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Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen ...

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<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Odyssee</strong>? <strong>Figurationen</strong> <strong>der</strong> <strong>Irrfahrt</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Literatur über Flucht und Vertreibung<br />

Gefolge – e<strong>in</strong>er fremden Bevölkerung) <strong>in</strong> den vertrauten Nahbereich des ›Heimischen‹<br />

e<strong>in</strong>bricht und ihn dadurch ›unheimlich‹ macht. Die <strong>Odyssee</strong>n, die durch<br />

die ehemals vertraute, durch Front- und Grenzverschiebung fremd gewordene<br />

›Heimat‹ führen, werden im wörtlichen S<strong>in</strong>n des Wortes als <strong>Irrfahrt</strong> <strong>in</strong>szeniert:<br />

Die Orientierung <strong>in</strong> Raum 64 und Zeit 65 versagt, die ›Ordnung‹ wird <strong>in</strong> ›Chaos‹<br />

aufgelöst, die ›Heimat‹ wird zur ›Fremde‹, die symbolisch durch Zeichen frem<strong>der</strong><br />

Gewalt (Uniformen, Fahnen) und – auf e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ebene – durch die<br />

Verweigerung <strong>der</strong> Kommunikation markiert ist.<br />

Es handelt sich hier um e<strong>in</strong>e semantisch aufgeladene topologische Ordnung<br />

im S<strong>in</strong>ne Jurij Lotmans, die durch topographische Markierungen konkretisiert<br />

wird. Die Semantisierung des Raumes zeigt sich <strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Weise <strong>in</strong> Texten,<br />

die die ›<strong>Odyssee</strong>‹ <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Flüchtl<strong>in</strong>ge symbolisch <strong>in</strong> topographischen<br />

Denom<strong>in</strong>ationen wie Nemmersdorf o<strong>der</strong> Dresden aufhebt. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ordnung<br />

<strong>der</strong> Erzählung weit mehr als nur räumliche Konkretisationen erfahrenen<br />

Leids. Vielmehr s<strong>in</strong>d sie – um mit Jörn Rüsen zu sprechen – als „narrative Abbreviaturen“,<br />

als „<strong>in</strong> Sprache e<strong>in</strong>gelagerte Geschichten“ zu begreifen, die nicht<br />

als solche erzählt, son<strong>der</strong>n als schon erzählte aufgerufen und kommunikativ<br />

verwendet werden. 66<br />

Die topische Heimkehr von e<strong>in</strong>er <strong>Irrfahrt</strong> – so Hans Blumenberg <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Arbeit am Mythos – ist „e<strong>in</strong>e Bewegung <strong>der</strong> S<strong>in</strong>nrestitution […], vorgestellt im<br />

Muster <strong>der</strong> Schließung des Kreises, die den Ordnungstenor <strong>der</strong> Welt und des<br />

Lebens gegen jeden Ansche<strong>in</strong> von Zufall und Willkür verbürgt“. 67 So auch bei<br />

Homer, dessen Odysseus am Ende se<strong>in</strong>er Abenteuer se<strong>in</strong>e Macht als Hausherr<br />

und Herrscher restituiert. Die <strong>Odyssee</strong> schil<strong>der</strong>t somit e<strong>in</strong>e geglückte soziale Re<strong>in</strong>tegration<br />

nach dem Krieg, an<strong>der</strong>s als die ebenfalls zum trojanischen Sagenkreis<br />

gehörende Heimkehr-Geschichte Agamemnons, dem Klytaimestra die Rückkehr<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e vormalige Position versagt – <strong>in</strong>dem sie ihn ermordet. 68<br />

64 Vgl. Berthold: Der große Treck, S. 58: „Woh<strong>in</strong>? Die Heimat ist e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th. […] Ortsschil<strong>der</strong><br />

s<strong>in</strong>d umgestürzt. Dörfer haben ke<strong>in</strong>e Namen mehr.“<br />

65 Vgl. Surm<strong>in</strong>ski: Jokehnen o<strong>der</strong> Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland?, S. 394 f: „›Wie<br />

spät es wohl ist?‹ fragte jemand aus dem dunklen Güterwagen. <strong>E<strong>in</strong>e</strong> törichte Frage, denn es<br />

gab <strong>in</strong> Ostpreußen ke<strong>in</strong>e Uhren mehr. Die lagen <strong>in</strong> Trümmern o<strong>der</strong> tickten an russischen<br />

Armen.“<br />

66 Jörn Rüsen: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtse<strong>in</strong>s, sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zurechtzuf<strong>in</strong>den.<br />

Köln u. a. 1994, S. 10.<br />

67 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 3. Aufl. Frankfurt/M. 1984, S. 86.<br />

68 Hierzu vgl. Ortrud Gutjahr: Der an<strong>der</strong>e Kampfplatz. Der Troianische Krieg und se<strong>in</strong>e Beziehungsmuster<br />

im Gedächtnis <strong>der</strong> Literatur. In: Waltraud ›Wara‹ Wende (Hrsg.): Krieg und Gedächtnis. E<strong>in</strong> Ausnahmezustand<br />

im Spannungsfeld politischer, literarischer und filmischer S<strong>in</strong>nkonstruktion. Würzburg 2005,<br />

S. 92-120. Im <strong>deutsche</strong>n Nachkrieg sorgte die Familien- und Sozialpolitik für die Restitution<br />

patriarchaler Machtverhältnisse; sie reagierte damit auf die Verunsicherung <strong>der</strong> tradierten<br />

Geschlechter- und Familienordnung, die während des Krieges <strong>in</strong> Bewegung geraten war.<br />

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