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Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen ...

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Gegensatzpaaren verbunden, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur über Flucht und Vertreibung <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Regel mit Wertungen e<strong>in</strong>hergehen: vertraut – fremd, warm – kalt, sauber –<br />

schmutzig, privat – öffentlich, Europa – Asien. 52 In Szenen <strong>der</strong> Vergewaltigung<br />

verb<strong>in</strong>den sich die Achsen oben – unten (Sieger und Besiegte) und <strong>in</strong>nen – außen<br />

(E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen). 53 Diese topologisch-semantischen Kontraste f<strong>in</strong>den sich im<br />

Bild des durch das ›E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen‹ Frem<strong>der</strong> ›geschändeten‹ Hauses wie<strong>der</strong>. Über<br />

die Materialität des Hauses (Bil<strong>der</strong> verlassener und verwüsteter Wohnungen,<br />

zerschossener Fenster, ausgehängter bzw. e<strong>in</strong>getretener Türen) wird die Grundstruktur<br />

<strong>der</strong> Handlung <strong>in</strong> vielen Romanen über Flucht o<strong>der</strong> Vertreibung – die<br />

(Zer-)Störung <strong>der</strong> Ordnung – <strong>in</strong> Szene gesetzt. Nicht nur Räume s<strong>in</strong>d hier semantisch<br />

aufgeladen, auch Raumbeziehungen wie Bewegungen o<strong>der</strong> Blicke – so<br />

z. B. <strong>der</strong> Blick aus dem Fenster auf die vorüberziehenden Flüchtl<strong>in</strong>gstrecks, <strong>der</strong><br />

die ›klassifikatorische Grenze‹ zwischen ›<strong>in</strong>nen‹ und ›außen‹ (›Geborgenheit‹ und<br />

›Gefahr‹) durchlässig macht.<br />

3. Die <strong>Odyssee</strong> als narrative Matrix <strong>deutsche</strong>r ›<strong>Odyssee</strong>n‹?<br />

Katarzyna Śliwińska<br />

Die homerische <strong>Odyssee</strong> folgt <strong>der</strong> klassischen Struktur des νόστος, <strong>der</strong> Heimkehr<br />

nach e<strong>in</strong>er Kette lebensbedrohlicher Abenteuer. Die narrative Matrix des<br />

überstandenen Abenteuers entstammt e<strong>in</strong>er mythischen Vorstellungswelt, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> die ›<strong>Irrfahrt</strong>‹ von e<strong>in</strong>er letztlich alles umfassenden Ordnung umgriffen<br />

ist. Manche <strong>deutsche</strong> Flucht- und Vertreibungsodysseen übernehmen diese<br />

Implikation und wenden sie <strong>in</strong>s Christlich-Stoische, 54 die meisten jedoch handeln<br />

von <strong>der</strong> Auflösung jeglicher (zum<strong>in</strong>dest: <strong>der</strong> bisherigen) Ordnung, vom<br />

Chaos und <strong>der</strong> Willkür durchaus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Immanenz <strong>der</strong> Welt (sieht man von<br />

den dämonologischen Deutungen <strong>der</strong> frühen Nachkriegszeit ab) wirken<strong>der</strong><br />

Instanzen.<br />

Die Formen, <strong>in</strong> denen die ›<strong>Irrfahrt</strong>en‹ <strong>deutsche</strong>r Flüchtl<strong>in</strong>ge und Vertriebener<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Nachkriegsliteratur erzählt werden, lassen sich mit<br />

Michail Bacht<strong>in</strong>s Konzept des Chronotopos vermitteln. Bacht<strong>in</strong> def<strong>in</strong>iert den<br />

Chronotopos als e<strong>in</strong>e ganzheitlich zu denkende ›Raumzeit‹; Raum und Zeit s<strong>in</strong>d<br />

dar<strong>in</strong> untrennbar und wechselseitig aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bezogen: „Die Merkmale <strong>der</strong><br />

Zeit offenbaren sich im Raum, und <strong>der</strong> Raum wird von <strong>der</strong> Zeit mit S<strong>in</strong>n erfüllt<br />

52 Vgl. Storm: Ich schrieb es auf, S. 63: „Die Wohnungen <strong>der</strong> Deutschen werden zum Tummelplatz<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit.“<br />

53 Vgl. Birgit Dahlke: „Frau komm!“ Vergewaltigungen 1945 – zur Geschichte e<strong>in</strong>es Diskurses. In: Birgit<br />

Dahlke, Mart<strong>in</strong>a Langermann u. Thomas Taterka (Hrsg.): LiteraturGesellschaft DDR: Kanonkämpfe<br />

und ihre Geschichte(n). Stuttgart 2000, S. 275-311, hier S. 276.<br />

54 Vgl. Ruth Storm: Das vorletzte Gericht. München 1953.

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