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„WEIL WIR<br />
ANDERS ALS DIE<br />
AUSSENWELT SIND“<br />
ULTRAORTHODOXES JUDENTUM IN WIEN<br />
Vom wöchentlichen Schabbat über orthodoxes<br />
Matchmaking bis hin zur eigenen Infrastruktur<br />
und einer strengen Abschottung<br />
als Reaktion auf ein kollektives Trauma: Wie<br />
leben ultraorthodoxe Jüd:innen in Wien?<br />
Einblicke in eine der aktivsten und gleichzeitig<br />
verschlossensten Communitys der Stadt.<br />
Von Aleksandra Tulej und Nada El-Azar-Chekh,<br />
Illustration: Aliaa Abou Khaddour<br />
Mit elf Jahren habe ich das erste Mal nichtkoschere<br />
Schokolade gegessen – damals<br />
hatte ich starke Schuldgefühle“, erinnert sich<br />
Mirijam * , die heute Anfang zwanzig ist, an ihre<br />
Kindheit zurück. „Dabei schmeckt sie genau gleich, aber es<br />
war so tabuisiert, dass sich das in dem Moment angefühlt<br />
hat, als hätte ich etwas Schreckliches getan.“ Mirijam ist in<br />
einem ultraorthodoxen chassidischen jüdischen Haushalt<br />
in Wien aufgewachsen, als vorletztes von insgesamt acht<br />
Geschwistern. „Das ist noch gar nichts, mein Nachbar hat<br />
sogar 18 Geschwister!“, fügt sie lachend hinzu. Mirijam<br />
spricht mit einem leicht jiddischen Akzent, trägt ein Spaghetti-Kleid<br />
und darunter ein T-Shirt, ihre braunen Haare sind zu<br />
einem schlichten Zopf gebunden. Bei unserem Treffen erzählt<br />
Mirijam viel und gerne über ihr Leben – unter der Bedingung,<br />
dass wir ihren Namen nicht nennen: In der Community kenne<br />
schließlich jeder jeden.<br />
Schätzungen der Israelitischen Kultusgemeinde zufolge<br />
sollen in ganz Österreich etwa 15.000 Menschen jüdischen<br />
Glaubens leben, manche sind praktizierender als andere, es<br />
gibt unterschiedliche Strömungen, „das eine Judentum“,<br />
gibt es also nicht. Der Chassidismus ist eine Strömung des<br />
Judentums, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden<br />
ist. Wir haben einen Eindruck der chassidischen Welt durch<br />
Netflix-Serien wie „Unorthodox“ oder „Shtisel“ gewonnen<br />
– wie akkurat sind diese Darstellungen? Und vor allem: wie<br />
sieht das Leben in dieser Gemeinschaft in Wien aus? Es ist<br />
eine geschlossene Community, in die es so gut wie keine<br />
Einblicke gibt: Man kennt die Winkel im Zweiten Bezirk, die<br />
jüdischen Supermärkte, die auffällig gekleideten Männer im<br />
schwarzen Mantel und Hut. Aber wie sieht der Alltag aus?<br />
Welche Strukturen herrschen innerhalb dieser Community?<br />
Aus Medien kennt man entweder nur oberflächliche Berichterstattung<br />
von außen oder reißerische Geschichten über<br />
Aussteiger:innen – Mirijam erzählt von innen: ehrlich, reflektiert<br />
und detailliert.<br />
KEINE SEXUALKUNDE, KEIN URKNALL,<br />
KEINE EVOLUTIONSTHEORIE<br />
„Wir wussten von klein auf, dass wir anders als die Außenwelt<br />
und irgendwie einzigartig sind, das wurde uns immer<br />
wieder eingebläut.“ Den Begriff „Außenwelt“ wählt Mirijam<br />
ganz bewusst. Diese Außenwelt liegt nicht nur mitten in<br />
Wien, sie ist überall, wo nicht nach jüdischen Regeln gelebt<br />
wird. Auch wenn man in einer kleinen, orthodoxen Community<br />
aufwächst, bekommt man auch als Kind mit, wie das<br />
Leben „außerhalb“ aussieht. Wenn Mirijam bei ihrer Familie<br />
oder in der Schule Fragen gestellt hat, warum sie dies und<br />
jenes anders machen würden als „die Anderen“, kam als<br />
Antwort: „Weil wir anders sind.“ Ihre Kindheit in Wien hat<br />
Mirijam sehr glücklich und unbeschwert in Erinnerung.<br />
Ihre Schullaufbahn begann in der Beth-Jakov-Schule,<br />
einer orthodoxen jüdischen Mädchenschule in Wien – damals<br />
war die Schule in der Malzgasse, heute befindet sich das<br />
Schulgebäude in der großen Stadtgutgasse. Die Uniform:<br />
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