04.07.2022 Aufrufe

Jan Mathis | Gerald Kretzschmar (Hrsg.): versprochen (Leseprobe)

Die liturgische Sprache jenseits der Predigt ist bislang kaum Thema des praktisch-theologischen Diskurses. Zur Beseitigung dieses Desiderats haben die Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) und das Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg) eine empirische »Tiefenbohrung« unternommen: Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen nicht-theologischen Kontexten haben die liturgische Sprache eines unter realen Bedingungen gefeierten agendarischen Gottesdienstes präzise in den Blick genommen. Eine Reihe praktischer Theologinnen und Theologen hat diese Wahrnehmungen anschließend daraufhin befragt, was sie in Bezug auf die Sprache der Liturgie weiter zu denken geben können. Aus interdisziplinärer Perspektive werden somit gleichermaßen grundständige und innovative Impulse für das Nachdenken über die liturgische Sprache präsentiert.

Die liturgische Sprache jenseits der Predigt ist bislang kaum Thema des praktisch-theologischen Diskurses. Zur Beseitigung dieses Desiderats haben die Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) und das Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg) eine empirische »Tiefenbohrung« unternommen: Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen nicht-theologischen Kontexten haben die liturgische Sprache eines unter realen Bedingungen gefeierten agendarischen Gottesdienstes präzise in den Blick genommen. Eine Reihe praktischer Theologinnen und Theologen hat diese Wahrnehmungen anschließend daraufhin befragt, was sie in Bezug auf die Sprache der Liturgie weiter zu denken geben können. Aus interdisziplinärer Perspektive werden somit gleichermaßen grundständige und innovative Impulse für das Nachdenken über die liturgische Sprache präsentiert.

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Christian Metz<br />

Die distractio von Aufmerksamkeit und Geisteskraft wird<br />

nicht nur gezielt inszeniert. Sie wird vielmehr ihrerseits mit<br />

der göttlichen Unbegreiflichkeit metaphorisiert. Als so unbegreiflich<br />

wie Gott erweist sich auch der Auftritt des Pfarrers<br />

auf der Bühne seines liturgischen Spielstücks. Die Überfülle,<br />

die unsere menschliche Wahrnehmung gezielt überfordert,<br />

erzeugt eine Form von Offenbarungserlebnis. Sie macht in<br />

der Gemeinschaft eine göttliche Sphäre spürbar. In Folge<br />

kann man sagen: Die liturgische Sprache setzt – wie etwa<br />

auch um 1900 die Avantgarde der Moderne – in erster Linie<br />

auf die sinnliche Wahrnehmung und Erregung ihrer Zuhörergemeinde.<br />

Nachgeordnet ist dieser Spürbarkeit der Zeichen<br />

das Verstehen des Gesagten. Das gilt zumal, weil sie<br />

mit ihrer Sprache gezielt die mögliche Fokussierung durch<br />

Verstandestätigkeit übersteigt. Indem die liturgische Sprache<br />

aber das Sinnliche über das Verstehen des gesprochenen<br />

Wortes priorisiert, um im ständigen Wechsel dann doch auf<br />

die wörtliche Bedeutung des Gotteswortes zu verweisen,<br />

partizipiert sie an einer Ästhetik der Unschärfe: Fokussiert<br />

sie die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer (im Sinne einer theologischen<br />

Hermeneutik) auf die Kunst des Verstehens, gerät<br />

die Spürbarkeit aus dem Blick. Rückt sie nur einen Augenblick<br />

später die Spürbarkeit in den Vordergrund, verliert sich<br />

die Bedeutung in Unschärfe. Mit dieser kalkuliert eingesetzten<br />

Unschärfe transportiert und bewahrt sie zugleich das<br />

Geheimnis des Glaubenswortes und inszeniert so das Unfassbare<br />

der göttlichen Botschaft. (Von einem Wechselspiel<br />

von mysterium tremendum und fascinosum ließe sich in<br />

Nachfolge von Rudolf Otto sprechen.) Man könnte – überspitzt<br />

– sagen: Die liturgische Sprache muss unverständlich<br />

bleiben, damit sie unverfügbar bleibt und somit erst über<br />

ihre Melodie, ihren Rhythmus und ihren Klang eine numinose<br />

Wirkung entfalten kann. Während des Gottesdienstes<br />

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