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BIBER 09_23 Ansicht

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Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien<br />

www.dasbiber.at<br />

MIT SCHARF<br />

+<br />

INSIDE ORTHODOXES<br />

JUDENTUM<br />

+<br />

SCHAWARMA<br />

STATT SCHNITZEL<br />

+<br />

SCHALLENBERG<br />

SEPTEMBER<br />

20<strong>23</strong><br />

IN ZAHLEN<br />

+<br />

ZWISCHEN TABUS<br />

UND SEXMYTHEN<br />

WENN MIGRANTINNEN DIE SCHAM<br />

IHRER ELTERN ERBEN


schert<br />

sich<br />

ums Klima.<br />

Amählie<br />

Solarschaf<br />

Für den Klimaschutz in und um Wien setzen wir alle Hebel in Bewegung. Damit Sie zuhause<br />

nachhaltig mit Strom und Wärme versorgt sind und e-mobil mit 100 % Ökostrom<br />

unterwegs sein können. Wie wir bis 2040 klimaneutral werden und was das mit einem<br />

Solarschaf zu tun hat: wienenergie.at/Amählie<br />

Wien Energie, ein Unternehmen der Wiener Stadtwerke-Gruppe.


3<br />

minuten<br />

mit<br />

Fatima<br />

Sidibe<br />

African Hairstyles, Schwarze<br />

Vorbilder, Racial Profiling<br />

und historische Fakten, die ihr<br />

bestimmt nicht in der Schule<br />

gelernt habt: Fatima Sidibe alias<br />

African Diva spricht im Netz<br />

über Black und African History<br />

und lernt dadurch, ihre eigenen<br />

Wurzeln in Guinea zu schätzen.<br />

Interview: Filip Lazar<br />

Foto: Ina Aydogan<br />

<strong>BIBER</strong>: Woher kam die Idee, auf Instagram<br />

über African/Black Culture und<br />

History zu sprechen?<br />

FATIMA SIDIBE: Ich habe während meiner<br />

Schullaufbahn gemerkt, dass nicht<br />

viel über Black History und Schwarze<br />

Kultur unterrichtet wird. Klar lernt man<br />

über Sklaverei oder Hungersnot. Aber<br />

wir haben zu diesem Themengebiet<br />

nie etwas Positives gelernt. Da ich<br />

sehr neugierig war, begann ich mich<br />

selbst mit der afrikanischen Geschichte<br />

auseinanderzusetzen und merkte<br />

dabei schnell, dass Afrika sehr reich an<br />

Geschichte und Kultur ist. So machte<br />

ich es mir zur Aufgabe, auch anderen<br />

PoCs (People of Colour) durch Social<br />

Media zu zeigen, dass wir viel mehr als<br />

nur Sklaverei und Armut haben.<br />

Wie entscheidest du, über welche Themen<br />

du berichtest? Wie aufwendig sind<br />

deine Videos?<br />

Es ist meist ein Mix aus Eigeninteresse<br />

und Themenvorschlägen meiner Community.<br />

Für ein 5-minütiges YouTube-<br />

Video rechne ich schon mit 10-12<br />

Stunden Arbeitszeit. Für ein kurzes Reel<br />

brauche ich ein paar Stunden.<br />

Bekommst du Hass im Netz ab?<br />

Zu 90 % bekomme ich nur positives<br />

und ermutigendes Feedback – das<br />

macht mich sehr glücklich. Es kam<br />

auch schon vor, dass mir ältere PoCs<br />

schreiben, dass sie ihren Kindern<br />

schon immer etwas über Black History<br />

beibringen wollten und sie meinen<br />

Kanal deswegen hilfreich finden. Das<br />

ist richtig schön. Hin und wieder gibt es<br />

leider auch rassistische Kommentare,<br />

es ist aber nie zu extrem.<br />

Abgesehen von deinem Bildungscontent<br />

schreibst du auch viel Poesie.<br />

Denkst du, Gedichte sind ein gutes<br />

Medium, um Black Culture in den<br />

öffentlichen Diskurs zu bringen?<br />

Definitiv! Ich denke, dass Poesie ein<br />

gutes Mittel ist, um ein Statement in<br />

der Öffentlichkeit zu setzen. Wenn ich<br />

auf Bühnen stehe und ich ein großes<br />

Publikum habe, dem ich meine Gedichte<br />

vortrage, ist es mit viel Emotion ver-<br />

bunden. Viele meiner Gedichte haben<br />

einen tiefgründigen Unterton, den das<br />

Publikum dann auch spürt und manche<br />

sogar zu Tränen rührt. Ich möchte Black<br />

People empowern und sie stolz auf<br />

ihre Herkunft machen. Ich hatte früher<br />

immer das Gefühl, mich wegen meiner<br />

guineischen Herkunft schämen zu müssen,<br />

weil ich dachte „es gibt ja nichts<br />

Positives über mein Land zu sagen“. Ich<br />

möchte einfach, dass PoCs sehen, wie<br />

interessant die Länder Afrikas eigentlich<br />

sind.<br />

Wer sind deine Vorbilder beziehungsweise<br />

deine größte Inspiration?<br />

Das ist auf jeden Fall Königin Nzinga.<br />

Sie war eine angolanische Königin im<br />

17. Jahrhundert und kämpfte gegen die<br />

portugiesische Kolonialherrschaft und<br />

setzte sich für die Unabhängigkeit ihres<br />

Volkes ein.<br />

Ihr findet Fatima auf Instagram:<br />

@africaandivaa<br />

/ 3 MINUTEN / 3


3 3 MINUTEN MIT<br />

AFRICAN DIVA<br />

Die <strong>23</strong>-jährige Black History-Bloggerin<br />

im Schnellinterview.<br />

8 IVANAS WELT<br />

Warum Mehrsprachigkeit nicht<br />

immer von Vorteil ist.<br />

10 KLIMA-NEWS<br />

Interessante Zahlen, Daten und Fakten<br />

rund um das Thema Umweltschutz.<br />

POLITIKA<br />

12 MEINUNGSMACHE<br />

Politische Themen kurz, komprimiert<br />

und mit scharf.<br />

20<br />

„HERR SCHALLENBERG, WIE LANGE WIRD<br />

DIE EU BESTEHEN BLEIBEN?“<br />

Außenminister Alexander Schallenberg im Interview.<br />

14 „WEIL WIR ANDERS ALS<br />

DIE AUSSENWELT SIND.“<br />

So lebt die Community der<br />

ultraorthodoxen Juden in Wien.<br />

19 BALKAN NEWS<br />

Dennis Miskić erklärt, warum niemand<br />

mehr in Bosnien leben will.<br />

20 „HERR SCHALLENBERG,<br />

WIE VIELE ZIGARETTEN<br />

RAUCHEN SIE AM TAG?“<br />

Biber fragt in Worten, Außenminister Alexander<br />

Schallenberg antwortet mit einer Zahl.<br />

22 „ES GIBT KEIN REZEPT,<br />

UM OBDACHLOSE VOR<br />

MESSERATTACKEN ZU<br />

SCHÜTZEN.“<br />

Susanne Peter, Leiterin der Streetwork, im<br />

Interview über ihre Arbeit.<br />

14<br />

ULTRAORTHODOXES<br />

JUDENTUM IN WIEN<br />

Einblicke in die sonst streng<br />

verschlossene Community.<br />

IN<br />

RAMBAZAMBA<br />

24 MIT DEM RICHTIGEN<br />

MINDSET REICH WERDEN<br />

Inside-Reportage über die Finanz-Trading-<br />

Akademie „Team Alpha“.


30 TABUTHEMA: AUFKLÄRUNG<br />

Wenn Migrantinnen die Scham der Eltern<br />

erben.<br />

36 „KANN ES SEIN, DASS DU<br />

TRANS BIST?“<br />

Transfrau Nikki spricht über ihren Weg zu<br />

ihrem wahren Ich.<br />

24<br />

DER TRAUM VOM<br />

SCHNELLEN GELD<br />

Wie die Finanz-<br />

Trading-Akademie ihre<br />

Mitglieder anlockt.<br />

HALT SEPTEMBER<br />

20<strong>23</strong><br />

30<br />

„ÜBER SEX<br />

SPRICHT MAN<br />

NICHT“<br />

Migrantinnen<br />

gefangen zwischen<br />

Tabus und Sexmythen.<br />

38 SCHNITZEL UND<br />

SCHAWARMA<br />

Amina und Arash erzählen von ihrem Leben<br />

als Foodblogger in Wien.<br />

LIFE&STYLE<br />

42 FUSSBALL IST AUCH<br />

FRAUENSACHE<br />

Şeyda Gün will sich ihren Lieblingssport<br />

nicht nehmen lassen.<br />

KARRIERE&KOHLE<br />

46 WAS TUN WENN DAS<br />

PROJEKT „LAZYGIRL“<br />

NICHT KLAPPT<br />

Šemsa Salioski gibt Tipps für eine<br />

steilere Karriere.<br />

48 WOHNEN IN WIEN,<br />

ABER WIE?<br />

Coole Tipps und Tricks für deinen Umzug<br />

in die Großstadt.<br />

© Zoe Opratko, © Thomas Süß, © Aliaa Abou Khaddour Cover: © Zoe Opratko<br />

KULTURA<br />

52 KULTURA NEWS<br />

Nada El-Azar-Chekh über das kulturelle Fühler<br />

ausstrecken und Neues entdecken.<br />

54 QUOTEN-ALMANCI<br />

Kolumnistin Özben Önal spricht über<br />

Parallelgesellschaften in ihrer Heimat.


Liebe Leser:innen,<br />

„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder einfach<br />

auftauchen, wenn man heiratet.“ Mythen über das Jungfernhäutchen,<br />

Tabus und Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />

kommt in Migra-Communities oft zu kurz – vor allem bei<br />

den Töchtern. Doch was macht das mit ihrer Sexualität im<br />

Erwachsenenleben? Unsere Coverstory könnt ihr ab Seite 30<br />

nachlesen.<br />

„<br />

Schabbat-Herdplatten,<br />

Verkupplungen und<br />

Abschottung als Reaktion auf<br />

ein kollektives Trauma: Wie<br />

wird orthodoxes Judentum<br />

in Wien gelebt? Wir sind der<br />

Frage ab S. 14 nachgegangen.<br />

Aleksandra “ Tulej,<br />

Chefredakteurin<br />

Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes Matchmaking<br />

bis hin zur eigenen Infrastruktur und einer strengen<br />

Abschottung als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Die<br />

ultraorthodoxe jüdische Community in Wien wächst mit dem<br />

Gedanken auf, „irgendwie anders“ als der Rest der Gesellschaft<br />

zu sein. Ab Seite 14 könnt ihr euch einen Einblick die<br />

sonst streng verschlossene Community verschaffen.<br />

Außerdem haben wir Außenminister Alexander Schallenberg<br />

gefragt, wie viele Kolleg:innen aus der ÖVP ihm auf die Nerven<br />

gehen und wie lange die EU seiner Einschätzung nach<br />

noch bestehen bleibt. Das Interview in Zahlen findet ihr auf<br />

Seite 20.<br />

Ohne Abschluss ein eigenes Business aufbauen und dabei<br />

auch noch einen Haufen Kohle verdienen? Mit diesen<br />

Versprechungen lockt die Finanz-Trading-<br />

Akademie „Team Alpha“ junge und häufig<br />

SCHARFE<br />

migrantische Menschen an. Man bräuchte<br />

POST:<br />

nur das richtige Mindset und schon würde<br />

In unserem<br />

alles wie von selbst laufen. Redakteurin Dione wöchentlichen<br />

Newsletter senden<br />

wir dir die<br />

Azemi warf einen Blick hinter die Kulissen der<br />

online-Bildungsplattform und berichtet darüber,<br />

was wirklich hinter ihrem Konzept steht. Beiträge aus der<br />

spannendsten<br />

schärfsten Redaktion<br />

des Landes<br />

Lest die Reportage ab Seite 24.<br />

in dein Postfach.<br />

Hier kannst du ihn<br />

Viel Spaß beim Lesen,<br />

gleich abonnieren:<br />

eure biber-Redaktion<br />

© Zoe Opratko<br />

6 / MIT SCHARF /


IMPRESSUM<br />

MEDIENINHABER:<br />

Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21,<br />

Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />

HERAUSGEBER:<br />

Simon Kravagna<br />

CHEFREDAKTEURIN:<br />

Aleksandra Tulej<br />

KULTUR & LEITUNG AKADEMIE:<br />

Nada El-Azar-Chekh<br />

FOTOCHEFIN:<br />

Zoe Opratko<br />

ART DIRECTOR: Dieter Auracher<br />

KOLUMNIST:INNEN:<br />

Ivana Cucujkić-Panić, Dennis Miskić, Özben Önal<br />

LEKTORAT: Florian Haderer<br />

REDAKTION, FOTOGRAFIE & ILLUSTRATION:<br />

Maria Lovrić-Anušić, Šemsa Salioski, Dione Azemi, Filip Lazar,<br />

Mathias Psilinakis, Emir Dizdarević, Atila Vadoc, Ina Aydogan, Aliaa<br />

Abou Khaddour, Thomas Süß<br />

VERLAGSLEITUNG :<br />

Aida Durić<br />

MARKETING & ABO:<br />

Şeyda Gün<br />

REDAKTIONSHUND:<br />

Casper<br />

BUSINESS DEVELOPMENT:<br />

Andreas Wiesmüller<br />

GESCHÄFTSFÜHRUNG:<br />

Wilfried Wiesinger<br />

KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21, Museumsplatz 1,<br />

E-1.4, 1070 Wien<br />

redaktion@dasbiber.at, abo@dasbiber.at<br />

WEBSITE: www.dasbiber.at<br />

ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ 2022:<br />

Druckauflage 85.000 Stück<br />

Verbreitete Auflage 80.700 Stück<br />

Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter<br />

www.dasbiber.at/impressum abrufbar.<br />

DRUCK: Mediaprint<br />

Erklärung zu gendergerechter Sprache:<br />

In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden die<br />

jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die Authentizität<br />

der Texte erhalten – wie immer „mit scharf“.


In „Ivanas Welt“ berichtet die biber-Kolumnistin Ivana Cucujkić-Panić<br />

über ihr Leben - Glamour zwischen Balkan und Baby<br />

IVANAS WELT<br />

IMMER FLEISSIG. IMMER ARBEITEN.<br />

NIE AUFSTEIGEN.<br />

BACK TO SCHOOL UND ZURÜCK AUF DEN<br />

SCHULHOF, WO IHR BITTE NUR DEUTSCH<br />

SPRECHTS!<br />

Am 26. September feiern wir den Tag der Mehrsprachigkeit,<br />

das irritiert uns aber nicht weiter. Pack deine<br />

Sprachskills zurück in die Schultüte. Präsentieren solltest<br />

du sie frühestens beim Bewerbungsgespräch für deinen<br />

ersten Job. Weil da, aber auch nur vielleicht, könnte das<br />

ein Wettbewerbsvorteil sein.<br />

MIT VIEL VITAMIN Ö<br />

Wenn man bei gleicher Qualifikation viel Pech, aber ganz<br />

wenig Vitamin B oder Vitamin Ö hat, kriegt nicht Hassan,<br />

sondern Hans den Junior-Accounter Job.<br />

Zwei Etagen weiter im gläsernen Hochhaus brütet die<br />

HR-Verantwortliche Lena mit dem Management über innovative<br />

Konzepte, wie man wohl mehr Lejlas, also mehr<br />

Diversity und Inklusion ins Unternehmen bringen kann.<br />

MAG. DR. TAXIFAHRER<br />

Vielleicht hat Hassans Vater, der promovierte Taxifahrer,<br />

der gerade draußen vorbeifährt, eine Idee? Aber wer<br />

hört schon auf ihn, obwohl er tagtäglich mit den Folgen<br />

konfrontiert wird, die entstehen, wenn man ihm bei der<br />

Anerkennung seiner Qualifikationen Steine in den Weg<br />

legt? Na, den fragen wir nicht. Der und all die vielen<br />

anderen Reinigungskräfte und Niedriglohnverdiener mit<br />

Diplom aus der Heimat verdonnern uns ja erst zu dieser<br />

Fleißaufgabe.<br />

Deren Hassans und Lejlas versauen uns heute die Statistik:<br />

Jede:r zweite Schüler:in in Wien lebt mit nichtdeutscher<br />

Muttersprache. Liest sich erst mal bedrohlich. Von<br />

Rekord und Höchststand in den Bezirken wird berichtet.<br />

Liest sich wie ein Problem. Aber was oder wer ist das<br />

Problem?<br />

cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt<br />

LEJLA, DU BIST DAS PROBLEM!<br />

Anscheinend Hassan und Lejla. Anscheinend die nichtdeutsche<br />

Sprache, die sie zuhause sprechen. Warum,<br />

wird nie wirklich erklärt. Anscheinend nicht der Mangel<br />

an mehrsprachigen Pädagog:innen (und überhaupt<br />

Lehrer:innen). Anscheinend nicht die jahrzehntelange<br />

Ignoranz politischer Verantwortlicher, ein veraltetes,<br />

nicht zeitgemäßes Bildungssystem zu ändern. Und<br />

weil’s jetzt bissl brennt, lassen progressive Ansätze aufhorchen:<br />

Im Schulhof soll nur mehr Deutsch gesprochen<br />

werden dürfen. Alles andere schafft Probleme, Gruppenbildung,<br />

schließt die Mitschüler:innen aus, blaaaa. Man<br />

könnte hier ja auch prinzipiell am Zusammenhalt in der<br />

Klasse, Kameradschaft, Freundschaft, Inklusion arbeiten<br />

und die Klassenvorstände, Direktion an ihren Job erinnern.<br />

Aber nein, behandeln wir einfach das Symptom.<br />

SARMA STATT KARRIERE<br />

Und die Message an alle Hassans und Lejlas: Alle anderen<br />

Sprachen, die du beherrscht, sind nichts wert, machen<br />

Probleme, wollen wir hier nicht, bringen dich nicht<br />

weiter.<br />

Mit diesem Glaubenssatz performt Hassan für seinen<br />

ersten Job. Und bekommt ihn nicht. Es kann sein, dass<br />

Hans besser war. Oder nur super selbstbewusst aufgetreten<br />

ist. Es kann sein, dass Hassan bis zum fünften<br />

Stock und dann an die gläserne Decke gestoßen ist.<br />

Enttäuscht isst er noch schnell etwas in der Unternehmenskantine.<br />

Es gibt wieder „Balkan-Wochen“. Hat sich<br />

die HR-Abteilung einfallen lassen. Um die Vielfalt im Unternehmen<br />

zu feiern, gibt es als Mittagsmenü Sarma mit<br />

Püree, nach dem Rezept von Branka, die an der Rezeption<br />

arbeitet.<br />

Wird ihm vielleicht sauer aufstoßen, die Diversity-<br />

Krautrollade. Kultureller Reichtum auf dem Speiseplan:<br />

njam, im Konferenzraum oder Klassenzimmer: pfuj. ●<br />

© Zoe Opratko<br />

8 / MIT SCHARF /


NEMA PROBLEMA<br />

TELENOVELA<br />

BEZAHLTE ANZEIGE<br />

Nenads Freund Adrian kommt zum Zocken vorbei.<br />

Doch Adrian kann nur an die Schule denken. Auch ihm<br />

ist bewusst geworden, dass die HTL nichts für ihn ist,<br />

aber er weiß nicht genau, was er machen soll. Nenad<br />

erzählt ihm von der L14 Messe und macht ihm Mut.<br />

NEUES AUS DEM LEBEN<br />

DER FAMILIE PRAVDOVIĆ<br />

Boah<br />

sei froh, dass<br />

du jetzt HAK und<br />

nicht mehr HTL gehst…<br />

ich packs dort gar<br />

nimma.<br />

Es taugt<br />

mir einfach gar<br />

nicht mehr. Meine<br />

Motivation = 0<br />

Hey chill, ich<br />

kenn das! Kennst<br />

du die L14? Das ist<br />

so eine Bildungs- &<br />

Berufsinfomesse von der<br />

AK. Da war ich letztes<br />

Jahr mit Mama.<br />

Warum, was<br />

is los? Du bist<br />

eh so fleißig.<br />

Äh nein.<br />

Hat dir das<br />

geholfen?<br />

Schau! Ja<br />

Bruder, es war<br />

echt nice! Kannst in<br />

der Jopsy App davor<br />

auch einen Test machen,<br />

dann weißt du welcher<br />

Weg für dich der<br />

Beste wäre.<br />

Hier gehts zur<br />

Jopsy App:<br />

Hey<br />

danke Mann<br />

für deine Hilfe!<br />

Kein Ding!<br />

Da wirst du echt<br />

gut beraten – das<br />

schauen wir uns<br />

zusammen an!<br />

TIPP Arbeiterkammer:<br />

Bei der AK Bildungsund<br />

Berufsinfomesse<br />

L14 können sich<br />

Schüler:innen allein<br />

oder gemeinsam mit<br />

ihren Eltern über<br />

Lehrberufe und weiterführende<br />

schulische<br />

Aus bildun gen, die zu<br />

deinem persönlichen<br />

Profil passen, informieren.<br />

Die Messe findet<br />

vom 8.–11. November<br />

20<strong>23</strong> statt.<br />

Alle Infos gibt’s auf<br />

www.l14.at.<br />

Fotos: Zoe Opratko


LIMANEWS<br />

Von Filip Lazar<br />

Klima- und Umweltschutz gehen uns alle etwas an! Wir liefern einige<br />

interessante Fakten und Tipps für ein nachhaltigeres Leben.<br />

GREENWASHING,<br />

WAS IST DAS?<br />

AB INS<br />

GRÜNE!<br />

Ein Spaziergang in der Natur<br />

kann Stress reduzieren,<br />

die Fitness verbessern und<br />

dein Wohlbefinden steigern:<br />

In Wien gibt es zahlreiche<br />

Erholungswälder, in denen<br />

du deine Freizeit verbringen<br />

kannst. Hier siehst du alle<br />

Erholungsgebiete in Wien auf<br />

einen Blick:<br />

www.wien.gv.at/<br />

umwelt/wald/<br />

erholung/index.<br />

html<br />

„T-Shirt aus recycelten<br />

Kunststoffflaschen“, „klimaneutraler<br />

Versand“ oder<br />

„ozeanfreundlicher Sonnenschutz“:<br />

Mit solchen Labels<br />

wird häufig „Greenwashing“<br />

betrieben. Das bedeutet,<br />

dass sich Unternehmen und<br />

Konzerne umweltfreundlicher<br />

darstellen, als sie sind – wenn<br />

nötig auch mit einem gekauften<br />

Umweltsiegel. Eine neue<br />

EU-Richtlinie soll verhindern,<br />

dass Käufer:innen durch<br />

irreführende Werbeaussagen<br />

getäuscht werden, und immer<br />

mehr ungeprüfte Umweltzertifikate<br />

auf den Markt<br />

kommen. So kannst du dich<br />

schützen:<br />

1. Sei vorsichtig bei Produktversprechen<br />

mit „grünen“ Begriffen wie "natürlich" oder<br />

"nachhaltig". Achte auf offizielle Zertifikate<br />

wie das EU-Umweltzeichen oder das EU-<br />

Bio-Logo für biologische Lebensmittel.<br />

2. Bleibe kritisch und hinterfrage deine<br />

Käufe immer: Kann ein Einmalprodukt<br />

wirklich umweltfreundlich sein? Ist Erdgas<br />

tatsächlich klimaneutral? Werden bei einem<br />

Unternehmen nur bestimmte Produkte oder<br />

das gesamte Sortiment nachhaltig hergestellt?<br />

3. Information und Recherche: Durch<br />

einfache Internetrecherchen kann man herausfinden,<br />

ob Produkte oder Unternehmen<br />

bereits bei einem Verbraucherschutz als<br />

zweifelhaft bewertet wurden.<br />

© unsplash.com/Alexey Elfimov, unsplash.com/Brian Yurasits<br />

10 / MIT SCHARF /


© unsplash.com/Christian Lue, unsplash.com/Mitchell Luo<br />

KLIMA­<br />

FAKTEN<br />

Der Meeresspiegel<br />

ist um ca.<br />

3,2 Millimeter<br />

im letzten Jahrzehnt<br />

gestiegen.<br />

Die weltweite Durchschnittstemperatur<br />

lag<br />

Anfang Juli bei<br />

17,01˚ Celsius.<br />

Zuletzt lag der Hitzerekord<br />

bei 16,92˚ im<br />

August 2016.<br />

Bei einer globalen<br />

Erderwärmung von<br />

1,5˚ Celsius werden<br />

wahrscheinlich<br />

14 Prozent der<br />

landlebenden Tierarten<br />

einem hohen Aussterberisiko<br />

ausgesetzt sein.<br />

20–50 %<br />

der weltweiten<br />

Gletscherflächen<br />

werden, laut einer Studie<br />

der Fachzeitschrift<br />

„Nature“, bis Ende des<br />

Jahrhunderts schmelzen.<br />

Greta Thunbergs erster<br />

Klimastreik war am<br />

20. August genau<br />

5 Jahre her.<br />

LEILA<br />

SICHERE<br />

ROUTEN<br />

MIT DEM<br />

FAHRRAD<br />

Mit dem Routenplaner<br />

der Mobilitätsagentur<br />

Wien lassen<br />

sich Fahrradrouten<br />

durch die ganze<br />

Stadt problemlos planen:<br />

www.fahrradwien.at/routenplaner/<br />

DIE BIBLIOTHEK FÜR DINGE<br />

Ausleihen statt kaufen: Du brauchst ein Waffeleisen, Bohrmaschine<br />

oder einen Dampfreiniger für wenige Tage? Bei „Leila“ kannst<br />

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und den Katalog durchstöbern.<br />

www.leila.wien<br />

/ MIT SCHARF / 11


MEINUNGSMACHE MIT SCHARF<br />

Aktuelle politische Themen im Überblick: komprimiert, kurz und mit scharf.<br />

INTERNATIONAL ÖSTERREICH BOSNIEN<br />

ALTERNATIVES<br />

BÜNDNIS MIT<br />

ZUKUNFT?<br />

Das Staatenbündnis BRICS wirbt<br />

um aufstrebende Länder mit dem<br />

Wunsch nach mehr Gewicht in<br />

der Weltpolitik. Kürzlich wurde<br />

der erste BRICS-Gipfel ins Leben<br />

gerufen, der „BRICS Plus“ als<br />

neuen, globalen Verbund präsentierte:<br />

Brasilien, Russland, Indien,<br />

China und Südafrika begrüßen bald<br />

Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien<br />

und Iran im Bündnis. Eine potenziell<br />

explosive Mischung, wenn<br />

es um einzelne Interessen geht.<br />

Besonders attraktiv für sie bleibt<br />

jedoch: Bei BRICS mische man sich<br />

nicht in die Politik der Partner ein<br />

– es gäbe keine Moralisierung „von<br />

oben“, wie es in der EU geschehe.<br />

Auch deshalb finden sich unter den<br />

Mitgliedsstaaten viele vom Westen<br />

enttäuschte Underdogs wieder.<br />

Der Grat zwischen einem nichtwestlichen<br />

und einem anti-westlichen<br />

Verbund ist schmal. Ob sich<br />

BRICS+ bewährt, oder an inneren<br />

Machtkämpfen scheitern wird, ist<br />

aufmerksam zu beobachten.<br />

DR. MAG.<br />

LANGES LEBEN<br />

Rechtzeitig zu Schulbeginn zeigt<br />

eine neue Studie der Statistik<br />

Austria, dass ein höherer Bildungsabschluss<br />

auch eine höhere<br />

Lebenserwartung mit sich bringt.<br />

Die Ergebnisse sind eindeutig und<br />

kaum überraschend: Dass Bildung<br />

(im weitesten Sinne) die Basis<br />

für ein schönes Leben ist, hätten<br />

wohl die Wenigsten abgestritten.<br />

Meine Frage also: Wieso haben<br />

wir bis heute kein inklusives<br />

Bildungssystem? Weiterhin wird<br />

akademischer Erfolg in Österreich<br />

vererbt. Weiterhin werden<br />

Begriffe wie „Brennpunktschulen“<br />

verwendet, um Menschen eine<br />

adäquate pädagogische Begleitung<br />

zu verweigern. Weiterhin<br />

entscheidet die Herkunft über die<br />

Möglichkeiten, die man bekommt<br />

– oder eben nicht bekommt. Alle<br />

haben das Recht auf ein langes<br />

und erfülltes Leben. Bildung ist<br />

dafür die Grundlage.<br />

„ŠUTI I TRPI!“<br />

„Šuti i trpi!“ ist ein Satz, den viele<br />

Frauen aus dem Balkan hören,<br />

wenn sie sich über ihre Partner<br />

beschweren. Es bedeutet so<br />

viel wie „Sei leise und halte es<br />

aus!“. Meist sagen ihn Frauen im<br />

höheren Alter, die im gleichen<br />

Atemzug davon erzählen, wie sie<br />

Schikanen und Handgreiflichkeiten<br />

ihrer Männer ihr Leben lang<br />

„ausgehalten“ haben. Jahrelang<br />

dachte ich, dass es eine Form von<br />

internalisierter Misogynie ist. Mittlerweile<br />

verstehe ich, dass es zum<br />

Selbstschutz dienen soll. Denn in<br />

den letzten Wochen konnten wir<br />

in Bosnien deutlich sehen, was<br />

passieren kann, wenn sich Frauen<br />

auf dem Balkan zur Wehr setzen –<br />

zwei Femizide in nur einem Monat.<br />

Jetzt haben die Frauen aber<br />

genug. Sie gehen auf die Straßen,<br />

kritisieren die mangelnde Hilfe<br />

der Polizei und die zu leichten<br />

Strafen für Täter. Sie fordern eine<br />

Nulltoleranz für Gewalt. Härtere<br />

Strafen allein werden jedoch nicht<br />

reichen, die sexistische Denkweise<br />

muss gebrochen werden, denn<br />

keine Frau sollte Angst vor ihrem<br />

Mann haben.<br />

Nada El-Azar-Chekh,<br />

Ressortleitung Kultur<br />

el-azar@dasbiber.at<br />

Mathias Psilinakis,<br />

biber-Akademie<br />

redaktion@dasbiber.at<br />

Maria Lovrić-Anušić,<br />

Redakteurin<br />

lovric-anusic@dasbiber.at<br />

© Zoe Opratko<br />

12 / MEINUNGSMACHE MIT SCHARF /


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Ein Dschungel in der Stadt!<br />

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„WEIL WIR<br />

ANDERS ALS DIE<br />

AUSSENWELT SIND“<br />

ULTRAORTHODOXES JUDENTUM IN WIEN<br />

Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes<br />

Matchmaking bis hin zur eigenen Infrastruktur<br />

und einer strengen Abschottung<br />

als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Wie<br />

leben ultraorthodoxe Jüd:innen in Wien?<br />

Einblicke in eine der aktivsten und gleichzeitig<br />

verschlossensten Communitys der Stadt.<br />

Von Aleksandra Tulej und Nada El-Azar-Chekh,<br />

Illustration: Aliaa Abou Khaddour<br />

Mit elf Jahren habe ich das erste Mal nichtkoschere<br />

Schokolade gegessen – damals<br />

hatte ich starke Schuldgefühle“, erinnert sich<br />

Mirijam * , die heute Anfang zwanzig ist, an ihre<br />

Kindheit zurück. „Dabei schmeckt sie genau gleich, aber es<br />

war so tabuisiert, dass sich das in dem Moment angefühlt<br />

hat, als hätte ich etwas Schreckliches getan.“ Mirijam ist in<br />

einem ultraorthodoxen chassidischen jüdischen Haushalt<br />

in Wien aufgewachsen, als vorletztes von insgesamt acht<br />

Geschwistern. „Das ist noch gar nichts, mein Nachbar hat<br />

sogar 18 Geschwister!“, fügt sie lachend hinzu. Mirijam<br />

spricht mit einem leicht jiddischen Akzent, trägt ein Spaghetti-Kleid<br />

und darunter ein T-Shirt, ihre braunen Haare sind zu<br />

einem schlichten Zopf gebunden. Bei unserem Treffen erzählt<br />

Mirijam viel und gerne über ihr Leben – unter der Bedingung,<br />

dass wir ihren Namen nicht nennen: In der Community kenne<br />

schließlich jeder jeden.<br />

Schätzungen der Israelitischen Kultusgemeinde zufolge<br />

sollen in ganz Österreich etwa 15.000 Menschen jüdischen<br />

Glaubens leben, manche sind praktizierender als andere, es<br />

gibt unterschiedliche Strömungen, „das eine Judentum“,<br />

gibt es also nicht. Der Chassidismus ist eine Strömung des<br />

Judentums, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden<br />

ist. Wir haben einen Eindruck der chassidischen Welt durch<br />

Netflix-Serien wie „Unorthodox“ oder „Shtisel“ gewonnen<br />

– wie akkurat sind diese Darstellungen? Und vor allem: wie<br />

sieht das Leben in dieser Gemeinschaft in Wien aus? Es ist<br />

eine geschlossene Community, in die es so gut wie keine<br />

Einblicke gibt: Man kennt die Winkel im Zweiten Bezirk, die<br />

jüdischen Supermärkte, die auffällig gekleideten Männer im<br />

schwarzen Mantel und Hut. Aber wie sieht der Alltag aus?<br />

Welche Strukturen herrschen innerhalb dieser Community?<br />

Aus Medien kennt man entweder nur oberflächliche Berichterstattung<br />

von außen oder reißerische Geschichten über<br />

Aussteiger:innen – Mirijam erzählt von innen: ehrlich, reflektiert<br />

und detailliert.<br />

KEINE SEXUALKUNDE, KEIN URKNALL,<br />

KEINE EVOLUTIONSTHEORIE<br />

„Wir wussten von klein auf, dass wir anders als die Außenwelt<br />

und irgendwie einzigartig sind, das wurde uns immer<br />

wieder eingebläut.“ Den Begriff „Außenwelt“ wählt Mirijam<br />

ganz bewusst. Diese Außenwelt liegt nicht nur mitten in<br />

Wien, sie ist überall, wo nicht nach jüdischen Regeln gelebt<br />

wird. Auch wenn man in einer kleinen, orthodoxen Community<br />

aufwächst, bekommt man auch als Kind mit, wie das<br />

Leben „außerhalb“ aussieht. Wenn Mirijam bei ihrer Familie<br />

oder in der Schule Fragen gestellt hat, warum sie dies und<br />

jenes anders machen würden als „die Anderen“, kam als<br />

Antwort: „Weil wir anders sind.“ Ihre Kindheit in Wien hat<br />

Mirijam sehr glücklich und unbeschwert in Erinnerung.<br />

Ihre Schullaufbahn begann in der Beth-Jakov-Schule,<br />

einer orthodoxen jüdischen Mädchenschule in Wien – damals<br />

war die Schule in der Malzgasse, heute befindet sich das<br />

Schulgebäude in der großen Stadtgutgasse. Die Uniform:<br />

14 / POLITIKA | WIEN /


POLITIKA | WIEN / 15


ist du nicht arm dran. Da gibt es immer Unterstützung von<br />

der Community, man ist immer gut aufgehoben. Das finde<br />

ich sehr schön.“<br />

Für den Schabbat wird das Essen bereits freitags vorbereitet.<br />

Ein hellblaues Hemd und ein dunkler Rock, der über das<br />

Knie ging. Die Unterrichtssprache ist Deutsch, Religion wird<br />

auf Jiddisch unterrichtet – in der Schule hat man Deutsch,<br />

Jiddisch und Englisch miteinander gesprochen.<br />

Sexualkunde, Urknalltheorie und Evolutionstheorie hat<br />

Mirijam nicht gelernt. Auch die Schulbücher waren auf<br />

Deutsch, allerdings wurden laut Mirijam in ihrer Schulzeit,<br />

also zu Beginn der Nullerjahre, Wörter und Ausdrücke, die als<br />

problematisch angesehen wurden, vorab mit einem Marker<br />

geschwärzt und erst dann an die Schülerinnen ausgeteilt.<br />

Dazu zählten laut Mirijam beispielsweise Wörter wie „Busen“.<br />

„Wir schwärzen nichts aus Schulbüchern, allerdings<br />

achten wir darauf, welche Inhalte wir unseren Schülerinnen<br />

vermitteln“, erzählt auf unsere Nachfrage Arieh Bauer, der<br />

Generalsekretär des Israelitischen Tempel- und Schulvereins<br />

Machsike Hadass, zu dem auch die Beth-Jakov-Schule<br />

gehört. Dazu zähle beispielsweise die Theorie rund um die<br />

Welterschaffung. Es gehe nicht darum, den Kindern absichtlich<br />

etwas vorzuenthalten, sondern darum, dass man die<br />

Schüler:innen nicht mit Inhalten und Bildern konfrontieren<br />

wolle, die sie nicht gewohnt seien. „Viele Familien ziehen<br />

extra wegen unserer Schule nach Wien, viele dieser Kinder<br />

schauen nicht fern, haben keine Smartphones, lesen keine<br />

Zeitung – das ist einfach ein anderer Lebensstil“, erklärt Bauer.<br />

Das Schulgeld beträgt 400 € im Monat „So viel zahlt aber<br />

fast niemand, wir haben oft kinderreiche Familien bei uns,<br />

da gibt es Rabatte – oder man unterstützt<br />

finanziell schlechter gestellte Familien.“<br />

Mirijam hat ihre Volksschulzeit sehr gut<br />

in Erinnerung. „Es herrschte ein sehr starkes<br />

Gemeinschaftsgefühl, ich habe mich<br />

immer sehr wohl gefühlt, kaum jemand<br />

wurde gemobbt oder ausgeschlossen.“<br />

Das Gemeinschaftsgefühl hört nicht bei der<br />

Schule auf, sondern wird kollektiv gelebt,<br />

auch wenn es um finanzielle Absicherung<br />

geht: „Als ärmere jüdische Familie in Wien<br />

„<br />

Es gibt immer<br />

Unterstützung von<br />

der Community,<br />

man ist immer gut<br />

aufgehoben. Das<br />

finde ich sehr schön.<br />

“<br />

HOLOCAUST-LEUGNUNG UND ANTI-<br />

SEMITISCHE AGGRESSIONEN IN WIEN<br />

Man hilft einander, schaut aufeinander und bleibt gerne<br />

unter sich. Man passe auf „seine Leute“ auf. Grund dafür<br />

sind auch die Gefahren, denen sichtbar jüdische Menschen<br />

in Österreich ausgesetzt sind: Allein im Jahr 2021 hat die<br />

Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien 965<br />

antisemitische Vorfälle verzeichnet. Darunter fallen u.a.<br />

Beschimpfungen, Angriffe, Bedrohungen, Verschwörungstheorien<br />

oder Holocaust-Leugnung. Im Jahr 2022 waren es<br />

719 Vorfälle. In dem Antisemitismus-Bericht der Meldestelle<br />

werden Fälle genannt, in denen sichtbar jüdische Teenager<br />

auf offener Straße zusammengeschlagen wurden – oft von<br />

Gleichaltrigen. Angeführt sind aber auch Erwachsene, denen<br />

versucht wurde, die Kippa vom Kopf zu reißen, die Schimpftiraden<br />

über sich ergehen lassen mussten – die Liste der Vorfälle<br />

ist lang. Offen gelebter Antisemitismus ist in Österreich<br />

für viele jüdische Menschen trauriger Alltag.<br />

Mirijam denkt kurz nach. „Die Gemeinschaft ist aber auch<br />

deswegen so stark, weil wir einen gemeinsamen ‚Feind‘<br />

haben“ – sie formt Anführungszeichen mit ihren Fingern.<br />

DER GEMEINSAME FEIND<br />

„Als chassidischer Jude läuft man mit dem Gedanken<br />

herum: Wir sind nicht die Außenwelt“, sagt die Studentin.<br />

Die Außenwelt, damit meint sie die nicht-jüdische Mehrheitsgesellschaft.<br />

„Das sind die Täter:innen, in dem Sinne,<br />

dass sie uns in der Geschichte immer wieder als Zielscheibe<br />

gesehen haben. Wir sind quasi die Opfer. Ich würde auch<br />

argumentieren, dass der Chassidismus eine Reaktion auf das<br />

kollektive Trauma der jüdischen Geschichte ist.“ Es wird als<br />

Lösung empfunden, sich von der Außenwelt abzugrenzen<br />

und zu isolieren – als Antwort auf das kollektive Trauma, das<br />

Jüd:innen in der Weltgeschichte mit Verfolgung und insbesondere<br />

durch den Holocaust zugetragen wurde. „Vielleicht<br />

liegt der Grund für unsere Leidensgeschichte darin, dass wir<br />

nicht religiös genug waren. Abgrenzung ist der einzige Weg,<br />

um uns zu schützen. Ich weiß, diese Aussage zu treffen, ist<br />

hart, aber viele Chassiden glauben auch daran, dass Gott<br />

verlangt, dass wir ihm mehr dienen – denn nur so könnten<br />

wir dem Leiden entgehen“, so Mirijam. Dieser Aspekt einer<br />

kollektiv getragenen Schuld wird in der Community sehr kontrovers<br />

gesehen. „Viele chassidische Juden<br />

glauben fest daran. Ich glaube nicht daran,<br />

aber ich glaube sehr wohl an Gott – an<br />

einen wohlwollenden Gott“, sagt Mirijam.<br />

Nach der Volksschule kam Mirijam an<br />

die Lauder-Chabad-Schule, deren Campus<br />

im Augarten liegt. „Dort ist es nicht mehr<br />

ganz so streng. Meiner Erfahrung nach<br />

versucht man, dort eine gute Balance zwischen<br />

religiösen und profanen Fächern zu<br />

finden und die beiden zu vereinbaren.“ So<br />

© MIGUEL RIOPA / AFP / picturedesk.com<br />

16 / POLITIKA | WIEN /


lernte sie dort auch über die Urknalltheorie und Evolution als<br />

Konzepte der Welterklärung. Heute bewegt sich Mirijam auch<br />

in Kreisen, in denen auch nicht-jüdische Menschen sind,<br />

beispielsweise an der Uni – sie hofft, dieses Jahr noch ihr<br />

Studium abzuschließen.<br />

© Katja Heinemann / laif / picturedesk.com<br />

AUTOMATISIERTE LICHTSCHALTER UND<br />

AUTOMATISCHE KOCHPLATTEN:<br />

DER MODERNE SCHABBAT<br />

Eine Tradition, an der Mirijam sehr gerne festhält, ist der<br />

Schabbat, auf den sie sich jede Woche freut: Schabbat<br />

begeht man jede Woche von Freitag bei Sonnenuntergang,<br />

bis zum nächsten Sonnenuntergang am Samstag. In dieser<br />

Zeit ist es orthodoxen Jüd:innen untersagt, zu arbeiten,<br />

Technologie zu nutzen, Hausarbeit wie Kochen und Putzen<br />

zu leisten oder auch nur einen Lichtschalter zu betätigen.<br />

Für Mirijam sind die wöchentlichen Vorbereitungen auf<br />

den Schabbat ein ganz natürlicher Prozess. „Wenn man<br />

damit aufwächst, ist es komplett automatisiert. Am Freitagabend<br />

schalte ich mein Handy aus, und auch mein Kopf<br />

schaltet um. Ich merke, wie mein Körper total ruhig wird,<br />

sobald wir die Kerzen am Freitagabend anzünden, um den<br />

Schabbat einzuleiten. Die Freitage sind bis zum Abend dafür<br />

sehr hektisch“, lacht die 22-Jährige.<br />

Mirijam verrät uns einige Tricks, mit denen sich der<br />

Schabbat leichter begehen lässt: „Wir haben beispielsweise<br />

eine Schabbat-Kochplatte, die das vorgekochte Essen in<br />

den Töpfen 25 Stunden lang, also von Anfang bis Ende des<br />

Schabbats, warmhält.“ Auch kommen automatisierte Lichtschalter<br />

zum Einsatz – falls man sich zuhause nicht alleine<br />

am natürlichen Licht orientieren will. Mit Klatschen oder per<br />

Stimme das Licht zu bedienen, verstößt nämlich auch gegen<br />

die Regeln. „Die Quintessenz des Schabbats ist, dass man<br />

die Natur der Welt nicht verändert, also ich darf nichts in<br />

Gange bringen, sei es nur ein Lichtschalter. Früher durften<br />

die Bauern ihre Tiere nicht arbeiten lassen, die Tiere mussten<br />

auch ruhen. Es geht um eine geistige und körperliche Ruhe“,<br />

erklärt Mirijam.<br />

Im Notfall ist es im Übrigen immer möglich, entgegen den<br />

Regeln des Schabbats zum Beispiel ein Handy zu verwenden.<br />

„Das Leben ist die höchste Priorität, es steht über allem<br />

anderen, da werden alle anderen jüdischen Gesetze ungültig,<br />

sobald das Leben gefährdet ist – bei einem Herzinfarkt darf<br />

man also klarerweise die Rettung rufen.“<br />

Apropos Gesundheitsversorgung: „Wir gehen alle zu<br />

Dr. Tamir im Zweiten“, lacht Mirijam. Man kenne sich untereinander,<br />

auch die Berufe, die man ausübt:<br />

Es gibt Anwälte, Ärzte, Notare und reichlich<br />

Cafés und Supermärkte, die von der<br />

Community frequentiert werden. Man gehe<br />

lieber zu jenen, die man kenne.<br />

VERKUPPELT, VERLIEBT,<br />

VERLOBT<br />

Wie sieht es in Sachen Liebe und Dating<br />

aus? Kuppeln ist sehr weit verbreitet:<br />

Jewish Matchmaking nennt man „Schid-<br />

„<br />

Wir habene eine<br />

Schabbat-Kochplatte,<br />

die das vorgekochte<br />

Essen in den Töpfen<br />

25 Stunden lang<br />

warmhält.<br />

“<br />

„Ich merke, wie mein Körper total ruhig wird,<br />

sobald wir die Kerzen am Freitagabend anzünden,<br />

um den Schabbat einzuleiten.“<br />

duch“. „Das ist meistens ein Paar, das zusammenarbeitet.<br />

Wenn man sich auf ein Date trifft und nicht mehr weitermachen<br />

will, dann teilen das die Matchmaker der Person<br />

mit. Sie sind professionell ausgebildet und wissen, wie man<br />

Ablehnung gut kommuniziert.“<br />

Wenn Interesse besteht, trifft man sich mit der Person.<br />

Man trifft sich zu zweit, aber im öffentlichen Raum, also<br />

entweder in einem Café oder in der Lobby eines Hotels. Die<br />

Dienste von Matchmakern in Anspruch zu nehmen, kostet<br />

selbstverständlich etwas – aber sowohl der Mann als auch<br />

die Frau haben jederzeit die Möglichkeit, abzusagen. „Ich<br />

kenne Frauen, die 50 erste Dates hatten, bis sie ihren Mann<br />

gefunden haben. Das ist möglich und nicht verpönt, man<br />

kann das so lange machen, bis man die richtige Person<br />

bekommt. Wenn es passt, verlobt man sich.“ Zwischen der<br />

Verlobung und der Hochzeit vergeht in der Regel nicht viel<br />

Zeit. Für verlobte Paare gibt es dann auch im Rahmen von<br />

vorehelichen Kursen Aufklärungsunterricht in Sachen Sex<br />

– der Unterricht erfolgt für die Frau und den Mann einzeln:<br />

„Männern wird da erklärt, dass sie ihre Frau sexuell befriedigen<br />

müssen und wie sie das schaffen könnten; und umgekehrt<br />

wird auch den Frauen dargelegt, dass sie sich um die<br />

Bedürfnisse der Männer zu kümmern hätten – und auch,<br />

dass man, während die Frau ihre Periode hat, in getrennten<br />

Betten schläft. Das gehört alles zur Religion.“<br />

Als Tochter aus einer chassidischen<br />

Familie war für Mirijam die Geschlechtertrennung<br />

ein wesentlicher Bestandteil<br />

ihrer Erziehung. „Freundschaften zwischen<br />

Männern und Frauen gibt es so nicht –<br />

stattdessen ist man mit ganzen Familien<br />

befreundet.“<br />

Es gibt bei traditionellen chassidischen<br />

Hochzeiten eine Trennwand zwischen Män-<br />

/ POLITIKA | WIEN / 17


nern und Frauen, wie man es beispielsweise<br />

auch bei traditionell muslimischen Hochzeiten<br />

kennt. In der Realität ist das alles<br />

aber auch flexibler und flüssiger, berichtet<br />

die Studentin. Die Hochzeitsszene aus der<br />

Netflix-Produktion „Unorthodox“ empfindet<br />

Mirijam als eine der wenigen, wirklich<br />

authentischen Darstellungen in dieser<br />

Serie. „Das Einzige, was es in der jüdischen<br />

Infrastruktur noch nicht gibt, ist ein eigener<br />

Hochzeitssaal. Stattdessen werden ordinäre<br />

Säle angemietet“, lacht Mirijam.<br />

KEINE DOPPELSTANDARDS<br />

Wie steht es um die Frauen in der Community? Das ist eine<br />

brennende Frage, die Mirijam häufig gestellt wird. „Unabhängig<br />

davon, wie viele Einschränkungen es gibt, etwa bei<br />

Kleidung und Bescheidenheit, es gibt zumindest wenige<br />

Doppelstandards. Das bedeutet, auch Männer müssen<br />

bescheiden gekleidet sein, nicht nur die Frauen. Das gefällt<br />

mir. Wenn man sagt, Frauen dürfen keinen Sex vor der Ehe<br />

haben, dürfen das Männer auch nicht. Und sie halten sich<br />

auch daran. Ich habe nichts gegen Einschränkungen, solange<br />

sie keine Doppelmoral sind“, erklärt Mirijam.<br />

Im Ehevertrag sind für Frauen drei Dinge fixiert: finanzielle<br />

Absicherung, Versorgung mit Essen und Kleidung sowie<br />

ein Recht auf sexuelle Befriedigung. Dieser Vertrag wird<br />

unter Anwesenheit zweier Zeugen unterschrieben. „Die jüdische<br />

Identität wird über die Mutter weitervererbt. Also wenn<br />

ein jüdischer Mann eine nicht-jüdische Frau heiraten möchte,<br />

dann muss er in Kauf nehmen, dass die Kinder nach der<br />

Halacha, also dem jüdischen Gesetz, nicht als jüdisch gelten.<br />

Das ist in der orthodoxen Community verpönt“, erklärt sie.<br />

In der chassidischen Community gilt Assimilation als<br />

Bedrohung, die bekämpft werden muss, so Mirijam. Sie<br />

selbst hatte während ihrer Zeit an der Mädchenschule keine<br />

nicht-jüdischen Freunde. Abschottung der Community ist<br />

zum gängigen Schutzmechanismus geworden. Es gibt jedoch<br />

unzählige Vereine und Organisationen, in denen sich die<br />

jüdische Jugend trifft. Daraus entstehen nicht selten auch<br />

Ehen untereinander.<br />

DIE JÜDISCHE DIASPORA UND ISRAEL<br />

Kürzlich war Mirijam in Israel unterwegs, wo seit Monaten<br />

große Teile der Bevölkerung gegen die ultrarechte Regierung<br />

demonstrieren. „Ich war auf einer Demo mit 200.000 Menschen.<br />

Ich begrüße die Justiz-Reform ganz und gar nicht,<br />

das ist schrecklich und ein Schritt zurück in der Demokratie<br />

von Israel“, sagt Mirijam. Kritik an der Politik Israels und<br />

Antisemitismus sind für die junge Jüdin zwei verschiedene<br />

Sachen. „Ich persönlich kritisiere Israels Politik ständig, ich<br />

finde politische Kritik unglaublich wichtig. Ich wünsche mir<br />

eine ganz andere Regierung. Wenn ich sage, der israelische<br />

Präsident Netanyahu muss zurücktreten, dann ist das anders,<br />

als wenn ich sage, die Juden in Israel sind wie Nazis. Das<br />

wäre klar antisemitisch. Das wäre ein eindrückliches Beispiel<br />

für antizionistischen Antisemitismus, also wenn der Jude mit<br />

„<br />

Wenn man mit uns<br />

reden will, sollte man<br />

keine Scheu haben. Wir<br />

sind pluralistisch, wir<br />

sind da, und das schon<br />

seit Jahrhunderten.<br />

“<br />

dem Israeli gleichgesetzt wird, das passiert<br />

leider die ganze Zeit. Ich habe die israelische<br />

Staatsbürgerschaft, die meisten Juden<br />

hier aber nicht“, so Mirijam. Die Problematik<br />

in der Aussage, dass Juden in Israel wie<br />

Nazis seien, liege nicht nur in der Gleichsetzung<br />

von Juden und Israelis, sondern auch<br />

in der impliziten Vergleichung des Nahostkonflikts<br />

mit dem Holocaust – dies könnte<br />

als sekundärer Antisemitismus interpretiert<br />

werden, erklärt sie weiter.<br />

Eines ihrer großen Anliegen an die Gesellschaft ist, ein<br />

Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es bei Weitem nicht nur<br />

„ein“ Judentum gibt. „Das Judentum wird in Österreich sehr<br />

vielfältig und bunt gelebt. Man muss auch ganz klar zwischen<br />

dem Chassidismus und dem Judentum unterscheiden, also<br />

was für was gilt. Shidduch ist zum Beispiel etwas, was nur<br />

im orthodoxen Judentum praktiziert wird. Man muss uns mit<br />

unseren Differenzen wahrnehmen. Wenn man mit uns reden<br />

will, sollte man keine Scheu haben. Wir sind pluralistisch, wir<br />

sind da, und das schon seit vielen Jahrhunderten.“<br />

Zum Schluss brannte uns noch eine Frage auf der Zunge:<br />

Was hat es mit sichtbar jüdischen Menschen und Scootern<br />

auf sich? Mirijam lacht darauf laut. „Ich wäre tatsächlich heute<br />

auch mit dem Roller gekommen. Es ist so praktisch! Es ist<br />

ein Trend, irgendwer aus der Community hat das gestartet<br />

und seitdem haben alle einen Roller. Einen religiösen Grund<br />

hat das nicht. Wir lachen ständig darüber; wir sagen immer,<br />

man ist nur Jude, wenn man einen Roller hat.“ ●<br />

* Name von der Redaktion geändert<br />

MEHR INFOS:<br />

Du möchtest mehr über das Judentum erfahren?<br />

Der Verein „Likrat“ (hebräisch für „aufeinander<br />

zugehen“) bietet Lehrgänge zum Judentum und<br />

Touren durch das jüdische Wien an, und hilft dabei<br />

Fragen zu beantworten und Vorurteile zu bekämpfen.<br />

Mehr Informationen unter: www.ikg-wien.at/likrat<br />

18 / POLITIKA | WIEN /


WAS GIBT’S NEUES AM BALKAN?<br />

Von Dennis Miskić<br />

WAS, WENN NIEMAND BLEIBT?<br />

© Zoe Opratko<br />

„Ich habe den Deutschkurs bestanden“, sagte<br />

mein Kindheitsfreund aus Bosnien-Herzegowina<br />

mit hoffnungsvollen Augen zu mir. Er hat sein ganzes<br />

Leben in Bosnien verbracht, sieht dort aber<br />

keine Zukunft mehr. Damit ist er wohl nicht allein.<br />

Nach dem Schulabschluss konzentrierte er sich<br />

nur noch darauf, so schnell wie möglich nach<br />

Deutschland zu kommen. Mein Angebot, nach<br />

Wien zu kommen, ließ er sich auch durch den<br />

Kopf gehen. Einfach nur raus aus Bosnien.<br />

B2-ZERTIFIKAT ALS<br />

TICKET NACH DRAUSSEN<br />

Die B2-Deutschprüfung zu bestehen<br />

ist hier wohl gleichgestellt mit einem<br />

Uni-Abschluss. Es ist das vermeintliche<br />

Versprechen einer besseren Zukunft,<br />

die Aussicht auf ein stabiles Leben, ein<br />

Ticket nach draußen. Und das, obwohl<br />

sie dafür ihr ganzes Leben zurücklassen müssen.<br />

Alle paar Monate berichten die Medien über<br />

„meterlange Schlangen“ vor der Deutschen<br />

Botschaft. Egal ob bei 35 Grad Hitze oder Minustemperaturen.<br />

Sie stehen an, denn das Visum in<br />

die EU ist es wohl wert. Und jetzt mal ehrlich, wer<br />

kann es ihnen übelnehmen?<br />

Auch wenn der Krieg mit dem Dayton-Friedensvertrag<br />

1995 beendet werden konnte, kann<br />

heute wohl kaum von einem Frieden gesprochen<br />

werden. Politikerinnen und Politiker bedienen sich<br />

ständig der gleichen nationalistischen Rhetorik,<br />

die es schon in den 90ern gab. Und in den Schulen<br />

wird dieser Hass greifbar.<br />

Kolumnist Dennis Miskić<br />

hat seinen Auslandsdienst<br />

in Srebrenica<br />

geleistet und engagiert<br />

sich in verschiedenen<br />

NGOs zum Thema Westbalkan<br />

und Migrationspolitik.<br />

In seiner Kolumne<br />

hält er euch über Politisches<br />

& Kulturelles vom<br />

Balkan am Laufenden.<br />

In den Geschichtsbüchern werden seit Jahrzehnten<br />

verschiedene Narrative der Geschichte<br />

erzählt. Anstatt zur Versöhnung beizutragen,<br />

spalten diese das Land nur weiter.<br />

„ZWEI SCHULEN UNTER<br />

EINEM DACH“<br />

Die Lehrpläne fokussieren sich auf die jeweilige<br />

Ethnie, so gibt es eben eine Erzählung der Bosniaken,<br />

Kroaten und Serben. Hier wird<br />

das „eigene Volk“ als Opfer dargestellt<br />

und „die anderen“ als Täter. Nur drei<br />

Gymnasien im ganzen Land versuchen<br />

eine „objektive“ Sicht zu erzählen.<br />

Die Teilung hört aber nicht bei den<br />

Büchern auf. Im kroatisch-bosniakischen<br />

Landesteil werden Schülerinnen<br />

und Schüler sogar physisch getrennt.<br />

Die Kinder haben eigene Schuleingänge<br />

und Klassenzimmer. Das Phänomen<br />

wurde „zwei Schulen unter einem Dach“ getauft<br />

und von der OSZE eingeführt.<br />

Wer kann schon in so einem System aufwachsen.<br />

Als ob die politischen und wirtschaftlichen Krisen<br />

nicht genug wären. Irgendwann platzt einem<br />

eben der Kragen vor Nationalismus, Kriegsangst<br />

und Hass. Oder man wird selbst zum Nationalisten.<br />

Wenn jedes Jahr aufs Neue die Cafés etwas<br />

leerer und Häuser verlassener wirken, stelle ich<br />

mir gezwungenerweise eine Frage: Was, wenn<br />

niemand bleibt? ●<br />

/ MIT SCHARF / 19


Herr Schallenberg,<br />

wie viele<br />

Zigaretten rauchen<br />

Sie am Tag?<br />

In wie vielen<br />

Ländern haben<br />

Sie schon<br />

gelebt?<br />

Wie hoch ist die<br />

Wahrscheinlichkeit<br />

(in %),<br />

dass Herbert<br />

Kickl nächster<br />

Kanzler wird?<br />

Welcher ist Ihr<br />

Lieblingsbezirk<br />

in Wien?<br />

Interview in Zahlen: In der Politik<br />

wird schon genug geredet. Biber<br />

fragt in Worten, Außenminister<br />

Alexander Schallenberg<br />

antwortet mit einer Zahl.<br />

6<br />

0<br />

1<br />

Von Aleksandra Tulej und Nada El-Azar-Chekh,<br />

Fotos: Zoe Opratko<br />

Auf 0% schätzt Alexander Schallenberg die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass Herbert Kickl der nächste Kanzler wird.<br />

Drei Kolleg:innen aus der ÖVP gehen dem studierten<br />

Juristen auf die Nerven.<br />

Wie oft im<br />

Monat fliegen<br />

Sie beruflich<br />

mit dem<br />

Flugzeug?<br />

Wann hatten<br />

Sie zuletzt<br />

Kontakt mit<br />

Sebastian<br />

Kurz?<br />

Wie viele<br />

Zigaretten<br />

rauchen Sie<br />

am Tag?<br />

Wie viele<br />

österreichische<br />

Kulturforen<br />

gibt es im<br />

Ausland?<br />

Wie lange<br />

wird die EU<br />

bestehen<br />

bleiben?<br />

8<br />

vor<br />

30+<br />

30<br />

2Monaten<br />

20 / POLITIKA /


Wie viele<br />

Stunden<br />

arbeiten Sie<br />

pro Woche?<br />

Wie viele<br />

Stunden<br />

schlafen Sie<br />

pro Nacht?<br />

In wie viele<br />

Länder<br />

würden Sie als<br />

Außenminister<br />

am liebsten nie<br />

wieder reisen?<br />

Wie viele österr.<br />

Staatsbürger:<br />

innen in der<br />

Ukraine sind<br />

beim Außenministerium<br />

registriert?<br />

Wie viele<br />

Parteien haben<br />

Sie in ihrem<br />

Leben gewählt?<br />

70<br />

6<br />

0<br />

51<br />

1<br />

Im Schnitt acht Mal fliegt Außenminister Schallenberg<br />

im Monat mit dem Flugzeug.<br />

Geht es nach dem Spitzendiplomaten, wird die EU<br />

für immer bestehen bleiben.<br />

Wie hoch ist<br />

die Wahrscheinlichkeit<br />

(in %), dass<br />

Österreich<br />

eines Tages der<br />

NATO beitritt?<br />

Wie viele<br />

Kolleg:innen<br />

aus der ÖVP<br />

gehen Ihnen auf<br />

die Nerven?<br />

Wie viel Zeit<br />

verbringen Sie<br />

pro Tag auf<br />

Social Media?<br />

Wie oft haben<br />

Sie überlegt,<br />

zurückzutreten?<br />

Wann hatten<br />

Sie das letzte<br />

Mal Kontakt<br />

mit Karin<br />

Kneissl?<br />

10<br />

3<br />

0<br />

0<br />

vor<br />

4Jahren<br />

/ POLITIKA / 21


„Gewalt ist für<br />

Obdachlose<br />

nichts Neues.“<br />

Drei Angriffe in weniger als einem Monat,<br />

zwei davon tödlich: Gewalt gegenüber<br />

Obdachlosen nimmt Ausmaße wie<br />

noch nie zuvor an. Doch auch vor den<br />

Angriffen hatten Obdachlose mit Gewalt<br />

und Marginalisierung zu kämpfen. Wir<br />

haben mit Susanne Peter, Leiterin von<br />

Streetwork, über die Angriffe, ihre Arbeit<br />

mit Obdachlosen und unsere Rolle als<br />

Zivilgesellschaft gesprochen.<br />

Von Mathias Psilinakis<br />

Susanne Peter, Leiterin von Streetwork<br />

<strong>BIBER</strong>: Wie nehmen Sie als Sozialarbeiterin die aktuelle<br />

Situation rund um die Messerattacken auf Obdachlose wahr?<br />

Wäre es angemessen, von einem noch nie dagewesenen<br />

Maß an Gewalt gegenüber Obdachlosen zu sprechen?<br />

SUSANNE PETER: In meiner Erfahrung im Wohnungslosenbereich,<br />

das sind ja doch schon über 30 Jahre, gab es so<br />

eine Art von Gewalt noch nie.<br />

Und die Obdachlosen selbst? Wie nehmen sie die Ereignisse<br />

der letzten Wochen wahr?<br />

Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Es gibt bei vielen<br />

sehr viel Angst. Manche Klient:innen haben aber noch gar<br />

nicht von den Ereignissen erfahren, weil obdachlose Menschen<br />

nicht unbedingt Tageszeitungen lesen oder auch weil<br />

sie oft die Nachrichtensprache nicht gut genug können.<br />

Teilweise sind sie ausschließlich mit ihren eigenen Grundbedürfnissen<br />

beschäftigt, also der Suche nach Essen oder<br />

Schlafplätzen. Manche schaffen es aufgrund ihrer psychischen<br />

Erkrankung nicht, die Situation wahrzunehmen. Manche<br />

hingegen nehmen es aber auch wahr und versuchen,<br />

sich zu schützen.<br />

Das Streetwork arbeitet mit Obdachlosen in ganz Wien und<br />

ist sieben Mal in der Woche im öffentlichen Raum unterwegs.<br />

Welche Hilfsangebote umfasst denn dieses Streetwork? Wie<br />

läuft es typischerweise ab?<br />

Typisches Streetwork gibt es keines (lacht). Wir sind mit<br />

dem Auto unterwegs, um Obdachlose in ganz Wien aufzusuchen.<br />

Wir haben Kleidung mit, wir haben Essen mit und wir<br />

versuchen seit kurzem, Trillerpfeifen und Taschenalarme zu<br />

verteilen, damit sich Obdachlose bemerkbar machen können.<br />

Wir haben eine eigene Datenbank, wo die Meldungen, die<br />

wir von Anrufer:innen erhalten, eingegeben werden. Außerdem<br />

hat die Gruft (Anm. d. Red.: Eine Caritas-Einrichtung<br />

für obdachlose Menschen) bestimmte Betreuungsplätze, zu<br />

denen wir regelmäßig fahren. Mit den Daten erstellen wir<br />

uns eine Tour und versuchen einzuschätzen, wer am dringendsten<br />

Hilfe braucht. Wenn es etwa kalt ist und wir zwei<br />

Meldungen bekommen, die erste von einer Person in einem<br />

Zelt und die zweite von jemandem auf einer Parkbank nur<br />

mit einer dünnen Decke, dann fahren wir natürlich zuerst zur<br />

Parkbank.<br />

Wie kam es dazu, dass Sie sich für eine Arbeit im Streetwork<br />

entschieden haben?<br />

(Lacht) Ich habe mich gar nicht entschieden. Ich habe mit<br />

16 Jahren in der Gruft angefangen, das war eine Aktion von<br />

16-jährigen Schülerinnen und Schülern. Angefangen haben<br />

wir mit Tee und Schmalzbrot, die Gruft wurde immer größer<br />

und irgendwann ist sie zum Tageszentrum geworden. Wir<br />

haben uns aber gefragt: Wenn wir abends zusperren – wo<br />

gehen die Klient:innen hin? Deswegen waren wir immer<br />

wieder auf der Straße unterwegs. Als dann 1994 die Stadt<br />

Wien meinte, es muss etwas für die Obdachlosen getan werden,<br />

haben wir angeboten, Streetwork zu machen. Ich war<br />

eine der ersten Sozialarbeiter:innen im Streetwork, seitdem<br />

mache ich das. Das Streetwork ist also mit der Gruft mitgewachsen.<br />

© Atila Vadoc<br />

22 / POLITIKA /


In Österreich sind rund 20 000 Menschen von Obdachlosigkeit<br />

betroffen. Wie passiert es, dass Menschen in die<br />

Obdachlosigkeit gelangen? Was sind häufige Ursachen?<br />

Trennung, Schicksalsschläge, psychische Erkrankungen, aber<br />

mittlerweile auch, dass sich Leute das Leben und die Miete<br />

nicht mehr leisten können. Ich habe auch schon gehört:<br />

„Meine Frau ist tot, mein Kind ist tot, es hat eh keinen Sinn<br />

mehr“. Menschen landen aus verschiedenen Gründen auf<br />

der Straße, und je nachdem, was die Gründe sind, können<br />

sie Unterstützung annehmen oder eben nicht. Je länger<br />

Menschen auf der Straße sind, desto schwieriger ist es oft<br />

für sie, Hilfe anzunehmen.<br />

Welchen Gefahren sind obdachlose Personen in Wien in<br />

ihrem Alltag ausgesetzt?<br />

Gewalt ist für Obdachlose nichts Neues, auch wenn es<br />

diese Art von Gewalt noch nie gab. Obdachlose Menschen<br />

sind immer wachsam, ob irgendetwas passiert oder sie<br />

irgendwer attackiert. Immer wieder erzählen uns obdachlose<br />

Menschen, dass sie attackiert worden sind, dass ihnen<br />

etwas gestohlen wurde, dass sie geschlagen worden sind.<br />

Teilweise schlafen sie deswegen auch schon mit offenem<br />

Schlafsack oder sogar mit Schuhen an, um schneller flüchten<br />

zu können. Viele erzählen auch, dass sie nur mit einem Auge<br />

schlafen. Das Problem: Irgendwann schlafen sie und genau<br />

dann sind sie am vulnerabelsten.<br />

Sie sind nun schon seit mehr als 30 Jahren im Streetwork<br />

tätig. Wie hat sich die Situation der Obdachlosen in den<br />

letzten Jahrzehnten verändert?<br />

Ich glaube, dass die Gewalt zugenommen hat. Aber auch von<br />

den Angeboten her hat es einen Quantensprung gegeben.<br />

Es gibt sehr viel Streetwork, sehr viele Tageszentren, es gibt<br />

betreutes Wohnen, es gibt Housing First. Da hat sich also<br />

schon sehr viel weiterentwickelt.<br />

Die Caritas hat als Reaktion auf die Messerattacken unter<br />

anderem begonnen, Trillerpfeifen und Taschenalarme auszuteilen.<br />

Im Internet kam unter anderem die Kritik, dass das<br />

nicht genug sei. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?<br />

„Viele schlafen mit offenem Schlafsack,<br />

um immer flüchten zu können“<br />

Die Frage ist, ob diese Kritiker:innen andere Ideen haben. Es<br />

sind natürlich nicht die einzigen Maßnahmen, es gibt zum<br />

Beispiel mehr Notquartiersplätze, die mit Unterstützung der<br />

Stadt Wien zur Verfügung gestellt werden. Trotz allem gibt<br />

es Menschen, die auf der Straße bleiben. Manche können<br />

oder möchten aus unterschiedlichen Gründen nicht in ein<br />

Notquartier gehen. Klar, da wirken Trillerpfeifen wie ein<br />

hilfloser Versuch, wir können aber auch keine Pfeffersprays<br />

oder Messer verteilen – das sind Waffen, das ist verboten.<br />

Letztens ist etwa ein Obdachloser in die Gruft gekommen<br />

und meinte: „Ich will auch so ein Pfeiferl haben, wo gibt’s<br />

die?“, das Angebot wird also angenommen. Natürlich ist<br />

es keine Garantie, um einen Täter abzuschrecken. Als<br />

Streetworker:innen können wir Klient:innen vor Kälte und<br />

Hitze schützen, wir können Schlafsäcke, Decken, Wasser und<br />

Sonnencreme vorbeibringen. Es gibt aber kein Rezept, um<br />

Obdachlose vor Messerattacken zu schützen.<br />

© Atila Vadoc, Willfried Gredler-Oxenbauer - picturedesk.com<br />

„Hostile Design“ nennt man die Gestaltung von z.B. Bänken, die<br />

so gebaut sind, dass Obdachlose hier nicht übernachten können.<br />

Welche Forderungen haben Sie an die Politik, um Obdachlosen<br />

besser zu helfen?<br />

Unabhängig von den aktuellen Messerattacken bräuchte es<br />

im Sommer mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork.<br />

Akut wurde von der Stadt Wien jetzt sehr gut reagiert, es<br />

gibt ja schon mehr Notquartiersplätze und mehr Streetwork.<br />

Natürlich kann man auch nicht von heute auf morgen alles<br />

bereitstellen.<br />

Wie können wir als Zivilgesellschaft Obdachlosen helfen?<br />

Es ist wichtig, Schlafplätze zu melden. Wenn jemand pfeift,<br />

sollte man schauen, ob die Person in Gefahr ist und wenn<br />

Gefahr besteht, 133 rufen. Wir verteilen gerade deswegen<br />

Trillerpfeifen und Alarme, als Passant:in muss man aber auch<br />

hinschauen und darauf reagieren. ●<br />

/ POLITIKA / <strong>23</strong>


„Du brauchst nur<br />

das Mindset!“<br />

INSIDE FINANZ-TRADING-AKADEMIE<br />

24 / RAMBAZAMBA /


Warte! Warte! Warte!<br />

Willst du ganz ohne Arbeiten reich werden? Willst<br />

du dein Leben verändern, dein eigener Boss sein? Du<br />

brauchst dafür nichts weiter als das richtige Mindset.<br />

Das verspricht: IM Team Alpha, eine Online-<br />

Bildungsplattform. Die Zielgruppe: jung, pleite und<br />

migrantisch. Redakteurin Dione Azemi war mit dabei.<br />

Von Dione Azemi, Illustrationen: Thomas Süß<br />

Wir bringen die Wall<br />

Street zur Mainstreet<br />

und verhelfen auch dir,<br />

die mächtigste Fähigkeit,<br />

die es auf diesem Planeten gibt,<br />

zu erlernen und zeitlich sowie ortsunabhängig<br />

ein Einkommen aufzubauen“,<br />

behauptet Team Alpha, ein österreichisches<br />

Unternehmen, das eine Online-<br />

Finanzakademie bewirbt. „Wie schaffen<br />

sie es, Leute von einer Mitgliedschaft zu<br />

überzeugen?“, frage ich mich und starte<br />

einen Selbstversuch. Ich werde bei Team<br />

Alpha einsteigen: Ich, Dione, eine junge<br />

Psychologiestudentin, die schnell und<br />

einfach Geld machen will.<br />

Weil ich über die zahlreichen Instagram-Profile,<br />

die ich durchstöbere, keine<br />

konkreten Informationen zu kommenden<br />

Events finde, kontaktiere ich Team Alpha<br />

über ein Kontaktformular auf ihrer Webseite<br />

und werde innerhalb der nächsten<br />

fünf Minuten über WhatsApp von einem<br />

der Gründer angeschrieben. Bei unserem<br />

ersten Telefonat macht er mir auffallend<br />

viele Komplimente und von Beginn an<br />

herrscht eine sehr vertraute Stimmung.<br />

Ich werde von ihm auf ein Event eingeladen,<br />

das extra dafür gedacht ist, neuen<br />

Leuten einen Einblick in die Academy<br />

zu gewähren. An einem Samstagabend<br />

komme ich also an die genannte Adresse,<br />

ein unscheinbarer Seminarsaal im<br />

fünften Bezirk Wiens. Und trotz meiner<br />

ausführlichen Recherche im Vorhinein,<br />

hätte mich nichts auf die dort herrschende<br />

Stimmung vorbereiten können.<br />

RICH DAD, POOR DAD<br />

Ein Mädchen, das ich dort zwischen<br />

den anderen etwa 400 Besucher:innen<br />

kennenlerne, erzählt mir mit voller<br />

Begeisterung in ihren Augen davon,<br />

dass sie schon seit drei Monaten dabei<br />

sei und die kommenden Reden mein<br />

Leben verändern würden. Während<br />

unseres Gespräches laufen über mehrere<br />

Bildschirme gleichzeitig heroische Slow-<br />

Motion-Videos von jubelnden Menschenmengen<br />

begleitet von lauter Partymusik.<br />

Als der erste Redner den Raum betritt,<br />

wird er mit ohrenbetäubendem Applaus<br />

empfangen und eröffnet damit das<br />

Event.<br />

„Kennt jemand von euch das Buch<br />

‚Rich dad, Poor dad?‘ – Say yes!“ Wie<br />

einstudiert folgt daraufhin ein im Chor<br />

gerufenes „YES!“. Dieses Buch habe sein<br />

Leben verändert, weil es ihn verstehen<br />

lassen habe, wie man reich werden<br />

könne. Mit leidenschaftlichen Worten<br />

und fesselnden Geschichten lockt er<br />

das Publikum in eine Welt jenseits der<br />

arbeitenden Mittelschicht, in der grenzenloser<br />

Reichtum und finanzielle Freiheit<br />

herrschen. Dabei heißt es, dass die Kurse<br />

der IM Master Academy die ultimative<br />

Geheimwaffe seien, um die Beschränkungen<br />

des traditionellen Bildungssystems<br />

und der „nine to five“ Arbeitswelt<br />

zu überwinden und dich und dein Leben<br />

stattdessen in eine Erfolgsgeschichte zu<br />

verwandeln. Das benötigte Wissen und<br />

vor allem das Mindset dazu bekommst<br />

du, indem du ihr Produkt kaufst.<br />

IM TEAM ALPHA<br />

Die IM Mastery Academy erweist sich auf<br />

dem Markt der Online-Bildungsplattformen<br />

in Österreich als äußerst erfolgreich.<br />

Mithilfe von Live-Streams und anderen<br />

Online-Tools sollen vor allem Jugendlichen<br />

Möglichkeiten gezeigt werden,<br />

über das Handy Geld zu verdienen. Bei<br />

der Mitgliedschaft handelt es sich um<br />

eine Art Abo, das dir Zugriff zu ausgewählten<br />

Modulen der Trading-Lehre oder<br />

der Social-Media-Nutzung verschafft.<br />

Je nach Umfang des Abos variieren die<br />

Monatsbeträge von 200 USD bis etwa<br />

500 USD. Für den Verkauf dieser Kurse<br />

und das damit verbundene Anwerben<br />

neuer Mitglieder ist jedoch nicht IM<br />

selbst zuständig. Dafür sorgen selbstorganisierte<br />

Strukturen – sogenannte<br />

Movements. Das österreichweit größte<br />

Movement nennt sich Team Alpha und ist<br />

so wie ihre Gründer im oberösterreichischen<br />

Wels beheimatet.<br />

DIE OBERSTEN 0,05%<br />

Den Jugendlichen wird erklärt, sie<br />

könnten hier lernen, wie man sich ein<br />

eigenes Business aufbaut. Als Einstieg<br />

gelte: Wenn sie weitere aktive Mitglie-<br />

/ RAMBAZAMBA / 25


Team Alpha präsentiert<br />

sich als Chance, der<br />

finanziellen Misere zu<br />

entkommen.<br />

der anwerben, erhalten sie Provisionen<br />

und können allein dadurch laut Angaben<br />

des Unternehmens schon bis zu 75.000<br />

USD monatlich verdienen. Vor allem für<br />

Schüler:innen, die sich den Monatsbeitrag<br />

anders nicht leisten könnten, ist das<br />

Anwerben neuer Mitglieder die einzige<br />

Möglichkeit, an dem Programm teilnehmen<br />

zu können. Begriffe wie „verkaufen“<br />

findet man hier nicht – bei Team Alpha<br />

redet man von „Leben verändern“, denn<br />

das wird den jungen Teilnehmer:innen<br />

auch versprochen: ein neues Leben. Auf<br />

der Webseite der IM Mastery Academy<br />

findet man ein Dokument, das die Einkommensverteilung<br />

des Unternehmens<br />

offenlegt. Daraus ist zu erkennen, dass<br />

über die Hälfte der Mitglieder mit ihrer<br />

Mitgliedschaft ins Minus gehen, denn sie<br />

müssen mehr in das Programm einzahlen<br />

als sie schlussendlich damit verdienen.<br />

Nur 0,4 % verdienen mehr als das österreichische<br />

Durchschnittsgehalt – ziemlich<br />

widersprüchlich, wenn man bedenkt,<br />

dass herkömmliche Lohnarbeit von Team<br />

Alpha als aussichtslos betitelt wird. Als<br />

die Gewinner dieses Systems zählen<br />

dann die obersten 0,05 %, denn deren<br />

Jahresgehalt liegt bei über 550.000 EUR.<br />

WIR SIND ALL-TIMER<br />

Die Besucher:innen der Veranstaltung<br />

sind augenscheinlich zwischen 16 und<br />

20 Jahre alt. Ihr Kleidungsstil ist nicht<br />

sonderlich auffallend, doch eine Gemeinsamkeit<br />

ist kaum übersehbar: Beinahe<br />

alle von ihnen haben einen Migrationshintergrund.<br />

Gerade migrantische<br />

Jugendliche finden sich oft am Rand des<br />

österreichischen Systems wieder, und<br />

kommen meist aus Elternhäusern mit<br />

geringem Einkommen. Team Alpha spielt<br />

meiner Auffassung nach geschickt mit<br />

dieser Verletzlichkeit und präsentiert sich<br />

als Ausweg – als Chance, der Misere zu<br />

entkommen und finanzielle Sicherheit zu<br />

erlangen. Zwischen den gesprochenen<br />

Der Traum vom schnellen Geld stürzt viele Anhänger<br />

von „Movements“ in den finanziellen Ruin.<br />

Zeilen des Events lassen sich gezielte<br />

Versuche raushören, die Jugendlichen<br />

von ihren Freund:innen und Familienmitgliedern<br />

zu entfernen. „Ich habe<br />

angefangen, mich nur noch mit Leuten<br />

zu umgeben, die das gleiche Ziel hatten<br />

wie ich. Das solltest du auch“, fordert<br />

einer der Redner. Bei meiner Recherche<br />

stoße ich auf ein YouTube-Video, in dem<br />

einer der Gründer erläutert, dass es<br />

vier Arten von Leuten gibt: Some-Timer,<br />

Part-Timer, Full-Timer und All-Timer.<br />

„Wir bei Team Alpha sind All-Timer.“ Er<br />

erzählt, er habe schon das vierte Jahr<br />

in Folge den Geburtstag seiner Mutter<br />

verpasst, weil er dauerhaft am Arbeiten<br />

war. „Aber wenn ich irgendwann genug<br />

gearbeitet hab und finanziell unabhängig<br />

bin, wird meine Mutter jeden Tag<br />

Geburtstag haben.“ Diese Haltung ist<br />

laut Psychologin und Geschäftsführerin<br />

der Bundesstelle für Sektenfragen, Ulrike<br />

Schiesser, eine besorgniserregende. „Je<br />

mehr eine Gruppe von einem verlangt<br />

– sei es Geld, Engagement, oder Zeit –<br />

entsteht schnell eine Art Gruppen-Trance.<br />

Man ist die ganze Zeit umgeben von<br />

denselben Menschen, man hört immer<br />

26 / RAMBAZAMBA /


dieselben Parolen. Wenn jede freie Minute<br />

damit gefüllt ist, hat man gar nicht<br />

mehr Zeit zu überlegen: Tut mir das gut?<br />

Will ich das überhaupt?“ Auch wenn<br />

Team Alpha keine sektenähnliche Organisation<br />

ist, ist es keine Seltenheit, dass<br />

Multi-Level-Marketing-Unternehmen<br />

manchmal Vertriebsstrategien verfolgen,<br />

die als sektenartig erlebt werden. „Dabei<br />

werden die Produkte emotional aufgeladen<br />

und die Vertiebsgemeinschaft<br />

bezeichnet sich als Familie“, veranschaulicht<br />

Ulrike.<br />

„DU BIST SCHULD“<br />

Nach dem Event lade ich mich selbst<br />

ein, um mit den Veranstaltern essen zu<br />

gehen. Sie nehmen mich „ausnahmsweise<br />

mit, denn eigentlich dürfen nur bereits<br />

erfolgreiche Mitglieder mit ins Büro.“<br />

Dort lerne ich Sara* kennen. Sie ist<br />

schon seit einem Jahr dabei, ursprünglich<br />

aus Afghanistan und wohnt im 15.<br />

Wiener Gemeindebezirk. Als ich sie frage,<br />

ob sie schon Erfolg im Trading habe<br />

oder vielleicht über neu angeworbene<br />

Mitglieder Geld verdiene, erzählt sie mir,<br />

sie sei „der Team-Member, der zu inkonstant<br />

ist, um was zu verdienen. Ich habe<br />

für jedes Problem eine Lösung. Suche<br />

den Fehler immer bei den Umständen<br />

und bin völlig uncoachable.“ In Saras<br />

Antwort finden sich Floskeln wieder, die<br />

den Jugendlichen in ihren Mindset-Kursen<br />

gepredigt werden. Denn auch wenn<br />

man sich die einzelnen Module bei seiner<br />

monatlichen Abo-Vereinbarung aussuchen<br />

kann, ist ein Mindset-Kurs immer<br />

miteinbegriffen. Mein Eindruck: Hier<br />

werden unqualifizierte Jugendliche auf<br />

einen hoch komplexen Markt losgelassen<br />

und ihnen wird die Illusion vermittelt,<br />

dass allein durch positives Denken und<br />

dem richtigen Mindset Gewinne erzielt<br />

werden können. Dabei wird neben dem<br />

Handel mit Kryptowährungen wie Bitcoin<br />

vor allem mit dem sogenannten Forex-<br />

Trading geworben. Darunter versteht<br />

man den Handel mit ausländischen Währungen,<br />

bei dem mit den Schwankungen<br />

der Kurse spekuliert wird, um Gewinne<br />

zu erzielen. Expert:innen jedoch warnen<br />

aufgrund des äußerst hohen Risikos vor<br />

dieser Handelsform. Bei einer Live-Trading-Session<br />

von Team Alpha wird von<br />

dem Vortragenden aber das Gegenteil<br />

behauptet: „Trading ist leicht. Der Markt<br />

Ein Aufstieg in der Hierarchie ist für die Mitglieder<br />

von Team Alpha ein großer Ansporn.<br />

ist berechenbar und es ist schnelles<br />

Geld. Wenn du Verluste machst, ist das,<br />

weil du deine Emotionen nicht im Griff<br />

hattest. Du bist schuld, nicht der Markt.“<br />

Auch mir wird während des Events von<br />

mehreren Mitgliedern gesagt, wie perfekt<br />

es sei, dass ich Psychologie studiere,<br />

denn: „Trading ist nur Kopfsache“.<br />

COPY - PASTE<br />

„My Story, his Glory“ war ein Zitat, das in<br />

den verschiedensten Kontexten aufkam<br />

und zuerst bei mir für Verwirrung sorgte,<br />

denn ich konnte die Bedeutung dahinter<br />

nicht erkennen. Mittlerweile ist mir klar,<br />

was damit gemeint ist. Die Geschichte,<br />

wie jemand zu Team Alpha gefunden<br />

hat, ist der Ruhm jener Person, die sie<br />

auf diesem Weg betreut hat. Im Regelfall<br />

werden die potentiell neuen Mitglieder<br />

nämlich über soziale Medien kontaktiert<br />

und mit der Absicht, selber Profit zu<br />

machen, wird ihnen das Unternehmen<br />

präsentiert. Ich bekam viele Gespräche<br />

mit, in denen meine Kontaktperson von<br />

Leuten, die sich in der Unternehmens-<br />

Hierarchie weiter unter ihr befanden,<br />

nach Anleitungen zur Rekrutierung neuer<br />

Mitglieder gefragt wurde. Bei Team-<br />

Alpha ist das keine Seltenheit. Ständig<br />

wird von „Mentoren“ und „Leadern“<br />

geredet, denn das gesamte Konstrukt<br />

basiert darauf, dass man den Leuten,<br />

die in der Hierarchie über einem stehen,<br />

blind vertraut und ihrer Führung<br />

folgt. Auf der Webseite von Team Alpha<br />

ist diese Hierarchie klar ersichtlich: an<br />

oberster Stelle der Gründer mit dem<br />

Rang Chairman 25 – die Zahl 25 soll markieren,<br />

dass er allein durch die Einnahmen<br />

der abgeschlossenen Abos unter<br />

ihm 25.000 USD monatlich verdient.<br />

Das macht ihn für alle anderen bei Team<br />

Alpha zum Vorbild. Basierend auf den<br />

Stimmungen, die ich dort wahrnehmen<br />

Das Konstrukt basiert<br />

darauf, dass man den<br />

Leuten, die in der<br />

Hierarchie über einem<br />

stehen, blind vertraut und<br />

ihrer Führung folgt.<br />

/ RAMBAZAMBA / 27


Ab einem gewissen Punkt<br />

ist es kaum mehr möglich,<br />

durch gutes Zureden<br />

jemandem die negativen<br />

Aspekte aufzuzeigen.<br />

Durch risikoreiches Trading ist Geld leicht zu verdienen - aber auch leicht zu verlieren.<br />

konnte, würde ich sogar sagen, dass<br />

auch von Vergötterung gesprochen<br />

werden kann. „Jungs, ein Chairman hat<br />

mir gerade einfach die Hand gegeben!“,<br />

höre ich jemanden in auffallend euphorischem<br />

Ton sagen. Alle wollen sein wie er<br />

und von ihm lernen. Doch das war nicht<br />

mal das Dubioseste daran. Seien es die<br />

Sprechchöre bei Live-Events oder die<br />

identisch aussehenden Instagram-Profile<br />

– ich war verblüfft, wie anpassungsfähig<br />

Individuen werden, sobald eine starke<br />

Gruppendynamik im Spiel ist. Egal mit<br />

wem ich mich unterhielt – sie nutzten alle<br />

ein sehr ähnliches Vokabular, predigten<br />

dieselben Lebensweisheiten und erzählten<br />

vom gleichen Entwicklungsgang. Es<br />

wirkte wie Copy-Paste.<br />

JUNG, PLEITE,<br />

MIGRANTISCH<br />

Obwohl ich im vollen Bewusstsein<br />

darüber war, dass durch dieses Unternehmen<br />

nur ein Bruchteil der Mitglieder<br />

überhaupt Gewinn machen kann, gelang<br />

ich selbst zeitweise zur Überzeugung, ich<br />

wäre der Ausnahmefall und könnte durch<br />

diese Organisation tatsächlich reich werden.<br />

Das nur, weil die Gründer mir das<br />

erfolgreich eingeredet haben. „Dione, du<br />

hast richtig viel Potential, das merkt man<br />

sofort“, wurde mir bei Gesprächen mehrmals<br />

gesagt. Was das wohl in Menschen<br />

auslösen muss, die sonst nie Wertschätzung<br />

erleben? Auch die Bundesstelle<br />

für Sektenfragen bestätigt mir, dass es<br />

kaum möglich sei, sich selbst zu schützen.<br />

Die Bundesstelle berät vorrangig<br />

Angehörige, deren Familienmitglieder in<br />

solche Systeme eingestiegen sind. Denn<br />

Freund:innen und Familie sind viel eher<br />

in der Lage, suspektes Verhalten schnell<br />

zu erkennen und die betroffene Person<br />

vor diesen Kreisen zu warnen. Ab einem<br />

gewissen Punkt ist es jedoch kaum mehr<br />

möglich, durch gutes Zureden oder<br />

kritische Fragen jemandem die negativen<br />

Aspekte eines Vorhabens oder Unternehmens<br />

aufzuzeigen.<br />

Und die Geister, die du rufst, wirst<br />

du auch so schnell nicht mehr los, denn<br />

bei Alpha wird viel Wert auf Bindung<br />

gelegt: Seit der ersten Kontaktaufnahme<br />

Anfang Juni sind mittlerweile mehrere<br />

Monate vergangen und obwohl ich nicht<br />

mehr wirklich antworte, werde ich noch<br />

immer regelmäßig von einem der Gründer<br />

gefragt, wie es mir geht und wann<br />

wir das nächste Mal telefonieren, denn<br />

ich passe genau in die Zielgruppe: jung,<br />

pleite und migrantisch. ●<br />

Anmerkung der Redaktion: Team Alpha<br />

hat bis Redaktions schluss nicht auf unsere<br />

Bitte um Stellungnahme zu dem Artikel<br />

reagiert.<br />

28 / RAMBAZAMBA /


KOMMENTAR<br />

MAMA, WIESO HAT ER KEINE SCHULTÜTE?<br />

Von Filip Lazar<br />

© unsplash.com/Note Thanun, Zoe Opratko<br />

Ich kann mich noch ganz genau an die Nacht<br />

vor meinem ersten Schultag erinnern. Meine<br />

Mutter und ich waren Tage zuvor neue<br />

Schulsachen, Kleidung und Schuhe für<br />

diesen besonderen Tag einkaufen. Ich war<br />

super aufgeregt und glücklich, die Nacht<br />

zuvor legte ich mein neues Schul-Outfit voller<br />

Vorfreude sogar neben mir ins Bett. „Nur noch<br />

einmal schlafen, dann ist es so weit, dann bin ich endlich<br />

ein Schulkind!" Diesen Satz redete ich mir ein, bis<br />

ich einschlief. Am nächsten Morgen platzte ich fast vor<br />

Nervosität, ich konnte es kaum erwarten, endlich in der<br />

Schule anzukommen. Auf dem Weg zur Schule fiel mir<br />

direkt auf, dass viele Kinder eine große mit Süßigkeiten<br />

befüllte Tüte in der Hand hatten. „Komisch, kriegt man<br />

das als Willkommensgeschenk?“, fragte ich mich.<br />

Spätestens als ich in meiner Klasse angekommen<br />

war, merkte ich, dass ich der Einzige war, der keine solche<br />

Tüte hatte. „Mama, warum hat er keine Schultüte?“,<br />

fragte einer meiner zukünftigen Klassekameraden seine<br />

Mutter und zeigte dabei auf mich. Ich sah wiederum<br />

mit einem fragenden Blick zu meiner Mutter hinauf, und<br />

sie blickte mit einem genauso fragenden Gesichtsausdruck<br />

zu mir herunter. Sie fragte die fremde Mama, wo<br />

man denn hier so einen „Süßigkeiten-Karton“ bekommen<br />

könnte. Den müsse man selbst besorgen, meinte<br />

sie - da kamen mir bereits die Tränen. Als ich dann<br />

auch noch sah, wie meine Klassenkameraden die Tüten<br />

aufmachten und untereinander Süßigkeiten tauschten,<br />

war das zu viel - ich verließ leise schluchzend das<br />

Klassenzimmer. Ich war so wütend auf meine<br />

Mutter - wie konnte sie bloß nicht wissen,<br />

dass es in Österreich Tradition ist, am ersten<br />

Schultag eine Schultüte mit in die Schule zu<br />

bringen? Sie, die Erwachsene? Die wissen<br />

doch immer alles? Rückblickend schäme ich<br />

mich für mein Verhalten: Meine Mutter stammt<br />

aus Rumänien, wo ich auch geboren bin – da gibt<br />

es diese Tradition nicht. Woher hätte sie sich denn<br />

auch mit österreichischen Schultraditionen auskennen<br />

sollen? Ich war ihr erstes Kind, eben auch das erste,<br />

das eingeschult wurde. Diesen September, 15 Jahre<br />

später, hatte mein kleiner Bruder seinen ersten Schultag<br />

– seine Schultüte mit Transformers-Motiv stand schon<br />

Tage davor in seinem Zimmer bereit. Schmunzelnd<br />

erinnere ich meine Mutter bei diesem Anblick an unser<br />

„Süßigkeiten-Karton“-Fiasko von 20<strong>09</strong>, und wir beginnen<br />

beide zu lachen.<br />

Ich habe es damals eben nicht besser gewusst, sie<br />

aber auch nicht. Doch sie hatte wie immer einen Plan:<br />

Am Heimweg von der Schule hielt meine Mutter beim<br />

Libro an und wies mich an, im Auto zu warten - sie kam<br />

wieder und überraschte mich mit der schönsten Schultüte:<br />

Richtig groß und auch noch mit einem Star-Wars<br />

Motiv verziert. Ich konnte es kaum erwarten, sie am<br />

nächsten Tag in die Schule mitzunehmen und natürlich<br />

all die leckeren Überraschungen darin zu entdecken.<br />

Gesagt, getan: Am zweiten Schultag war ich dann der<br />

einzige mit einer Schultüte – immerhin. ●<br />

/ RAMBAZAMBA / 29


Über Sex<br />

spricht man nicht.<br />

30 / RAMBAZAMBA /


„Bis ich 13 Jahre alt war,<br />

dachte ich, dass Kinder<br />

einfach auftauchen, wenn man<br />

heiratet.“ Mythen über das<br />

Jungfernhäutchen, Tabus und<br />

Irrglauben: Sexuelle Aufklärung<br />

kommt in Migra-Communities<br />

oft zu kurz – vor allem bei den<br />

Töchtern. Doch was macht<br />

das mit ihrer Sexualität im<br />

Erwachsenenleben?<br />

Von: Maria Lovrić-Anušić, Fotos: Zoe Opratko<br />

Wenn ich mit meinem Partner intim<br />

werde, frage ich mich noch heute<br />

als 25-jährige Frau, ob das moralisch<br />

eigentlich in Ordnung ist“, erzählt Pinar<br />

bedrückt. Pinar ist in Wien aufgewachsen und hat<br />

türkische Wurzeln. In der türkischen Community hat<br />

die Jungfräulichkeit – vor allem, wenn es um Frauen<br />

geht – einen gesellschaftlich hohen Stellenwert. Das hat<br />

Pinar schon früh gelernt. Aber auch nur das. Jungfrau<br />

bleiben, bis man heiratet – das wird einem eingebläut.<br />

Aber alles rundherum bleibt ein Tabu. So auch bei Pinar:<br />

Sexuelle Aufklärung war nie ein Thema zwischen ihr<br />

und ihrer Mutter. Über Sex wurde nicht gesprochen,<br />

weder im positiven noch im negativen Sinne. Dieses<br />

Schweigen legte über die Jahre hinweg einen Schleier<br />

aus Scham und Schuldgefühlen über ihre eigene<br />

Sexualität. Wie diese fehlende Aufklärung ihr Leben als<br />

erwachsene Frau beeinflussen würde, war ihr damals<br />

noch nicht bewusst.<br />

Vielen Töchtern aus Migra-Communities wird von<br />

klein auf an eingetrichtert, dass sich die Ehre der Familie<br />

zwischen ihren Beinen befindet. Die Themen Sex<br />

und der weibliche Körper werden tabuisiert und häufig<br />

stillgeschwiegen. Die Töchter haben dementsprechend<br />

gar kein oder ein nur sehr fehlerhaftes Wissen zum<br />

Thema Sex und müssen sich durch die Medien, Bücher<br />

oder Pornos selbst aufklären – mit mäßigem Erfolg.<br />

Dieses Phänomen macht Social-Media-Kanäle zu einer<br />

wichtigen Plattform, auf der Jugendliche Antworten<br />

auf Fragen bekommen, die sie sich oft noch gar nicht<br />

gestellt haben. TikTokerinnen wie „Stachel“ reden<br />

offen über Sex, Dates und Selbstbefriedigung. In ihren<br />

Kommentarspalten tummeln sich Kommentare von<br />

erleichterten jungen Frauen. „Endlich spricht jemand<br />

darüber!“ und „Kannst du das genauer erklären?“ sind<br />

die Standardaussagen.<br />

Die Scham vor der eigenen Sexualität<br />

„Bis ich 13 Jahre alt war, dachte ich, dass Kinder<br />

einfach auftauchen, wenn man heiratet“, erzählt Pinar<br />

und lacht verlegen. Dass es dafür den Geschlechtsakt<br />

braucht, wurde ihr erst bewusst, nachdem sie ihre<br />

Cousine über Sex und die Geburt aufgeklärt hatte. Im<br />

Aufklärungsunterricht in der Schule habe sie nicht wirklich<br />

etwas gelernt, vor allem nichts über die weibliche<br />

Sexualität, bemängelt Pinar. Alles was sie heute über<br />

Sex weiß, musste sie sich selbst beibringen. „Dieses<br />

ständige Schweigen hat mein Leben beeinträchtigt. Ich<br />

bin eine erwachsene Frau und war aus Scham noch nie<br />

beim Frauenarzt“, erzählt sie wütend. Die Beziehung<br />

mit ihrem Freund hat sie über Jahre geheim gehalten<br />

– aus Scham. Sie wusste: Sie muss ihre Sexualität<br />

geheim halten, zu hoch ist die Angst davor, erwischt<br />

zu werden. „Dieses Verstecken resultiert aus der Angst<br />

vor den möglichen Konsequenzen, also davor, von den<br />

Eltern oder der Community verstoßen zu werden“,<br />

erklärt Sexualpädagogin Elif Gül. Verantwortlich dafür<br />

macht Pinar das System, in das sie reingeboren wurde<br />

und nicht ihre Mutter. „Meine Mutter hat selbst früh<br />

geheiratet, ohne irgendetwas über Sex zu wissen“,<br />

erzählt die 25-Jährige. Sie hat mit 16 Jahren geheiratet<br />

und ihr wurde nur gesagt, dass sich ihr Mann<br />

schon auskennen würde. Es wäre in ihrer Community<br />

schon immer so gewesen, dass die Frauen die unwis-<br />

„Jetzt, als erwachsene Frau, kann ich endlich meinen<br />

Körper und meine Sexualität richtig kennenlernen.“<br />

/ RAMBAZAMBA / 31


senden Jungfrauen spielen hätten müssen, erklärt<br />

Pinar – und oft eben auch unwissend waren. „Ein gutes<br />

Beispiel dafür, wie blöd das alles ist, ist das rote Band<br />

bei der Hochzeit“, erzählt sie genervt. Sie nimmt hier<br />

Bezug auf die türkische Tradition, bei der die Braut<br />

ein rotes Band, den „Kırmızı kuşak “, als Zeichen ihrer<br />

Reinheit um die Taille ihres Hochzeitskleids gebunden<br />

bekommt. Eigentlich stünde es für einen Neuanfang,<br />

den guten Charakter der Frau und Glück und nicht für<br />

deren Jungfräulichkeit. „Mittlerweile will meine Mutter<br />

offen mit mir über Sex reden, doch ich schäme mich<br />

zu sehr“, erzählt Pinar. Ihre Mutter versucht, ihr immer<br />

wieder Ratschläge zu geben, wie zum Beispiel, dass<br />

sie nicht oft Analsex haben sollte oder dass sie immer<br />

geschützten Sex haben müsse. „Ich verteidige mich in<br />

solchen Momenten sofort und frage sie, wie sie glauben<br />

könnte, dass ich Sex vor der Ehe haben würde“, erzählt<br />

die 25-Jährige traurig. Für Pinar sind diese Momente<br />

verstörend, da in ihrer Familie früher nie offen über Sex<br />

gesprochen wurde. Die Einstellung, dass Frauen ihre<br />

Jungfräulichkeit schützen müssten, hat sich in ihrem<br />

Gehirn so tief verankert, dass sie es nicht schafft, auf<br />

die neue Offenheit ihrer Mutter adäquat zu reagieren.<br />

„Ich kann ihre Ratschläge nicht mehr annehmen. Es ist<br />

einfach viel zu spät dafür“, resümiert Pinar.<br />

ANLAUFSTELLEN BEI<br />

FRAGEN RUND UM<br />

SEXUALITÄT<br />

Rat auf Draht → Telefon 147<br />

Die zweite Aufklärung →<br />

www.zweite-aufklaerung.at/<br />

First Love → firstlove.at/<br />

Liebe usw → www.liebe-usw.at/<br />

Sex als eheliche Pflicht<br />

„Ich habe erst durch die Techtelmechtel-Funktion im<br />

Computerspiel ´Sims´ erfahren, dass Sex überhaupt<br />

existiert“, erzählt Tamara und lacht beschämt auf.<br />

„Peinlich ist das aber schon“, wirft sie noch schnell<br />

hinterher. Zum damaligen Zeitpunkt war sie 13 Jahre<br />

alt und sah sich im Anschluss auch das erste Mal einen<br />

Porno an, um etwas mehr zu erfahren. Von ihrer Familie<br />

hatte sie nämlich nie Aufklärung genossen. Themen wie<br />

Menstruation, Geschlechtsverkehr und sexuelle Orientierungen<br />

waren für sie immer mit Angst verbunden.<br />

„Ich hatte oft Sex aus Pflichtgefühl, weil ich nicht wusste,<br />

dass ich ´Nein´ sagen darf“, erzählt die 27-Jährige<br />

mit serbischen Wurzeln kopfschüttelnd. Sie orientierte<br />

sich in ihrer Jugend an ihren Freundinnen, Pornos und<br />

am spärlichen Aufklärungsunterricht in der Schule. Als<br />

ihre Freundinnen bereits für den ersten Kuss, das erste<br />

Mal Petting oder Sex bereit waren, hatte sie eigentlich<br />

noch gar nicht das Bedürfnis, mit irgendjemandem<br />

intim zu werden. Getan hat sie es trotzdem – aus<br />

Angst, belächelt zu werden. Über Jahre hinweg staute<br />

sich in ihr Wut gegen das Schulsystem auf, welches<br />

ihr nur beigebracht hatte, was ein Kondom ist und wie<br />

Penetration funktioniert. Auch von ihrer Mutter war sie<br />

enttäuscht, bis sie realisierte, dass diese selbst nie ihre<br />

Sexualität hatte erkunden können. Tamaras Mutter ist<br />

mit dem Gedanken aufgewachsen, dass Sex nur dafür<br />

da ist, Kinder zu bekommen und den Mann zu befriedigen.<br />

Es war nur eine eheliche Pflicht, welche sie erfüllen<br />

musste, ohne selber Spaß daran zu haben. Niemand<br />

hatte Tamara beigebracht, dass eine Frau selber über<br />

32 / RAMBAZAMBA /


ihren Körper bestimmen kann und das Sex aus mehr<br />

als nur männlicher Penetration besteht. Seit einigen<br />

Monaten entdeckt Tamara allerdings neue Gefühle, welche<br />

sie immer hatte unterdrücken müssen. Außerdem<br />

hinterfragt sie die ihr aufgezwungene heteronormative<br />

Sichtweise auf Sex und Liebe. Sie realisiert, dass sie<br />

eigentlich auch Frauen anziehend findet – etwas, das<br />

sie sich in ihrer Jugend niemals auszusprechen getraut<br />

hätte. Heute fühlt sie sich besonders in der queeren<br />

Community wohl, weil sie da offen über all ihre Bedürfnisse<br />

sprechen kann. „Jetzt, als erwachsene Frau, kann<br />

ich endlich meinen Körper und meine Sexualität richtig<br />

kennenlernen.“<br />

Veraltete Traditionen und Religion<br />

Häufig wird von den Eltern die jeweilige Religion als<br />

Grund für die Notwendigkeit, bis zur Ehe Jungfrau zu<br />

bleiben, angeführt. Religiöse Institutionen bieten häufig<br />

Aufklärungsunterricht an, jedoch wird auch erklärt, dass<br />

Sex nur innerhalb der Ehe gestattet ist. Aber nicht alles<br />

beruht auf Religion. „Es ist schwer, den Glauben von der<br />

Kultur abzutrennen“, so die Sexualpädagogin Elif Gül.<br />

„Überall auf der Welt gibt es unterschiedliche Einstellungen<br />

und Moralvorstellungen zum Thema Sexualität.“<br />

In den unterschiedlichen Communitys herrscht demnach<br />

das Bedürfnis, sich von den „anderen“ abzugrenzen.<br />

Nach dem Motto: „Wir sind nicht so verdorben wie<br />

die anderen. Das gibt es bei uns nicht.“ Um das Eigene<br />

zu wahren, herrscht bei vielen Eltern folgende Annahme:<br />

Wenn die Kinder wenig über Sex wissen, werden<br />

sie auch keinen Sex haben. Dabei hätten früh aufgeklärte<br />

Jugendliche tendenziell später ihr erstes Mal, erklärt<br />

Gül. Die Kinder in Unwissenheit zu belassen, wird von<br />

Eltern oft als eine Art Schutz für diese empfunden. Es<br />

gehe aber häufig auch darum, die Sexualität der Frauen<br />

zu kontrollieren und die gesellschaftlich geprägten Herrschaftsverhältnisse<br />

aufrecht zu erhalten. Gül erklärt,<br />

dass die Angst geschürt werde, aus den jeweiligen<br />

Communitys verbannt werden zu können, wenn man<br />

sich nicht an diese Gebote hält. Deshalb informieren<br />

sich viele Frauen heimlich und sprechen nicht über ihr<br />

Sexleben.<br />

Nur ein Stück Haut<br />

„Ich verstehe auch dieses ganze Gerede über das<br />

Jungfernhäutchen nicht“, erzählt Pinar genervt und<br />

verdreht ihre Augen. Sie spielt auf die absurde Obsession<br />

der migrantischen Communitys für das Hymen<br />

an. Bereits in der Schule reden alle Mädchen darüber,<br />

dass man keine Gymnastik machen dürfe, auch Fahrrad<br />

fahren sei schlecht und Tampons sollte man sowieso<br />

niemals benutzen – alles nur, damit das Häutchen bloß<br />

nicht reißt. Auf Social Media erzählen auch viele junge<br />

Frauen, dass sie sich vor ihrer Hochzeit ihr Hymen bei<br />

einem Frauenarzt leicht zunähen haben lassen, damit<br />

sie in der Hochzeitsnacht bluten. „Das sieht doch bei<br />

jeder Frau anders aus und reißen muss es beim Sex<br />

Schamkultur und Tabus rund um Sexualität sind eine<br />

große Hürde in migrantischen Familien.<br />

auch nicht“, ärgert sich Pinar. Unrecht hat sie damit<br />

nicht. Laut der Sexualpädagogin ist das Hymen eine<br />

sehr dehnbare Schleimhaut, welche auch nach dem Sex<br />

unverändert aussehen kann. Reißen muss da nichts.<br />

„Ich habe gedacht, dass ich jetzt<br />

dreckig bin.“<br />

„Du bist endlich eine Frau!“, beglückwünschte Maschas<br />

Mutter sie, als sie mit neun Jahren zum ersten Mal ihre<br />

Periode bekommen hatte. Was genau es jedoch bedeuten<br />

soll, eine Frau zu sein, erklärte sie ihrer Tochter<br />

nicht. Sie drückte Mascha nur eine Binde in die Hand.<br />

Dass die Periode zum Beispiel mit Unterleibsschmerzen<br />

verbunden sein, ein Zyklus unterschiedlich lange dauern<br />

oder auch mal ausbleiben kann, sagte ihr niemand. Die<br />

Mutter der heute 26-Jährigen mit russischen Wurzeln<br />

ist zwar nicht konservativ, nahm sich jedoch nie die<br />

Zeit, ihre Tochter zum Thema Sexualität aufzuklären,<br />

da sie dachte, dass sich ihre Tochter schon auskennen<br />

würde. Als Mascha noch ein Teenager war, wurde ihr in<br />

der Schule allerdings nur erklärt, wie man verhütet und<br />

wie der menschliche Körper aufgebaut ist. Aus diesem<br />

Grund informierte sie sich selbst zum weiblichen Körper,<br />

Sex und Verhütung und das über das Internet und Zeitschriften<br />

wie die „Bravo“. Das Thema Consent wurde in<br />

ihrer Jugend jedoch nie besprochen. Mit Consent meint<br />

man, dass alles, was du mit jemandem tun möchtest,<br />

/ RAMBAZAMBA / 33


Aufklärung der nächsten Generation<br />

Auch Adelina wurde von ihrer Familie nicht aufgeklärt,<br />

was dazu führte, dass sie jahrelang ihre Bedürfnisse<br />

nicht wahrnahm und ebenfalls Dinge tat, die sie eigentlich<br />

gar nicht wollte. „Es braucht offene Kommunikation“,<br />

erklärt die 36-Jährige mit albanischen Wurzeln.<br />

Heute ist Adelina Mutter eines 13-jährigen Sohnes.<br />

Bereits mit sechs Jahren hat sie ihm Kinderaufklärungsvideos<br />

auf YouTube gezeigt. Sie baute sich, anders als<br />

ihre Eltern, eine Beziehung zu ihrem Sohn auf, in der er<br />

ihr ohne Scham Fragen zum Thema Sex stellen kann.<br />

„Ich habe ihm erklärt, dass er selber über seinen Körper<br />

entscheiden kann, damit er lernt, wo seine persönlichen<br />

Grenzen sind“, erklärt sie. Bald möchte Adeline ihm<br />

zeigen, wie man verhütet und ein Kondom verwendet.<br />

Laut ihr hätten Menschen mit Migrationshintergrund<br />

eine verkorkste Vorstellung davon, wie Respekt den<br />

Eltern gegenüber gelebt werden könne, und hätten<br />

daher Angst, mit ihnen über intimere Themen zu<br />

reden. Sie will jedoch, dass sich ihr Sohn wohlfühlt<br />

und keine Angst hat. Sie will, dass er weiß, dass er mit<br />

jeder Unsicherheit zu ihr zu kommen kann. Das alles<br />

will sie, damit er nicht auf sich alleine gestellt ist – wie<br />

die Generationen vor ihm – und mit Irrglauben und<br />

Sex-Mythen aufwächst, die nur kontraproduktiv sind.<br />

Irgendwann geht sich das einfach nicht mehr aus. ●<br />

Traditionsbedingte Mythen um Jungfräulichkeit sind bis<br />

heute weit verbreitet.<br />

Die Fotos wurden für die Geschichte nachgestellt.<br />

nur passieren wird, wenn alle darauf Lust haben, damit<br />

einverstanden sind und Ja dazu sagen. Ein Nein ist<br />

ein Nein und ist so zu akzeptieren, ohne dass versucht<br />

wird, jemanden zu überreden oder umzustimmen. Das<br />

Wissen zum Thema Consent hätte sich Mascha vor<br />

sieben Jahren gewünscht. Mit 19 Jahren hatte sie ihr<br />

erstes Mal, jedoch war sie sich direkt danach sicher,<br />

dass es die falsche Entscheidung gewesen war. „Ich<br />

habe nach meinem ersten Mal geweint, weil ich dachte,<br />

dass ich dreckig bin“, erzählt sie. Er war ihr erster<br />

Freund und fragte sie immer wieder, bis sie unsicher<br />

zustimmte. Sie fühlte sich dazu gedrängt und so, als<br />

dürfte sie nicht schon wieder Nein sagen. Sie war nervös,<br />

angespannt und hatte Schmerzen. „Heutzutage ist<br />

es so, dass man darüber redet, dass man nicht immer<br />

Ja sagen muss und dass das Überreden zu etwas absolut<br />

falsch ist. Früher haben das nicht alle so gesehen“,<br />

erklärt die 26-Jährige. Diese Erfahrung ging nicht spurlos<br />

an ihr vorbei. Die Narben sitzen tief und haben in ihr<br />

eine Angst vor Intimität ausgelöst. „Ich bekomme bei<br />

dem Gedanken, mit einem Mann Sex zu haben, teilweise<br />

echt Panik“, erklärt die 26-Jährige. „Ich frage mich<br />

immer wieder: Wieso hat meine Mutter mich überhaupt<br />

bei meinem damaligen Freund übernachten lassen?<br />

Warum hat mir nie wer erklärt, dass ich nicht mit ihm<br />

schlafen muss, wenn ich mich nicht danach fühle?“<br />

Vor allem junge Frauen werden in ihrer Pubertät nicht<br />

ausreichend aufgeklärt.<br />

34 / RAMBAZAMBA /


Entgeltliche Einschaltung<br />

D A M I T S I E<br />

I H R E W O H N U N G<br />

B E H A L T E N<br />

Um die allgemeine Teuerung aufzufangen, gibt es für alle Wohnungsmieter*innen im Gemeindebau<br />

im Herbst den „Gemeindebau-Bonus“. Wer darüber hinaus Hilfe benötigt, findet sie schon jetzt bei der<br />

Wiener Wohnungssicherungsstelle unter der Telefonnummer 01 4000 11420.<br />

Mehr Infos über alle Unterstützungsmöglichkeiten für Gemeindebaumieter*innen: wienerwohnen.at/hilfe<br />

Sollten Sie Betroffene kennen, bitte weitersagen - helfen Sie uns beim Helfen!<br />

Service-Nummer 05 75 75 75<br />

wienerwohnen.at


„Aber bist du wirklich trans?“<br />

Nikki ist 21 und trans. Mit Biber spricht sie darüber, warum Transpersonen in Österreich<br />

von der Zwei-Klassen-Medizin betroffen sind – und über gesellschaftlichen<br />

Druck. Außerhalb und innerhalb der LGBTIQ+ Community. Von Emir Dizdarević, Foto: Zoe Opratko<br />

Das war so ein surrealer<br />

Moment“, erzählt die heute<br />

21-jährige Nikki von dem<br />

Tag, an dem sie das erste<br />

Mal Östrogen und Testosteron-Blocker<br />

genommen hat. „Es hat sich so angefühlt,<br />

als hätte mein ganzes Leben eine<br />

Stimme ununterbrochen in meinem Kopf<br />

geschrien. Als ich das erste Mal Hormone<br />

genommen habe, ist es auf einmal<br />

still geworden und ich habe mich einfach<br />

wohl und glücklich gefühlt.“<br />

Bis zu diesem befreienden Schritt<br />

hat es für Nikki 19 Jahre gedauert. Ihre<br />

Geschichte beginnt in der Steiermark,<br />

wo sie als Bub wahrgenommen wird. Als<br />

sie etwa vier Jahre alt ist, merkt sie zum<br />

ersten Mal, dass etwas nicht stimmt. Sie<br />

fühlt sich nicht als Bub, sondern als Mädchen.<br />

Das sagt sie auch den Erwachsenen<br />

in ihrer Umgebung. „Die haben dann<br />

einfach ‚Nein‘ gesagt und ich habe ihnen<br />

geglaubt.“ Schließlich kennen Erwachsene<br />

die Welt besser als Kinder, das wurde<br />

Nikki damals so eingetrichtert.<br />

„KANN ES SEIN, DASS DU<br />

TRANS BIST?“<br />

In der Pubertät sucht Nikki ihre Identität<br />

und beschreibt sich in dieser Phase als<br />

schwuler Mann. „Ich war schon immer<br />

sehr feminin und hatte vermehrt weibliche<br />

Freunde. Das wird oft Schwulen<br />

zugeschrieben und ich habe mir deswegen<br />

einreden lassen, dass ich schwul<br />

bin.“ Zudem konnte sich Nikki nicht vorstellen,<br />

„der Mann“ in einer Heterobeziehung<br />

zu sein. Doch auch das Schwulsein<br />

fühlt sich für Nikki befremdlich an. Das<br />

erste Outing geschieht durch eine Freundin,<br />

der Nikki ihre Gefühle beschreibt:<br />

„Kann es sein, dass du trans bist?“, fragt<br />

sie die Freundin damals.<br />

Ihre Transition (Anmerkung:<br />

Geschlechtsangleichung) beschreibt<br />

Nikki in zwei Phasen. Einer sozialen und<br />

einer körperlichen Transition. Ihre soziale<br />

Transition beginnt im Freund:innenkreis,<br />

wo sie beginnt, sich bei ihren liebsten<br />

Menschen zu outen. „Ich wurde akzeptiert,<br />

ohne mich körperlich zu verändern.<br />

36 / RAMBAZAMBA /


Für mich war das einfach ein sicherer Raum, in dem ich<br />

mich ausprobieren konnte. Das war sehr wichtig.“<br />

Für ihre körperliche Transition nimmt sich Nikki Zeit.<br />

Zwischen den beiden ersten Lockdowns zieht sie nach<br />

Wien und spürt, dass sie sich damit vielleicht zu viel<br />

Veränderung auf einmal zumutet. Erst nach einem halben<br />

Jahr geht sie das erste Mal zu einer Beratungsstelle und<br />

merkt für sich: Termine für psychotherapeutische Begleitung<br />

zu kriegen, ist sehr schwierig und mit dem Studium<br />

nicht zu vereinbaren. Nikki studiert in dieser Zeit an einer<br />

Privatuni und die Termine, die sie erhält, fallen meist in die<br />

Unterrichtszeit. Therapie und Studium sind für sie nebeneinander<br />

nicht sinnvoll zu machen. Als Nikki ihrer älteren<br />

Schwester von ihrer Transition erzählt, beschließt diese,<br />

sie finanziell zu unterstützen. Statt auf Krankenkasse wird<br />

Nikki seither privat medizinisch betreut.<br />

LANGWIERIGER PROZESS ZUR<br />

HORMONTHERAPIE<br />

Bevor man mit einer Hormontherapie beginnen kann,<br />

braucht es eine dreifache Diagnostik: ein psychotherapeutisches,<br />

ein klinisch-psychologisches und ein<br />

psychiatrisches Gutachten. Das sehen die „österreichischen<br />

Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei<br />

Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus“ vor. Nur<br />

speziell ausgebildete Personen können diese Gutachten<br />

ausstellen und die Wartezeiten sind oft lang. „Man kann<br />

sich das so vorstellen: Bei den öffentlichen Beratungsstellen<br />

kriegt man die Liste mit den Spezialist:innen erst nach<br />

zehn Sitzungen und muss dann alle durchtelefonieren.“<br />

Bei ihrer privat gezahlten Therapie bekommt sie eine Liste<br />

bereits nach zwei Sitzungen, inklusive Empfehlungen, welche<br />

Personen gut zu ihr passen könnten. „Für mich ist das<br />

eine Zwei-Klassen-Medizin“, sagt Nikki.<br />

2022. Als Nikki zum ersten Mal Hormone nimmt, fühlt<br />

sie sich „wie neu geboren. Ich hatte keine Ahnung, dass<br />

ich mich so toll fühlen kann.“ Für sie ist das die richtige<br />

Entscheidung.<br />

Wie es aber für sie in Zukunft weitergeht, weiß sie<br />

nicht. „Ich will gerade keine geschlechtsangleichende<br />

Operation machen, will es aber auch nicht ausschließen.“<br />

Seitdem hat Nikki viele Diskussionen geführt. Außerhalb<br />

der Community sind viele Menschen kritisch gegenüber<br />

Hormonbehandlungen: „Wenn du mal Hormone<br />

nimmst, kannst du das nicht rückgängig machen. Ist es<br />

dir das wirklich wert?“ Aber auch innerhalb der LGBTIQ+<br />

Community verspürt sie immer wieder einen merkwürdigen<br />

Druck. In manchen Fällen drängen sie Leute, möglichst<br />

schnell alle nötigen Gutachten einzuholen, auch<br />

wenn sie sich noch nicht bereit dafür fühlt. Wieder andere<br />

gehen sogar so weit zu sagen, dass man nur „wirklich<br />

trans“ sei, wenn man Hormone nimmt und sich Operationen<br />

unterzieht. Von all dem lässt sich Nikki nicht beeindrucken:<br />

„Alle sollten selbst über ihren eigenen Körper<br />

entscheiden können. Ich kenne mich selbst am besten und<br />

weiß daher auch selbst am besten, was mir guttut und was<br />

ich brauche, um mich in meinem Körper wohlzufühlen.“ ●<br />

DAS<br />

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und Jugend


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GEHT<br />

A U F ’ S<br />

HAUS!<br />

Sie kochen, kosten und kreieren:<br />

Amina (@yallahkitchen) und Arash<br />

(@djmosaken) vereinen die Kulturen<br />

und zeigen mit ihren Videos auf Social<br />

Media, wie divers Wiener Food-Content<br />

abseits der immer gleichen Bobo-<br />

Influencer aus Neubau sein kann. Wir<br />

haben uns mit den beiden auf eine Food-<br />

Tour durch Wiener Märkte begeben.<br />

Von Mathias Psilinakis, Fotos: Zoe Opratko und Atila Vadoc<br />

Schön, dass es hier so ein Stück arabische Welt mitten<br />

in Wien gibt, oder?“, schwärmt Amina, während<br />

wir in der Mittagshitze den Wiener Brunnenmarkt<br />

entlang schlendern. Selbstbewusst führt uns die<br />

Wienerin mit irakisch-iranischen Wurzeln durch den Markt, vorbei<br />

an Fleischspießen, dröhnenden Boxen mit syrischer Musik<br />

und Gewürzkisten. Wir schlängeln uns vorbei an Großfamilien<br />

mit Kinderwagen, alten Damen mit Plastikbeutel voller Gemüse<br />

und schreienden Kleinkindern auf Rollern.<br />

WÜRZIGE WURZELN<br />

Seit 2020 postet Amina Al-Rawi unter dem Handle Yallah Kitchen<br />

orientalische Rezepte auf Instagram und TikTok. Ihr Ziel:<br />

ihren Followern die kulinarische und kulturelle Vielfalt aufzuzeigen,<br />

die außerhalb der österreichischen Küche existiert.<br />

Türkische Desserts, syrische Snacks, irakische Vorspeisen und<br />

persische Reisgerichte – Aminas Feed zeigt auf, was die orientalische<br />

Küche alles zu bieten hat. Das Ergebnis ihrer Arbeit<br />

kann sich sehen lassen: 95k Follower auf Instagram.<br />

Die Liebe zur Kulinarik begleitet Amina schon seit ihrer<br />

Kindheit. „Das war etwas, was mich mit meiner Mama verbunden<br />

hat“, erklärt sie, während wir irakische Rindsspieße verkosten.<br />

Besonders bedeutend ist für sie die persische Küche,<br />

den Bezug zu ihren iranischen Wurzeln habe sie vor allem über<br />

die Küche gesucht. Aufgewachsen ist die 26-Jährige aber nicht<br />

38 / RAMBAZAMBA | WIEN /


nur mit orientalischem Essen. „Bei uns gab es auch österreichische<br />

Küche. Schnitzel, Knödel, Gulasch, all das wurde auch<br />

aufgetischt.“ Während wir spazieren, schwärmt Amina vom<br />

Gulasch ihrer Mutter, auf das sie schon seit Wochen Heißhunger<br />

hat. „Aber unbedingt mit Preiselbeeren!“<br />

STREETFOOD VOM FEINSTEN<br />

Restaurant-Tests sind ein weiterer fixer Bestandteil von Aminas<br />

Content. Regelmäßig zeigt sie ihren Followern Lokale in Wien,<br />

die bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit geblieben sind.<br />

Unser erster Stopp heute: Ashraf und sein syrischer Imbiss.<br />

Schon aus der Ferne grüßt uns Ashraf mit einem breiten<br />

Lächeln. Amina hat einen ihrer Besuche bei Ashraf auf Social<br />

Media gepostet, das Video ist viral gegangen. Sogar Bürgermeister<br />

Michael Ludwig war seitdem schon bei Ashraf zu<br />

Besuch, wie uns der Iraker stolz mitteilt.<br />

Wir bestellen Fettah und Falafel, immer wieder schwirrt<br />

Ashraf jedoch an uns vorbei und serviert Tee, Limonade, Torshi<br />

und Hummus – alles aufs Haus. „Die arabische Gastfreundschaft<br />

eben“, lacht Amina, „deswegen empfehle ich diesen<br />

Spot auch gerne. Die machen das von Herzen, das merkt<br />

man.“<br />

Anfragen für Restaurant-Testungen bekommt Amina mehr<br />

als genug. Während wir essen, erzählt Amina, dass sie selektiv<br />

sein muss und nicht nur der Geschmack vom Essen für sie<br />

entscheidend ist: „Wenn eine Geschichte dahintersteckt, wenn<br />

Tradition und Kultur miteinbegriffen sind, dann hat das für mich<br />

einen ganz anderen Stellenwert.“ Der österreichischen Food-<br />

Content-Szene fehlt es ihrer Meinung nach an Diversität: „Es<br />

kommt immer wieder dasselbe.“<br />

GEHT AUF'S HAUS!<br />

Das Kochen und Testen von Essen ist aber weiterhin nur ein<br />

Hobby für Amina, die trotz ihrer Reichweite vorerst kein Geld<br />

mit ihren Videos verdienen möchte. Wie sie einen Vollzeitjob<br />

als Consultant mit ihrem Food-Content vereinbart? „Es braucht<br />

ein sehr gutes Zeitmanagement. Leider hat mein Tag auch nur<br />

24 Stunden.“ Viel Freizeit bleibt Amina neben ihrem Job und<br />

Social Media also nicht – ihre Videos schneidet sie jeden Morgen<br />

in der U-Bahn.<br />

Wir ziehen weiter, denn wir sind noch lange nicht am<br />

Ende unserer heutigen Verkostung. „Der kennt meinen Vater,<br />

da müssen wir kurz stehenbleiben“, unterbricht Amina unser<br />

Gespräch und führt uns zu einem weiteren Lokal. Ihr Vater,<br />

Omar Al-Rawi, hat sich als Politiker einen Namen in der arabischen<br />

Community Wiens gemacht. Und so bekommen wir<br />

innerhalb weniger Sekunden Fladenbrot mit Zatar in die Hand<br />

gedrückt. „Er meinte, das geht aufs Haus, weil ich Araberin<br />

bin“, übersetzt Amina und führt uns zum nächsten Stand.<br />

Wie denn ihre Eltern zu ihrem Erfolg auf Social Media stünden,<br />

frage ich, während Amina in einer hölzernen Kiste voller<br />

Gewürzpäckchen gräbt. „Sie sind meine größten Supporter.<br />

Meine Mama will jedes einzelne Video zugeschickt bekommen.<br />

Und mein Vater begleitet mich oft, wenn ich ein neues<br />

Lokal austeste. Er ist schon fast beleidigt, wenn ich mal meine<br />

Schwester oder eine Freundin statt ihm mitnehme“, lacht sie.<br />

Dass ihre Geschwister begeistert sind, wundert Amina nicht:<br />

Amina Al-Rawi postet Food-Content auf Social Media –<br />

und das mit Erfolg.<br />

„Sie kriegen ja auch das ganze Essen, das ich koche.“ Sie verrät<br />

mir: „Eigentlich esse ich ja gar nicht so gerne. Oft vergesse<br />

ich vor lauter Kochen, dass ich auch essen sollte.“<br />

SCHLEMMEN MIT SINN<br />

Man würde denken, bei Aminas Content geht es schlichtweg<br />

um gute Gerichte. Falsch gedacht. Während wir weiter flanieren,<br />

erklärt mir Amina, dass sie mit ihren Videos einen Raum<br />

für Diskurs, Austausch und Toleranz schaffen möchte. Wir halten<br />

bei einem Supermarkt an und kaufen eiskalte Malzgetränke<br />

aus dem Irak, die wir mit unseren schweißgebadeten Händen<br />

kaum öffnen können. „Ich thematisiere sehr oft meinen Hintergrund,<br />

meine Religion, meine Kultur, ich gehe offen damit um“,<br />

erklärt mir Amina. Sie sieht in ihrer Arbeit einen Bildungsauftrag:<br />

„Ich fühle mich in der arabischen und persischen Kultur<br />

gleich wohl wie in der österreichischen – das möchte ich nach<br />

außen zeigen. Es ist kein Gegeneinander, ich kann das Eine und<br />

das Andere sein. Und das ist auch gut so.“<br />

VOM MISCHPULT AN DEN ESSTISCH<br />

Szenenwechsel. Am Wiener Vorgartenmarkt treffen wir Arash<br />

Rabbani, auch bekannt unter seinem Künstlernamen DJ Mosaken,<br />

mit dem er sich als Wiener Szene-Urgestein ein regelrechtes<br />

Content-Imperium aufgebaut hat. Es gibt wenig, was<br />

/ RAMBAZAMBA | WIEN / 39


ZWISCHEN DEN KULTUREN<br />

Unser erster Halt: eine Ramen-Bar. Elegant zieht Arash<br />

die Nudeln aus der Suppe, hält sie in die Kameralinse unseres<br />

Fotografen und macht große Augen. Man merkt sofort: Er<br />

macht das nicht zum ersten Mal. Das Essen ist schon lange<br />

eine Affinität des Foodbloggers. Während Arash an seinen<br />

Nudeln schlürft, erzählt er, dass für diese Leidenschaft vor<br />

allem die Kochkünste seiner Mama entscheidend waren, und<br />

schwärmt von persischen Eintöpfen. „Müsst ihr abchecken!“<br />

Gelernt hat er das Kochen von seiner Mutter aber nicht: „Sie ist<br />

zu ungeduldig und ich auch, da gibt es nur Fetzerei.“<br />

Doch auch die österreichische Küche liegt ihm nahe: „Das<br />

hat für mich auch etwas Heimisches. Eine Grießnockerlsuppe<br />

ist für mich genauso ein Stück Zuhause.“ Dass die österreichische<br />

und persische Esskultur sehr unterschiedlich sind, hat<br />

Arash jedoch früh gemerkt. Er erzählt: „Wenn meine Freunde<br />

zu uns nach Hause gekommen sind, haben sie gegessen, was<br />

das Zeug hält! Meine Mama hat sicher zehn Speisen aufgetischt.<br />

Bei ihnen daheim habe ich einen Apfel oder eine Birne<br />

bekommen – nicht mal beides!“ Er weiß diese Essensvielfalt<br />

aber zu schätzen, sein Fazit: „Je mehr, desto besser.“<br />

In ihren Gastro-Tests ist Amina in ganz Wien unterwegs –<br />

auch am Brunnenmarkt.<br />

der gebürtige Iraner nicht macht: Als DJ hat er sich schon vor<br />

Jahren einen Namen in der Wiener Musikszene gemacht und<br />

ist außerdem als Eventplaner, Geschäftsführer und eben auch<br />

Food-Content-Creator aktiv – mittlerweile mit 85k Followern<br />

auf TikTok.<br />

Schon als DJ postete Arash immer wieder Food-Content<br />

auf der Plattform, seinen Durchbruch erlebte der 41-Jährige<br />

aber erst während der Corona-Pandemie. „Ich konnte ja nicht<br />

auflegen. Ich bin ein Mensch, der sehr kreativ ist, ich brauche<br />

immer irgendwas zu tun. Da habe ich also begonnen, professionellere<br />

Food-Videos zu machen.“ Besonders erfolgreich sind<br />

hierbei seine Restaurant-Tests: Von Döner bis Pasta hat sich<br />

Arash schon in dutzenden Lokalen den Magen vollgeschlagen.<br />

Gute Restaurants in Wien zu finden, sei nicht schwierig, wie mir<br />

Arash erklärt. „Wien war schon immer eine multikulturelle Stadt<br />

und wird auch immer multikultureller. Man kann hier definitiv<br />

sehr gut essen.“<br />

Einen typischen Restaurantbesuch gibt es für den Foodblogger<br />

nicht. „Oft passiert's ganz spontan.“ Die Reaktionen<br />

der Restaurantbesitzer sind zum Glück immer positiv: „Wir sind<br />

in einer Zeit, in der Social Media unglaublich wichtig ist, da<br />

freut sich natürlich jeder, wenn du ein Video machst und deren<br />

Essen wertschätzt.“ Doch auch Anfragen für Reviews sind mittlerweile<br />

ein fester Teil seines Arbeitsalltags geworden – mittlerweile<br />

muss er sogar selektiv sein.<br />

KONTROVERSE KULINARIK<br />

Wir sind beim Nachtisch angelangt: Eiskaltes Matcha-Mochi ist<br />

bei 35 Grad die perfekte Abkühlung. „In meinem Kopf bin ich<br />

einfach nur Österreicher“, sagt Arash und nimmt einen Biss<br />

von der eiskalten Kugel. Als Content-Creator mit Migrationshintergrund<br />

ist er aber immer wieder mit Hass konfrontiert. Für<br />

Arash völlig unverständlich: „Ich mache Food-Content, das ist<br />

doch eigentlich das unpolitischste Thema, was es gibt. Jeder<br />

macht das, jeden Tag. Eigentlich verbindet man das gar nicht<br />

mit Hass. Es zeigt, wie krass Österreich gespalten ist.“<br />

Auch Naziparolen musste er schon unter seinen Videos<br />

lesen. Der Grund für diese Art von Hass: „Wenn Politiker auf<br />

Arash Rabbani: DJ und Feinschmecker.<br />

40 / RAMBAZAMBA | WIEN /


Plakaten Hassparolen schwingen, dann denken sich die Leute<br />

auf TikTok, dass sie das auch dürfen. Je anonymer man ist,<br />

desto mehr denken Leute, dass es ein rechtsfreier Raum ist.“<br />

Dass besonders seine Videos von ausländischem Essen zu<br />

Hass und Kritik führen, wundert Arash nicht. Der Hass kommt<br />

aber nicht nur von ausländerfeindlichen Österreicher:innen. Oft<br />

geht es auch um Nationalstolz, etwa wenn sich verschiedene<br />

Nationalitäten um die Herkunft eines Gerichts streiten. Auch<br />

hier sieht Arash die österreichische Fremdenfeindlichkeit als<br />

Hauptproblem: „Wenn zum Beispiel ein türkischer Junge in<br />

Österreich nie willkommen geheißen wird, dann muss er sich ja<br />

der Türkei näher fühlen, um Anschluss zu finden. Jeder möchte<br />

irgendwo dazugehören. Deswegen kommt es zu Nationalstolz,<br />

eben auch beim Essen.“<br />

UND DIE ZUKUNFT?<br />

Wir zahlen und schlendern durch den Vorgartenmarkt, vorbei<br />

an Gemüsemärkten mit glänzend roten Tomaten und Körben<br />

voller Feigen. Viel ist nicht los – kein Wunder bei dieser Hitze.<br />

Was er sich von der Zukunft erhoffe, frage ich. „Ich erhoffe<br />

mir keine Zahlen, ich will weiterhin Spaß damit haben. Ich bin<br />

mir sicher, dass, wenn wir uns in fünf Jahren treffen, etwas<br />

Großartiges entstanden sein wird.“ Damit sich diese Vorhersage<br />

auch erfüllt, arbeitet Arash hart, und das auch heute – wir<br />

verabschieden uns, weil er noch einen Food-Spot austesten<br />

will. Heute am Programm: ein österreichischer Burger, mit Brot<br />

aus Bier und ganz viel Schweinsbraten obendrauf. „Sicher auch<br />

mit weniger Hate-Kommentaren“, zwinkert Arash. ●<br />

Hass im Netz begleitet Arash tagtäglich. Für die Zukunft hat er<br />

aber trotzdem große Hoffnungen.<br />

Ich stelle meinen<br />

E-Scooter sicher<br />

nicht am Gehsteig<br />

ab. E-kloa!<br />

Die Stadt Wien beendet das Scooter-Chaos:<br />

Bezahlte Anzeige<br />

• Kein Abstellen der Leih-E-Scooter<br />

am Gehsteig mehr<br />

• Parken auf den gekennzeichneten<br />

Flächen oder in der Parkspur<br />

• Melden von Missständen in<br />

der Sag’s Wien App<br />

Halte auch du dich an die neuen Regeln!<br />

Alle Infos findest du unter:<br />

wien.gv.at/scooter


LIFE & STYLE<br />

Mache mir die Welt,<br />

wie sie mir gefällt<br />

Von Şeyda Gün<br />

MEINUNG<br />

Lasst mir<br />

mein Fußball!<br />

Als Kind habe ich es geliebt, mit<br />

meinem Papa und Opa Fußball zu<br />

schauen. Wir haben kein Spiel von<br />

Galatasaray im TV verpasst, schließlich<br />

ist es unser Lieblingsclub. Bis<br />

heute hat sich an meiner Liebe zu<br />

Fußball nicht viel geändert. Leider<br />

musste ich mir öfters verachtende<br />

Aussagen wie „Na gut, wenn du dich<br />

so gut mit Fußball auskennst, dann<br />

erklär mir doch mal das Abseits“<br />

oder „Du schaust sicher nur wegen<br />

den Fußballspielern, die dir gefallen“<br />

anhören. Ich habe das Gefühl, mich<br />

als Frau ständig dafür rechtfertigen<br />

zu müssen, warum ich es liebe,<br />

Fußball zu schauen. Dabei sollten<br />

alle doch schon längst wissen, dass<br />

Fußball nicht nur Männersache ist.<br />

Zum Glück habe ich Freunde und<br />

Kollegen aus der Schule in meinem<br />

Umfeld, die meine Liebe zu diesem<br />

Sport nicht so verachtend betrachten.<br />

Ganz im Gegenteil: Wir sprechen<br />

gerne untereinander über Fußball.<br />

Besonders gerne über die türkische<br />

Liga oder Champions League. Bitte,<br />

lasst mir mein Fußball!<br />

guen@dasbiber.at<br />

SCHLUSS MIT<br />

FAKE WIMPERN<br />

Die Mascara von Rare Beauty ist<br />

ein absolutes Must-have in deiner<br />

Schminktasche und betont alle<br />

Arten von Wimpern. Zu oft wurde<br />

ich schon auf meine langen und<br />

voluminösen Wimpern angesprochen,<br />

dabei trage ich nur die Rare<br />

Beauty Wimperntusche. Also holt<br />

sie euch, liebe bibericas – es ist<br />

meine absolute Empfehlung!<br />

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Ernährungstrend<br />

YFOOD<br />

Jede:r spricht über yfood –<br />

doch was ist das eigentlich? Mit<br />

yfood bekommt der Körper eine<br />

vollwertige und ausgewogene<br />

Mahlzeit in Getränkeform. Gut<br />

geeignet, wenn sich mal keine<br />

Zeit für eine Mahlzeit ergibt.<br />

Egal ob Perfect Pistachio oder<br />

Fruitdy Drinks – mit insgesamt<br />

8 Sorten ist sicher für jede:n<br />

etwas dabei. Probiert es aus!<br />

Vorhang auf für<br />

preisgekrönte<br />

Pressefotos: Vom<br />

15.<strong>09</strong>–12.11.20<strong>23</strong> ist<br />

im Wiener WestLicht<br />

die Pressefotografie<br />

Ausstellung World<br />

Press Photo 20<strong>23</strong> zu<br />

sehen. Es ist eine der<br />

wichtigsten Ausstellungen<br />

im Rahmen<br />

der internationalen<br />

Pressefotografie –<br />

schaut unbedingt<br />

vorbei!<br />

© Zoe Opratko, Rare Beauty, Alessandro Cinque, Pulitzer Center/National Geographic, Daniela Alessandri<br />

42 / LIFESTYLE /


Geldsorgen adé:<br />

Lerne, wie du deine<br />

Finanzen meisterst!<br />

Gerade in Krisenzeiten ist der richtige<br />

Umgang mit Geld ein Thema<br />

mehr denn je. Mit dem Angebot<br />

der Bildungs direktion Wien können<br />

Jugendliche ihr Potenzial entfalten.<br />

Wie soll man, gerade in Zeiten der Teuerung und Inflation,<br />

ein nachhaltiges Polster für die Zukunft aufbauen?<br />

Diese Frage stellt sich auch die 18-jährige Mirela,<br />

die bald ein Studium beginnen wird. „Ich komme nicht<br />

aus einer Familie, in der ich jemals etwas erben werde.<br />

Da mache ich mir schon Sorgen um die Zukunft.<br />

Meine Eltern konnten leider niemals etwas auf die<br />

Seite legen – und ich kenne mich nur wenig mit Geld<br />

aus, obwohl mir Stabilität wichtig ist.“<br />

Der sichere Umgang mit Geld will gelernt sein: Das<br />

umfassende Finanzbildungsangebot der Bildungsdirektion<br />

für Wien bringt deshalb Schüler:innen den<br />

nötigen Überblick über ihre Finanzen nahe. Stabilität<br />

und bewusstes Handeln mit Geld sollen so auch<br />

jungen Menschen keine Fremdheit sein. „Je mehr<br />

ich über Finanzen lerne, desto mehr vertraue ich mir<br />

selbst“, weiß auch Mirela.<br />

In Kooperation mit der Schuldnerberatung Wien<br />

können junge Wiener:innen den Finanzführerschein<br />

absolvieren, der einen beson deren Schwerpunkt auf<br />

Wohnen, Wohnungs sicherung und kompetenten Konsum<br />

legt.<br />

Mithilfe von Workshops, Coachings und weiteren<br />

qualitätsgeprüften Angeboten können nicht<br />

nur Schüler:innen, sondern auch Lehrer:innen und<br />

Direktor:innen aller Schulen Bewusstsein schaffen.<br />

FINANZBILDUNGSCOACHES<br />

Auch die Wirtschaftsuniversität Wien<br />

unterstützt die Finanzbildungsinitiative<br />

der Bildungsdirektion mit viel Wissen und<br />

Engagement. Eine neu entwickelte Finanzbildungsinitiative<br />

der WU ist die Förderung von<br />

Finanzbildung in der Schule durch Finanzbildungscoaches.<br />

Wünscht sich eine Lehrperson<br />

für eine Klasse – egal ob in der Unter- oder<br />

Oberstufe – zu bestimmten Finanzbildungsthemen<br />

Unterstützung, kann sie auf der Website<br />

des Instituts für Wirtschaftspädagogik<br />

einen Finanzbildungscoach anfragen, der ein<br />

für die Klasse maßgeschneidertes und qualitätsgeprüftes<br />

Unterrichtskonzept entwickelt<br />

und auch umsetzt. Hier geht´s zum Formular:<br />

www.wu.ac.at/wipaed/uni-schule-ges/<br />

finanzbildungscoaches/<br />

© Omid Armin<br />

Mehr Informationen<br />

findest du beim<br />

Bildungshub.<br />

Dieses Special ist in Kooperation mit der Bildungsdirektion<br />

entstanden. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei biber.


LEBEN IM CONTAINERCAMP IN MALATYA:<br />

„Hauptsache, es geht weiter.”<br />

Ein halbes Jahr nach<br />

dem Erdbeben in der<br />

Türkei: Containercamps<br />

gehören mittlerweile zum<br />

Stadtbild und sind der<br />

neue Lebensmittelpunkt<br />

tausender Menschen. Wie<br />

sieht der Alltag in den<br />

Containern aus?<br />

Von Aleksandra Tulej<br />

Ich werde nicht über den Tag sprechen,<br />

als es passiert ist. Alles andere<br />

könnt ihr mich fragen”, stellt Songül<br />

sofort klar, als sie uns die Tür ihres<br />

Containers öffnet. Songül ist eine von<br />

1.500 Personen, die seit Juli hier in dem<br />

Camp in Malatya, der Hauptstadt der<br />

gleichnamigen ostanatolischen Provinz,<br />

wohnen. Das Camp ist überschaubar,<br />

die Container sind in Reihen angeordnet,<br />

die mittlerweile von den Bewohner:innen<br />

„Straßen” genannt werden – immerhin<br />

leben sie schon seit drei Monaten hier.<br />

Man kennt sich untereinander, nicht<br />

zuletzt durch kollektives Trauma-Bonding.<br />

Der Alltag im Camp ist längst eingetreten,<br />

zumindest an der Oberfläche.<br />

Das Erdbeben in der Türkei liegt nun<br />

sieben Monate zurück. Insgesamt sind<br />

laut offiziellen Angaben mehr als 57.000<br />

Menschen verstorben. Die Aufräumarbeiten<br />

sind in vielen Städten immer noch in<br />

Gange. Vereinzelt sieht man noch Zelte,<br />

in denen Familien unterkommen. Viele<br />

sind weggezogen – in andere Städte, in<br />

denen sie Familie oder Freunde haben.<br />

Aber vor allem in die Containersiedlungen,<br />

die mittlerweile zum Stadtbild gehören.<br />

Auch hier in Malatya, wo insgesamt<br />

über 20.000 Container stehen.<br />

In Malatya leben etwa 600.000<br />

Einwohner:innen. 2.300 Menschen sind<br />

hier beim Erdbeben ums Leben gekommen,<br />

etwa 300.000 haben ihr Zuhause<br />

verloren – manche auch ihre gesamte<br />

Familie. Wie Erol, der bei dem Erdbeben<br />

seine Tochter und seine zwei Enkel<br />

verloren hat. Er ist geschieden und lebt<br />

alleine in dem Container. Spartanisch<br />

eingerichtet: ein Bett, ein Sofa, ein<br />

kleiner Tisch, auf dem eine Zeitung und<br />

Zigaretten liegen. „Ich brauche nicht viel<br />

zum Leben. Der Container reicht völlig<br />

aus, ich beschwere mich nicht. Es ist auf<br />

jeden Fall besser als im Zelt.”<br />

SCHRITT FÜR SCHRITT IN<br />

DEN NEUEN ALLTAG<br />

In den meisten Containern leben ganze<br />

Familien mit oft bis zu sieben Personen.<br />

„Das wird dann schon eng. Wenn wir<br />

die Waschmaschine anmachen, dann<br />

wackelt der ganze Container. Wir sind<br />

sehr froh, ein Dach über dem Kopf zu<br />

haben, jetzt im Sommer war alles gut,<br />

aber wir haben alle Sorge davor, wie der<br />

Winter aussehen wird”, erzählt Nadrie.<br />

© Rahma Austria<br />

44 / OUT OF AUT /


Laut der türkischen Katastrophenschutzbehörde<br />

AFAD soll das Containercamp<br />

noch für die nächsten zwei<br />

Jahre bestehen bleiben, danach wolle<br />

man „je nach Schweregrad der einzelnen<br />

Situationen der Familien” graduell<br />

die Menschen in günstigen Wohnungen<br />

unterbringen, erzählt Metin, der AFAD-<br />

Koordinator im Camp. Wie oder wann<br />

genau das passieren wird, weiß noch<br />

niemand so richtig.<br />

Jetzt gilt es erstmal, den Alltag<br />

zu bewältigen, Schritt für Schritt. Der<br />

österreichische Spendenverein Rahma<br />

Austria stellt hier die Container auf, verteilt<br />

Lebensmittelpakete, Schultaschen,<br />

Hygieneprodukte – alles, was man hier<br />

eben zum Leben braucht. Am 9. September<br />

fand unter breiter Medienpräsenz die<br />

Eröffnungsfeier der Container statt. Die<br />

Feier hätte eigentlich im Juni stattfinden<br />

sollen, aber es hätte einige Probleme<br />

mit der Infrastruktur des Camps, wie<br />

beispielsweise den Wasserleitungen,<br />

gegeben und man hätte sichergehen<br />

wollen, dass alles stehe und funktioniere,<br />

bis man das Camp offiziell eröffne, so<br />

Tarkan Tek, Leiter von Rahma Austria.<br />

Für Kinder gibt es hier einen Spielplatz,<br />

eine kleine Kletterwand, eine<br />

Sandkiste – um ihnen einen möglichst<br />

normalen Alltag zu ermöglichen. „No<br />

happiness, no hope, stay positive”<br />

schreibt Medine immer und immer wieder<br />

mit lila Marker in ihren Notizblock.<br />

In ihren Zeichnungen verarbeitet sie das<br />

Erlebte: Sie zeichnet leere Schaukeln,<br />

Trümmer und dunkle Nächte. „Aber ich<br />

habe mich schon daran gewöhnt, dass<br />

wir hier jetzt leben: Ich stehe morgens<br />

auf, lese ein bisschen und gehe dann zur<br />

Schule, ganz normal eigentlich”, erzählt<br />

sie. Die Kinder hätten sich an das Leben<br />

im Camp am schnellsten akklimatisiert,<br />

so die Mutter des dreijährigen Umut.<br />

Ihr kleiner Sohn läuft uns in die Arme,<br />

begrüßt jeden, als wäre er der Hauptverantwortliche<br />

hier. Er weiß, wo was<br />

ist, kennt jeden, strahlt und lacht – man<br />

bekommt den Anschein, als wäre er<br />

noch zu klein, um zu verstehen, was passiert<br />

ist oder warum er hier lebt. „Als wir<br />

vor einiger Zeit in der Straße in Malatya<br />

waren, in der unser Haus einst stand”<br />

erzählt Umuts Mutter, „hat er begonnen,<br />

zu weinen, und meinte immer wieder:<br />

„Ich will in mein Zuhause, das hier ist<br />

mein Zuhause!“ Vom Haus der Familie<br />

erkennt man jedoch wirklich nichts<br />

mehr wieder, es ist alles dem Erdboden<br />

gleich. „Er kriegt das also sehr wohl<br />

mit“, bekräftigt Umuts Mutter, „auch<br />

wenn er sonst so glücklich herumläuft,<br />

das sitzt tief.” Den Tag des Erdbebens<br />

wollen alle hier am besten vergessen,<br />

man blickt in die Zukunft – immer wieder<br />

kommen Flashbacks, Rückschläge,<br />

Probleme – aber man versucht, das<br />

irgendwie gemeinsam zu überwinden:<br />

„Hauptsache, es geht weiter!“, ist hier<br />

die Devise. ●<br />

*Der Besuch erfolgte auf Einladung von Rahma<br />

Austria.<br />

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WIE AUSLÄNDERHASS WIEDER SALONFÄHIG WIRD<br />

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TÜRKEI: NEUE ÄRA ODER ABSTURZ?<br />

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KARRIERE & KOHLE<br />

Para gut, alles gut<br />

Von Šemsa Salioski<br />

MEINUNG<br />

#Lazygirljob<br />

oder nicht?<br />

#Lazygirljob hat auf TikTok mittlerweile<br />

22 Mio Aufrufe. Die Videos fordern<br />

Frauen dazu auf, zukünftig nur noch<br />

Low-Effort-Jobs anzunehmen, die dennoch<br />

die Rechnungen zahlen können.<br />

Ähnlich wie Quiet Quitting gilt das als<br />

Versuch, sich gegen zu die etablierte<br />

Hustle Culture zu wehren. Ich kann das<br />

verstehen. Trotzdem finde ich, dass<br />

man diese „Scheiß-Auf-Arbeit”-Einstellung<br />

nur dann in Ruhe ausleben kann,<br />

wenn man sich noch nie Sorgen um die<br />

Zukunft machen musste. So möchten<br />

viele Migra-Arbeiter:innenkinder mit<br />

Eltern, die in Österreich oft für eine<br />

bessere Zukunft für sie gekämpft<br />

haben, meist “mehr aus sich machen”.<br />

Zudem waren anspruchsvolle Jobs<br />

immer jene, von denen behauptet<br />

wurde, dass “Leute aus ihren Kreisen”<br />

sie niemals ausüben könnten. Außerdem<br />

muss man sich fragen, wem man<br />

es genau zeigt, wenn man jegliche<br />

Karriereambitionen aus Trotz eliminiert.<br />

Mein Tipp: Habt bitte zumindest einen<br />

Plan B, denn es besteht die Möglichkeit,<br />

dass ihr den #Lazygirljob nicht bis<br />

65 durchziehen wollt. Und: KI könnte<br />

euch hier auch einen Strich durch die<br />

Rechnung machen.<br />

salioski@dasbiber.at<br />

FUTUREME: E-MAILS AN<br />

DAS ZUKÜNFTIGE ICH<br />

Der Schwerpunkt der Kolumne lässt mich häufig an mein jüngeres Ich<br />

denken. Gleichzeitig frage ich mich, wo ich in 10–20 Jahren sein werde. Ihr<br />

auch? Dann schnell auf https://www.futureme.org/ mit euch. Bei Futureme.<br />

org könnt ihr eurem zukünftigen Ich eine E-Mail schreiben - und zwar bis ins<br />

Jahr 2070. Natürlich muss der Inhalt nicht auf die Karriere bezogen sein.<br />

Vermutungen aufstellen und irgendwann nachsehen, ob ihr auf der richtigen<br />

Spur wart, könnte trotzdem lustig sein. Ich wäre, was meinen jetzigen Job<br />

betrifft, auf alle Fälle falsch gelegen - keine Archäologin, kein Superstar und<br />

keine H&M-Verkäuferin. Probiert es aus!<br />

TODOIST: AUS CHAOS WIRD ORDNUNG<br />

Willkommen zurück in der<br />

Schule / auf dem Campus!<br />

Als chaotischer Mensch<br />

hat mich nur eines davor<br />

bewahrt, in den ersten<br />

Wochen aufgrund von zu viel<br />

Input nicht durchzudrehen:<br />

Ordnung schaffen! Dafür<br />

benutze ich seit Jahren die<br />

App Todoist. Statt Chaos<br />

im Hirn kann man sich hier<br />

blitzschnell eine To-do-<br />

Liste mit Aufgabennamen,<br />

inklusive Datum und Uhrzeit,<br />

schreiben. Nach Erfüllung<br />

einer jeden Aufgabe kann<br />

diese mit genau einer<br />

Berührung wieder gelöscht<br />

werden.<br />

© Zoe Opratko, pixabay.com/jarmoluk, pixabay.com<br />

46 / KARRIERE /


Worauf muss ich im<br />

sterilen OP-Bereich achten<br />

Die Antwort gibt das Pflegestudium<br />

Bachelor of Science in Health Studies<br />

an der FH Campus Wien.<br />

#WissenSchafftPflege<br />

Jetzt informieren auf fh-campuswien.ac.at<br />

Monatliche Online-Infosessions!


WOHNEN IN WIEN:<br />

ABER WIE?<br />

Herbst heißt für viele Studienbeginn<br />

und der Studienbeginn<br />

heißt für viele angehende<br />

Studierende vor allem eines:<br />

Endlich raus aus dem Elternhaus!<br />

Worauf du vor, während<br />

und nach deiner Wohnungssuche<br />

achten solltest, erfährst<br />

du hier.<br />

Von Mathias Psilinakis, Foto: Zoe Opratko<br />

48 / MIT SCHARF /


WO ANFANGEN?<br />

In einer Stadt mit <strong>23</strong> Bezirken, dutzenden Wohnheimen und<br />

tausenden WG-Anzeigen ist es oft nicht leicht, den Überblick<br />

zu behalten. Diese Websites eignen sich besonders,<br />

um WG-Zimmer und Wohnungen in Wien zu finden:<br />

UMMELDEN: ABER WIE?<br />

Sobald du in deine neue Wohnung eingezogen bist, musst<br />

du diese als deinen neuen Wohnsitz anmelden.<br />

Das kannst du sowohl online als auch<br />

persönlich an verschiedenen Stellen in Wien<br />

machen. Weitere Infos sowie das Meldeformular<br />

zum Ausfüllen findest du hier:<br />

WG-Gesucht Willhaben Immo-Scout 24<br />

AB INS WOHNHEIM!<br />

Falls du eine kostengünstigere Option suchst<br />

und Lust auf neue Bekanntschaften hast,<br />

ist vielleicht ein Wohnheim das Richtige<br />

für dich. Einen Überblick über das Angebot<br />

findest du hier:<br />

ORDNUNG IM BEGRIFFSCHAOS<br />

Ein paar Begriffe, die du unbedingt kennen solltest:<br />

Kalt- und Warmmiete: Während die Kaltmiete (oder<br />

Nettomiete) nur die eigentliche Miete umfasst, sind bei der<br />

Warmmiete (oder Bruttomiete) auch die Betriebskosten<br />

mit einbegriffen – die Warmmiete ist also deutlich höher.<br />

Achtung: Auch in der Warmmiete sind nicht alle Kosten<br />

enthalten!<br />

Befristet und unbefristet: Nicht alle Wohnungen und<br />

WG-Zimmer sind unbefristet zu haben. Befristet bedeutet,<br />

dass du nur für eine gewisse Zeit in einer Wohnung oder<br />

einem Zimmer bleiben darfst. Ein besonderer Fall einer<br />

befristeten Miete ist die Zwischenmiete: Hier übernimmst<br />

du nur zwischenzeitlich das WG-Zimmer einer anderen<br />

Person, zum Beispiel während sie ein Auslandssemester<br />

macht.<br />

Kaution: Bevor du einziehst, wirst du meist aufgefordert<br />

werden, einen Geldbetrag (oft drei Bruttomonatsmieten) zu<br />

hinterlegen. Die Kaution dient als Absicherung für den/die<br />

Vermieter:in, falls du während deines Aufenthalts Schäden<br />

am Zimmer oder der Wohnung verursachst. Im Normalfall<br />

solltest du diese jedoch nach deinem Auszug zurückbekommen.<br />

Ablöse: Vor allem in bereits bestehenden WGs gibt es oft<br />

die Möglichkeit, deinen Vormieter:innen ihre Möbel „abzukaufen“.<br />

Die Ablöse bezieht sich auf den Geldbetrag, den<br />

du (einmalig) dafür zahlen musst. Die Ablöse beruht auf der<br />

Preiseinschätzung der Besitzer:innen und ist deshalb meist<br />

verhandelbar.<br />

Mietpreisdeckel: Ein Mietpreisdeckel ist eine politische<br />

Maßnahme, die darauf abzielt, den steigenden Mieten entgegenzuwirken.<br />

Die Regierung hat kürzlich verkündet, die<br />

Mietpreiserhöhungen bei den meisten Mieten ab 2024 auf<br />

maximal 5% pro Jahr zu deckeln.<br />

VERTRÄGE, VERTRÄGE UND NOCH<br />

MEHR VERTRÄGE!<br />

Hier die wichtigsten Verträge, die du vor deinem Einzug<br />

unterschrieben haben solltest:<br />

➞ Mietvertrag<br />

➞ Strom<br />

➞ Gas<br />

➞ Haushaltsversicherung<br />

➞ WLAN<br />

Achtung: Unterschreibe nie einen Vertrag, ohne ihn einer<br />

erfahrenen Person zur Durchsicht gegeben zu haben – das<br />

kann sonst übel enden!<br />

APP-TIPP: SPLITWISE<br />

Um die gemeinsamen Kosten, die in einer Wohngemeinschaft<br />

entstehen, fair aufzuteilen und Streitereien zu<br />

vermeiden, eignet sich diese App perfekt.<br />

Einfach gemeinsame Ausgaben wie Klopapier<br />

und Spülmittel eintragen und die App zeigt<br />

allen Mitbewohner:innen an, welche Schulden<br />

noch zu begleichen sind.<br />

GELD SPAREN BEIM UMZUG<br />

Ausziehen auf billig? Diese Tipps helfen dir dabei, in deinem<br />

neuen Zuhause Geld zu sparen:<br />

Tipp 1: Gebrauchte Möbel kaufen!<br />

Auf Flohmärkten und Websites wie Willhaben findest du<br />

tolle Einrichtungsgegenstände und das oft für wenig Geld!<br />

Tipp 2: Lebensmittel retten!<br />

Um sowohl deiner Geldtasche als auch deinem Gewissen<br />

etwas Gutes zu tun, probier doch mal To Good To Go! Auf<br />

dieser App kannst du nicht nur Lebensmittel retten, die<br />

sonst weggeworfen werden, du sparst auch viel Geld!<br />

Tipp 3: Gemeinsam kochen!<br />

Gemeinsames Einkaufen und Kochen macht nicht nur Spaß,<br />

man spart dabei auch viel Geld.<br />

/ MIT SCHARF / 49


KULTURA NEWS<br />

Klappe zu und Vorhang auf!<br />

Von Nada El-Azar-Chekh<br />

MEINUNG<br />

Einfach neugierig<br />

bleiben<br />

Ist es nicht traurig, dass es so viel<br />

gute Musik, Bücher und andere<br />

Kunst da draußen gibt, die zu<br />

entdecken sich in einem Leben<br />

niemals ausgehen wird? Manchmal<br />

überkommt mich ein leichtes<br />

Scham- oder sogar Schuldgefühl,<br />

wenn ich mir meine alte Lieblingsplaylist<br />

von 2014 durchhöre und<br />

mir dämmert, dass es womöglich<br />

unzählige Alben und Artists gibt,<br />

die mir ebenso gut gefallen könnten.<br />

Dasselbe gilt für Filme und<br />

Serien – ein ganzes Leben reicht<br />

lange nicht, um wirklich zu wissen,<br />

was einem eigentlich gefällt.<br />

Irgendwo ist man immer gefangen<br />

in seinem eigenen, ganz persönlichen<br />

Algorithmus, vor allem auf<br />

Musikstreaming-Plattformen oder<br />

YouTube – wobei zu überlegen ist,<br />

ob man selbst diesen Algorithmus<br />

füttert, oder dies doch umgekehrt<br />

abläuft? Was kann man dagegen<br />

tun, fragte ich auch ChatGPT<br />

letztens. Die Antwort darauf war<br />

so direkt, wie auch simpel: Neugierig<br />

bleiben. Das ist aber leichter<br />

gesagt, als getan – oder?<br />

el-azar@dasbiber.at<br />

ORF Lange Nacht<br />

der Museen<br />

Am 7. Oktober findet bereits zum <strong>23</strong>. Mal<br />

die ORF „Lange Nacht der Museen“ statt.<br />

Auch heuer nehmen zahlreiche Museen<br />

und Galerien daran teil und halten ihre Tore<br />

zwischen 18 Uhr bis 1 Uhr früh offen. Alle<br />

Informationen zum Veranstaltungsprogramm<br />

und<br />

sämtliche Booklets finden<br />

sich hier:<br />

https://langenacht.orf.at<br />

Theater-Tipp:<br />

Clišhé<br />

Träsh<br />

Festival<br />

Klischees können sowohl<br />

für heilsame Insider-Witze<br />

herhalten als auch Schmerz<br />

verursachen. Zum zweiten<br />

Mal wird das Clišhé Träsh<br />

Festival von Kulturen in<br />

Bewegung organisiert, bei<br />

dem Performer:innen wie<br />

Toxische Pommes, Ivo Dimchev,<br />

Faris Cuchi und Candy<br />

Licious Klischees auf kritische<br />

und humorvolle Art auf<br />

den Grund gehen. Mit dabei<br />

im Programm: „Gemma<br />

Reumann!“ – ein Kunstworkshop<br />

mit Diskussion über das<br />

Leben in Wien-Favoriten.<br />

Von 6.–7.<br />

Oktober<br />

20<strong>23</strong> im<br />

Kulturhaus<br />

Brotfabrik.<br />

EINFACH DAS ENDE DER WELT<br />

Ein erfolgreicher Autor namens Louis kehrt nach langer Abwesenheit<br />

aufs Land zurück, um Abschied von seiner Familie zu<br />

nehmen, da er weiß, dass er bald sterben wird. Unter der Oberfläche<br />

brodelt es vor falschen Erwartungen und aufgezwungenen<br />

Verpflichtungen, und das Familientreffen ist geprägt von unausgesprochenen<br />

Konflikten. Jean-Luc Lagarces autobiographisch<br />

geprägtes, und vielfach adaptiertes Stück<br />

über seine AIDS-Erkrankung wird bis <strong>23</strong>. September<br />

im Kosmos Theater aufgeführt.<br />

Alle Informationen und Spieltermine gibt es hier:<br />

© Zoe Opratko, ORF, Irene Martínez & Andrea Parra, WIENWOCHE/Kora Reichhardt<br />

50 / KULTURA /


Wienwoche<br />

Vom 15. Bis 24. September findet die diesjährige<br />

Wienwoche unter dem Motto „It’s getting cold in<br />

here“ statt. Dabei sollen nicht nur Spannungsfelder,<br />

die durch die Klimakrise verursacht werden,<br />

behandelt werden – sondern auch die Frage<br />

danach, wie sich soziale Kälte bekämpfen lässt.<br />

Das dichte Festivalprogramm bringt eine Reihe von<br />

Performances, Diskussionen, Workshops<br />

und Screenings.<br />

Alle Informationen zur Wienwoche<br />

20<strong>23</strong> gibt es hier: https://www.<br />

wienwoche.org/de/20<strong>23</strong>/home<br />

Wie läuft´s in<br />

deiner Lehre?<br />

Entgeltliche Einschaltung / © Adobe Stock<br />

Gut? Freut uns. Wenn es<br />

mal nicht so ist, melde dich.<br />

Das Lehrlingscoaching von „Lehre statt Leere“ unterstützt bei allen<br />

Fragen und Herausforderungen rund um die Lehre. Wir beraten und<br />

coachen dich ganz individuell. Kostenlos, vertraulich und österreichweit.<br />

Melde dich einfach: Info-Line 0800 220074 und www.lehre-statt-leere.at


BLACKNESS, WHITE, AND LIGHT<br />

Adam Pendleton ist<br />

einer der bekanntesten<br />

zeitgenössischen<br />

Konzeptkünstler<br />

der Welt – im<br />

Museumsquartier zeigt<br />

das mumok erstmals<br />

eine große Solo-<br />

Ausstellung in Wien.<br />

xxx<br />

Von Nada El-Azar-Chekh<br />

Die Ausstellung ist<br />

bis 7. Jänner 2024<br />

im Mumok zu sehen.<br />

Der Eintritt für<br />

Besucher*innen unter<br />

19 Jahren ist frei.<br />

Wer vor Adam Pendletons bekannter Werkserie „Black Dada“<br />

steht, scheint zunächst nur eine Reihe von schwarzen, monochromen<br />

Gemälden zu sehen, in denen einzelne Buchstaben aus dem<br />

Titel schwimmen. Doch dahinter steckt ein gekonntes Jonglieren<br />

mit dem Konzept des Dadaismus – einer Kunstströmung des 20.<br />

Jahrhunderts – und Fragen nach Rasse, Identität und Politik. Das<br />

mumok widmet dem 1984 geborenen Konzeptkünstler aus New<br />

York seine erste umfassende Einzelausstellung „Blackness, White,<br />

and Light“ auf europäischem Boden.<br />

COLLAGEN<br />

Wie wichtig Adam Pendletons Auffassung von „Black Dada“ für<br />

sein Schaffen ist, spiegelt sich auch in seinen Code Poems wider<br />

– einer Serie von Keramikskulpturen, die inspiriert von Hannah<br />

Weiners Gedichten aus ihrem gleichnamigen Buch von 1982<br />

sind. Unbedingt erleben sollte man Pendletons Videoarbeiten, in<br />

denen er den Star-Choreographen Ishmael Houston-Jones, die<br />

Bürgerrechtsaktivistin Ruby Nell Sales und den renommierten<br />

Genderstudies-Professor Jack Halberstam porträtiert. Sprache,<br />

Musik, Texte und Bewegtbild verschmelzen zu tiefgründigen und<br />

einfühlsamen Collagen, die nicht nur die individuellen Geschichten<br />

der Protagonist*innen zeigen, sondern auch einen starken gesellschaftskritischen<br />

und politischen Unterton bergen.<br />

Die Schau „Blackness, White, and Light“ erstreckt sich im<br />

mumok über zwei Ebenen. Regelmäßig finden Ausstellungsrundgänge<br />

und Führungen statt. Der Eintritt ist für alle Besucher*innen<br />

unter 19 Jahren frei.<br />

© Matthew Placek, Courtesy of the Artist, Adam Pendleton, Courtesy of the Artistw<br />

52 / KULTURA /


© 20<strong>23</strong> McDonald's. In allen teilnehmenden Restaurants in Österreich. Produkt mit Schmelzkäsezubereitung.<br />

Alle panierten Hühnerprodukte aus Hühnerfleischstücken geformt und zusammengefügt.<br />

Ausgenommen Fremdmarken.


DER QUOTEN-ALMANCI<br />

ZWISCHEN YACHTCLUBS UND<br />

GEMÜSEMÄRKTEN<br />

Von Özben Önal<br />

Sommer bedeutete schon, seit ich denken kann,<br />

meine Familie in Hatay zu besuchen. Das war<br />

früher leicht. Bis auf meinen Onkel und meinen<br />

Vater war niemand damals nach Deutschland<br />

ausgewandert; meine drei Tanten, ein Onkel und<br />

ihre Kinder blieben alle im Dorf. Das bedeutete<br />

sechs Wochen in den Ferien intensiv Zeit<br />

verbringen, gemeinsam mit allen Cousinen und<br />

Cousins, alle auf einem Fleck. Heute ist das<br />

etwas schwieriger. Mittlerweile sind die meisten<br />

weggezogen, haben geheiratet, Kinder. Das<br />

bedeutet für mich allerdings nur, dass sich der<br />

Besuch auf verschiedene Städte in<br />

der Türkei ausgeweitet hat – auch<br />

wenn ich es nicht mehr jedes Jahr<br />

schaffe. Bei den letzten Besuchen<br />

hat sich aber etwas verändert. Meine<br />

Perspektive, könnte man sagen.<br />

Während ich nach den meisten<br />

Aufenthalten bei meiner Rückreise<br />

in eine Art romantische Melancholie<br />

verfiel, verspüre ich heute Erleichterung.<br />

Das Leben der Menschen in der Türkei ist ein<br />

anderes als das, was wir Almancis wahrnehmen,<br />

schon lange, schon immer. Unsere einwöchigen<br />

Aufenthalte in Urlaubsorten wie Çeşme spiegeln<br />

nicht den reellen Alltag der Einheimischen<br />

wider – eigentlich eher das Gegenteil. Während<br />

reiche Bewohner:innen und Tourist:innen in<br />

Alaçatı Freitag abends für Spottpreise Cocktails<br />

in fancy Bars schlürfen, die sogar für deutsche<br />

und österreichische Verhältnisse lächerlich sind,<br />

stehen die Menschen in den Vororten von Izmir<br />

morgens um 7 Uhr auf, um auf dem Markt abgezähltes<br />

Obst und Gemüse zu kaufen. Abgezählt,<br />

weil die Hyperinflation einen Bund Petersilie<br />

Kolumnistin Özben<br />

Önal ist euer „Quoten-<br />

Almanci“ – ein bisschen<br />

deutsch, ein bisschen<br />

türkisch, mit ein bisschen<br />

Liebe zu Wien. In ihrer<br />

Kolumne berichtet sie<br />

über Schönes, Schwieriges<br />

und Alltägliches.<br />

mehr oder zwei extra Tomaten nicht zulässt.<br />

Eine Unterteilung in Klassen ist so präsent, dass<br />

man in einem Beach Club in Çeşme gesiezt<br />

und beim Namen genannt wird, nachdem man<br />

2500 Lira (umgerechnet ca. 80 Euro) Eintritt<br />

gezahlt hat, während einem im Ilica Halk Plaj<br />

(öffentlicher Strand in der Nähe von Çeşme), in<br />

dem lediglich 150 Lira (umgerechnet ca. 5 Euro)<br />

für Liegen gezahlt wird, in unfreundlichem Ton<br />

gesagt wird, man solle sich selber eine Karte<br />

holen, um zu bestellen. Es existiert eine fast<br />

perverse Leidenschaft für Elitarismus an Orten,<br />

wenn man nur genug dafür bezahlt.<br />

Es ist nicht das Essen, die Musik<br />

oder der schönere Strand – es ist das<br />

Erlebnis von maximalem Wohlstand<br />

und Luxus, für den man zahlt, unter<br />

vermeintlich Gleichgesinnten. Die<br />

Schere zwischen diesen zwei Welten<br />

ist so groß, dass man sie in jeglicher<br />

Form spüren kann. Und während wir,<br />

die Menschen aus Deutschland und Österreich,<br />

jedes Jahr hinfliegen, um in dieses absurde<br />

Leben einzutauchen, geht die Realität des Landes<br />

und der Menschen nahezu vollkommen an<br />

uns vorbei. Die Unterteilung zeigt sich nämlich<br />

offensichtlich auch räumlich. Wenn du dir nicht<br />

leisten kannst, in den angesagten Cafés und<br />

Bars zu trinken oder zu essen, gehst du auch<br />

nicht in eines dieser Cafés oder in eine dieser<br />

Bars – der Zutritt wird dir schon am Eingang<br />

verwehrt. Der Lieblingssatz der Almancis „Aber<br />

alle Lokale sind voll, wenn es den Menschen<br />

doch so schlecht geht, wie können die sich<br />

das dann leisten?“ macht sich also von selbst<br />

nichtig. ●<br />

© Zoe Opratko<br />

54 / MIT SCHARF /


EIN TICKET | HUNDERTE MUSEEN<br />

SA | 7. OKT | 20<strong>23</strong><br />

IN GANZ ÖSTERREICH AB 18:00 | LANGENACHT.ORF.AT


Ich hab‘ ein Händchen<br />

fürs Sparen.<br />

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