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Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen ...

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<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Odyssee</strong>? <strong>Figurationen</strong> <strong>der</strong> <strong>Irrfahrt</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Literatur über Flucht und Vertreibung<br />

die Verfahren <strong>der</strong> oral history sowie auf die neuere historische und sozialwissenschaftliche<br />

Biografie- und Lebenslaufforschung. 6<br />

Geme<strong>in</strong>samer Fluchtpunkt dieser Konzepte ebenso wie <strong>der</strong> Volkskunde<br />

und Soziologie <strong>der</strong> frühen Nachkriegszeit ist die Frage, wie sich Menschen <strong>in</strong><br />

ihrer jeweiligen historischen Situation s<strong>in</strong>nhaft positionieren, auf welche kulturellen<br />

Codes sie zurückgreifen, um die ursprüngliche Kont<strong>in</strong>genz <strong>in</strong>dividueller<br />

Lebensgeschichten zum historischen Verlauf zu ordnen. Dieses Erkenntnis<strong>in</strong>teresse<br />

teilen die genannten Diszipl<strong>in</strong>en nicht erst seit dem l<strong>in</strong>guistic turn mit<br />

<strong>der</strong> kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft, <strong>der</strong> sie auch<br />

e<strong>in</strong>ige ihrer zur Zeit leitenden Kategorien entlehnen, allen voran den Begriff<br />

<strong>der</strong> Narration, die als e<strong>in</strong> zentraler Modus je<strong>der</strong> Wirklichkeits(re-)konstruktion<br />

betrachtet wird. 7<br />

Während sich an<strong>der</strong>e Diszipl<strong>in</strong>en vorwiegend mit faktualen Texten (bis h<strong>in</strong><br />

zu Alltagserzählungen) beschäftigen, wendet sich die Literaturwissenschaft vor<br />

allem fiktionalen Narrationen zu, die sie gleichwohl <strong>in</strong> kulturwissenschaftlicher<br />

Perspektive als Teil <strong>der</strong> übergreifenden Wirklichkeits- und Selbstdeutungsprozesse<br />

e<strong>in</strong>er Gesellschaft begreift. Insofern ist die Trennl<strong>in</strong>ie zwischen faktualem<br />

und fiktionalem Erzählen als <strong>in</strong> beide Richtungen durchlässig zu betrachten,<br />

vor allem dort, wo relevante Geschichtserfahrungen von Individuen und Kollektiven<br />

verhandelt werden. So ist auch das primär <strong>in</strong>haltlich def<strong>in</strong>ierte Genre<br />

›Literatur über Flucht und Vertreibung‹ durch Texte verschiedener Gattungen<br />

und Fiktionalitätsgrade konstituiert, die unterschiedliche Strategien <strong>der</strong> historischen<br />

Referentialisierung und Kontextualisierung des Erzählten verwenden.<br />

Neben Erlebnisberichten mit ihrem Anspruch auf primäre Zeugenschaft und<br />

autobiographischen Texten (Tagebüchern, Er<strong>in</strong>nerungen, Autobiographien), die<br />

die Erlebnisse des Kriegsendes im Kontext e<strong>in</strong>er Lebensgeschichte verorten,<br />

stehen dokumentarische und semi-dokumentarische Erzählstrategien – bis h<strong>in</strong><br />

zu den vielfältigen ›Fiktionen des Faktischen‹, die mit wachsen<strong>der</strong> historischer<br />

Distanz zunehmend aus <strong>der</strong> Position des (kulturellen) Post-Gedächtnisses entworfen<br />

werden. Das bedeutet, dass neben <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung an das Geschehene<br />

zunehmend auch die prekäre (kommunikative, mediale) Vermittlung dieser<br />

Er<strong>in</strong>nerung an die nachfolgenden Generationen ästhetisch reflektiert und ge-<br />

6 Als Übersicht vgl. Ute Daniel: Clio unter Kulturschock. Zu den aktuellen Debatten <strong>der</strong> Geschichtswissenschaft.<br />

In: „Geschichte <strong>in</strong> Wissenschaft und Unterricht“ 48 (1997), S. 195-218 und<br />

259-278; Christoph Conrad u. Mart<strong>in</strong>a Kessel (Hrsg.): Kultur & Geschichte. Neue E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e alte Beziehung. Stuttgart 1998; Mart<strong>in</strong> Kohli, Günther Robert (Hrsg.): Biographie und soziale<br />

Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven. Stuttgart 1984.<br />

7 Dazu vgl u. a. Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge e<strong>in</strong>er narrativen Psychologie<br />

historischer S<strong>in</strong>nbildung. In: Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches<br />

Bewusstse<strong>in</strong>. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Er<strong>in</strong>nerung,<br />

Geschichte, Identität I. Frankfurt/M. 1998, S. 81-169.<br />

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