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Eine deutsche Odyssee? Figurationen der Irrfahrt in der deutschen ...

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<strong>E<strong>in</strong>e</strong> <strong>deutsche</strong> <strong>Odyssee</strong>? <strong>Figurationen</strong> <strong>der</strong> <strong>Irrfahrt</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>deutsche</strong>n Literatur über Flucht und Vertreibung<br />

nicht nur mit se<strong>in</strong>er Haltung im trojanischen Krieg, son<strong>der</strong>n auch auf se<strong>in</strong>er<br />

Heimfahrt nach Ithaka dem Heroismus die Substanz entzieht 22 , fügt sich, so<br />

gesehen, sehr wohl <strong>in</strong> die ›postheroische‹ Er<strong>in</strong>nerungs- und Gedenkkultur <strong>der</strong><br />

Gegenwart.<br />

Im Zusammenhang dieses Beitrags allerd<strong>in</strong>gs ist die Anschlussfähigkeit<br />

<strong>der</strong> Geschichte Odysseus’ an die ›postheroischen‹ Diskurse <strong>der</strong> Gegenwart<br />

von nachgeordnetem Interesse; im Vor<strong>der</strong>grund steht ihre Differenz zu jenen<br />

Konzepten <strong>der</strong> neueren Kulturtheorie, die das T r a u m a als die (e<strong>in</strong>zig) adäquate<br />

Form des Bezugs auf Erfahrungen extremer Gewalt begreifen. 23 Das<br />

Trauma wird bekanntlich durch das Erlebnis e<strong>in</strong>er Diskrepanz zwischen e<strong>in</strong>er<br />

bedrohlichen Situation und den <strong>in</strong>dividuellen Bewältigungsmöglichkeiten def<strong>in</strong>iert,<br />

das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe e<strong>in</strong>hergeht<br />

und e<strong>in</strong>e dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt. 24<br />

Viele Erlebnisberichte über Flucht und Vertreibung artikulieren <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat die<br />

Erfahrung <strong>der</strong> Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit, des passiven Ausgeliefertse<strong>in</strong>s<br />

an die Willkür an<strong>der</strong>er. Daneben stehen aber Erzählungen, die<br />

nicht das p a s s i v e E r l e i d e n , son<strong>der</strong>n zunächst die eigene Verschlagenheit,<br />

Kraft und Geschicklichkeit hervorheben; das eigene Überleben verdankt sich<br />

dann nicht dem Zufall o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Intervention höherer Mächte, son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> eigenen Initiative. 25 Dieses Erzählmuster f<strong>in</strong>det sich sowohl <strong>in</strong> den Kriegerzählungen<br />

<strong>der</strong> Männer wie <strong>in</strong> den Fluchterzählungen <strong>der</strong> Frauen (auch jener,<br />

die bei Kriegsende Opfer sexueller Gewalt wurden 26 ). Von den schätzungsweise<br />

4,5 Millionen Deutschen, die vor Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> offiziellen Transporte 1946 aus<br />

22 Odysseus – so Münkler im bereits zitierten Essay Odysseus und Kassandra – fällt aus dem Rahmen<br />

des herkömmlichen Heldentums, weil er sich nicht an die Spielregeln <strong>der</strong> heroischen<br />

Kriegführung hält. Er schließt sich den Achäern nur wi<strong>der</strong>willig an, versucht gar, sich vor<br />

dem Krieg zu drücken, <strong>in</strong>dem er vorgibt, geisteskrank zu se<strong>in</strong>, betreibt dann den Krieg mit<br />

allen Mitteln (auch mit solchen, die als unehrenhaft gelten), um ihn zu beenden und auf die<br />

Insel Ithaka zurückkehren zu können.<br />

23 Dazu vgl. die <strong>in</strong>zwischen kanonischen Thesen W. G. Sebalds mit dem Plädoyer für Wir- Wirkungsstrategien,<br />

die auf e<strong>in</strong>e affektive Wie<strong>der</strong>herstellung des Traumas ausgerichtet s<strong>in</strong>d. Vgl.<br />

W<strong>in</strong>fried Georg Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit e<strong>in</strong>em Essay zu Alfred An<strong>der</strong>sch. München,<br />

Wien 1999, S. 34 f. Zur kulturwissenschaftlichen Re<strong>in</strong>terpretation des Traumabegriffs vgl.<br />

Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle u. Sigrid Weigel (Hrsg.): Trauma – Zwischen Psychoanalyse und<br />

kulturellem Deutungsmuster. Köln 1999.<br />

24 Vgl. Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch <strong>der</strong> Psychotraumatologie. 4. Aufl. München 2009,<br />

S. 84.<br />

25 Vgl. Lehmann: Im Fremden ungewollt zuhaus, S. 206 f.<br />

26 Die Analyse zeitgenössischer Quellen zeigt, dass sich die betroffenen Frauen durchaus auch<br />

als handelnde Subjekte sahen; die <strong>in</strong>dividuelle Traumatisierung durch das Erleben sexueller<br />

Gewalt wurde <strong>in</strong> ihren Folgen erst Jahrzehnte später thematisiert. Dazu vgl. Reg<strong>in</strong>a Mühlhauser:<br />

Vergewaltigungen <strong>in</strong> Deutschland 1945. Natio naler Opferdiskurs und <strong>in</strong>dividuelles Er<strong>in</strong>nern betroffener<br />

Frauen. In: Klaus Naumann (Hrsg.): Nachkrieg <strong>in</strong> Deutschland. Hamburg 2001, S. 384-408.<br />

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