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Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen ...

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Katarzyna Śliwińska<br />

Blumenberg zu sprechen) Dase<strong>in</strong>smetapher des Schiffbruchs, die <strong>in</strong> diesem Bild<br />

zitiert wird, verweist nur vor<strong>der</strong>gründig auf die Geschichte des schiffbrüchigen<br />

Odysseus’. Das antike Epos sieht im Schiffbruch die ›legitime‹ Konsequenz <strong>der</strong><br />

Seefahrt, die als Grenzverletzung verstanden wird; <strong>in</strong> neuzeitlicher Deutung ist<br />

das Risiko, Schiffbruch zu erleiden, <strong>der</strong> dem Fortschritt zu entrichtende Preis. 43<br />

Dieses semantische Potential <strong>der</strong> Schiffbruch-Metapher wird <strong>in</strong> den <strong>deutsche</strong>n<br />

›<strong>Odyssee</strong>n‹ nur selten aktualisiert: Die <strong>Irrfahrt</strong> wie <strong>der</strong> Schiffbruch s<strong>in</strong>d hier<br />

Ausdruck für die Willkür politischer und militärischer Gewalten (auch für die<br />

Willkür <strong>der</strong> neuen Grenzziehung); die Bewegung im Raum ist hier nicht nur im<br />

wörtlichen, son<strong>der</strong>n auch im existentiellen S<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>e Grenzerfahrung.<br />

In Narrationen, die ihren Fokus auf das ›Danach‹ <strong>der</strong> Katastrophe setzen,<br />

dom<strong>in</strong>ieren Bil<strong>der</strong> des Verfalls und <strong>der</strong> Zerstörung, die <strong>in</strong> unterschiedlicher<br />

Weise funktionalisiert werden. In Texten, die <strong>in</strong> ihrer jeweils erzählten Welt zugleich<br />

e<strong>in</strong> geschlossenes Wert- und Normensystem präsentieren, dienen solche<br />

Beschreibungen nicht nur <strong>der</strong> Inszenierung e<strong>in</strong>es zeitlichen und existentiellen<br />

Bruchs zwischen Vergangenheit und Gegenwart, son<strong>der</strong>n – mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

explizit – auch <strong>der</strong> Kontrastierung <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n (europäischen) ›Kultur‹ und<br />

<strong>der</strong> östlichen ›Barbarei‹. 44 Bil<strong>der</strong> brachliegen<strong>der</strong> (nicht kultivierter) Fel<strong>der</strong> und<br />

Gärten erfüllen e<strong>in</strong>e ähnliche Funktion; <strong>in</strong> weniger ideologisierter Variante markieren<br />

sie die Abwesenheit <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Bevölkerung und die Auflösung des<br />

sozialen Zugehörigkeitsraums ›Heimat‹. In ihrem Subtext wird <strong>der</strong> (von Adorno<br />

bereits dekonstruierte 45 ) Gegensatz von Natur und Geschichte aufgehoben; das<br />

Moment, <strong>in</strong> dem beide konvergieren, ist die Vergänglichkeit, die das Natürliche<br />

als e<strong>in</strong> Zeichen des Geschichtlichen erkennen lässt. In vielen Texten demonstrieren<br />

die Ru<strong>in</strong>en <strong>der</strong> ›Heimat‹ genauso wie die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Auflösung zum<strong>in</strong>dest<br />

implizite den Sieg <strong>der</strong> Natur über die menschliche (bzw. <strong>deutsche</strong>) Zivilisation. 46<br />

Schiffbrüchige, wie Gestrandete, denen verborgen war, ob es e<strong>in</strong>e Möglichkeit geben würde,<br />

neues Land zu f<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Schiff, sie zu neuen Küsten zu br<strong>in</strong>gen.“<br />

43 Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma e<strong>in</strong>er Dase<strong>in</strong>smetapher. Frankfurt/M.<br />

1997.<br />

44 S<strong>in</strong>nfällige Beispiele liefern <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e autobiographische Texte: Scholz-Gauers: Gejagtes<br />

Volk; Ruth Storm: Ich schrieb es auf. Das letzte Schreiberhauer Jahr. München 1961.<br />

45 Hierzu vgl. Theodor W. Adorno: Die Idee <strong>der</strong> Naturgeschichte. In: Philosophische Frühschriften. Hg.<br />

von Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1973.<br />

46 U. a. bei Arno Surm<strong>in</strong>ski: Jokehnen o<strong>der</strong> Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?<br />

Stuttgart 1974, S. 348. „E<strong>in</strong> Geruch von Verwesung, von faulenden Lumpen und verrottetem<br />

Bettzeug liegt über dem Dorf. Auf den Höfen wuchern Brennessel und Wegerich. Das Unkraut<br />

ist über die Pflüge und Eggen gekrochen, und <strong>in</strong> den Gärten stehen die weißen Pusteln<br />

<strong>der</strong> Butterblumen zwischen verkrauteten Spargelbeeten und giftgrünen Stachelbeeren. Auf<br />

den Treppen wächst Gras, und die Wolshagener Pflasterste<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d zwischen Wegerich und<br />

Löwenzahn nur spärlich zu erkennen. Die Natur holt sich alles wie<strong>der</strong>.“ Ähnlich bei Hugo<br />

Hartung: Gewiegt von Regen und Schnee. München 1954, S. 289 f.

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