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Jan Mathis | Gerald Kretzschmar (Hrsg.): versprochen (Leseprobe)

Die liturgische Sprache jenseits der Predigt ist bislang kaum Thema des praktisch-theologischen Diskurses. Zur Beseitigung dieses Desiderats haben die Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) und das Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg) eine empirische »Tiefenbohrung« unternommen: Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen nicht-theologischen Kontexten haben die liturgische Sprache eines unter realen Bedingungen gefeierten agendarischen Gottesdienstes präzise in den Blick genommen. Eine Reihe praktischer Theologinnen und Theologen hat diese Wahrnehmungen anschließend daraufhin befragt, was sie in Bezug auf die Sprache der Liturgie weiter zu denken geben können. Aus interdisziplinärer Perspektive werden somit gleichermaßen grundständige und innovative Impulse für das Nachdenken über die liturgische Sprache präsentiert.

Die liturgische Sprache jenseits der Predigt ist bislang kaum Thema des praktisch-theologischen Diskurses. Zur Beseitigung dieses Desiderats haben die Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) und das Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg) eine empirische »Tiefenbohrung« unternommen: Vertreterinnen und Vertreter aus unterschiedlichen nicht-theologischen Kontexten haben die liturgische Sprache eines unter realen Bedingungen gefeierten agendarischen Gottesdienstes präzise in den Blick genommen. Eine Reihe praktischer Theologinnen und Theologen hat diese Wahrnehmungen anschließend daraufhin befragt, was sie in Bezug auf die Sprache der Liturgie weiter zu denken geben können. Aus interdisziplinärer Perspektive werden somit gleichermaßen grundständige und innovative Impulse für das Nachdenken über die liturgische Sprache präsentiert.

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<strong>Jan</strong> <strong>Mathis</strong> | <strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>versprochen</strong><br />

Interdisziplinäre Zugänge zur<br />

liturgischen Sprache<br />

Zentrum für evangelische<br />

Gottesdienst- und Predigtkultur


Vorwort<br />

Jeder Gottesdienst ist ein Versprechen. Zuallererst und<br />

grundlegend in dem Sinne, dass jeder Gottesdienst das<br />

große Versprechen laut werden lässt, Gott, »die Quelle des<br />

Lebens« (Ps 36,10), »der Freund des Lebens« (SapSal 11,26),<br />

kurz »der Gott des Lebens« (vgl. Joh 11,25; 14,6) werde das<br />

Werk seiner Hände nicht fahren lassen (vgl. Ps 138,8b), hat er<br />

doch »kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern dass der<br />

Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe« (Hes 33,11). Ja:<br />

Gott »führt es herrlich hinaus« (Jes 28,29). In einem Gottesdienst,<br />

der diesen Namen verdient, wird diese Verheißung<br />

des Evangeliums laut. In diesem Sinne ist hoffentlich jeder<br />

Gottesdienst: ein Versprechen.<br />

Zugleich ver-spricht jeder Gottesdienst beide: den dreieinigen<br />

Gott und den Menschen. »Subiectum Theologiae<br />

homo reus et perditus et deus iustificans vel salvator« – »Das<br />

Thema der Theologie ist der schuldige und verlorene Mensch<br />

und der rechtfertigende Gott oder Retter«, bemerkt Martin<br />

Luther in seiner Auslegung von Psalm 51 (WA 40/II, 328,1 f.).<br />

Und man wird durchaus sagen dürfen, dass damit auch das<br />

subiectum, der Gegenstand des Gottesdienstes zutreffend<br />

bestimmt ist. Das Sprachgeschehen des evangelisch verstandenen<br />

Gottesdienstes bezieht beide, den verlorenen Menschen<br />

und den rettenden Gott, aufeinander. Es spricht vom<br />

Menschen, indem es von Gott spricht, und spricht von Gott,<br />

indem es vom Menschen spricht: ver-spricht sie.<br />

Und schließlich kann ein Gottesdienst auch dies: sich versprechen.<br />

Also mit dem, was in ihm gesagt und getan wird –<br />

5


Vo r w o r t<br />

lässt sich das trennen? – in der Weise fehlgehen, dass es ihm<br />

eben nicht gelingt, »durch Predigt und Sakrament die Botschaft<br />

von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles<br />

Volk« (Barmer Theologische Erklärung, These 6). Nicht zwingend<br />

lässt ein Gottesdienst jenes große Versprechen Gottes<br />

laut werden, nicht zwingend kommt es in der Sprache des<br />

Gottesdienstes zu dem heilvollen Ver-sprechen von Gott und<br />

Mensch; leider auch das …<br />

Dieser Band befasst sich mit der liturgischen Sprache: in<br />

erster Linie mit den explizit verbalen, aber auch mit den verschiedenen<br />

Formen nonverbaler Kommunikation im Gottesdienst.<br />

So klar es im theologischen Sinne sein mag, was in<br />

Gottesdiensten gesprochen oder auch <strong>versprochen</strong> werden<br />

sollte, so wenig wird dieses Sprechen, von der Predigt einmal<br />

abgesehen, praktisch-theologisch reflektiert. Doch eine<br />

solche Reflexion ist wichtig. Über die bereits in diesem Vorwort<br />

anklingenden Motive hinaus informiert die Einleitung<br />

zu diesem Band eingehend sowohl über weitere Gründe, die<br />

die praktisch-theologische Reflexion der liturgischen Sprache<br />

geboten scheinen lassen, als auch über den bisherigen<br />

Stand der Forschung zu diesem Thema.<br />

An dieser Stelle nur schon einmal so viel: Sowohl der<br />

Stand der Forschung als auch die grundsätzliche und herausragende<br />

Bedeutung, die dem Aspekt der liturgischen<br />

Sprache im Zusammenhang mit der öffentlichen und gesellschaftlichen<br />

Wahrnehmung von Kirche zukommt, haben die<br />

Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) und das Zentrum<br />

für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg)<br />

dazu veranlasst, sich in einem ganz grundständigen,<br />

empirischen Sinn mit dem Phänomen der liturgischen Sprache<br />

zu befassen. Verkürzt gesagt, wurden Vertreterinnen<br />

und Vertreter aus unterschiedlichen nicht-theologischen<br />

Kontexten gebeten, die liturgische Sprache eines unter<br />

6


Vorwort<br />

realen Bedingungen gefeierten agendarischen Gottesdienstes<br />

präzise in den Blick zu nehmen. Diese Wahrnehmungen<br />

wurden dann einer Reihe praktischer Theologinnen und<br />

Theologen mit der Bitte vorgelegt, einmal zu schauen, was<br />

ihnen aus dem Fundus der vorangegangenen Wahrnehmungen<br />

in Bezug auf die Sprache der Liturgie weiter zu denken<br />

geben könnte. Die Ergebnisse dieser Wahrnehmungen<br />

›erster‹ und ›zweiter‹ Ordnung präsentiert der vorliegende<br />

Band. Sein Ziel hätte der vorliegende Band erreicht, wenn er<br />

in Bezug auf die menschlichen Aspekte des gottesdienstlichen<br />

Versprechens Anstöße und Anregungen dazu gibt, wie<br />

das gottesdienstliche Versprechen immer wieder aufs Neue<br />

gelingen kann.<br />

Am Ende des in diesem Band dokumentierten Forschungsprozesses<br />

gilt es, Danke zu sagen. An erster Stelle möchten<br />

wir Pfarrer Dr. Johannes Block danken. Er leitete den am<br />

12. <strong>Jan</strong>uar 2020 in der Wittenberger Stadtkirche gefeierten<br />

Gottesdienst, auf den sich alle in diesem Band präsentierten<br />

Beobachtungen und Reflexionen beziehen. Die Bereitschaft,<br />

den eigenen Gottesdienst und damit auch sich selbst im<br />

Rahmen unseres Projektes beobachten sowie diese Beobachtungen<br />

schriftlich dokumentieren und weiter reflektieren zu<br />

lassen, ist alles andere als selbstverständlich und verdient<br />

größten Respekt! Inzwischen hat Dr. Block seinen Dienst an<br />

der Hauptkirche der lutherischen Reformation beendet und<br />

zum November 2021 den Dienst am Fraumünster zu Zürich,<br />

der Hauptkirche der refomierten Reformation, aufgenommen:<br />

Wir wünschen ihm von Herzen Gottes Segen!<br />

Sehr dankbar sind wir auch allen anderen, die Beiträge zu<br />

unserem Projekt und zu diesem Band geleistet haben, den<br />

Vertreterinnen und Vertretern aus unterschiedlichen nichttheologischen<br />

Kontexten wie den praktischen Theologinnen<br />

und Theologen.<br />

7


Vo r w o r t<br />

Erstere haben sich nicht nur auf eine durchaus ungewöhnliche<br />

Herausforderung eingelassen, sondern auch – zumal<br />

die freiberuflich Tätigen unter ihnen – in den folgenden<br />

Monaten mit noch ganz anderen Herausforderungen zu<br />

kämpfen gehabt, ohne deshalb doch ihre Mitarbeit aufzukündigen.<br />

Namentlich danken wir Kenah Cusanit, Larissa Leonhard,<br />

Franziska Seeberg, Olaf Kramer, Samuel Lacher und<br />

Christian Metz.<br />

Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Praktischen<br />

Theologie haben sich auf die durchaus ungewöhnliche Herausforderung<br />

eingelassen, vor die wir sie mit unserer Bitte<br />

um einen Beitrag gestellt haben: Sich auf die Texte der nichttheologischen<br />

Beobachterinnen und Beobachter gründlich<br />

einlassend, sind sie auf bemerkenswerte Details gestoßen,<br />

haben übergreifende Zusammenhänge entdeckt und Perspektiven<br />

auf den beobachteten Gottesdienst und die ihm<br />

geltenden Beobachtungen entwickelt, die vielfältig zeigen,<br />

was sich der Praktischen Theologie hier im Blick auf die Sprache<br />

der Liturgie zu denken gibt. Wir danken Sonja Keller, Tanja<br />

Martin, Maike Schult, Michael Meyer-Blanck, David Plüss<br />

und Stephan Winter.<br />

Bei der Dokumentation und Transkription des Gottesdienstes<br />

in Wittenberg unterstützte uns stud. theol. Patrick<br />

Maisch. Die Arbeit des Korrekturlesens übernahmen stud.<br />

theol. Jessica Klotz und stud. theol. Lukas de Melo Bareiß.<br />

Auch ihnen danken wir herzlich.<br />

Schließlich gilt unser Dank Dr. Annette Weidhas und den<br />

Mitarbeitenden der Evangelischen Verlagsanstalt für die<br />

freundliche, unkomplizierte und sachkundige Betreuung<br />

dieser Publikation.<br />

Es gehört zu den Risiken eines an einen bestimmten Ort<br />

und eine bestimmte Zeit geknüpften Projektes, dass fest<br />

eingeplante Mitwirkende kurzfristig ausfallen. So konnten<br />

8


Vorwort<br />

drei (!) nicht-theologische Beobachterinnen und Beobachter<br />

krankheitsbedingt am 12. <strong>Jan</strong>uar 2020 nicht in die Wittenberger<br />

Stadtkirche kommen; mit ihnen sind leider Perspektiven<br />

auf den Gottesdienst verloren gegangen, die das vorliegende<br />

reiche Bild noch reicher gemacht hätten. Zugleich sind<br />

wir im Rückblick froh und erleichtert darüber, dass wir den<br />

kurzen Gedanken an eine Verschiebung des Projektes doch<br />

wieder verworfen haben: Wenige Wochen nach dem Wittenberger<br />

Gottesdienst wurde das öffentliche Leben durch den<br />

ersten Corona-Lockdown bis auf Weiteres faktisch beendet;<br />

ein Projekt, wie es hier dokumentiert ist, wäre auf Monate<br />

hinaus unmöglich gewesen.<br />

»<strong>versprochen</strong>«. Wir hoffen, mehr noch: wir sind zuversichtlich,<br />

dass die hier vorgelegten interdisziplinären Erkundungen<br />

zur liturgischen Sprache halten, was sie versprechen.<br />

Tübingen und Wittenberg im September 2021<br />

<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong> und <strong>Jan</strong> <strong>Mathis</strong><br />

9


Inhalt<br />

<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

Die liturgische Sprache als Thema für den<br />

zukünftigen Weg der Kirche<br />

Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Zu den Sachen selbst – außertheologische<br />

Wahrnehmungen der liturgischen Sprache<br />

Christian Metz<br />

Liturgische Verschwommenheit<br />

Unschärfe-Inszenierungen liturgischer Sprache . . . . . . . 51<br />

Kenah Cusanit<br />

It’s a mess, or is it not? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

Franziska Seeberg<br />

Ein liturgisches Spielstück oder<br />

Der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk . . . . . . . . . . . . 97<br />

Larissa Leonhard<br />

Liturgische Sprache als Kommunikationsprozess . . . . . .115<br />

Olaf Kramer<br />

Zwischen Vertrautheit und Befremden<br />

Zur Rhetorik der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

11


Inhalt<br />

Samuel Lacher<br />

Die Predigt im liturgischen Wechselspiel<br />

Eine homiletisch-rhetorische Predigtanalyse . . . . . . . . 165<br />

Vertrautes neu sehen –<br />

praktisch-theologische Entdeckungen und Perspektiven<br />

Michael Meyer-Blanck<br />

Liturgie und Rhetorik<br />

Anmerkungen zur Wittenberger Gottesdienstanalyse<br />

von Olaf Kramer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191<br />

Sonja Keller<br />

Distanzierte Bezogenheit<br />

Interaktion, Partizipation und liturgische Sprache . . . . 205<br />

Maike Schult<br />

Standbein sucht Spielbein<br />

Verfremdung im Gottesdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . 225<br />

Stephan Winter<br />

Sprache im Zwischenraum Gottesdienst<br />

Zu (auch katholisch geprägten) Wahrnehmungen<br />

eines innovativen Forschungsprojekts . . . . . . . . . . . . 249<br />

David Plüss<br />

Wie kommunikativ ist liturgische Sprache?<br />

Von der Textfokussierung protestantischer Theologie . . 277<br />

12


Inhalt<br />

Tanja Martin<br />

»Angesprochen«<br />

Sozialitätsaspekte liturgischer Kommunikation . . . . . . 297<br />

Dokumentation des Gottesdienstes vom 12. <strong>Jan</strong>uar 2020<br />

in der Wittenberger Stadtkirche<br />

Gottesdienst mit Abendmahl am 12. <strong>Jan</strong>uar 2020<br />

in der Stadtkirche Wittenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . 325<br />

Johannes Block<br />

Bericht zum Gottesdienst mit Abendmahl<br />

in der Stadtkirche Wittenberg am ersten Sonntag<br />

nach Epiphanias, 12. <strong>Jan</strong>uar 2020 . . . . . . . . . . . . . . . 353<br />

Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . 357<br />

13


<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

Die liturgische Sprache als Thema<br />

für den zukünftigen Weg<br />

der Kirche<br />

Eine Einleitung<br />

1. Liturgische Sprache im Schatten der Predigt<br />

Evangelische Gottesdienste sind komplexe Phänomene. Wer<br />

einen Gottesdienst in seiner Gesamtheit angemessen wahrnehmen<br />

und erfassen möchte, muss vielfältige Dimensionen<br />

berücksichtigen. Aus der Fülle dieser Dimensionen seien exemplarisch<br />

der Raum, die Musik, die agierenden Personen, die<br />

Gottesdienstbesucherinnen und -besucher, die liturgischen<br />

Elemente und die Inhalte genannt. Viele weitere Punkte<br />

könnten angeführt werden. Das maßgebliche Kommunikationsmedium<br />

in evangelischen Gottesdiensten ist die Sprache.<br />

Im Bereich der Sprache wiederum ist es die Predigt, der<br />

die größte Beachtung zuteilwird: Von Besucherseite aus<br />

gehört zu einem evangelischen Gottesdienst eine Predigt<br />

unbedingt dazu. 1 Und seitens der Pfarrerinnen und Pfarrer<br />

entfällt der größte Teil der Gottesdienstvorbereitung auf<br />

die Ausarbeitung der Predigt. Die Gründe für diese Schwer-<br />

1 Vgl. <strong>Jan</strong> Hermelink / Julia Koll / Anne Elise Hallwaß, Liturgische Praxis zwischen<br />

Teilhabe und Teilnahme, in: Heinrich Bedford-Strohm / Volker Jung<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und<br />

Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft,<br />

Gütersloh 2015, (90–111) 108.<br />

15


<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

punktsetzung dürften sich der Programmatik reformatorischer<br />

Grundentscheidungen verdanken, die die evangelische<br />

Kirche allein auf das biblische Wort gegründet sehen<br />

und daher die Verkündigung des Wortes Gottes in Gestalt<br />

der Predigt zu einer Art Markenkern evangelischer Gottesdienste<br />

machen.<br />

Auf der Ebene der wissenschaftlichen Reflexion führt die<br />

Fokussierung auf die Predigt dazu, dass aus der Fülle dessen,<br />

was in Bezug auf einen evangelischen Gottesdienst grundsätzlich<br />

näher wissenschaftlich untersucht werden könnte,<br />

das Sprachphänomen Predigt mit großem Abstand zu anderen<br />

potenziellen Forschungsobjekten herausragt. Versucht<br />

man, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner zu finden,<br />

der die überaus differenzierte homiletische Theoriebildung<br />

der letzten Jahrzehnte durchzieht, so kann dieser in dem<br />

Nachdenken über die Frage gesehen werden, wie die Hörbarkeit<br />

des Evangeliums in der Predigt verbessert werden kann.<br />

Im kritischen Dialog mit den homiletischen Überlegungen<br />

aus dem Umfeld der Wort-Gottes-Theologie wurde ein neues<br />

Augenmerk auf die homiletische Situation und damit auf<br />

die Hörerinnen und Hörer gelenkt (Ernst Lange 2 ). Die Bedeutung,<br />

die die Predigerin, der Prediger als Person im Zusammenhang<br />

mit der Predigt spielt, wurde neu herausgestellt<br />

(z. B. Otto Haendler 3 , Manfred Josuttis 4 ). Rhetorische Theori-<br />

2 Vgl. Ernst Lange, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Ders., Predigen<br />

als Beruf. Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt, hrsg. v. Rüdiger<br />

Schloz, München 1982, 9–51.<br />

3 Vgl. Otto Haendler, Die Bedeutung des Subjekts für die Predigt, in: Ders.,<br />

Die Predigt. Tiefenpsychologische Grundlagen und Grundfragen, Berlin<br />

1949, 46–54.<br />

4 Vgl. Manfred Josuttis, Der Prediger in der Predigt. Sündiger Mensch oder<br />

mündiger Zeuge?, in: Ders., Praxis des Evangeliums zwischen Politik und<br />

Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 1988, 70–94.<br />

16


Die liturgische Sprache als Thema<br />

en wurden für die Predigt neu erschlossen (Gert Otto 5 ). Und<br />

schließlich wurde die Predigt im Gespräch mit der Semiotik<br />

(z. B. Wilfried Engemann 6 ), der Rezeptionsästhetik (z.B. Henning<br />

Luther 7 , Gerhard Marcel Martin 8 ) und der Theaterwissenschaft<br />

(z. B. David Plüss 9 ) als Phänomen begriffen, das es<br />

ästhetisch zu inszenieren gilt. Inhalt, Struktur und Gestalt<br />

der Predigt wurden als untrennbar miteinander verwoben<br />

wahrgenommen. Auf die Frage – um es mit Niebergall zu<br />

formulieren –, wie dem modernen Menschen zu predigen<br />

sei 10 , wurden damit zahlreiche gewinnbringende Antwortvorschläge<br />

unterbreitet. Damit steht die Wechselwirkung<br />

zwischen dem gesprochenen Wort und dessen Rezeption<br />

seitens der Hörerinnen und Hörer im Mittelpunkt.<br />

Vor dem Hintergrund der nun schon so lange andauernden<br />

Intensität, in der in Bezug auf die Predigt über das Verhältnis<br />

von Sprache und deren Wirkung auf die Hörenden<br />

nachgedacht wird, fällt auf, dass solche Reflexionen in Bezug<br />

auf die sprachlichen Elemente und Beiträge des Gottes-<br />

5 Vgl. Gert Otto, Rhetorische Predigtlehre. Ein Grundriss, Mainz / Leipzig<br />

1999.<br />

6 Vgl. Wilfried Engemann, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen –<br />

Konsequenzen, Tübingen 1993.<br />

7 Vgl. Hennig Luther, Predigt als inszenierter Text. Überlegungen zur Kunst<br />

der Predigt, in: ThPr 18 (1983), 89–100.<br />

8 Vgl. Gerhard Marcel Martin, Predigt als »offenes Kunstwerk«? Zum Dialog<br />

zwischen Homiletik und Rezeptionsästhetik, in: EvTh 44 (1984), 46–58.<br />

9 Vgl. David Plüss, Texte inszenieren, in: Lars Charbonnier / Konrad Merzyn<br />

/ Peter Meyer (<strong>Hrsg</strong>.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung,<br />

Göttingen 2012, 119–136, und ders., Gottesdienst als Textinszenierung.<br />

Perspektiven einer performativen Ästhetik des Gottesdienstes,<br />

Zürich 2007.<br />

10 Vgl. Friedrich Niebergall, Wie predigen wir dem modernen Menschen?<br />

Erster Teil: Eine Untersuchung über Motive und Quietive, Tübingen 1902;<br />

Zweiter Teil: Eine Untersuchung über den Weg zum Willen, Tübingen 1906.<br />

17


<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

dienstes jenseits der Predigt in deutlich geringerem Umfang<br />

vorhanden sind. Hier existiert offenbar ein Desiderat, zu dessen<br />

Reduktion der vorliegende Band einen eigenen Beitrag<br />

leisten möchte.<br />

2. Gründe für eine intensivere Reflexion<br />

der liturgischen Sprache<br />

Aber warum genau sollte dieses Desiderat bearbeitet werden?<br />

Dazu seien an dieser Stelle zwei Gründe genannt. Der<br />

erste Grund bezieht sich auf die mit der Reformation einhergehende<br />

Modifikation des gottesdienstlichen Lebens. So<br />

beschränkte sich diese ja keineswegs nur darauf, Predigten<br />

in deutscher Sprache zum Zentrum eines jeden Gottesdienstes<br />

zu machen. Vielmehr erfolgte der Wechsel von Latein zu<br />

Deutsch in Bezug auf alle sprachlichen Elemente im Gottesdienst.<br />

Die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher sollten<br />

nicht nur verstehen können, was in der Predigt gesagt<br />

wird. Sie sollten in ihrer eigenen Sprache auch das verstehen<br />

können, was in anderen liturgischen Elementen wie zum<br />

Beispiel Gebeten, Segensworten, liturgischen Worten zum<br />

Abendmahl und Lesungen zur Sprache kam. Auch bei den<br />

musikalischen Elementen wurde konsequent von Latein auf<br />

Deutsch umgestellt. Dies schlug sich nicht zuletzt in Martin<br />

Luthers regen Aktivitäten beim Dichten und Komponieren<br />

von Chorälen in deutscher Sprache nieder. Auf diese Weise<br />

wurde zumindest die Messe am Sonntag zu einem Sprachereignis<br />

in deutscher Sprache. Der theologische Hintergrund<br />

für diese konsequente sprachliche Umstellung ist die reformatorische<br />

Rechtfertigungslehre, in deren Folge nicht mehr<br />

der geweihte Priester das Subjekt des Gottesdienstes ist,<br />

18


Die liturgische Sprache als Thema<br />

sondern »die gläubige Gemeinde« 11 . Und das bezieht sich<br />

auf alle Teile des Gottesdienstes. Ist nun aber die Gemeinde<br />

das Subjekt im Gottesdienst, dann wird jede und jeder, die<br />

oder der den Gottesdienst mitfeiert, zu einem integralen Bestandteil<br />

der gottesdienstlichen Kommunikation und somit<br />

zu einem aktiven Part in der gottesdienstlichen Interaktion.<br />

Zur konsequenten Umsetzung dieses Programms gehört<br />

dann auch, dass alle am Gottesdienst beteiligten Interaktionspartnerinnen<br />

und -partner die Möglichkeit haben müssen,<br />

den Gottesdienst in all seinen Teilen verstehen zu können,<br />

um so auf ihre je eigene Weise am gottesdienstlichen<br />

Geschehen nicht nur physisch, sondern auch intellektuell<br />

partizipieren zu können.<br />

Man könnte nun einwenden, dass es unter theologischen<br />

Gesichtspunkten doch ausreichend gewesen wäre, die Predigt<br />

in deutscher Sprache zu halten, die übrigen Teile des<br />

Gottesdienstes aber weiter in lateinischer Sprache zu belassen.<br />

Schließlich werden doch in der Predigt die zentralen<br />

theologischen Impulse gegeben. Dass sich die Reformatoren<br />

gegen diese Variante entschieden, hat den Hintergrund,<br />

dass sie die Predigt zwar als den zentralen Raum begriffen,<br />

in dem sich das Wort Gottes entfaltet. Grundsätzlich betrachteten<br />

sie aber den Gottesdienst in all seinen Teilen als<br />

Raum, in dem sich das Wort Gottes entfaltet. Dies ruft Alexander<br />

Deeg durch den Verweis auf die Torgauer Formel von<br />

1544, das wohl prominenteste Dokument zum reformatorischen<br />

Gottesdienstverständnis, in Erinnerung. Wenn die Torgauer<br />

Formel den Gottesdienst als ein Geschehen betrachte,<br />

so Deeg, in dem Gott mit den Menschen durch sein heiliges<br />

Wort rede und die Menschen ihrerseits mittels Gebet und<br />

11 Johannes Gottschick, Luthers Anschauungen vom christlichen Gottesdienst<br />

und seine tatsächliche Reform desselben, Freiburg i. Br. 1887, 38.<br />

19


<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

Lobgesang mit Gott redeten, dann könne man den Gottesdienst<br />

insgesamt als »theonom bestimmten Wort-Wechsel<br />

von Gott und Mensch« 12 begreifen. Eine exklusive Exponierung<br />

der Predigt würde, führt man die von Deeg angestellte<br />

Beobachtung fort, die Verkündigung des Evangeliums als<br />

wechselseitiges Kommunikationsgeschehen zwischen Gott<br />

und den Menschen letztlich verunmöglichen. Dem Hauptziel<br />

reformatorischer Theologie, nämlich die bedingungslose<br />

Gnade Gottes allen Menschen erfahrbar und erlebbar<br />

zu machen, würde der Gottesdienst dann nicht dienen. Wer<br />

den Gottesdienst als komplexes Kommunikationsphänomen<br />

zwischen Gott und Menschen angemessen begreifen<br />

möchte, kommt somit nicht umhin, nicht nur die Predigt<br />

näher zu betrachten, sondern alle sprachlich verfassten Elemente<br />

eines Gottesdienstes.<br />

Der zweite Grund, die Reflexion der liturgischen Sprache<br />

jenseits der Predigt zu intensivieren, hat mit der hohen Bedeutung<br />

zu tun, die dem gottesdienstlichen Leben im Zusammenhang<br />

mit der Inszenierung und Präsenz von Kirche<br />

in der Öffentlichkeit zukommt. Welches Bild sich Menschen<br />

von der Kirche machen, hängt maßgeblich davon ab, wie sie<br />

die Inszenierung von Kirche in Gottesdiensten erleben. Dieses<br />

gottesdienstliche Erleben ist keineswegs nur davon geprägt,<br />

wie die Predigt wahrgenommen wird, sondern davon,<br />

wie der Gottesdienst gleichsam als Gesamtkunstwerk bei<br />

den Menschen ankommt. Es dürfte selbstredend sein, dass<br />

die zahlreichen sprachlichen Liturgieelemente jenseits der<br />

Predigt dabei eine wichtige Rolle spielen.<br />

12 Alexander Deeg, Zwischen Kunst und Bildung, Regression und Progression.<br />

Die Spannung von Predigtsprache und liturgischer Sprache, in:<br />

Michael Meyer-Blanck (<strong>Hrsg</strong>.), Die Sprache der Liturgie, Leipzig 2012, 101; zu<br />

dem hier hervorgehobenen Gottesdienstverständnis der Torgauer Formel<br />

vgl. WA 49, 588.<br />

20


Die liturgische Sprache als Thema<br />

Nicht selbstredend mag dagegen die hier aufgestellte These<br />

sein, dass ausgerechnet das gottesdienstliche Leben für die<br />

Wahrnehmung von Kirche in Öffentlichkeit und Gesellschaft<br />

so wichtig sein soll. Gerade der Blick auf den agendarischen<br />

Sonntagsgottesdienst mit seinen meist niedrigen Besucherzahlen<br />

spricht zunächst gegen diese These und führt im Zusammenhang<br />

mit Beurteilungen über das gottesdienstliche<br />

Leben häufig zu Krisendiagnosen. Das Problem ist dabei, dass<br />

die in Bezug auf den Sonntagsgottesdienst artikulierten Krisendiagnosen<br />

oftmals undifferenziert und pauschal auf das<br />

gottesdienstliche Leben insgesamt übertragen werden. Aus<br />

den niedrigen Besucherzahlen der ganz normalen Sonntagsgottesdienste<br />

wird dann häufig auch noch auf einen weitreichenden<br />

Relevanzverlust der Kirche für die Gesellschaft<br />

geschlossen. Die Vertreterinnen und Vertreter einfacher Säkularisierungshypothesen<br />

ziehen die niedrigen Besucherzahlen<br />

als Beleg für das voranschreitende 13 und bald schon<br />

völlige Verschwinden kirchlicher Religiosität heran.<br />

Die letzte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat gegenüber<br />

solchen Sichtweisen und Deutungen einen irritierenden<br />

Befund in die Wahrnehmung des gottesdienstlichen<br />

Lebens eingespielt. In Bezug auf die subjektive Selbsteinschätzung<br />

des Gottesdienstbesuches kam die Umfrage zu<br />

dem Ergebnis, dass viel mehr Befragte angeben, regelmäßig<br />

einen Gottesdienst zu besuchen, als dies zum Beispiel die<br />

zwei bis vier Prozent, die die offizielle Statistik für den Sonntagsgottesdienst<br />

ermittelt, vermuten lassen. Auch bei Fragen<br />

zum Besuch von Gottesdiensten an besonderen kirchlichen<br />

Feiertagen und kirchenjahreszeitlichen Festen lagen<br />

13 Vgl. zum Beispiel Detlef Pollack / Gert Pickel / Anja Christof, Kirchenbindung<br />

und Religiosität im Zeitverlauf, in: Bedford-Strohm / Jung (Anm. 1),<br />

(187–207) 196–201.<br />

21


<strong>Gerald</strong> <strong>Kretzschmar</strong><br />

die Werte deutlich höher als in kirchenoffiziell ermittelten<br />

Statistiken oder auch im Vergleich mit der alltagsbasierten<br />

Wahrnehmung kirchlicher Praktikerinnen und Praktiker. 14<br />

Es waren im Wesentlichen drei Erklärungsversuche, mittels<br />

derer versucht wurde, die vermeintliche Diskrepanz<br />

zwischen faktischen Besucherzahlen und der subjektiven<br />

Selbsteinschätzung der KMU-Befragten zu deuten. Der erste<br />

Erklärungsversuch ging davon aus, dass die Befragten<br />

hinsichtlich der Wahrnehmung ihrer eigenen Gottesdienstbesuchspraxis<br />

einem umfragetechnischen Mechanismus<br />

»sozialer Erwünschtheit« 15 folgten, das heißt, faktisch unkorrekte<br />

Angaben machten. Der zweite Erklärungsversuch zog<br />

in Erwägung, dass die Befragten den Gottesdienstbesuch<br />

nicht mehr nur mit dem Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes<br />

verbinden, sondern eine Vielzahl gottesdienstlicher<br />

Veranstaltungen – vor allem im Kasualbereich und im<br />

Bereich der Kirchenjahresfeste – vor Augen haben. Der dritte<br />

Erklärungsversuch nahm schließlich ganz Abstand von<br />

der Frage, welche Gottesdienste die Befragten denn nun<br />

tatsächlich besuchten, und interpretierte die hohen Umfragewerte<br />

ganz generell als Ausdruck einer weitreichenden,<br />

ganz generellen Parteinahme der Befragten für den<br />

Gottesdienst. 16<br />

Für eine wissenschaftlich solide Interpretation der Befunde<br />

scheidet der erste Deutungsversuch aus. Wer so an die<br />

Deutung empirischer Daten herangeht, kann letztlich nur<br />

die Befunde gelten lassen, die den eigenen Interessen und<br />

Erwartungen entsprechen. Dazu bedarf es keiner kostspieligen<br />

Umfragen.<br />

14 Vgl. Hermelink u. a. (Anm. 1), 97.<br />

15 Pollack u. a. (Anm. 13), 196 f.<br />

16 Vgl. Hermelink u. a. (Anm. 1), 98–100.<br />

22


Zu den Sachen selbst –<br />

außertheologische Wahrnehmungen<br />

der liturgischen Sprache


Christian Metz<br />

Liturgische Verschwommenheit<br />

Unschärfe-Inszenierungen liturgischer Sprache<br />

1. Schöne Fülle und Wahrnehmungs-Unschärfe.<br />

Das Spiel mit der Aufmerksamkeits-Ökonomie<br />

Eingespannt zwischen Alltag und Transzendenz, sind Gottesdienstbesucher<br />

Zuschauer eines »liturgische[n]« und<br />

»musikalische[n] Spielstück[s]«, das »uns über den Alltag …<br />

hinausführt und uns unter den Himmel ruft«. (GD 340) So<br />

merkt es Pfarrer Block in seiner Predigt an. Was sich vor den<br />

Augen der Zuschauer im liturgischen und musikalischen<br />

Spielstück abspielt, das ist – so die These, die sich aus der<br />

Beobachtung des Gottesdienstes vom 12. <strong>Jan</strong>uar 2020 ableitet<br />

– geprägt von einer Ästhetik der Unschärfe. Drei Formen<br />

der Inszenierung verschränkt die liturgische Sprache: eine<br />

Unschärfe der Fülle, eine der Räumlichkeiten und eine der<br />

Gabengemeinschaft. Die Inszenierung der Unschärfe beruht<br />

zunächst darauf, dass jeder Gottesdienst die Züge jener<br />

undurchdringbaren, übermäßigen Fülle trägt, 1 die bereits<br />

Baumgarten in seiner Ästhetik aus dem Jahre 1750 beschrieben<br />

hat. Jenseits der Noeta, dort, wo mit Hilfe der Einbildungskraft<br />

die Sinneseindrücke zu Sinnesvorstellungen verarbeitet<br />

werden, macht Baumgarten die sinnliche Schönheit<br />

aus. Normalerweise überprüft die Verstandestätigkeit die<br />

1 Lydia Kossatz, Zeichen im System. Eine ästhetische Poimenik in systemtheoretischer<br />

und semiotischer Perspektive, Berlin 2017, 133–151.<br />

51


Christian Metz<br />

Wahrnehmungen, so dass wir schließlich das Angeschaute<br />

klar und deutlich durchschauen können. 2 Die schönen Dinge<br />

jedoch entziehen sich der Aufspaltung in einzelne Merkmale<br />

und somit auch einer Analyse durch die Verstandestätigkeit.<br />

So zeichnet sich Schönheit durch eine zusammengesetzte<br />

und darin – wie es Baumgarten nennt – »anschaulich-verworrene<br />

Erkenntnis« (cognitio confusa) aus.<br />

Das Schöne bleibt in seiner Fülle undurchdringbar. Darin<br />

besteht seine Schönheit. Und auf diese, die Sinne übersteigende<br />

Fülle sowie auf die in ihrer Betrachtung zu erlangende<br />

»extensive Klarheit« zielt der Gottesdienst ab, wenn er zwischen<br />

den menschlichen Worten (literae humanitares) von<br />

Gemeinde und Pfarrer und dem göttlichen Wort (literae divinae)<br />

oszilliert. Das Wort »Sprache« zielt hier, im Sinne etwa<br />

von Roland Barthes »Elemente einer Sprache der Liebe«, auf<br />

kommunikative Äußerungen, die über das Sprechen und die<br />

Artikulation von Wörtern und Sätzen hinausgehen. Die Sprache<br />

des Liturgischen bezieht sich auf jede Form der Artikulation.<br />

Sie umfasst also Gesten, Wege, die abgeschritten oder<br />

untersagt werden, Bilder, Licht, Raumkonzeption, Musik und<br />

Atmosphäre etc. Der Durchgang durch diese Fülle, die zwischen<br />

göttlichen und menschlichen Zeichen schwankt, führt<br />

aber nicht einfach nur zur Verwirrung. Vielmehr zeigt sich in<br />

den möglichen Verknüpfungen, im Erkennen der vielfältigen,<br />

bei Baumgarten heißt es noch »mannigfaltigen«, Verknüpfungen<br />

für den Betrachter überhaupt erst die Schönheit. Sie<br />

liegt im Reichtum göttlicher wie menschlicher Zeichen. Gottesdienstbesucher<br />

begeben sich von vornherein in die Gefilde<br />

extensiver Klarheit. Die Bezeichnung des Gottesdienstes<br />

2 Baumgarten bezieht sich in diesem Punkt auf Descartes. Vgl. hierzu: Christoph<br />

Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt<br />

a.M. 2008, 15.<br />

52


Liturgische Verschwommenheit<br />

als »liturgisch-musikalisches Spielstück« ist also eine Untertreibung.<br />

3 Friedrich Wilhelm Schelling beschreibt in seiner<br />

»Philosophie der Kunst« (1802 / 1803) den Gottesdienst schon<br />

als die »vollkommenste Zusammensetzung aller Künste, die<br />

Vereinigung von Poesie und Musik durch Gesang, von Poesie<br />

und Malerei durch Tanz«. Und er fügt an: »Dieses ideale Drama<br />

ist der Gottesdienst, die einzige Art wahrhaft öffentlicher<br />

Handlung.« 4 Und noch die Avantgarde der Moderne sieht<br />

im Ritus des Gottesdienstes »die Idee der Vereinbarung der<br />

Künste in eins«. 5 »[S]ehen wir hier nicht die Musik (Gesang,<br />

Glockenklänge), plastische Bewegungen (das Knien, das Ritual<br />

der priesterlichen Handlung), Spiel der Düfte (Weihrauch),<br />

Lichtspiel (Kerzen, die allgemeine Beleuchtung), Malerei? –<br />

Alle Künste haben sich vereinigt zu einem harmonischen<br />

Ganzen, zu einem Ziel – dem religiösen Aufschwung.« 6 Der<br />

seinerseits ausgelöst wird durch die ästhetischen »Erregungsmittel«<br />

aller »Sinnenliebkosungen«. Zweifelsohne vereinigt<br />

die Wittenberger Stadtkirche Künste von Weltrang.<br />

Um dies zu behaupten, genügt ein Blick auf Cranachs Epitaphen<br />

und vor allem auf das berühmte Altarbild, das seinerseits<br />

Luthers einst in dieser Kirche zur Sprache gekommene<br />

Wortkunst ins Bild fasst. Ein Gottesdienst an diesem historischen<br />

Ort trägt die Züge eines Gesamtkunstwerks. Wobei<br />

es in dieser Kirche mit ihren zwei berühmten Taufbildern<br />

3 Interessant hierzu: Walter Lesch, Theologie und ästhetische Erfahrung,<br />

Darmstadt 1994.<br />

4 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst [1859]. Unveränderter<br />

fotomechanischer Nachdruck aus dem handschriftlichen Nachlass,<br />

Darmstadt 1966, 380.<br />

5 Leonid Sabanejew, Prometheus von Skrjabin, in: Wassily Kandinsky / Franz<br />

Marc, Der blaue Reiter [1912]. Dokumentarische Neuausgabe v. Klaus Lankheit,<br />

München 1979, (107–124) 107.<br />

6 Ebd., 110.<br />

53


Christian Metz<br />

sicher kein Nachteil ist, dass der liturgische Kalender Jesu<br />

Taufgeschichte nach dem Evangelium des Johannes auf die<br />

Tagesordnung rückt. Andererseits versammelt der Kirchenraum<br />

seine Fülle gerade nicht zum harmonischen Einklang.<br />

Vielmehr bleibt das Material, das eben auch Darstellungen<br />

wie das zu Recht umstrittene antisemitische »Judensau-Relief«<br />

an der Außenfassade einschließt, hochgradig diskrepant.<br />

Die einzelnen Elemente dieses ästhetischen Gefüges mögen<br />

noch so harmonisch aufeinander abgestimmt sein, die Lieder<br />

noch so gut gewählt, die Orgelmusik noch so vorsichtig moduliert,<br />

die Predigt geschickt in das liturgische Gefüge eingebettet,<br />

die Fülle trägt doch stets ein Moment der Unschärfe<br />

ein. Auch dieses Moment der Unschärfe in der Synchronizität<br />

diskrepanter Wahrnehmungen hat Baumgarten in seiner Ästhetik<br />

bereits präzise beschrieben, indem er von der Fähigkeit<br />

des Achtgebens schreibt:<br />

»Also habe ich die Vermögen des Achtgebens und Außerachtens<br />

[...], aber endliche. Je mehr ich also auf eine Sache achtgebe,<br />

desto weniger kann ich auf andere achtgeben.« 7<br />

Baumgarten beschreibt, dass die Fokussierung seiner Achtsamkeit<br />

unausweichlich bedeutet, dass andere Gegenstände<br />

aus seinem Fokus geraten und in Unschärfe verschwimmen.<br />

Und er folgert:<br />

»Wenn die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand<br />

nachläßt, während ich auf mehrere vergesellschaftete<br />

Empfindungen anderer Art achtgebe, werde ich zerstreut.« 8<br />

7 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica / Metaphysik. Hist.-krit.<br />

Ausgabe, übers. u. hrsg. v. Günther Gawlick / Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad<br />

Cannstatt 2011, § 529.<br />

8 Ebd., § 609.<br />

54


Liturgische Verschwommenheit<br />

Fokussiert die Geisteskraft nicht länger auf einen Punkt,<br />

sondern synchron auf mehrere Aspekte, so führt dies nach<br />

Baumgarten zur Zerstreuung, zur distractio ihrer Aufmerksamkeit.<br />

Fokussierung, Unschärfe, Zerstreuung – auf dieser<br />

Ökonomie der Aufmerksamkeit und der ihr eingeschriebenen<br />

Unschärfe-Effekte basiert auch der Gottesdienst. Er<br />

überfordert in seiner Synchronizität der Künste, Tätigkeiten<br />

und Erlebnisse die Wahrnehmungsfähigkeit seiner Besucher.<br />

Die Überforderungs-Ästhetik des Gottesdienstes übersteigt<br />

gezielt die Kapazitäten der sinnlichen Wahrnehmung.<br />

Letztere mag noch so geschärft sein. Wer sich auf eines der<br />

Elemente der liturgischen Sprache fokussiert, verliert die<br />

anderen Aspekte aus dem Blick oder aus dem Gehör, Gespür<br />

oder Gefühl. Eine gleichzeitige, gleichmäßige Wahrnehmung<br />

aller Phänomene ist aufgrund der spezifischen, physiologischen<br />

Konstitution der menschlichen Wahrnehmungsorgane<br />

unmöglich. Der Besucher wird entweder den einen oder<br />

den anderen Sinn scharf stellen müssen und damit andere<br />

Elemente in das Feld der Unschärfe rücken.<br />

Von Beginn an, und damit ist tatsächlich schon sein Einzug<br />

in die Kirche gemeint, versteht Pfarrer Block, mit dieser<br />

Überforderungs-Ästhetik zu arbeiten: Die Besucher der<br />

Messe lauschen noch der Orgelmusik, die Glocken der Kirchturmuhr<br />

schallen noch nach (Schlag zehn), im Sitzen lässt<br />

man den Blick zum »Cranach-Altar« schweifen, da erhebt<br />

sich die Gemeinde plötzlich. Für einen Moment achtet jeder<br />

darauf, beim Aufstehen seine Balance zu wahren. Da steht<br />

wie aus dem Nichts der Pfarrer mit seinem Kustos im Altarraum.<br />

Und man wüsste nicht zu sagen: aus welcher Richtung<br />

und wie die beiden überhaupt dort hingekommen sind. Die<br />

liturgische Sprache arbeitet mit dem Unschärfe-Potenzial<br />

der Überforderungs-Ästhetik, etwa um (überraschende) Präsenzeffekte<br />

zu erzeugen.<br />

55


Christian Metz<br />

Die distractio von Aufmerksamkeit und Geisteskraft wird<br />

nicht nur gezielt inszeniert. Sie wird vielmehr ihrerseits mit<br />

der göttlichen Unbegreiflichkeit metaphorisiert. Als so unbegreiflich<br />

wie Gott erweist sich auch der Auftritt des Pfarrers<br />

auf der Bühne seines liturgischen Spielstücks. Die Überfülle,<br />

die unsere menschliche Wahrnehmung gezielt überfordert,<br />

erzeugt eine Form von Offenbarungserlebnis. Sie macht in<br />

der Gemeinschaft eine göttliche Sphäre spürbar. In Folge<br />

kann man sagen: Die liturgische Sprache setzt – wie etwa<br />

auch um 1900 die Avantgarde der Moderne – in erster Linie<br />

auf die sinnliche Wahrnehmung und Erregung ihrer Zuhörergemeinde.<br />

Nachgeordnet ist dieser Spürbarkeit der Zeichen<br />

das Verstehen des Gesagten. Das gilt zumal, weil sie<br />

mit ihrer Sprache gezielt die mögliche Fokussierung durch<br />

Verstandestätigkeit übersteigt. Indem die liturgische Sprache<br />

aber das Sinnliche über das Verstehen des gesprochenen<br />

Wortes priorisiert, um im ständigen Wechsel dann doch auf<br />

die wörtliche Bedeutung des Gotteswortes zu verweisen,<br />

partizipiert sie an einer Ästhetik der Unschärfe: Fokussiert<br />

sie die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörer (im Sinne einer theologischen<br />

Hermeneutik) auf die Kunst des Verstehens, gerät<br />

die Spürbarkeit aus dem Blick. Rückt sie nur einen Augenblick<br />

später die Spürbarkeit in den Vordergrund, verliert sich<br />

die Bedeutung in Unschärfe. Mit dieser kalkuliert eingesetzten<br />

Unschärfe transportiert und bewahrt sie zugleich das<br />

Geheimnis des Glaubenswortes und inszeniert so das Unfassbare<br />

der göttlichen Botschaft. (Von einem Wechselspiel<br />

von mysterium tremendum und fascinosum ließe sich in<br />

Nachfolge von Rudolf Otto sprechen.) Man könnte – überspitzt<br />

– sagen: Die liturgische Sprache muss unverständlich<br />

bleiben, damit sie unverfügbar bleibt und somit erst über<br />

ihre Melodie, ihren Rhythmus und ihren Klang eine numinose<br />

Wirkung entfalten kann. Während des Gottesdienstes<br />

56


Liturgische Verschwommenheit<br />

in Wittenberg findet diese Unschärfe-Inszenierung nun ausgerechnet<br />

unmittelbar vor jener Darstellung des Altars statt,<br />

in der Luthers von der Kanzel gesprochenes Bibelwort als flirrender<br />

Wortschweif durch den Bildraum mäandert.<br />

Auch hier versteht Block die Synchronizität der eigenen<br />

gestischen Darstellung und seines eigenen Sprechens mit<br />

dem Bildprogramm geschickt zu nutzen. Wenn Block im<br />

Zuge der Liturgie die Arme ausbreitet, überlagert sich aus<br />

der Perspektive der Betrachter seine Geste mit den Armen<br />

des gekreuzigten Jesus auf dem Bild. In einem Moment<br />

optischer Unschärfe überlagern sich reales Tableau vivant<br />

im Vordergrund (der Pfarrer selbst) und dargestellte Geste<br />

im Hintergrund (der Gekreuzigte auf dem Altarbild), um<br />

sich ineinander zu verschränken. Indem der Pfarrer sich in<br />

die Bildthematik einzufügen scheint, treibt er das Spiel der<br />

Amplifikation und der Zerstreuung gleichsam auf die Spitze.<br />

Denn der Pfarrer tritt – besonders prägnant ist dies während<br />

des Gloria und des Kyrie zu beobachten – in eigenartiger,<br />

gleichzeitiger Identität und Verschiebung zu den hinter<br />

ihm abgebildeten Vorbildern auf: Mit seiner Gestik der<br />

ausgebreiteten Arme tritt er als Stellvertreter Jesu auf<br />

(dessen Figur er nachahmt und zeitweise sogar überdeckt).<br />

Während er gleichzeitig als Redner und Liturg die Position<br />

Luthers einnimmt, der in dem Bild – wie der Pfarrer jetzt –<br />

von einer erhöhten Position aus zur Gemeinde spricht.<br />

Liturgische Inszenierung und Bildprogramm der Kirche<br />

treten – so lässt sich schließen – in eine Unschärfe-Relation,<br />

in der Identität und Differenz gleichzeitig auftreten.<br />

Aufgrund der Wahrnehmungs-Überforderung, bei der stets<br />

einzelne Elemente in Unschärfe verschwimmen, nistet sich<br />

das Numinose in der Inszenierung des Gottesdienstes ein.<br />

Oder umgekehrt: Das Numinose ist ein Effekt unscharfer<br />

Wahrnehmung.<br />

57


Kenah Cusanit<br />

It’s a mess, or is it not?<br />

Es könnte auch eine sehr alte Gedenkfeier sein, eine inszenierte<br />

Alltagsunterbrechung, ein gnadenloser Gabentausch,<br />

ein bewegtes Cranach-Bild, die ritualisierte Genese des Gottesdienstes<br />

oder eine Veranstaltung der Touristeninformation<br />

Wittenberg für internationale Gäste.<br />

Wahrscheinlicher aber ist, dass die liturgische Sprache,<br />

insbesondere ihr Drang zum Nominalstil, sich längst auf<br />

meine Beobachtungsperspektive übertragen hat und ich<br />

nichts dagegen habe, da dessen kategoriale Verstrickungen<br />

gleichzeitig helfen, meine Erwartungshaltung zu unterlaufen.<br />

Denn auf keinen Fall will ich denken und erst recht<br />

nicht notieren, was der über das Christentum staunende<br />

Navid Kermani nach dem Besuch einer Kirche, an deren Gottesdienst<br />

er teilnehmen wollte, einmal so ausgedrückt hat:<br />

»Nichts geschah, auch das Altarbild interessierte mich nicht<br />

weiter.«<br />

Kann einen das Altarbild in Wittenberg nicht interessieren?<br />

Es kann.<br />

Nun war es bei Kermani tatsächlich so, dass in der Kirche<br />

nichts geschah. Der katholische Gottesdienst in Rom, über<br />

den Kermani berichten wollte, hatte ja noch nicht begonnen,<br />

es sah nur so aus, als würde er jeden Augenblick beginnen,<br />

gemessen an der Zeit, die der Priester in der vordersten Reihe<br />

bereits mit Warten verbracht hatte. Im Unterschied zum<br />

evangelischen Gottesdienst in Wittenberg, in dem ziemlich<br />

schnell ziemlich viel geschieht.<br />

79


Kenah Cusanit<br />

Wie regelmäßig man wohl Gottesdienste dieser Art besuchen<br />

muss, um nicht mehr herausgefordert zu werden<br />

von der Vielzahl liturgischer Elemente, die sehr einverstanden<br />

mit sich und der Komposition sind, zu der sie arrangiert<br />

wurden, darin selbstsicher auftreten, genau wissend,<br />

an welchen Platz sie gehören. Solche Kompositionen wirken<br />

auf den ersten Blick nicht wie Spielstücke, als die sie Pfarrer<br />

Block an diesem Sonntagvormittag vielleicht auch mit Blick<br />

auf die anwesenden Feldforscher vorsorglich schon mal definiert,<br />

sondern eher wie Konstruktionen, deren Bestandteile<br />

alle den TÜV durchlaufen haben. Solche sehr sicher wirkenden<br />

Konstruktionen müssen schon sabotiert werden, um in<br />

Bewegung zu geraten, durch etwas, das nicht der Norm entspricht,<br />

weil es nicht vorgeschrieben ist und der Konstruktion,<br />

die dann wieder eine Komposition wäre, im besten Fall<br />

etwas widerfahren ließe, worüber sie selbst nur sehr kontrolliert<br />

spricht.<br />

Ein unordentlicher Zwischenfall, von denen es in diesem<br />

Gottesdienst erfreulicherweise einige gibt, ereignet sich<br />

gleich zu Beginn:<br />

Pfarrer Block will den Psalm des Sonntags sprechen, im<br />

Wechsel mit der Gemeinde. Er hat die vermutlich relativ<br />

spontane Idee, seinen Part von den jungen Menschen mitsprechen<br />

zu lassen, die der Lektor in seiner Begrüßung zuvor<br />

als Schüler aus Berlin-Reinickendorf und Studenten von der<br />

Calvin University in Michigan willkommen geheißen hat und<br />

die in der Kirche auf den hintersten Bänken Platz genommen<br />

haben. Block versucht, die Jugend zu diesem Part zu ermutigen,<br />

indem er informell Kontakt zu ihnen aufnimmt, denn<br />

auch er, der Pfarrer, wisse, das hinten immer »die coolsten<br />

Plätze« seien. Dennoch seien sie deswegen nicht »aus dem<br />

Spiel«. (GD 327) Es ist ja auch ein evangelischer Gottesdienst,<br />

in dem demokratisch an der »Gerechtigkeit Gottes« (GD 333<br />

80


It’s a mess, or is it not?<br />

u. ö.) mitgestaltet wird, auch auf den letzten Bänken, wo<br />

man eventuell noch immer über diese Tatsache überrascht<br />

sein mag (»Unverhofft kommt oft …« [GD 327]).<br />

Aber auch Block ist mit dieser Idee nicht »aus dem Spiel«,<br />

das er selbst initiiert hat, sondern ganz »unverhofft« mittendrin.<br />

Denn es ist nicht so einfach, das Spiel zu erklären, in<br />

dem zwei Parteien im Wechsel miteinander sprechen sollen,<br />

sobald man diese beiden Parteien zu benennen gezwungen<br />

ist: Mit den ersten Zeilen, schlägt Block vor, sollen die<br />

»junge[n] Leute und Schüler« beginnen, dann »die andere<br />

Gemeinde« einsetzen (GD 327). Es gibt also zwei voneinander<br />

unterschiedene Sprechparts, deren Verschiedenheit offenbar<br />

auch artikuliert werden will. Aber wer oder was ist<br />

die »andere Gemeinde«? Bilden die jungen Leute und Schüler<br />

eine eigene Gemeinde außerhalb dieser Gemeinde? Und<br />

sind wir nicht alle Schüler im Hinblick auf die »geistliche Reife«<br />

(GD 336), wie es später in der Predigt heißt?<br />

Wie von selbst breitet sich also Blocks rechter Arm aus, als<br />

wollte er mittels Körpersprache noch in die Kommunikation<br />

hineinholen, was kategorial schon verunglückt ist. Block versucht<br />

daraufhin erneut, die beiden Parteien zu benennen,<br />

die mit ihm bzw. ohne ihn sprechen sollen, und unterscheidet<br />

schließlich zwischen »Schüler[n]« und »erwachsenen<br />

Menschen« (GD 327). Es gelingt abermals nicht. Denn auch<br />

Schüler können erwachsen sein, die der Calvin University<br />

sind mindestens zwanzig Jahre, wenn nicht noch älter.<br />

Doch das fällt Block zunächst vermutlich nicht auf. Und eigentlich<br />

möchte er wohl nur die soziale Gruppe der Auszubildenden<br />

auf der hierarchiefreien Ebene des Gottesdienstes<br />

willkommen heißen und zugleich die Gelegenheit nutzen,<br />

dessen demokratische Verfasstheit performativ umzusetzen.<br />

Vielleicht will er auch einfach sagen: Gott traut euch auch<br />

ohne Bildungsabschluss etwas zu, vielleicht mehr, als die<br />

81


Kenah Cusanit<br />

Welt euch da draußen zutraut, Gott nimmt euch ernst, so wie<br />

ihr seid. Und die jungen Menschen bedanken sich für dieses<br />

bedingungslos geschenkte Vertrauen ganz im lutherischen<br />

Sinn, indem sie den Psalm des Sonntags gern mitsprechen.<br />

Doch das ganze Vorhaben wird hintertrieben, da der zweite<br />

Sprechpart, der gleichberechtigt neben dem ersten stehen<br />

soll, unangemessen dualistisch artikuliert wird: die erwachsene,<br />

mithin gebildete, geschäftsfähige andere Gemeinde.<br />

Statt die auf Bildung oder Alter oder Recht basierende<br />

Trennung zu überwinden, reicht jetzt ein spezifisches Klassendenken,<br />

das eigentlich nur außerhalb der Kirche existiert,<br />

mitten in den Gottesdienst hinein und hierarchisiert ihn, der<br />

so demokratisch fundiert ist, gegen seine eigene Verfassung.<br />

Auch sieht es vor diesem Hintergrund nicht mehr so aus, als<br />

sprächen die »Schüler« freiwillig im gleichwürdigen Wechsel,<br />

sondern müssten sich eher im Psalmsprechen beweisen,<br />

um Teil der eigentlichen Gemeinde zu werden.<br />

Aber das Unglück geht weiter: Blocks zweiter Versprecher<br />

hat sich im Kirchenraum ungehindert ausgebreitet und einen<br />

Teil der Gemeinde erfasst, die den Fehler wiederholt,<br />

indem sie selbst unangemessen spricht und auf die inkompatible<br />

Aussage ebenso inkompatibel reagiert: Sie lacht,<br />

während der Pfarrer spricht.<br />

Möglich, dass Block nicht weiß, weshalb gelacht wird.<br />

(Möglich, dass auch ich es nicht weiß und aus einem anderen<br />

Grund gelacht wird, als ich denke.) Blocks Körper zumindest<br />

weiß sich gegen dualistische Konzepte zu wehren,<br />

indem er sie umgehend zur Schau stellt: Er wiederholt die<br />

unterbrechende Geste des Lachens, indem er Block in seiner<br />

Rede ebenfalls kurz unterbricht und ein weiteres Mal in genau<br />

dem Moment aussetzen lässt, als Block nochmals sagt,<br />

dass er »im Wechsel« (GD 327) sprechen wolle und zwischen<br />

den beiden Wörtern »im Wechsel« kurz innehält und sich<br />

82


It’s a mess, or is it not?<br />

ein kurzes Fenster auftut, sich die Angelegenheit nochmals<br />

genau zu besehen: Muss es hier zwei klar voneinander unterscheidbare<br />

Gruppen geben, allein da es die Möglichkeit<br />

gibt, zwei Gruppen zu bilden, die sich dadurch unterscheiden,<br />

dass sie im Wechsel sprechen?<br />

Der Unglaube, dass diese Gruppen nicht ähnlich binär<br />

benennbar sind, ist so stark, dass er sich noch in der Transkription<br />

der Liturgie fortsetzt, die nachträglich gewiss auch<br />

von einem Theologen verfasst wurde und der, als wäre er<br />

der häufig verwendeten Metapher des »Doppelschritt[s]«<br />

(GD 334 u. ö.) auf den Leim gegangen ist, statt »im Wechsel«<br />

tatsächlich »die Texte« transkribiert (GD 327). Worin das<br />

unerhörte Treiben einerseits fortgesetzt wird, andererseits<br />

unbewusst korrigiert wird mit der finalen Einsicht: »Texte«<br />

lassen sich formal und gleichberechtigt trennen, dieses Vorgehen<br />

aber nicht immer auf Menschen anwenden.<br />

Dann gäbe es allerdings keine liturgischen Szenen wie<br />

diese, die kurzzeitig die Kategorialwelt der Alltagssprache<br />

aufblitzen lässt und was in ihr irgendwie »über Kreuz«<br />

liegt und dadurch selbst und für alle erfahrbar über Kreuz<br />

zu geraten riskiert. Das Risiko ging der Pfarrer nicht ein, als<br />

er versuchte, ein passendes Begriffspaar zu finden, sondern<br />

als er die informelle »coole« Ebene ins Spiel brachte, auf der<br />

er zwar zunächst die Schüler erreichen wollte, auf der aber<br />

auch die Gemeinde ein Forum bekam, ebenfalls informelle<br />

Dinge zu tun. Hätte sie sich nicht getraut zu lachen, wäre<br />

die unangemessene Kategorienbildung, die mit den demokratischen<br />

Vorstellungen des Gottesdienstes kollidiert ist,<br />

unkommentiert geblieben und auch die anschauliche Demonstration,<br />

wie sehr liturgische und profane Welt ineinander<br />

hineinreichen, wäre ausgeblieben.<br />

Ich habe mich an dieser Szene so lange aufgehalten, nicht<br />

weil ich einen Ausflug in das Gebiet der Rhetoriker machen<br />

83


Kenah Cusanit<br />

wollte (die sich mit Infektionspoetiken viel besser auskennen<br />

als ich), sondern weil mir die Liturgie und ihre Sprache<br />

indirekt dort am zugänglichsten wird, wo sie (aus literaturtheoretischer<br />

Sicht) ihrem Selbstverständnis formal zuwiderläuft<br />

bzw. wo sie sich, was religiöse Ideen angeht, an mir<br />

(und meinen biographisch geprägten Vorstellungen) bricht.<br />

Diese Perspektive ist auch der Grund, weshalb mir diejenigen<br />

Momente im Gottesdienst besonders gut gefallen, die<br />

sich weniger bis gar nicht kontrollieren lassen. Also alles, was<br />

der Liturgie selbst widerfährt, unvermittelt eintritt, menschlicher<br />

Planung entzogen in sie eingreift und darin alle Beteiligten<br />

unaufgefordert beschenkt, sofern sie dafür offen<br />

sind. All das, was theoretisch sehr gut zum lutherischen Religionsverständnis<br />

passt, der bedingungslosen Gnade, die sich<br />

nicht aktiv herstellen lässt, ihrer Unvermitteltheit, der untergeordneten<br />

Rolle der kirchlichen Institution, der Vorstellung<br />

von Glauben als Widerfahrnis, von Sünde als menschlicher<br />

Selbstbezogenheit, als Gottesferne, die blind geworden ist<br />

gegenüber der Welt und ihrem Gabecharakter.<br />

Betrachtet man das »liturgische Spielstück« (GD 340) wie<br />

ein literarisches Werk, sieht es aus wie ein inszenierter Akt,<br />

der aus dem Anspruch heraus, den Glauben im Gottesdienst<br />

rituell und performativ zur Darstellung zu bringen, formal<br />

dem zuwiderhandelt, was nach lutherischem Verständnis<br />

den Glauben ausmacht. Dieser Eindruck wird verstärkt durch<br />

ein Repertoire aus Formeln des Lobens, Dankens und Bittens,<br />

die vorlutherischen Ursprungs sind, aber in der aktuellen<br />

Liturgie kein symbolisch bezwungenes Unwesen treiben,<br />

sondern weiterhin bestechenden Charakter haben und auf<br />

sprachlicher Ebene eine Idee der Werkgerechtigkeit weitertradieren,<br />

die suggeriert, dass Gott zwar nicht mehr mit Werken,<br />

dafür aber mit Worten bestochen werden könne, und<br />

damit den Gabentausch wieder umdrehen. Ein Höhe punkt<br />

84


It’s a mess, or is it not?<br />

dieses Gabentauschs findet ausgerechnet nach der Kollektensammlung<br />

in einer Dankesszene statt, die aus meiner<br />

Sicht auf eine gar nicht so feststehende Wendung zurückgreift,<br />

aber dennoch wie ein kleiner poetischer Ablasshandel<br />

wirkt, wenn es heißt: »Himmlischer Vater […] Lege deinen Segen<br />

auf Geber und Gaben.« (GD 343) Wenn der lutherische<br />

Gottesdienst übers Wort wirken soll, verstehe ich ihn an diesen<br />

Stellen nicht lutherisch.<br />

Vor allem die Formeln aus dem römischen Ritus sind es,<br />

die wie Pfeiler im Kirchenschiff stehen. Aus irgendeinem<br />

Grund sollte man sie lieber nicht wegnehmen und um sie herumgehen.<br />

Und sind sie nicht ähnlich alt wie die Formeln der<br />

euklidischen Mathematik? Und hat man nach 2000 Jahren<br />

einer gut funktionierenden Geometrie im Sinne ihres Erfinders<br />

Euklid nicht auch Zusammenhänge entdeckt, die nicht<br />

mit den Vorstellungen der euklidischen Geometrie harmonieren<br />

und die man deswegen nicht-euklidisch nennt, die<br />

man dennoch aus bestimmten Gründen weiterhin mit der<br />

alten Terminologie der euklidischen Geometrie beschreibt?<br />

Will man geometrisch das Äußere eines gleichmäßig runden<br />

Gegenstands definieren, sagt man heute: »Die Oberfläche<br />

einer Kugel ist eine zweidimensionale Fläche, die krumm<br />

im dreidimensionalen Raum liegt.« Wäre dieser Satz ein literarischer<br />

oder ein liturgischer, ich sähe keine Kugel, ich sähe<br />

die Not, die Welt aus irgendeinem Grund mathematisch begreifen<br />

zu müssen. Die tradierten liturgischen Formeln, zugleich<br />

leibhaftige Zeugnisse im linearen Plot des Abendlandes,<br />

sind ein wenig wie die Formeln der alten euklidischen<br />

Geometrie, die ein Phänomen der nicht-euklidischen Geometrie<br />

nur sehr umständlich beschreiben können. Inwiefern<br />

die Teile einer alten Formelwelt für alte Zusammenhänge<br />

stehen und trotzdem auf neue zutreffen, müssen die Experten<br />

erklären. Müssen die Maler thematisieren und die Pfar-<br />

85


Kenah Cusanit<br />

rer kommentieren, im Gottesdienst und seinen Möglichkeiten,<br />

Teile der Liturgie miteinander zu kombinieren.<br />

Und Pfarrer Block ist ein echter Cranach im Kommentieren.<br />

Beide reflektieren ja im Kunstwerk, das sie verantworten,<br />

ihr Kunstwerk. Sie arbeiten, auch ironisch, mit Vorlagen<br />

und Versatzstücken. Sie unterrichten, in einem Kirchenraum,<br />

der bis heute dem traditionellen Klassenraum nicht unähnlich<br />

ist. Und natürlich können die Erklärungen von lehrenden<br />

Personen auch kryptisch oder unverständlich sein, eine<br />

holzschnittartige Bildsprache annehmen. Neben dem Gedanken,<br />

was passierte, wenn jetzt eine Kuh durch die Kirche<br />

liefe, stelle ich mir während des Gottesdienstes oft vor, dass<br />

jemand mit kirchenferner Sozialisierung, vielleicht aus der<br />

Wittenberger Peripherie, sich in die Kirche verirrt und sich<br />

versuchsweise auf diese Kommunikation einlässt. Würde<br />

ihm die zentrale Idee der kirchlich nicht vermittelten Gnade<br />

erfahrbar, oder würde nicht vielmehr durch Aussagen wie<br />

»In der Vollmacht, die der Herr seiner Kirche gegeben hat,<br />

spreche ich euch los: Euch ist eure Sünde vergeben« (GD 345)<br />

doch eine institutionelle Abhängigkeit liturgisch suggeriert?<br />

Was denkt man, wenn man hört, dass wir alle »Mitarbeiter<br />

der Gerechtigkeit Gottes« (GD 341) sind, dass wir zuerst<br />

»nach dem Reich Gottes und der Gerechtigkeit Gottes trachten«<br />

(vgl. GD 333 u. ö.) sollen? Versteht man es besser, wenn<br />

es zwanzigmal wiederholt wird? Wird es nicht in seiner Redundanz<br />

weder verständlicher noch wirkmächtiger?<br />

In jedem Fall könnte ein »sogenannte[r] ›Atheist‹« (GD<br />

340) in diesem Gottesdienst zu einer Überlegung gelangen:<br />

Der Pfarrer ist nicht verrückt, auch wenn er an Gott glaubt,<br />

denn er reflektiert, was er tut. Er findet Dinge »cool«. Neulich<br />

hat er sogar Star Wars gesehen. Sein weltlicher Bezug macht<br />

seinen geistlichen Bezug glaubwürdiger. Fraglich schon, ob<br />

man dagegen erkennt, dass dies hier ein Gottesdienst ist, in<br />

86


It’s a mess, or is it not?<br />

dem ja im Vergleich zum katholischem Gottesdienst ganz<br />

alte Hierarchien aufgelöst sind, ein Aspekt, der auch formal<br />

umgesetzt ist. Und dass es einen Lektor gibt, dass Lektor und<br />

Pfarrer sehr oft in Bewegung sind und dabei Gemeinde- und<br />

Altarraum verbinden.<br />

Auffällig vielleicht ihre unterschiedliche Körpersprache.<br />

Pfarrer Block geht nicht, er schreitet, er verkörpert ganz und<br />

gar, was er tut. Der Lektor hingehen absolviert, würde Kermani<br />

sagen, ein Programm, das noch nicht in die Motorik<br />

eingegangen ist. Sein Gang, seine Haltung: Er könnte auch<br />

gerade aus dem Supermarkt kommen, das Portemonnaie<br />

noch eben in die hintere Hosentasche steckend. Während die<br />

Stimme des Pfarrers, dieses potente Amen, auch ohne Mikrofon<br />

bis in die äußersten Winkel der Stadtkirche dringt, bleibt<br />

die Stimme des Lektors ganz eingeschlossen im Inneren seines<br />

Kopfes, ganz irdisch, und passenderweise nähert er sich<br />

dem Geschehen ja auch eher von der Supermarktseite der<br />

Gemeinde.<br />

Die beiden gehen auch im »Doppelschritt« (GD 334 u. ö.).<br />

Und womöglich ist dieser Gottesdienst eine einzige Metapher<br />

des Doppelschritts, um die Vermittlung von Unvermittelbarem<br />

zu rechtfertigen, die Trennung von Diesseits und<br />

Jenseits, Erde und Himmel, Vergangenheit und Zukunft, Körper<br />

und Geist, Wort und Welt. Und um nicht auf die Feier als<br />

solche zu verzichten, nicht nur die Feier des Mysteriums, sondern<br />

auch die Feier der Institution und Tradition, die Feier eines<br />

Überlieferungsweges, der erwiesenermaßen der richtige<br />

ist, allein weil er sichtbar vorliegt. Und vielleicht nimmt man<br />

als Kind, das mit dieser Feier aufgewachsen ist, sie als etwas<br />

an, das einem später auch liturgisch widerfährt, weil man es<br />

wieder erfährt, weil man es sich nicht erst reflektierend erschließen<br />

muss, weil es einem in alter Vertrautheit geschieht,<br />

wie das Rascheln der Blätter der Bäume vor dem Fenster.<br />

87


Franziska Seeberg<br />

Ein liturgisches Spielstück<br />

oder<br />

Der Gottesdienst<br />

als Gesamtkunstwerk<br />

Ich sehe Menschen, die in einer Reihe stehen und warten:<br />

Frauen, Männer, Kinder, etwas weiter entfernt ein Baby auf<br />

dem Arm seiner Mutter. Eng gedrängt stehen sie beieinander,<br />

treten sich gegenseitig auf die Füße, blicken über die Schulter<br />

zu mir herüber, lächeln, einige der Jüngeren plaudern miteinander.<br />

Stück für Stück rücken sie weiter. Vorne, am Ende der<br />

Schlange empfangen Pfarrer Block und der Lektor die einzelnen<br />

Gemeindemitglieder und reichen ihnen das Abendmahl.<br />

»Wandelkommunion« (GD 348) heißt diese Art, das Abendmahl<br />

zu feiern, und ich sehe es zum ersten Mal.<br />

Der Zug der Menschen erstreckt sich durch das gesamte<br />

Kirchenschiff, von hinten durch den Mittelgang bis nach<br />

vorne in den Altarraum, hinter dem Altar dann weiter. Aus<br />

der Entfernung sehe ich durch die Säulen hindurch Gemeindemitglieder,<br />

die an einem Kelch nippen. Die Orgel begleitet<br />

die Szenerie in einem schreitenden Zweivierteltakt. Die<br />

Musik hält sich im Hintergrund und untermalt das Geschehen.<br />

Ich überlege, wie es wohl wäre, wenn das Abendmahl in<br />

Stille, ohne musikalische Begleitung eingenommen werden<br />

würde. Es würde wohl etwas fehlen – die Musik, so zurückhaltend<br />

sie in diesem Moment auch ist, rahmt die Handlung<br />

und verleiht ihr eine Aura der Feierlichkeit.<br />

97


Franziska Seeberg<br />

Im Zentrum sehe ich den berühmten Reformationsaltar<br />

von Cranach. Die mittlere Tafel mit der Darstellung des<br />

Abendmahls. Links die Taufe, rechts die Beichte, auf der unteren<br />

Tafel die Kreuzigung Jesu. Und immer wieder auch<br />

auf diesen Bildern: Menschen, die in Gruppen beisammenstehen,<br />

das Geschehen betrachten, über die Schulter zu mir<br />

herüberblicken. Dunkle Gewänder, aus denen Köpfe, Hände<br />

und Füße ragen. Für einen Augenblick gehen das Geschehen<br />

im Kirchenraum und Cranachs Bilderwelten ineinander<br />

über. Ich sehe Menschen, damals wie heute, die warten,<br />

sich am Kinn kratzen, gedankenverloren vor sich hinstarren,<br />

kichern, husten, von einem Bein aufs andere wippen; unbewusste<br />

Gesten, die im Kontrast stehen zur heiligen Handlung<br />

– dem Sakrament des Abendmahls, das einer strengen<br />

Choreografie folgt: Leise sprechen Pfarrer und Kommunikant<br />

ein paar Worte, die nur für sie beide bestimmt sind, der<br />

Kommunikant neigt seinen Kopf, der Pfarrer legt eine Oblate<br />

auf dessen Zunge und reicht ihm den Trinkbecher. Während<br />

das Gemeindemitglied das Sakrament empfängt, hat<br />

es seinen Blick gesenkt und die Hände gefaltet (so wie ein<br />

Mensch, der vor einem offenen Grab steht). Mit einer eleganten<br />

Bewegung wischt der Pfarrer den Rand des Kelches ab<br />

und wendet sich dem nächsten zu. Pfarrer und Kommunikant<br />

berühren sich während dieser kurzen Begegnung nicht;<br />

allein die Darreichung von Brot und Wein schafft die Verbindung<br />

zwischen ihnen. Kaum ist dieser Moment vorbei, wendet<br />

sich das Gemeindemitglied ab und schlendert durch den<br />

Kirchenraum zurück zu seinem Platz.<br />

Mein Name ist Franziska Seeberg, ich bin Theaterregisseurin.<br />

Ich besuche nur selten Gottesdienste – meistens zu Weihnachten,<br />

zu Beerdigungen, Taufen, manchmal auch zu Hochzeiten.<br />

Nun sitze ich an diesem <strong>Jan</strong>uarmorgen in der Stadtkirche in<br />

98


Der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk<br />

Wittenberg, beobachte das Geschehen des Gottesdienstes,<br />

um es später in einem Bericht aus meiner Sicht zu beschreiben.<br />

In der geschilderten Szene trafen viele der performativen<br />

Elemente zusammen, die das Schauspiel eines Gottesdienstes<br />

ausmachen: Das Nebeneinander von Profanem und Heiligem,<br />

die unterschiedlichen Qualitäten der Gesten und Körperhaltungen,<br />

die Musik, das Verhältnis von Distanz und Nähe, die<br />

Choreografie, in der die Menschen den Kirchenraum durchschreiten,<br />

und nicht zuletzt der Text als ein wesentlicher Bestandteil<br />

der Liturgie. Kurz: der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk.<br />

Oder, wie es Pfarrer Block in seiner Predigt formuliert,<br />

»ein liturgisches Spielstück, ein musikalisches Spielstück, das<br />

uns über den Alltag, über den Werktag hinausführt und uns<br />

unter den Himmel ruft« (GD 340).<br />

Im Folgenden werde ich mich auf einzelne Aspekte des<br />

Gottesdienstes konzentrieren. Dabei gehe ich nicht chronologisch<br />

vor, sondern lenke mein Augenmerk auf Momente, die<br />

mir exemplarisch für die performative Dimension des Gottesdienstes<br />

erscheinen. Während des Gottesdienstes nahm<br />

ich die Haltung einer teilnehmenden Beobachterin ein – je<br />

nach Situation beteiligte ich mich am Geschehen oder blieb<br />

»am Rand« und protokollierte das, was ich wahrnahm.<br />

1<br />

Ich höre ein Summen. Eben noch hatte ich vereinzelt<br />

Stim men vernommen, die sich im Flüsterton miteinander<br />

unterhielten. Nun fluten Konfirmandengruppen den<br />

Raum – quatschende Teenager, die sich mit Gerumpel in die<br />

hintersten Kirchenbänke unter die Orgel-Empore setzen. Erwartungsvoll<br />

gucken sie zu den vorderen Plätzen, dorthin,<br />

wo das ältere Publikum und die Familien mit Kindern sitzen.<br />

99


Franziska Seeberg<br />

Ein Flirren liegt in der Luft, das von den Jugendlichen ausgeht<br />

und den Raum erfasst. Auch die älteren Gottesdienstbesucher<br />

werden nun lebhafter; man spricht lauter, scherzt,<br />

grüßt sich über mehrere Bänke hinweg. Es ist fünf Minuten<br />

vor Gottesdienstbeginn und immer noch strömen Besucher<br />

in die Kirche. Ich blicke mich um und schätze, dass etwa zweihundert<br />

Menschen gekommen sind. Sobald die Orgelmusik<br />

einsetzt, verstummen die meisten. Einige führen noch ihre<br />

Gespräche zu Ende, dann werden auch sie ruhig und hören<br />

der Musik zu. Festlich, im Viervierteltakt schreitet sie einher<br />

und stimmt feier lich auf den Gottesdienst ein.<br />

2<br />

Noch während die Gemeinde singt, betreten Pfarrer Block<br />

und der Lektor den Altarraum. Der Lektor begibt sich an das<br />

Lesepult auf der linken Seite, Pfarrer Block schreitet nach<br />

hinten und stellt sich ins Zentrum unter das Altarbild. Bis<br />

zum Ende der Musik hat er der Gemeinde den Rücken zugewandt.<br />

Mit den letzten Takten dreht er sich um und blickt<br />

nach vorne. Nach ein paar einleitenden Worten des Lektors<br />

zum Predigttext lesen beide mit verteilten Rollen einen Ausschnitt<br />

aus dem Matthäusevangelium. Der Text handelt von<br />

der Taufe Jesu. Pfarrer und Lektor stehen diagonal zueinander<br />

versetzt. Sie lesen ihre Passagen im ruhigen Tonfall. Auch<br />

Pfarrer Block interpretiert die wörtliche Rede kaum. Nur<br />

einmal, als er die »Rolle« von Johannes dem Täufer spricht,<br />

erlaubt er sich eine kleine Betonung des »du« bei der Frage<br />

»… und du kommst zu mir?« (GD 331). Am Ende der Szene<br />

eine kleine Irritation – der Kantor, der von der Orgel-Empore<br />

auf der anderen Seite des Kirchenraumes »Ehre sei dir, Herr«<br />

(GD 331) rufen sollte, verschläft seinen Einsatz.<br />

100


Der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk<br />

Lektor: Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu<br />

Johannes, dass er sich von ihm taufen ließe. Aber Johannes<br />

wehrte ihm und sprach:<br />

Pfarrer: Ich bedarf dessen, dass ich von dir getauft werde, und<br />

du kommst zu mir?<br />

Lektor: Jesus aber antwortete und sprach zu ihm:<br />

Pfarrer: Lass es jetzt zu! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit<br />

zu erfüllen.<br />

Lektor: Da ließ er’s ihm zu. Und als Jesus getauft war, stieg<br />

er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich<br />

ihm der Himmel auf, und er sah den Geist Gottes wie<br />

eine Taube herabfahren und über sich kommen. Und<br />

siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach:<br />

Pfarrer: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen<br />

habe.<br />

Lektor: Evangelium unseres Herrn Jesus Christus.<br />

Kantor: Ehre sei dir, Herr. (GD 331)<br />

Die Situation lässt mich in ihrem Aufbau an eine Theaterszene<br />

denken. Zwei »Darsteller«, die in verteilten Rollen ihre<br />

Texte sprechen – der eine liest die erzählerischen Passagen,<br />

der andere übernimmt die Rollen der verschiedenen Protagonisten.<br />

Die Verwendung der Mittel erinnert mich dabei an<br />

die Form des epischen Theaters: keine Identifikation mit dem<br />

Text bzw. der Figur, wobei die beiden »Darsteller« ihre Texte<br />

nach vorne zu ihrem Publikum, der Gemeinde, sprechen.<br />

Keiner der Sprecher zitiert seine Textabschnitte auswendig.<br />

Theatrale Verfremdungseffekte dieser Art dienten bei Brecht<br />

dazu, die Zuschauer davon abzuhalten, sich mit dem Geschehen<br />

auf der Bühne zu sehr zu identifizieren – die kritische Distanz<br />

sollte gewahrt bleiben. Die Distanz, die Pfarrer Block und<br />

der Lektor beim Lesen der Texte erzeugen, entfaltet jedoch<br />

eine andere Wirkung: Sie scheinen in diesem Moment die<br />

Rolle zweier Vermittler einzunehmen, die der Gemeinde den<br />

Evangeliumstext vortragen. Sie verkünden das Wort. In mei-<br />

101


Franziska Seeberg<br />

nen Augen beschreibt diese altmodische Formulierung den<br />

Vorgang am ehesten – nicht nur, weil sie die Haltung der beiden<br />

Lesenden zu ihren Texten verdeutlicht, sondern weil sie<br />

auch die transzendente Ebene beschreibt, die der Situation<br />

innewohnt. Pfarrer Block und der Lektor übernehmen keine<br />

Rollen im Sinne eines Theaterspiels; sie verkörpern vielmehr<br />

eine Funktion innerhalb des Ritus. Die Idee der Wahrhaftigkeit<br />

verhält sich hier anders als auf einer Theaterbühne.<br />

3<br />

Während des Gottesdienstes werde ich mal mit »Sie« angesprochen,<br />

dann wieder mit einem »Du« oder »wir« – in seiner<br />

Predigt spricht Pfarrer Block von uns als seinen »liebe[n]<br />

Freunde[n]« (GD 332 u. ö.). Die unterschiedlichen Formen der<br />

Ansprache spiegeln die verschiedenen Beziehungsebenen<br />

wider, die zwischen uns, der Gemeinde, und dem Pfarrer bestehen.<br />

Während der Ankündigungen, die den Alltag der Kirchengemeinde<br />

betreffen, bin ich »Sie«. Auch die Anweisungen,<br />

die mir helfen sollen, dem Verlauf des Gottesdienstes zu folgen,<br />

werden mit einem »Sie« an mich gerichtet.<br />

Und dann spricht Pfarrer Block in seiner Predigt direkt zu<br />

mir und nimmt sich selbst dabei nicht aus – er spricht von uns.<br />

Wenn er uns dann im Weiteren als seine Freunde bezeichnet,<br />

bin ich nicht mal irritiert. In der Form der Predigt ist all dies<br />

(das »Ihr«, »wir«, das »liebe Freunde«) gut aufgehoben – die<br />

Worte, die hier gesprochen werden, sind dem Alltag enthoben.<br />

Und wenn Pfarrer Block am Ende seiner Predigt mit den<br />

Worten schließt: »Und der Friede Gottes, welcher höher ist als<br />

alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus«<br />

(GD 342), dann gefällt es mir sogar für einen Moment, auf<br />

102


Der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk<br />

diese Weise vereinnahmt zu werden. Nach dem Segensspruch<br />

hören wir ein kurzes Musikstück. Dann folgen die Abkündigungen,<br />

die vom Lektor vorgetragen werden. Es ist die Rede<br />

von bevorstehenden Veranstaltungen und der Höhe der letzten<br />

Einnahmen durch die Kollekte – und ich bin wieder »Sie«.<br />

4<br />

Ganz besonders mag ich die Momente des Dazwischen –<br />

wenn Pfarrer Block auftritt und abgeht. Er kann das besonders<br />

gut. Zu Beginn des Gottesdienstes tritt er aus der Stille<br />

in den Altarraum; steuert dann entlang der mittleren Längsachse<br />

auf das Zentrum des Altars, bleibt einen Moment stehen,<br />

um sich dann gelassen der Gemeinde zuzuwenden. Ich<br />

habe nachgeguckt: Dieser Auftritt dauert exakt 20 Sekunden<br />

– eine halbe Ewigkeit. Überhaupt, Pfarrer Block lässt sich<br />

Zeit. Nie eilt er oder rennt. Der Schritt bleibt stets gemessen.<br />

Im Laufe des Gottesdienstes schreitet er oft noch während<br />

der Musik von seinem Platz in der Kirchenbank zum Altar,<br />

um sich mit dem Schlussakkord nach vorne zu drehen.<br />

Mein Lieblingsauftritt ist, als Pfarrer Block die Kanzel betritt:<br />

Noch während die Gemeinde ein Lied singt, begibt er<br />

sich hinter die Säule an der Kanzel und wartet eine ganze<br />

Strophe, unsichtbar für die Gemeinde, auf das Ende der Musik.<br />

Dann steigt Pfarrer Block die Treppe empor und betritt<br />

die Kanzel. (Dauer des Auftritts von der kleinen Stiege bis<br />

zum ersten Wort der Predigt: 15 Sekunden.) Meisterhaft hier<br />

auch die Lässigkeit, mit der er seine Bibel auf das Geländer<br />

der Kanzel legt, das Mikro zurechtrückt, um nach einem kleinen<br />

Seitenblick die Gemeinde anzuschauen und fast nebensächlich<br />

mit den Worten »Gnade sei mit euch und Friede von<br />

Gott …« (GD 332) die Predigt zu beginnen.<br />

103


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

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Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover und Coverbild: Christian Melms · www.triagonale.de<br />

Satz: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Druck und Binden: CPI books GmbH<br />

ISBN 978-3-374-06909-5// eISBN (PDF) 978-3-374-06910-1<br />

www.eva-leipzig.de

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