabennamen,<br />
inklusive Datum und Uhrzeit,<br />
schreiben. Nach Erfüllung<br />
einer jeden Aufgabe kann<br />
diese mit genau einer<br />
Berührung wieder gelöscht<br />
werden.<br />
© Zoe Opratko, pixabay.com/jarmoluk, pixabay.com<br />
46 / KARRIERE /
Worauf muss ich im<br />
sterilen OP-Bereich achten<br />
Die Antwort gibt das Pflegestudium<br />
Bachelor of Science in Health Studies<br />
an der FH Campus Wien.<br />
#WissenSchafftPflege<br />
Jetzt informieren auf fh-campuswien.ac.at<br />
Monatliche Online-Infosessions!
WOHNEN IN WIEN:<br />
ABER WIE?<br />
Herbst heißt für viele Studienbeginn<br />
und der Studienbeginn<br />
heißt für viele angehende<br />
Studierende vor allem eines:<br />
Endlich raus aus dem Elternhaus!<br />
Worauf du vor, während<br />
und nach deiner Wohnungssuche<br />
achten solltest, erfährst<br />
du hier.<br />
Von Mathias Psilinakis, Foto: Zoe Opratko<br />
48 / MIT SCHARF /
WO ANFANGEN?<br />
In einer Stadt mit <strong>23</strong> Bezirken, dutzenden Wohnheimen und<br />
tausenden WG-Anzeigen ist es oft nicht leicht, den Überblick<br />
zu behalten. Diese Websites eignen sich besonders,<br />
um WG-Zimmer und Wohnungen in Wien zu finden:<br />
UMMELDEN: ABER WIE?<br />
Sobald du in deine neue Wohnung eingezogen bist, musst<br />
du diese als deinen neuen Wohnsitz anmelden.<br />
Das kannst du sowohl online als auch<br />
persönlich an verschiedenen Stellen in Wien<br />
machen. Weitere Infos sowie das Meldeformular<br />
zum Ausfüllen findest du hier:<br />
WG-Gesucht Willhaben Immo-Scout 24<br />
AB INS WOHNHEIM!<br />
Falls du eine kostengünstigere Option suchst<br />
und Lust auf neue Bekanntschaften hast,<br />
ist vielleicht ein Wohnheim das Richtige<br />
für dich. Einen Überblick über das Angebot<br />
findest du hier:<br />
ORDNUNG IM BEGRIFFSCHAOS<br />
Ein paar Begriffe, die du unbedingt kennen solltest:<br />
Kalt- und Warmmiete: Während die Kaltmiete (oder<br />
Nettomiete) nur die eigentliche Miete umfasst, sind bei der<br />
Warmmiete (oder Bruttomiete) auch die Betriebskosten<br />
mit einbegriffen – die Warmmiete ist also deutlich höher.<br />
Achtung: Auch in der Warmmiete sind nicht alle Kosten<br />
enthalten!<br />
Befristet und unbefristet: Nicht alle Wohnungen und<br />
WG-Zimmer sind unbefristet zu haben. Befristet bedeutet,<br />
dass du nur für eine gewisse Zeit in einer Wohnung oder<br />
einem Zimmer bleiben darfst. Ein besonderer Fall einer<br />
befristeten Miete ist die Zwischenmiete: Hier übernimmst<br />
du nur zwischenzeitlich das WG-Zimmer einer anderen<br />
Person, zum Beispiel während sie ein Auslandssemester<br />
macht.<br />
Kaution: Bevor du einziehst, wirst du meist aufgefordert<br />
werden, einen Geldbetrag (oft drei Bruttomonatsmieten) zu<br />
hinterlegen. Die Kaution dient als Absicherung für den/die<br />
Vermieter:in, falls du während deines Aufenthalts Schäden<br />
am Zimmer oder der Wohnung verursachst. Im Normalfall<br />
solltest du diese jedoch nach deinem Auszug zurückbekommen.<br />
Ablöse: Vor allem in bereits bestehenden WGs gibt es oft<br />
die Möglichkeit, deinen Vormieter:innen ihre Möbel „abzukaufen“.<br />
Die Ablöse bezieht sich auf den Geldbetrag, den<br />
du (einmalig) dafür zahlen musst. Die Ablöse beruht auf der<br />
Preiseinschätzung der Besitzer:innen und ist deshalb meist<br />
verhandelbar.<br />
Mietpreisdeckel: Ein Mietpreisdeckel ist eine politische<br />
Maßnahme, die darauf abzielt, den steigenden Mieten entgegenzuwirken.<br />
Die Regierung hat kürzlich verkündet, die<br />
Mietpreiserhöhungen bei den meisten Mieten ab 2024 auf<br />
maximal 5% pro Jahr zu deckeln.<br />
VERTRÄGE, VERTRÄGE UND NOCH<br />
MEHR VERTRÄGE!<br />
Hier die wichtigsten Verträge, die du vor deinem Einzug<br />
unterschrieben haben solltest:<br />
➞ Mietvertrag<br />
➞ Strom<br />
➞ Gas<br />
➞ Haushaltsversicherung<br />
➞ WLAN<br />
Achtung: Unterschreibe nie einen Vertrag, ohne ihn einer<br />
erfahrenen Person zur Durchsicht gegeben zu haben – das<br />
kann sonst übel enden!<br />
APP-TIPP: SPLITWISE<br />
Um die gemeinsamen Kosten, die in einer Wohngemeinschaft<br />
entstehen, fair aufzuteilen und Streitereien zu<br />
vermeiden, eignet sich diese App perfekt.<br />
Einfach gemeinsame Ausgaben wie Klopapier<br />
und Spülmittel eintragen und die App zeigt<br />
allen Mitbewohner:innen an, welche Schulden<br />
noch zu begleichen sind.<br />
GELD SPAREN BEIM UMZUG<br />
Ausziehen auf billig? Diese Tipps helfen dir dabei, in deinem<br />
neuen Zuhause Geld zu sparen:<br />
Tipp 1: Gebrauchte Möbel kaufen!<br />
Auf Flohmärkten und Websites wie Willhaben findest du<br />
tolle Einrichtungsgegenstände und das oft für wenig Geld!<br />
Tipp 2: Lebensmittel retten!<br />
Um sowohl deiner Geldtasche als auch deinem Gewissen<br />
etwas Gutes zu tun, probier doch mal To Good To Go! Auf<br />
dieser App kannst du nicht nur Lebensmittel retten, die<br />
sonst weggeworfen werden, du sparst auch viel Geld!<br />
Tipp 3: Gemeinsam kochen!<br />
Gemeinsames Einkaufen und Kochen macht nicht nur Spaß,<br />
man spart dabei auch viel Geld.<br />
/ MIT SCHARF / 49
KULTURA NEWS<br />
Klappe zu und Vorhang auf!<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
MEINUNG<br />
Einfach neugierig<br />
bleiben<br />
Ist es nicht traurig, dass es so viel<br />
gute Musik, Bücher und andere<br />
Kunst da draußen gibt, die zu<br />
entdecken sich in einem Leben<br />
niemals ausgehen wird? Manchmal<br />
überkommt mich ein leichtes<br />
Scham- oder sogar Schuldgefühl,<br />
wenn ich mir meine alte Lieblingsplaylist<br />
von 2014 durchhöre und<br />
mir dämmert, dass es womöglich<br />
unzählige Alben und Artists gibt,<br />
die mir ebenso gut gefallen könnten.<br />
Dasselbe gilt für Filme und<br />
Serien – ein ganzes Leben reicht<br />
lange nicht, um wirklich zu wissen,<br />
was einem eigentlich gefällt.<br />
Irgendwo ist man immer gefangen<br />
in seinem eigenen, ganz persönlichen<br />
Algorithmus, vor allem auf<br />
Musikstreaming-Plattformen oder<br />
YouTube – wobei zu überlegen ist,<br />
ob man selbst diesen Algorithmus<br />
füttert, oder dies doch umgekehrt<br />
abläuft? Was kann man dagegen<br />
tun, fragte ich auch ChatGPT<br />
letztens. Die Antwort darauf war<br />
so direkt, wie auch simpel: Neugierig<br />
bleiben. Das ist aber leichter<br />
gesagt, als getan – oder?<br />
el-azar@dasbiber.at<br />
ORF Lange Nacht<br />
der Museen<br />
Am 7. Oktober findet bereits zum <strong>23</strong>. Mal<br />
die ORF „Lange Nacht der Museen“ statt.<br />
Auch heuer nehmen zahlreiche Museen<br />
und Galerien daran teil und halten ihre Tore<br />
zwischen 18 Uhr bis 1 Uhr früh offen. Alle<br />
Informationen zum Veranstaltungsprogramm<br />
und<br />
sämtliche Booklets finden<br />
sich hier:<br />
https://langenacht.orf.at<br />
Theater-Tipp:<br />
Clišhé<br />
Träsh<br />
Festival<br />
Klischees können sowohl<br />
für heilsame Insider-Witze<br />
herhalten als auch Schmerz<br />
verursachen. Zum zweiten<br />
Mal wird das Clišhé Träsh<br />
Festival von Kulturen in<br />
Bewegung organisiert, bei<br />
dem Performer:innen wie<br />
Toxische Pommes, Ivo Dimchev,<br />
Faris Cuchi und Candy<br />
Licious Klischees auf kritische<br />
und humorvolle Art auf<br />
den Grund gehen. Mit dabei<br />
im Programm: „Gemma<br />
Reumann!“ – ein Kunstworkshop<br />
mit Diskussion über das<br />
Leben in Wien-Favoriten.<br />
Von 6.–7.<br />
Oktober<br />
20<strong>23</strong> im<br />
Kulturhaus<br />
Brotfabrik.<br />
EINFACH DAS ENDE DER WELT<br />
Ein erfolgreicher Autor namens Louis kehrt nach langer Abwesenheit<br />
aufs Land zurück, um Abschied von seiner Familie zu<br />
nehmen, da er weiß, dass er bald sterben wird. Unter der Oberfläche<br />
brodelt es vor falschen Erwartungen und aufgezwungenen<br />
Verpflichtungen, und das Familientreffen ist geprägt von unausgesprochenen<br />
Konflikten. Jean-Luc Lagarces autobiographisch<br />
geprägtes, und vielfach adaptiertes Stück<br />
über seine AIDS-Erkrankung wird bis <strong>23</strong>. September<br />
im Kosmos Theater aufgeführt.<br />
Alle Informationen und Spieltermine gibt es hier:<br />
© Zoe Opratko, ORF, Irene Martínez & Andrea Parra, WIENWOCHE/Kora Reichhardt<br />
50 / KULTURA /
Wienwoche<br />
Vom 15. Bis 24. September findet die diesjährige<br />
Wienwoche unter dem Motto „It’s getting cold in<br />
here“ statt. Dabei sollen nicht nur Spannungsfelder,<br />
die durch die Klimakrise verursacht werden,<br />
behandelt werden – sondern auch die Frage<br />
danach, wie sich soziale Kälte bekämpfen lässt.<br />
Das dichte Festivalprogramm bringt eine Reihe von<br />
Performances, Diskussionen, Workshops<br />
und Screenings.<br />
Alle Informationen zur Wienwoche<br />
20<strong>23</strong> gibt es hier: https://www.<br />
wienwoche.org/de/20<strong>23</strong>/home<br />
Wie läuft´s in<br />
deiner Lehre?<br />
Entgeltliche Einschaltung / © Adobe Stock<br />
Gut? Freut uns. Wenn es<br />
mal nicht so ist, melde dich.<br />
Das Lehrlingscoaching von „Lehre statt Leere“ unterstützt bei allen<br />
Fragen und Herausforderungen rund um die Lehre. Wir beraten und<br />
coachen dich ganz individuell. Kostenlos, vertraulich und österreichweit.<br />
Melde dich einfach: Info-Line 0800 220074 und www.lehre-statt-leere.at
BLACKNESS, WHITE, AND LIGHT<br />
Adam Pendleton ist<br />
einer der bekanntesten<br />
zeitgenössischen<br />
Konzeptkünstler<br />
der Welt – im<br />
Museumsquartier zeigt<br />
das mumok erstmals<br />
eine große Solo-<br />
Ausstellung in Wien.<br />
xxx<br />
Von Nada El-Azar-Chekh<br />
Die Ausstellung ist<br />
bis 7. Jänner 2024<br />
im Mumok zu sehen.<br />
Der Eintritt für<br />
Besucher*innen unter<br />
19 Jahren ist frei.<br />
Wer vor Adam Pendletons bekannter Werkserie „Black Dada“<br />
steht, scheint zunächst nur eine Reihe von schwarzen, monochromen<br />
Gemälden zu sehen, in denen einzelne Buchstaben aus dem<br />
Titel schwimmen. Doch dahinter steckt ein gekonntes Jonglieren<br />
mit dem Konzept des Dadaismus – einer Kunstströmung des 20.<br />
Jahrhunderts – und Fragen nach Rasse, Identität und Politik. Das<br />
mumok widmet dem 1984 geborenen Konzeptkünstler aus New<br />
York seine erste umfassende Einzelausstellung „Blackness, White,<br />
and Light“ auf europäischem Boden.<br />
COLLAGEN<br />
Wie wichtig Adam Pendletons Auffassung von „Black Dada“ für<br />
sein Schaffen ist, spiegelt sich auch in seinen Code Poems wider<br />
– einer Serie von Keramikskulpturen, die inspiriert von Hannah<br />
Weiners Gedichten aus ihrem gleichnamigen Buch von 1982<br />
sind. Unbedingt erleben sollte man Pendletons Videoarbeiten, in<br />
denen er den Star-Choreographen Ishmael Houston-Jones, die<br />
Bürgerrechtsaktivistin Ruby Nell Sales und den renommierten<br />
Genderstudies-Professor Jack Halberstam porträtiert. Sprache,<br />
Musik, Texte und Bewegtbild verschmelzen zu tiefgründigen und<br />
einfühlsamen Collagen, die nicht nur die individuellen Geschichten<br />
der Protagonist*innen zeigen, sondern auch einen starken gesellschaftskritischen<br />
und politischen Unterton bergen.<br />
Die Schau „Blackness, White, and Light“ erstreckt sich im<br />
mumok über zwei Ebenen. Regelmäßig finden Ausstellungsrundgänge<br />
und Führungen statt. Der Eintritt ist für alle Besucher*innen<br />
unter 19 Jahren frei.<br />
© Matthew Placek, Courtesy of the Artist, Adam Pendleton, Courtesy of the Artistw<br />
52 / KULTURA /
© 20<strong>23</strong> McDonald's. In allen teilnehmenden Restaurants in Österreich. Produkt mit Schmelzkäsezubereitung.<br />
Alle panierten Hühnerprodukte aus Hühnerfleischstücken geformt und zusammengefügt.<br />
Ausgenommen Fremdmarken.
DER QUOTEN-ALMANCI<br />
ZWISCHEN YACHTCLUBS UND<br />
GEMÜSEMÄRKTEN<br />
Von Özben Önal<br />
Sommer bedeutete schon, seit ich denken kann,<br />
meine Familie in Hatay zu besuchen. Das war<br />
früher leicht. Bis auf meinen Onkel und meinen<br />
Vater war niemand damals nach Deutschland<br />
ausgewandert; meine drei Tanten, ein Onkel und<br />
ihre Kinder blieben alle im Dorf. Das bedeutete<br />
sechs Wochen in den Ferien intensiv Zeit<br />
verbringen, gemeinsam mit allen Cousinen und<br />
Cousins, alle auf einem Fleck. Heute ist das<br />
etwas schwieriger. Mittlerweile sind die meisten<br />
weggezogen, haben geheiratet, Kinder. Das<br />
bedeutet für mich allerdings nur, dass sich der<br />
Besuch auf verschiedene Städte in<br />
der Türkei ausgeweitet hat – auch<br />
wenn ich es nicht mehr jedes Jahr<br />
schaffe. Bei den letzten Besuchen<br />
hat sich aber etwas verändert. Meine<br />
Perspektive, könnte man sagen.<br />
Während ich nach den meisten<br />
Aufenthalten bei meiner Rückreise<br />
in eine Art romantische Melancholie<br />
verfiel, verspüre ich heute Erleichterung.<br />
Das Leben der Menschen in der Türkei ist ein<br />
anderes als das, was wir Almancis wahrnehmen,<br />
schon lange, schon immer. Unsere einwöchigen<br />
Aufenthalte in Urlaubsorten wie Çeşme spiegeln<br />
nicht den reellen Alltag der Einheimischen<br />
wider – eigentlich eher das Gegenteil. Während<br />
reiche Bewohner:innen und Tourist:innen in<br />
Alaçatı Freitag abends für Spottpreise Cocktails<br />
in fancy Bars schlürfen, die sogar für deutsche<br />
und österreichische Verhältnisse lächerlich sind,<br />
stehen die Menschen in den Vororten von Izmir<br />
morgens um 7 Uhr auf, um auf dem Markt abgezähltes<br />
Obst und Gemüse zu kaufen. Abgezählt,<br />
weil die Hyperinflation einen Bund Petersilie<br />
Kolumnistin Özben<br />
Önal ist euer „Quoten-<br />
Almanci“ – ein bisschen<br />
deutsch, ein bisschen<br />
türkisch, mit ein bisschen<br />
Liebe zu Wien. In ihrer<br />
Kolumne berichtet sie<br />
über Schönes, Schwieriges<br />
und Alltägliches.<br />
mehr oder zwei extra Tomaten nicht zulässt.<br />
Eine Unterteilung in Klassen ist so präsent, dass<br />
man in einem Beach Club in Çeşme gesiezt<br />
und beim Namen genannt wird, nachdem man<br />
2500 Lira (umgerechnet ca. 80 Euro) Eintritt<br />
gezahlt hat, während einem im Ilica Halk Plaj<br />
(öffentlicher Strand in der Nähe von Çeşme), in<br />
dem lediglich 150 Lira (umgerechnet ca. 5 Euro)<br />
für Liegen gezahlt wird, in unfreundlichem Ton<br />
gesagt wird, man solle sich selber eine Karte<br />
holen, um zu bestellen. Es existiert eine fast<br />
perverse Leidenschaft für Elitarismus an Orten,<br />
wenn man nur genug dafür bezahlt.<br />
Es ist nicht das Essen, die Musik<br />
oder der schönere Strand – es ist das<br />
Erlebnis von maximalem Wohlstand<br />
und Luxus, für den man zahlt, unter<br />
vermeintlich Gleichgesinnten. Die<br />
Schere zwischen diesen zwei Welten<br />
ist so groß, dass man sie in jeglicher<br />
Form spüren kann. Und während wir,<br />
die Menschen aus Deutschland und Österreich,<br />
jedes Jahr hinfliegen, um in dieses absurde<br />
Leben einzutauchen, geht die Realität des Landes<br />
und der Menschen nahezu vollkommen an<br />
uns vorbei. Die Unterteilung zeigt sich nämlich<br />
offensichtlich auch räumlich. Wenn du dir nicht<br />
leisten kannst, in den angesagten Cafés und<br />
Bars zu trinken oder zu essen, gehst du auch<br />
nicht in eines dieser Cafés oder in eine dieser<br />
Bars – der Zutritt wird dir schon am Eingang<br />
verwehrt. Der Lieblingssatz der Almancis „Aber<br />
alle Lokale sind voll, wenn es den Menschen<br />
doch so schlecht geht, wie können die sich<br />
das dann leisten?“ macht sich also von selbst<br />
nichtig. ●<br />
© Zoe Opratko<br />
54 / MIT SCHARF /
EIN TICKET | HUNDERTE MUSEEN<br />
SA | 7. OKT | 20<strong>23</strong><br />
IN GANZ ÖSTERREICH AB 18:00 | LANGENACHT.ORF.AT
Ich hab‘ ein Händchen<br />
fürs Sparen.<br />
NEU:<br />
SPAR-App<br />
holen &<br />
sparen!<br />
GET IT ON