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STARK!STROM #27

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Schwarz!Strom Zeitstrom ewig junge meisterwerke

Klangkultur für Hörer.

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GERALD CLAYTON

„Bells On Sand“ (Blue Note/Universal)

Die Neigungsgruppe zur Spontanerkennung

musikalischer Inhalte anhand des Coverdesigns

dürfte hier grandios scheitern. Das Interpretationsspektrum

wird in jenem Fall zwischen Eckpunkten

wie Trance und Artrock pendeln - tatsächlich ertönt

poetischer, introspektiver zeitgemäßer Jazz, basierend

auf grazil-swingender Ästhetik. Pianist Gerald

Clayton formt melancholische Unaufgeregtheit,

verfeinert mit subtiler Melodik. Eine Sinnlichkeits-

Therapie.

ELEMENTO DESERTO

„La Hora Maldita“

(Mai Lei Bel/www.vinyl-music.shop)

Wer an Schwerkraftschrauben des Pragmatismus

dreht, gerät oft rasch aus der Balance. Doch Mut

zum Risiko gilt als Motor für Evolution. Elemento

Desorto fertigen jedenfalls keinen linientreuen psychedelisch

orientierten Wüstenrock, sondern eine

unorthodoxe Mixtur, offen nach vielen Seiten. Eine

gekonnt kantige, spannende Exkursion auf weißem

Vinyl mit raffinierter Hüllengestaltung. Dieses

Deserto könnte noch zu einer Hauptmahlzeit

avancieren.

FENNYMORE

„Bad Relations“

(hs productions/www.vinyl-music.shop)

Es war eine Dürreperiode für Kräfte der

Beharrung. Denn die Szene investierte in

eine wirksame Entwicklungshilfe zugunsten

des Höhenflugs progressiver

Rockkultur. Fennymore, 1976 in

Tirol gegründet, setzten ebenso

auf stilistische Fortbewegung.

Ihre 1980 entstandene und jetzt veröffentlichte

Platte liefert eigenwillige, eigenständige und

energiegeladene Klänge auf einer LP, die in jeder

Faser authentisches Retroflair ausstrahlt. Für alle

Perlentaucher.

KAIPA

„Urskog“ (InsideOut Music/Sony)

Sollte sich dieser Tag so anfühlen, als ob du mit

löchrigen Schuhen in einer kalten Regenpfütze

stehst, dann ist jene Tonvorlage deine Ausstiegsluke.

Kaipa bestätigen sich mit jener Doppel-LP als

Experten für Feelgood-Prog, der mit eleganter

Leichtigkeit positive Atmosphäre versprüht. Eine

stimmige Feinmechanik der Emotionen bildet die

Basis für epische Songs im Breitwandformat. Gute

Pressqualität, eine grüne Auflage und alle Schuhe

sind wieder trocken.

PATTERN-SEEKING ANIMALS

„Only Passing Through“(InsideOut

Music/Sony)

Die Fakultät für zoologische Erkenntnistheorie

vermittelt neues Wissen. Tiere suchen nicht

nur Gesellschaft oder Futter, sondern gleichfalls

Muster und Strukturen. Pattern-Seeking

Animals, Aufsteiger in der Liga für bekömmlichen

Ohrwurm-Prog, liefern weiteres reichhaltiges

Seelenfutter. Ein latent verspieltes Epos mit starken

Kompositionen und filigranen Arrangements,

bestens geeignet für ein überaus sorgsam hergestelltes

Doppel-Album.

Nicht verpassen.

Vinyl only

by Christian Prenger

PRIMAL FEAR

„Primal Fear“ (Atomic Fire/Warner)

Erstbegegnungszonen sind dynamische

Räumlichkeiten. Die Akzeptanz-Optionen pendeln

zwischen Applaus und Ablehnung, zwischen

Andocken und Abschalten. Primal Fear

haben mit ihrem erstklassigen Debut nachhaltige

Verbindungen zur Community etabliert.

Das höchst vitale Power Metal-Highlíght ohne

Trendstoff-Emission erscheint nun als Deluxe

Edition. Drei Bonustracks und drei Farben

veredeln ein feines Sammlerobjekt mit Primal-

Prädikat.

SLAEGT

„Goddess“ (Century Media/Sony)

Jene Göttin positioniert sich als Antithese zu allen

digitalen Abschleifmaschinen, die Produktionen

heute in sterile Gleichklangschablonen pressen.

Slaegt forcieren Black Heavy Metal mit erfreulich

rauem Undergroundsound und Old School-

Charisma, zusätzlich ein gutes Stück entfernt von

Genre-Dogmen. Jene kompetente und vielseitige

Scheibe, erhältlich in Schwarz, Rot, Silber sowie

Gold, verwendet Energie statt elektronische

Studio-Tarnpolitur.

Special:

Komplexitätskonstruktion

Das Tor zum Universum von Tool öffnet sich nicht durch Eingabe gängiger

Mainstream-Codes. Wer Zugang finden will, muss den Genre-Limitierungssperrbalken

entriegeln zum Empfang innovativer Signale. Jene Konstrukteure von progressivalternativen

Metalmonumenten haben mit dem aktuellen Werk „Fear Inoculum“

ihre nächste Komplexitäts-Dimension erreicht. Der Beleg wartet in jener aufwendigen

Ultra-Deluxe-Auflage, bestehend aus fünf 180 Gramm Single Sided Schallplatten.

Extravagant? Anders? Tool.

Der Beitrag bestand aus Interview-

Fetzen mit Rob Halford, dazu wurden

kurze, aber prägnante Stellen aus dem

Album gespielt, etwa der Refrain des

göttlichen Titelsongs oder der mächtige

Beginn von „All Guns Blazing“, ihr wisst

schon, „Twisting the strangle grip won't

give no mercy (mercy!)“… und das war´s,

danke, der 16-jährige Andi Appel drehte

durch. Selbstverständlich wurde das

Ganze auf Kassette aufgenommen und

tausendmal vor- und zurückgespielt:

„Twisting…“, Rewind, „Twisting…“.

Priest-Fan war ich sowieso schon länger,

und diese neue Platte (Vinyl sagte

damals kein Mensch, warum auch, man

sagt auch nicht Holz, wenn man sich auf

einen Sessel setzt) musste ich haben,

und zwar sofort. Blöderweise gab´s in

meinem 150-Seelen-Heimatdorf keinen

Plattenladen, auch nicht im näheren

oder weiteren Umfeld, weswegen meine

Freunde und ich immer nach Wien

ins Heavy Records fuhren, dem Quasi-

Vorläufer des Why Not, dem besten

Geschäft aller Zeiten. Leider konnte

ich an diesem bzw. dem nächsten Tag

nicht nach Wien fahren, weil irgendwas

in Schule anstand, ich besuchte grad –

mehr oder weniger regelmäßig – die

dritte Klasse Handelsschule, außerdem

war wieder mal die Kohle knapp.

Und wenn du „ins Heavy“ fährst, um

dir „Painkiller“ zu kaufen, dann gehst

du mit fünf weiteren LPs, drei Patches

und zwei T-Shirts raus, und weiter zum

Rocktiger, in den Army Shop und, ähm,

zu McDonalds, wir hatten sowas ja nicht

am Land.

Also rief ich einfach im Heavy Records

an, um mir das Teil mit der Post schicken

zu lassen. „Ist grad aus, sollte aber

am Montag wieder da sein“, wurde mir

gesagt und das folgende Wochenende

überlebte ich nur mit viel Alkohol. Was

jetzt aber keinen großen Unterschied

zu allen anderen Wochenenden damals

ausmachte. Am Montag hatte

ich offiziell früher Schulschluss, weil

ein Lehrer krank war, um zu Mittag,

wenn üblicherweise der Herr Postler

seine Runde bei uns drehte, zuhause

zu sein. Tatsächlich war ich klarerweise

gar nicht in der Schule, sondern

JUDAS PRIEST

Painkiller (1990)

Erstmals aufmerksam wurde ich auf diese Platte, heute kaum vorstellbar, auf Ö3. Es gab jeden Abend den „Treffpunkt

Ö3“, dank welchem auch Dominic Heinzl samt seiner „Kuschelecke“ traurige Berühmtheit erlangte. Kurz, aber doch

stellte zudem ein gewisser Harald Huto – Grüß Sie! – News aus dem Heavy Sektor vor, unter anderem „Painkiller“.

im Kaffeehaus, danach fuhr ich mit

der Puch Cobra in den Wald, um am

Discman Musik zu hören und ein halbes

Packerl Marlboro zu rauchen. Wieder

daheim traf ich unseren Briefträger, der

aber komischerweise keine Lieferung

für mich hatte: „Wenn´sas am Montag

wegschicken, wirst du´s frühestens am

Dienstag bekommen“. Klang logisch,

stellte dennoch kein Argument für einen

des rationellen Denkens aktuell

nicht mächtigen Metal Freak dar.

Als die Platte am Dienstag trotzdem

nicht dabei war, rief ich natürlich umgehend

im Heavy an. „Wir haben sie

erst heute bekommen, geht aber sofort

raus“. „Wird gut sein, sonst scheppert´s,

verdammt nochmal!“, sag… dachte ich

und antwortete „Super, vielen Dank,

auf Wiederhören“. Das Spiel wiederholte

sich mittwochs, weswegen ich am

Donnerstag überhaupt gleich zuhause

blieb, weil jetzt müsste das verdammte

Packl ja wohl dabei sein. So lümmelte

mein 16-jähriges Ich abwechselnd in

meinem Zimmer, in der Küche oder

am Klo herum, konnte sich nicht einmal

beim „Ganze Woche“-Lesen auf

den Text konzentrieren, aber unser

Postler, der mittlerweile leider verstorbene

Peppi, kam und kam nicht daher.

Ergo schwang ich mich aufs Fahrrad

und suchte unsere Durchzugstrasse,

die Hauptstrasse, links hintaus und

rechts hintaus, mehr gibt´s nimma,

nach dem Josef ab, ohne Erfolg, also:

Wirtshaus!

Dort gabs noch die klassischen „Runden“,

wo die Mittagspause haltenden

Straßenarbeiter mit den Landwirten,

dem LKW-Fahrer, dem Postler, dem

Milchmann, dem Kieberer oder den

Leuten, die auch offiziell nix hackelten,

gemütlich Bauernschnapsten

und dabei zwei, drei, vier Achterl konsumierten,

bevor sie mit dem Trinken

anfingen, und wenn die Mittagspause

zwei Stunden länger dauerte, dann dauerte

sie halt zwei Stunden länger, who

fuckin´ cares? Ganz ehrlich und ohne

jede Ironie: Ich vermisse diese Zeit, diese

Unbeschwertheit. Dass sie anschließend

noch Moped, Auto, Traktor oder LKW fuhren,

ist freilich eine andere Geschichte.

An(d)yway, der Herr Peppi hatte wieder

keinen Longplayer für mich dabei,

demzufolge knallte ich mir ein Frust-

Seiterl rein, und ein zweites, this is the

Painkiller!

To make a unnötig long story short: Am

Freitag kam er, der Schmerztöter. Ich

wartete vor dem Haus auf den Pepsch,

und er winkte schon von Weitem mit

dem Karton, mit dem ich nun glückselig

die Straße hinauf heimtänzelte,

sodass die Nachbarn wohl einmal mehr

kurz davor waren, die Rettung oder die

Gendarmerie (hier versteckt sich übrigens

das Wort „Darm“, ist mir grad aufgefallen)

zu rufen. Ehrfürchtig wurde

das Cover Artwork bestaunt, bist du

deppat, dann die Scheibe, das schwarze

Gold, herausgezogen, mit aller gebotenen

Vorsicht auf unseren Plattenspieler

gelegt, die Nadel gesenkt, einmal noch

durchgeatmet, und dann setzt Scott

Travis ein. Der Rest ist Geschichte.

Klein Andi hüpfte wie verrückt durchs

Wohnzimmer, sprang vom Sofa auf den

Tisch und wieder zurück, schüttelte die

Rübe, schwang die Eiserne Faust und

nach dem letzten Ton des finalen „One

Shot At Glory“ herrschte eine fast schon

andächtige Stille.

An diesem Freitag schien die Sonne

stärker denn je auf das nördliche

Weinviertel. Die Uhr hielt ihre Zeiger

an, wie einen guten Freund: bleib doch

noch hier, und mit Tränen der Freude

drehte ich die Platte wieder und wieder

um. „Twisting the strangle grip won't

give no mercy (mercy!)“…

Danke Heavy Records. Danke Peppi.

Danke Judas Priest!

Andi

PS: Später am Tag läutete das Telefon,

aber ich konnte nicht abheben, ich

hörte „Painkiller“. Also ging mein Papa

ran, der grad von der Arbeit heimkam.

Beim Abendessen fragte er mich, wie´s

denn heute in der Schule war und ich

erzählte irgendwelchen Blödsinn.

„Interessant“, meinte er, „da hat mir euer

Klassenvorstand vorhin am Telefon aber

was anderes erzählt…“.

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