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BB_Preimesberger_Code Alpha_160x230mm_2.Aufl_2022 Leseprobe

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Jürgen <strong>Preimesberger</strong><br />

CODE<br />

ALPHA<br />

CODE<br />

coole Drinks<br />

unD bittere Pillen<br />

ein schiffsarzt auf kreuzfahrten<br />

– 1 –


Alle Rechte vorbehalten<br />

Copyright © Berenkamp<br />

2. Auflage <strong>2022</strong><br />

Wattens<br />

www.berenkamp.at<br />

ISBN 978-3-85093-359-9<br />

Alle Abbildungen, sofern nicht anders angegeben, vom Autor<br />

Shutterstock: 115, 157, 111<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar<br />

– 2 –


Jürgen <strong>Preimesberger</strong><br />

CODE<br />

ALPHA<br />

coole Drinks<br />

und bittere Pillen<br />

ein Schiffsarzt auf kreuzfahrten<br />

– 3 –


5<br />

Vorwort<br />

7<br />

Berufliche Odyssee<br />

11<br />

Harter Schiffsalltag – trügerische Illussionen<br />

31<br />

„Sunrise of The Seas“<br />

40<br />

„Liberty of The Seas“<br />

43<br />

„MS Bremen“<br />

53<br />

„Endavour of The Seas“<br />

65<br />

„Hanseatic“<br />

103<br />

„MS Nautilus“<br />

122<br />

Noch einmal die „Nautilus“<br />

135<br />

Der Norden Europas<br />

159<br />

Reise um die Welt<br />

199<br />

Abschied vom Schiff und Beginn eines neuen Lebens an Land<br />

223<br />

Resümee eines Abenteuers<br />

– 4 –


Es ist bereits das zweite Mal, dass ich mich kurzerhand<br />

entscheide, literarisch tätig zu werden.<br />

Langeweile während meiner Zeit im Bundesheer,<br />

der Einstieg ins Berufsleben und meine einjährige<br />

Weltreise, die mich sehr geprägt, mir sehr schöne, unvergessliche<br />

Eindrücke und einzigartige Erfahrungen geschenkt<br />

hat, sind damals Triebfedern gewesen. Aus keinen<br />

anderen Gründen finde ich mich wieder vor meinem<br />

Notebook ein.<br />

Stets suche ich ein Ziel, eine Aufgabe, die mich erfüllt<br />

und die ich konsequent verfolge. Eigenschaften, die<br />

einiges über meine Persönlichkeit verraten. Meine fünfjährige<br />

Zeit als Schiffsarzt neigt sich dem Ende entgegen,<br />

wiederum steht ein neuer Abschnitt nach meinem Vagabundenleben<br />

bevor, ein Traum in den Anfängen meiner<br />

Studentenzeit ist Wirklichkeit geworden. Nun geht er zu<br />

Ende, ein neuer Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen<br />

und Zielen kommt auf mich zu.<br />

Jürgen <strong>Preimesberger</strong><br />

– 5 –


– 6 –


1<br />

BERUFLICHE ODYSSEE<br />

Mehr oder weniger durch Zufall landete mein Lebenslauf auf dem Schreibtisch<br />

einer amerikanischen Reederei. Zuvor war meine Karriere als Arzt<br />

sehr konfus verlaufen, mein Lebenslauf mit einem Fleckerlteppich vergleichbar<br />

gewesen – die Frage, wo ich mich in zehn Jahren in beruflicher Hinsicht<br />

sehen würde, hätte ich nicht beantworten können. Der Einstieg ins Berufsleben als<br />

Turnusarzt verlief gänzlich anders, als ich mir das vorgestellt hatte – geprägt von 60<br />

bis 80 Wochenstunden unbefriedigender, größtenteils nicht ärztlicher Tätigkeit und<br />

null Anerkennung. Zunehmend fiel es mir schwer, die spannende Zeit meiner Weltreise<br />

hinter mir zu lassen, im normalbürgerlichen Alltag Fuß zu fassen. Ich schmiedete<br />

bereits Pläne für weitere, größere Reisen nach der Turnusausbildung.<br />

Doch es kam alles anders. Mit großer Erwartung fieberte ich dem letzten Tag<br />

im Krankenhaus Bad Ischl entgegen, die Reisepläne waren längst geschmiedet, mein<br />

Enthusiasmus unbeschreiblich groß. Zuvor hatte ich mich von Jessica getrennt, vielleicht<br />

hätte uns eine gemeinsame Reise wieder zusammengebracht. Einen Tag, bevor<br />

ich meinen Spind im Krankenhaus räumte, erhielt ich vom Herz-Kreislauf-Zentrum<br />

in Bad Ischl das Angebot für eine einjährige Ausbildungsstelle im Fach Innere Medizin.<br />

Mein Plan für eine längere Auszeit, um erneut auf Reisen zu gehen, stand<br />

eigentlich schon fest, ich war gespalten, geschürt von meinem Umfeld, das mich in<br />

die gegenteilige Richtung drängte. „Eine derartige Chance bekommst Du kein zweites<br />

Mal, das darfst Du nicht sausen lassen. Die Reise läuft Dir nicht davon, Du hast ohnehin<br />

schon sehr viel von der Welt gesehen“ – so die Antworten und Ratschläge, die<br />

auf mich einprasselten.<br />

Nach unzähligen schlaflosen Nächten entschied ich mich für die Ausbildungsstelle<br />

im Herz-Kreislauf-Zentrum – eine Vernunftentscheidung, aber auch der Druck<br />

meines Umfelds führte mich zu diesem Entschluss. Mein Herz hätte anders entschieden.<br />

Anstatt der längeren Reiseauszeit ging es für zwei Wochen nach Ecuador und<br />

auf die Galapagosinseln, wenig später trat ich meinen Dienst an. Das Ausbildungsjahr<br />

verging im Flug, ich lernte in einem Umfeld von sehr netten Kollegen auf angenehme<br />

Art und Weise medizinisch sehr viel. Bei jeder Gelegenheit flüchtete ich in die weite<br />

Welt, um meinem verloren geglaubten Traum hinterherzujagen. Doch auch nach<br />

diesem Jahr kam es anders. Ich lernte Karin kennen, es entwickelte sich eine langjährige<br />

Beziehung. Karin war beruflich fest gebunden, auf gemeinsame Reisen zu gehen<br />

unmöglich.<br />

– 7 –


Mein beruflicher Werdegang führte mich in ein Rehazentrum, wo ich nach drei<br />

Monaten kündigte, um eine Fixanstellung in einer Kuranstalt anzunehmen. Dort<br />

fand ich wenig bis gar keine berufliche Herausforderung. Meine Gier nach Zufriedenheit<br />

befriedigte ich mit unzähligen Wochenendbereitschaftsdiensten und hochgeschraubten<br />

sportlichen Zielen (50 Berg- bzw. Schitouren). Kurzerhand bewarb ich<br />

mich in Bad Reichenhall, die Wartezeit auf eine Stelle als Allgemeinmediziner war<br />

lange, ich hatte nach anderen Lösungen suchen müssen. Mit gemischten Gefühlen, einer<br />

Mischung aus Unsicherheit und Verlorenheit, absolvierte ich das Vorstellungsgespräch.<br />

Durch das selbstsichere, typisch deutsche Auftreten des Klinikleiters – „Warum<br />

wollen Sie nach Ihrem bisherigen Werdegang in eine Klinik zurück? Hier sind<br />

Sie für 20 Patienten zuständig, schaffen Sie das? Sie müssen großen Einsatz zeigen,<br />

in der Freizeit viel lesen, nur so werden Sie ein guter Arzt.“ – zutiefst verunsichert<br />

verließ ich die Klinik. Die endgültige Entscheidung ließ lange auf sich warten. Der<br />

Anruf über die Zusage erreichte mich, als wir im Haus meiner Großeltern die Kündigung<br />

ihrer Mieter besprachen. Der Prozess der Entscheidungsfindung fiel mir erneut<br />

extrem schwer. Es fehlte mir an Selbstvertrauen, in Panik rief ich Kollegen an in der<br />

Hoffnung, so leichter zu einem Entschluss zu kommen.<br />

Am nächsten Morgen sagte ich ab. Statt nach Reichenhall führte mich die Odyssee<br />

zurück ins Rehazentrum. Nervlich war ich am Zenit, der Mangel an jeglichem<br />

beruflichem Selbstvertrauen hatte mich zu dieser Entscheidung geführt. Meine Mutter<br />

war zutiefst enttäuscht. Zurückblickend verstehe ich sie. Ich vergab die Chance,<br />

mein Vorwissen, meine Fähigkeiten, die ich schon oft unter Beweis gestellt hatte,<br />

mein Interesse und Wissen in der Medizin gebührend einzusetzen. Mit dieser Wahl<br />

hatte ich mich sehr unter meinem Wert verkauft. Dies bewies sich in den folgenden<br />

neun Monaten. Im Umfeld meiner zu Systemerhaltern geformten Kollegen ohne jegliche<br />

medizinische Motivation stellte ich meine medizinische Kompetenz des Öfteren<br />

unter Beweis. Es war Zeit, an diesem Schwachpunkt zu arbeiten, meine Fähigkeiten,<br />

meinen Ehrgeiz, meine Ausdauer und mein Interesse an der Medizin gebührend<br />

einzusetzen und meine Chancen zu nutzen. Trotz des Wunsches meiner Kollegen,<br />

dass ich eine Fixanstellung bekommen sollte, entschied der ärztliche Leiter anders.<br />

„Machen Sie Ihre Facharztausbildung fertig. Dann sind Sie jemand. Sie sind schon so<br />

weit“, so seine Worte.<br />

War nun der perfekte Zeitpunkt, um eine längere Reiseauszeit zu nehmen, gegebenenfalls<br />

auch allein? Im „kuk“, meinem Stammlokal, kam ich mit einem Schulkollegen<br />

aus dem Gymnasium, der seinen Lebensunterhalt als Kellner auf Kreuzfahrtschiffen<br />

verdiente, mehr oder weniger durch Zufall ins Gespräch. Er weckte sogleich<br />

mein Interesse, gab mir eine Bewerbungs-E-Mail-Adresse – und Tage später sendete<br />

ich meinen Lebenslauf an die amerikanische Reederei in Miami.<br />

Es vergingen Wochen. Dann erreichte mich der Anruf eines gewissen Prof. Sol<br />

Edelstein. Es folgten mehrere Interviews, in denen ich meine Englischkenntnisse und<br />

fachliche Kompetenz – über Skype musste ich mehrere medizinische Fälle lösen – unter<br />

Beweis stellte. Einen Monat vor Ablauf meines Vertrags im Rehazentrum waren<br />

alle Hürden geschafft. Ich erhielt jedoch wider Erwarten kein Jobangebot, sondern<br />

folgendes Statement: „Sie haben alle Voraussetzungen bestens erfüllt, leider ist derzeit<br />

keine Stelle vakant, wir halten Sie aber in Evidenz.“<br />

Am ersten Tag meiner Arbeitslosigkeit beschloss ich, mit meinem Bruder einen<br />

Kurztrip nach Albanien und in den Kosovo zu machen. Ursprünglich hatten wir uns<br />

– 8 –


das Ziel gesetzt, jährlich eine gemeinsame Reise zu machen. Nach zwei versäumten<br />

Jahren fand sich erstmals wieder eine passende Gelegenheit, diesem Grundsatz treu<br />

zu sein.<br />

In Tirana beantwortete ich neugierig einen Anruf einer mir bis dahin unbekannten<br />

Nummer. Eine amerikanische Reederei bot mir einen viermonatigen Job<br />

als Schiffsarzt in der Karibik an. Am nächsten Tag übersandten sie mir Flugticket<br />

und Vertrag mit sehr lukrativen Bedingungen. In drei Tagen musste ich entscheiden<br />

– also keine Zeit für unproduktives Grübeln: Ich sagte zu. Mein Bruder erfuhr als<br />

Erster davon. Nach der Rückkehr aus Albanien setzte ich Karin in Kenntnis – Zeitpunkt<br />

und Ort hätten unpassender nicht sein können. Verständlicherweise war ihre<br />

Enttäuschung über mein tölpelhaftes, verletzendes Verhalten groß. Es blieben fünf<br />

Tage, um daheim die Zelte abzubrechen, die fehlenden Dokumente zu besorgen und<br />

Visaanträge zu erledigen.<br />

Mit äußerst gemischten Gefühlen bestieg ich den Flieger nach Orlando/Florida.<br />

Es erwarteten mich in vielerlei Hinsicht neue Herausforderungen. Gemeinsam mit<br />

einer Südafrikanerin war ich für 4.000 Passagiere verantwortlich. Leben und Arbeiten<br />

für vier Monate auf einem Schiff in einem Kulturkreis, der Schlagzeilen für<br />

horrende Schadensummen bei lapidaren Fehlern schrieb. Ich hoffte, diese vier Monate<br />

würden Klarheit in vielerlei Hinsicht in mein Leben bringen, meine Unruhe<br />

besänftigen, klare Ziele deklarieren und mir helfen, mit der Monotonie des Alltags<br />

Freundschaft zu schließen. Herzbrechend der Abschied von Karin. Sie versicherte<br />

mir mit dem Argument, dass ich ganz tief in ihrem Herzen sei, diese vier Monate zu<br />

überstehen. Nach fast zehnstündigem Flug stieg ich in Orlando aus dem Flieger; ein<br />

Taxi brachte mich in mein Hotel. Es blieb kaum Zeit, durchzuatmen oder mich von<br />

meiner Anreise zu erholen. Tags darauf würde ich zeitig in der Früh abgeholt werden.<br />

– 9 –


– 10 –


2<br />

HARTER SCHIFFSALLTAG –<br />

TRÜGERISCHE ILLUSIONEN<br />

Mit 20 anderen Teilnehmern aus allen Erdteilen werde ich über Verhaltens-<br />

und Bordregeln unterrichtet. Ich durchlaufe eine Art „Brain Washing“<br />

(Gehirnwäsche), das mir einen kleinen Vorgeschmack über das<br />

Bordleben vermittelt. Fast schon bizarr die Verhaltensregeln auf amerikanischen<br />

Kreuzfahrtschiffen, für Europäer völliges Neuland (Richtung weisen mit der ganzen<br />

Hand statt mit dem Zeigefinger, aggressive Gastfreundschaft, Gästen muss alles ermöglicht<br />

werden).<br />

Nach drei Tagen Einführungsunterricht über „does and donts“ (Gebote und Verbote)<br />

besteige ich in Port Canaveral den Ozeanriesen. Ich bin beeindruckt von der<br />

Größe des Schiffs und seiner Ausstattung. Es wird Wochen dauern, mich zurechtzufinden<br />

und zu orientieren. Das Medical Center ist bestens ausgestattet; es verfügt<br />

über drei Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit, ein komplettes Labor und<br />

Röntgen. Unser Team besteht aus vier Schwestern, der Ärztin Anna, Südafrikanerin,<br />

38 Jahre alt, und Gabriel, ebenfalls aus Südafrika, der ab der nächsten Woche seinen<br />

wohlverdienten Urlaub antreten wird.<br />

Hinter Gabriel liegt eine sehr anstrengende Zeit; akribisch hat er die Minuten,<br />

die ihn vom Urlaubsantritt getrennt haben, gezählt. Die amerikanischen Schwestern,<br />

deren Äußeres vollends dem Klischee der Amerikaner (Übergewicht!) entspricht,<br />

haben ihn nicht akzeptiert. Erst nach sechs Wochen hat er seine Linie im Team gefunden,<br />

um auf so wenig Widerstand wie nur möglich zu stoßen. Die Schwestern<br />

beschreibt er folgendermaßen: „Sie sind arrogant und akzeptieren ausländische Ärzte<br />

nicht.“ Den Anweisungen Gabriels haben sie nur wenig Folge geleistet, ihn als kompetenten<br />

Arzt ständig in Frage gestellt oder kritisiert, medizinische Anweisungen, die<br />

nicht mit amerikanischen Guidelines konform gewesen sind, nicht befolgt. Gabriel<br />

macht auf mich einen netten Eindruck. Er ist bereits zweimal geschieden, hat zwei<br />

erwachsene Kinder; das hohe Lohnniveau auf amerikanischen Kreuzfahrtschiffen hat<br />

ihn auf die hohe See geführt.<br />

Von Anna und von Gabi, einer in Österreich geborenen, seit ihrer frühen Kindheit<br />

in Kanada lebenden Krankenschwester, die kurzzeitig für eine Woche eingesprungen<br />

ist, erhalte ich wertvolle Tipps: „Freunde Dich mit den Schwestern an. Amerikaner<br />

sind nicht sehr intelligent, aggressiv und sind erst zufrieden, wenn sie bekommen,<br />

was sie wollen.“<br />

Wenig später erteilt mir das Schicksal eine wichtige Lehre, um nicht zu sagen,<br />

es etabliert ein wegweisendes Exempel für meinen weiteren Umgang mit der ame-<br />

– 11 –


Intensivzimmer<br />

rikanischen Klientel. Mein erster Patient erwartet mich im Untersuchungszimmer,<br />

ein zweieinhalb Jahre altes Mädchen mit Urtikaria (allergischer Nesselausschlag), in<br />

Begleitung ihrer Eltern. Sie drängen mich, Kortison zu geben. Angesichts des Alters<br />

verabreiche ich jedoch das Antiallergikum Zyrtec. Sollte dies nicht wirken, so versichere<br />

ich ihnen, würde ich auf Steroide zurückgreifen. Zwei Stunden später stehen<br />

sie erzürnt und lautstark erneut im Medical Center: „Nichts hat geholfen. Schauen<br />

Sie sich ihren Ausschlag an. Ich habe Ihnen gesagt, dass wir Steroide benötigen!“<br />

Gabriel hat daraufhin das Ruder ergriffen, den Ausschlag fotografiert und gesagt,<br />

es online an einen amerikanischen Spezialisten zu schicken, um den besten medizinischen<br />

Ratschlag zu bekommen. Als ich mich wenig später bei ihm bedanke, meint<br />

er nur: „Vergiss diese Menschen. Ich verabreiche ihnen, was sie wollen, auch wenn ich<br />

medizinisch anders denke.“ Eine Lektion an meinem ersten Arbeitstag, die in diesen<br />

Breiten nicht lehrreicher und wegweisender hätte sein können. Von nun an werde<br />

ich die Einführungsworte meiner Kollegen stets im Hinterkopf behalten und ganz<br />

dem Motto „Pass Dich an deren Wünsche an“ folgen. Vor mir liegt alles andere als<br />

eine leichte Zeit. Mir ist bewusst, in den kommenden Monaten empathisch sehr viel<br />

dazulernen und über gewissen Dingen stehen zu müssen.<br />

In den ersten Tagen an Bord habe ich sehr viele Drills – Übungen in Notsituationen<br />

bzw. Trainings über Verhaltensregeln. Unvorstellbar, wofür es Polizzen und<br />

Guidelines gibt – tägliches Rasieren, keine Ringe außer Ehering, nur Steckohrringe,<br />

keine offenen Haare, keine Armkettchen, keine Socken mit Herstellernamen etc. Die<br />

Zeit dazwischen nütze ich, um mich im Medical Center einzuarbeiten, mich mit den<br />

neuen Medikamenten vertraut zu machen und mein medizinisches Fachenglisch zu<br />

verbessern.<br />

– 12 –


Innerhalb des Teams obliegt die Herrschaft vollends Schwergewicht Petra, der<br />

leitenden Schwester, die in den ersten Tagen ihre Obrigkeit gleich mehrmals unter<br />

Beweis stellt. Ihr nächstes Opfer ist Eva, eine Schwester aus Schweden, die gerade<br />

einmal ein paar Wochen an Bord ist. Beim gemeinsamen Abendessen in der Offizierskabine<br />

verlautbart sie sehr treffend ihre Einstellung gegenüber der Kollegin: „Ich<br />

mag sie nicht. Sie ist sehr inkompetent. Ich bin der Chef und werde dafür sorgen, dass<br />

sie bei uns nicht alt wird.“ – Es dauert noch ganze zwei Wochen, bis Eva ersetzt wird<br />

und die Heimreise ins mittlerweile winterliche Schweden antreten muss.<br />

Mein Tagesablauf sieht folgendermaßen aus: Von acht bis elf Uhr habe ich Ordination,<br />

anschließend Mittagessen bzw. Bereitschaft bis 15 Uhr, in der ich mich in meiner<br />

Kabine entspanne. Von 15 bis 19 Uhr wiederum Ordination, nach dem Abendessen<br />

halte ich mich im Gym auf, um meine Fitness zu erhalten. Den Pager habe ich stets<br />

bei mir, da ich bis zum nächsten Tag Bereitschaft habe. Mir ist wichtig, mein gegenwärtiges<br />

Leben zu strukturieren. Sport ist darin immer ein wesentlicher Bestandteil.<br />

Den restlichen Abend verbringe ich lesend oder vor dem Fernseher in meiner Kabine.<br />

<br />

Mittlerweile sind vier Wochen, gerade einmal ein Viertel meines Vertrags erfüllt.<br />

Bezüglich der Tätigkeit eines Schiffsarztes, die Traumvorstellung jedes Medizinstudenten,<br />

werde ich bereits nach kurzer Zeit eines Besseren belehrt.<br />

Die Route unseres Schiffs ist mit der eines Linienbusses vergleichbar, der tagein,<br />

tagaus dieselbe Strecke abklappert. Port Canaveral (Florida/USA)–Nassau (Bahamas)–Castaway<br />

Cay (Privatinsel der Reederei)–Seetag–Port Canaveral. Port Canaveral,<br />

unser Heimathafen, hat außer der NASA-Station absolut nichts zu bieten. Die<br />

Kabine<br />

– 13 –


Passagiere werden nach vier Tagen ein- bzw. ausgeschifft. Die wenigen Stunden Freizeit<br />

nutze ich, um in die Stadt zu fahren, bei Wallmart oder Macys einzukaufen<br />

und Karin, Thomas oder Mama anzurufen. Auch von den Bahamas, vor allem deren<br />

Hauptstadt Nassau, werde ich sehr enttäuscht; meine Erwartungen werden keineswegs<br />

erfüllt. Passagiere werden auf Luxusschiffen angekarrt und fallen wenig später<br />

in großen Horden in den unzähligen Duty-free- und Designerläden ein. Alles ist auf<br />

Massen- und Pauschaltourismus in typisch amerikanischem Stil ausgelegt, es fehlt<br />

an jeglichem Karibikfeeling. Der Rest der Insel, vor allem reizvolle Strände, ist fest<br />

in privater Hand, der Zugang nur gegen Gebühren durch Hotelanlagen möglich. Ein<br />

Tag ist völlig ausreichend, um sich einen Eindruck von der Hauptinsel zu verschaffen.<br />

Castaway Cay – die Privatinsel der Reederei aus mehreren Stränden, Verkaufsbuden<br />

und von Lokomotiven gezogenen Strandzügen, die übergewichtige Amerikaner zur<br />

nächsten Fastfoodbude bringen – verkörpert das Klischee der Amerikaner bilderbuchhaft.<br />

Herumlaufende Comicfiguren tun ihr Übriges und erfreuen sich bei Kindern<br />

großer Beliebtheit.<br />

Im Medical Center habe ich mich gut ins Team integriert, die ersten Wochen<br />

bin ich am Prüfstein gestanden und habe meine medizinischen Fähigkeiten unter<br />

Beweis stellen müssen. Nie werde ich die abschließende Prüfung durch Petra, die<br />

Oberschwester, vergessen. Sie konsultiert mich während einer ruhigen Ordination<br />

mit der Bitte, einen Blick auf ihr rechtes Ohr zu machen. Ihr Trommelfell erinnert<br />

mich an einen Patienten in meinem HNO-Praktikum an der Uni, der an einem Cholesteatom,<br />

auf Deutsch „Perlgeschwülst“, erkrankt war und dem Befund meines Otoskops<br />

nun sehr ähnlich ist. Selbstsicher und kurz entschlossen antworte ich mit Cho-<br />

Karibikflair<br />

– 14 –


lesteatom. Meine Antwort<br />

ist richtig; beeindruckt und<br />

sichtlich überrascht antwortet<br />

Petra enthusiastisch: „Ich<br />

bin sehr beeindruckt. Erst<br />

ein zweiter HNO-Facharzt<br />

konnte die richtige Diagnose<br />

stellen.“ Von da an werde ich<br />

medizinisch akzeptiert, weiters<br />

beteuern sie bei einem<br />

gemeinsamen Abendessen<br />

ihre Zufriedenheit und betonen<br />

meine umgängliche Art<br />

– die Integration ins Team ist<br />

geschafft.<br />

Kleidervorschrift<br />

Meine Arbeit im Medical Center widerspricht gänzlich dem Klischee eines<br />

Schiffsarztes aus der Serie „Das Traumschiff“, der von Dinner zu Dinner stolpert und<br />

Seekrankheit behandelt. Die Bandbreite an Fällen ist sehr weit gestreut und besteht<br />

aus einer Mischung aus Allgemein- und Notarzt. Bis dato hat mich noch kein Passagier<br />

wegen Seekrankheit konsultiert. Betroffene bedienen sich am Pillenautomaten<br />

unseres Warteraums selbstständig. Bezüglich meiner Einstellung gegenüber Amerikanern<br />

treffe ich einen Kompromiss, mit dem ich sehr gute Erfahrungen mache. Ich<br />

entwickle mich zu einem unterhaltsamen, interessierten Zuhörer und gehe auf ihre<br />

Winterlandschaft in der Heimat<br />

– 15 –


Forderungen ein. Meinem Vorsatz, in emotionaler Intelligenz dazuzulernen, bin ich<br />

in den vergangenen Wochen sicherlich nähergekommen.<br />

Im tausende Kilometer entfernten Österreich hat der Winter Einzug gehalten,<br />

mittlerweile ist dort der erste Schnee gefallen. Karin hat ihr Singledasein genutzt, um<br />

sich auf ihre bevorstehende Ausbildung zu stürzen, außerdem stehen einige Städtereisen<br />

auf ihrem Programm. Was mich bei meiner Rückkehr erwarten wird, muss ich<br />

dem Schicksal überlassen. Einzig die Zeit wird mir diesbezüglich Antworten liefern<br />

und die Weichen stellen.<br />

<br />

Mit zunehmender Dauer wird mir klar, warum ich um ein Vielfaches mehr als<br />

an Land verdiene. Das Schiffsleben ist im wahrsten Sinn des Wortes sehr eigen, abgeschlossen<br />

von der Außenwelt, mit wenigen sozialen Kontakten, man ist auf sich<br />

gestellt und durch strikte Regeln limitiert – in vielerlei Hinsicht mit einem Gefängnis<br />

vergleichbar oder mit der Situation, wenn man im Krankenhaus Dauerdienst macht.<br />

Es fehlt an jeglicher Lebensqualität, es gibt auch keine Bezugspersonen, um sich Frust<br />

oder Ärgernis von der Seele zu reden. Die phasenweise beängstigende Enge und Isolation<br />

der Kabine sowie überaus strikte Regeln neben langen Arbeitsstunden sind ein<br />

zusätzlicher Stressfaktor.<br />

Tage nach meiner Ankunft sucht mich der Staff-Kapitän, der Stellvertreter des<br />

Kapitäns und Chef des gesamten Personals, während meiner Ordinationszeit auf und<br />

fordert mich auf, mein Halskettchen zu entfernen, da dies nicht den Bekleidungsvorschriften<br />

entspreche. Bei einem weiteren Verstoß würde ich verwarnt und möglicherweise<br />

entlassen. Entlassungen und „written warnings“ (schriftliche Verweise) stehen<br />

an der Tagesordnung und werden ohne langes Zögern ausgehändigt. Am Abend vor<br />

der Ankunft in unserem Heimathafen Port Canaveral werden auf der Brücke mit<br />

den jeweiligen Departmentleitern bei disziplinären Verstößen Sitzungen abgehalten.<br />

Fällt der Beschluss, ein Crewmitglied hinauszuschmeißen, wird der oder die Betroffene<br />

Stunden vor dem Einlaufen über die Entlassung telefonisch in Kenntnis gesetzt<br />

mit der Aufforderung, die Koffer zu packen; sofort wird ein Security Guard vor der<br />

Kabine stationiert, der den Betroffenen gleich nach dem Eintreffen zur Gangway eskortiert<br />

– Bedingungen, die für ein Landleben unvorstellbar und menschenunwürdig<br />

sind. Vielleicht funktioniert das Zusammenleben auf einem Schiff unter derart harten<br />

Bedingungen nur unter Einhaltung strikter Regeln. Insgesamt sind Menschen aus<br />

60 Nationen aus allen Erdteilen und unterschiedlichen Kulturen am Schiff angestellt.<br />

Als Offizier habe ich das Privileg, eine komfortable Einzelkabine zu bewohnen;<br />

der normale Angestellte haust nach einem 14-Stunden-Tag mit einem zweiten in einer<br />

wenige Quadratmeter großen, mit einem Minifernseher ausgestatteten Kabine<br />

ohne Bullauge unter Deck (das Schiff hat acht Meter Tiefgang). Das Bad teilt man<br />

sich zu viert mit den Bewohnern der Nachbarkabine. Der Zugang zu Gästebereichen<br />

ist außerhalb der Dienstzeit nur Offizieren gestattet. Nichtoffiziere müssen sich nach<br />

Arbeitsende ausnahmslos im Crewbereich aufhalten. Allzu verständlich, dass bei vielen<br />

die Nerven blank liegen, Emotionen frei werden und so mancher überreagiert<br />

oder durchdreht. In der Galley (Küche) geraten eines Morgens ein Inder und ein<br />

Pakistani in Streit. Letztendlich endet der Schlag mit einer Bratpfanne mit einem<br />

gebrochenen indischen Nasenbein und einer klaffenden Rissquetschwunde. Die Zeit<br />

– 16 –


is zum Einlaufen in Nassau hat der Pakistani im schiffseigenen Gefängnis verbracht.<br />

In einer finalen Verwarnung resultiert der Wutausbruch eines chilenischen Kellners,<br />

der auf die Kritik des Oberkellners ausschlägt und einen Stuhl umwirft.<br />

Wird man von Bord verwiesen, ist man buchstäblich völlig auf sich gestellt und<br />

seinem Schicksal überlassen. Gnädige Reedereien buchen einem vielleicht ein Flugticket<br />

zu Crewpreisen, das man jedoch selbst berappen muss, bei anderen muss man<br />

die Heimreise selbst organisieren. Für längere krankheitsbedingte Ausfälle herrscht<br />

ebenfalls keinerlei Toleranz. Angestellte, die länger als fünf Tage arbeitsunfähig sind,<br />

werden entlassen und erst nach vollständiger Genesung wieder eingestellt. Jeder<br />

Neuankömmling muss für größere medizinische, schiffsexterne Behandlungen wie<br />

Operationen anfangs selbst aufkommen. Erst nach einem mindestens acht Monate<br />

bestehenden Arbeitsverhältnis übernimmt das die Reederei. Sich medizinischen<br />

Eingriffen in seiner Heimat oder in einem Wunschkrankenhaus zu unterziehen, ist<br />

nicht möglich. Reedereien haben Verträge mit günstigeren Krankenhäusern, im Fall<br />

meiner Reederei mit einem Hospital in der Dominikanischen Republik, wo jedes<br />

Crewmitglied, egal ob aus Russland oder dem tiefsten Afrika, behandelt wird. Allwöchentlich<br />

werden Sitzungen zum Thema Crew-Wellness in Anwesenheit aller leitenden<br />

Offiziere abgehalten, bei denen suspekte Krankenstände besprochen werden.<br />

In steter Erinnerung wird mir der Fall eines seit Jahren im Enginebereich tätigen<br />

Philippino bleiben, der das Medical-Center immer wieder wegen Kreuzschmerzen<br />

konsultiert hat. Trotz zahlreicher auswärts angeforderter Zusatzuntersuchungen haben<br />

wir kein Substrat für die Schwere seiner aktuellen Beschwerden detektieren können.<br />

So wird spontan der Beschluss gefällt, ihn außerhalb der Arbeitszeit im Crew-<br />

Working on cruise ships<br />

– 17 –


ereich zu filmen – bei der Vielzahl der am ganzen Schiff stationierten Kameras<br />

stellt dies keinerlei Problem dar. Bei der darauf folgenden Sitzung zeigen ihn die<br />

aufgenommenen Bilder tanzend während einer Crewparty. Im nächsten Hafen hat<br />

er das Schiff verlassen.<br />

Ein weiteres Beispiel, eine im Service tätige Brasilianerin, die wegen rezidivierender<br />

Sehnenscheidenentzündungen ihrer Arbeit des Öfteren ferngeblieben ist. Trotz<br />

ausreichender Therapieversuche mit Schmerzmitteln und letztendlicher Ruhigstellung<br />

der betroffenen Extremität hat sich nur schleichend wenig bis keine Besserung<br />

eingestellt. Da sie ebenfalls schon länger als acht Monate am Schiff gearbeitet hat,<br />

steht ihr ein operativer Eingriff zu, den sie aber kategorisch ablehnt. Da die Sehnenscheidenentzündung<br />

nachweislich mit ihrer Tätigkeit als Kellnerin in Zusammenhang<br />

zu bringen ist, wird ihr der ausständige Betrag von drei Monaten ihres Vertrags<br />

ausbezahlt und sie vorzeitig nach Hause entlassen. Eine erneute Anstellung hat man<br />

aber auch nach Ausheilung ihrer Beschwerden ausgeschlossen. Monate später treffe<br />

ich sie zu meiner großen Verwunderung beim Einchecken in der Gangway. Sie beteuert,<br />

sich auf ihren neuen Vertrag zu freuen und nun wieder beschwerdefrei zu sein.<br />

In den Genuss, ihren Vertrag zu beginnen, ist sie jedoch nicht gekommen. Wie sich<br />

wenig später herausstellt, ist der Reederei beim Recruiting ein Fehler unterlaufen –<br />

noch am selben Tag ist sie zurück in ihre Heimat Brasilien geflogen.<br />

Einer Thailänderin kostet ein Landgang während einer Krankmeldung in Nassau<br />

ebenfalls den Job. Die Kreuzfahrtindustrie lebt nach strengen Regeln, das Angebot<br />

an Arbeitskräften angesichts der lukrativeren Bezahlungen ist sehr groß, frei<br />

werdende Stellen können problemlos bereits am nächsten Tag nachbesetzt werden.<br />

Ein Leben auf hoher See ist in keinerlei Hinsicht mit dem an Land vergleichbar.<br />

In Gesprächen mit Philippinos erhalte ich immer die gleiche Antwort. Sie arbeiten<br />

am Schiff, bis sie sich in ihrer Heimat ein eigenes Gewerbe aufbauen, ihrer Familie<br />

einen guten Lebensstandard und den Zugang zu einer guten Ausbildung finanzieren<br />

können – aber keinen Tag länger.<br />

Das Grundgehalt eines Kellners beträgt lächerliche 50 Dollar im Monat. Das Gehalt<br />

wird durch das Trinkgeld der Gäste finanziert. Um die Einsatzfreude der Crew<br />

zu erhöhen, werden innerhalb der gesamten Flotte Ratings in unterschiedlichen Bereichen<br />

wie Gästezufriedenheit oder Verkaufsmenge von alkoholischen Getränken<br />

erstellt und mit entsprechenden Bonuszahlungen honoriert.<br />

Selbstverständlich steigen damit die Motivation und der Einsatz des Bordpersonals.<br />

Vielleicht erfordern die Umstände, der eingeschränkte Lebensraum, die Vielzahl<br />

unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten und der hohe Arbeitsdruck ein<br />

derart strenges Regime.<br />

Mit Misstrauen, großer Vorsicht und – zugegeben – einer gehörigen Portion<br />

Angst bin ich an meine Arbeit als Schiffsarzt in amerikanischen Gefilden herangegangen.<br />

Geprägt von Medienberichten über Unsummen, die Amerikaner in sehr grotesken,<br />

für europäische Verhältnisse absolut unvorstellbaren Prozessen immer wieder<br />

erwirtschaften, trete ich meinen Dienst an. Die erste Negativerfahrung in dieser<br />

Hinsicht lässt nicht lange auf sich warten. Ein sympathischer, freundlicher und sehr<br />

redseliger Amerikaner in den Fünfzigern konsultiert mich wegen Nackenschmerzen.<br />

Beim Schwimmen im Meer sei er von einer Welle erfasst worden und am Strand mit<br />

dem Kopf unsanft aufgeschlagen. Der Untersuchungsbefund zeigt eine leicht eingeschränkte<br />

Beweglichkeit der Halswirbelsäule, jedoch keine neurologischen Ausfälle<br />

– 18 –


oder Hinweise auf einen Halswirbelbruch oder Bandscheibenvorfall. Ich dokumentiere<br />

alles akribisch, fertige ein Röntgen an, um eine Fraktur (Bruch) auszuschließen,<br />

und komme zur Diagnose einer Halswirbelsäulenprellung. Die Therapie besteht<br />

in einer symptomatischen Schmerztherapie bzw. temporären Ruhigstellung mittels<br />

Halskrause. Zufrieden verlässt der Patient das Medical-Center und beteuert, in seinem<br />

Jahre zurückliegenden Urlaub in Österreich vor allem an der dortigen Gastfreundschaft<br />

und Freundlichkeit große Freude gefunden zu haben. Es vergehen Wochen,<br />

dann erreicht mich der Anruf meines sehr wohlhabenden Chefs, Phil Edelstein,<br />

Professor für Emergency Medicine, der sein Rentendasein mit der Einrichtung von<br />

Medical-Centern bzw. Recruiting von qualifizierten Schiffsärzten auf Kreuzfahrtschiffen<br />

aufbessert. Er fragt, ob mir der Fall eines Patienten nach einem Halswirbelsäulentrauma<br />

ein Begriff sei. Wochen später sei der Passagier mit der Klage, von<br />

mir inadäquat behandelt worden zu sein, an die Reederei herangetreten. In seinem<br />

Beschwerdebrief schreibt er, ich hätte einen Halswirbelbruch bzw. Bandscheibenvorfall<br />

übersehen und er hätte sich deshalb einer komplizierten Wirbelsäulenoperation<br />

unterziehen müssen. „Mach Dir keine Sorgen! Seine Schreibweise deutet darauf hin,<br />

dass er es auf eine freie Kreuzfahrt abgesehen hat. Ich werde die beweisenden Befunde<br />

von ihm anfordern.“ – Mein erster Vorfall mit der „Sueing Society“ (Verklägergesellschaft)<br />

in den USA, der mich unzählige schlaflose Nächte kostet. Angesichts der<br />

freundlichen Art des Patienten habe ich mit Derartigem überhaupt nicht gerechnet.<br />

Die Sache vorläuft im Sand. Mein Chef hat glücklicherweise Recht behalten.<br />

Vorfälle dieser Art werden, wie sich in den nächsten Wochen unter Beweis stellt,<br />

fester Bestandteil meiner Arbeit. Unvergesslich die lehrenden Worte von Phil: „Die<br />

Amerikaner sind so. Man kann sie nicht ändern. Pass Dich an und dokumentier alles<br />

akribisch genau.“<br />

Diesbezüglich werde ich groteske, haarsträubende Erfahrungen machen. Amerikaner<br />

scheinen keine Scheu bzw. nicht einen Funken Anstand zu haben und lassen<br />

nichts unversucht, um schnell zu Geld zu kommen.<br />

Nach einer Pediküre mit Fußmassage im Wellnessbereich findet sich eine stark<br />

übergewichtige Amerikanerin im Medical-Center ein. Sie klagt über starke Schmerzen<br />

im Mittelfußbereich und führt dies auf die Behandlung zurück. Mittlerweile<br />

genervt und abgebrüht, antworte ich kurz entschlossen: „Die Schmerzen sind unmöglich<br />

von der Massage, sondern vom Plattfuß. Ich empfehle Ihnen passende Einlagen.“<br />

– „Ich habe derartige Probleme noch nie zuvor gehabt. Es ist definitiv von der<br />

Massage. Ich werde die Reederei verklagen.“ Mit diesen Worten hat sie erzürnt unsere<br />

Abteilung verlassen. Ob sie mit ihrer Forderung durchgekommen ist, werde ich leider<br />

nie erfahren. Die Gier der Amerikaner kennt diesbezüglich keine Grenzen. Das<br />

System hat viele Amerikaner zu habgierigen Monstern geformt, die ohne Rücksicht<br />

auf Verluste jede Gelegenheit nutzen, um zu Geld zu kommen. Rechtsanwälte sind<br />

kostenlos. Ihr Verdienst beträgt die Hälfte des Streitwerts. Als Kläger kann man somit<br />

nichts verlieren, sondern nur gewinnen. Für mich werden die Bilder von lauernden<br />

Rechtsanwälten vor Krankenhäusern auf der Suche nach potenziellen Klienten<br />

verständlich. Reedereien reagieren mit unzähligen Kameras und Sicherheitsbeamten.<br />

Jahre später, auf einem anderen amerikanischen Kreuzfahrtschiff, wird dies Mirjana,<br />

einer kroatischen Krankenschwester, den Job retten. Ein Patient findet sich nach<br />

einer medizinischen Konsultation lautstark am Guest Relations Schalter ein mit der<br />

Unterstellung, im Medical-Center $ 200 bar bezahlt zu haben. Barzahlungen werden<br />

– 19 –


am Schiff nirgendwo getätigt, alles wird auf der Passagierkarte abgespeichert und am<br />

Ende der Reise bezahlt. Videoaufnahmen widerlegen die Unterstellungen der Passagierin.<br />

Umso überraschender die Worte, die nach der Beweislage über die Lippen der<br />

Amerikanerin kommen: „Ich nehme alles zurück, da ich nicht möchte, dass wegen<br />

mir jemand gekündigt wird.“ Selbst in derartigen Situationen darf man die Fassung<br />

nicht verlieren. Sicher alles andere als leicht, trotzdem ist es nur vergeudete Energie.<br />

Ein amerikanisches Ehepaar sucht meine Dienste mit der Forderung eines Brechmittels,<br />

nachdem die Ehefrau irrtümlicherweise die doppelte Dosis an Amaryl<br />

(Blutzuckermedikament) zu sich genommen hat. Nachdem die Blutprobe einen<br />

Blutzuckerspiegel von 280 mg/dl bestätigt, versichere ich ihr, dass bezüglich einer<br />

Unterzuckerung keinerlei Sorge bestehe und sie in zwei Stunden erneut messen soll.<br />

Während meiner Unterweisung putze ich kurzzeitig meine Nase, habe aber keinerlei<br />

Untersuchungskontakt mit der Patientin. Sichtlich unzufrieden hinsichtlich des<br />

untersagten Brechmittels, verlassen beide den Untersuchungsraum. Stunden später<br />

sucht mich der Leiter von Guest-Relations auf mit der Bitte um ein Gespräch unter<br />

vier Augen. Die Patientin habe sich beschwert, dass ich während der Untersuchung<br />

die Nase geputzt und mir anschließend die Hände nicht gewaschen hätte. Dies dürfe<br />

kein weiteres Mal vorkommen, da es rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen könne.<br />

<br />

Der medizinische Alltag bringt täglich neue Herausforderungen und Überraschungen.<br />

Entgegen der Meinung vieler, die den Beruf als Schiffsarzt in erster Linie<br />

mit der Behandlung von Seekrankheit assoziieren (die ich bis dato, nach über fünf<br />

Jahren Schiffserfahrung, kein einziges Mal behandelt habe), reicht das Behandlungsspektrum<br />

von banalen Infekten, Frakturen, Schnittverletzungen bis zu Notfällen jeglicher<br />

Art.<br />

Ein amerikanisches Ehepaar konsultiert mich wegen eines juckenden Ausschlags<br />

an beiden Beinen, der sie nachts keine Minute schlafen lässt, und behauptet, dies<br />

durch das Vorhandensein von Bettwanzen in ihrer Kabine bekommen zu haben. Angesichts<br />

der Tatsache, dass Kabinen täglich forensisch sauber gemacht werden, völlig<br />

ausgeschlossen. Es bleibt bei einer medizinischen Konsultation – ob meine Behandlung<br />

erfolgreich gewesen ist oder nicht, werde ich wohl nie erfahren. Wochen später<br />

werden über das Hauptquartier der Reederei die medizinischen Unterlagen angefordert<br />

und ich mit Fragen über die von mir durchgeführte Behandlung bombardiert.<br />

Das Ehepaar hatte nach ihrer Rückkehr einen Rechtsanwalt konsultiert, die Dinge<br />

sollten ihren – wie sich später herausstellt – gewohnten Verlauf nehmen. Vielleicht<br />

ein lukratives Zusatzeinkommen ohne Risiko und Aufwand.<br />

Auch der Begriff „Sexual harassment“ (sexuelle Belästigung) erfährt, wie sich in<br />

folgender Begebenheit zeigt, eine neue Bedeutung. Um zwei Uhr früh werde ich von<br />

der diensthabenden Schwester ins Medical Center beordert. Zu meiner großen Verwunderung<br />

finde ich die halbe Belegschaft an Sicherheitsoffizieren, den Stellvertreter<br />

des Kapitäns und eine lautstark, um nicht zu sagen hysterisch kreischende, ca. 20-jährige<br />

Amerikanerin vor. Sie beteuert, auf der Tanzfläche in der Disco vergewaltigt<br />

worden zu sein. Wie eine Vergewaltigung auf einer vollen Tanzfläche vonstattengehen<br />

kann, ist mir ein großes Rätsel. In Fällen eines Sexualdelikts gibt es ein eigenes<br />

Prozedere – neben der genauen Rekonstruktion mittels Kameraaufnahmen müssen<br />

– 20 –


medizinische Schritte gesetzt werden. Ich erkläre der nicht zu beruhigenden Amerikanerin,<br />

einen Scheidenabstrich vornehmen zu müssen, und dass sie als Prophylaxe<br />

Tabletten gegen eine HIV-Infektion einnehmen müsse.<br />

Angesichts dieser bevorstehenden Prozedur ändert sie schlagartig ihre Meinung,<br />

zieht die geäußerten Beschuldigungen zurück und gibt zu Protokoll, lediglich am<br />

Arm berührt worden zu sein.<br />

Mittlerweile habe ich mich gut integriert, die kulturelle Hürde übersprungen und<br />

an das Schiffsleben gewöhnt. Das medizinische Englisch habe ich in den Abendstunden<br />

in meiner Kabine auf ein sehr gutes Niveau gebracht. In nur kurzer Zeit habe<br />

ich meine Kinderschuhe zerrissen oder – besser gesagt – zerreißen müssen, um zu<br />

überleben. Ein Lernprozess auf sehr unterschiedlichen Ebenen, der mir sehr viel abverlangt<br />

und mich Kraft gekostet hat. Abends falle ich förmlich ins Bett. Angesichts<br />

fehlender sozialer Kontakte und des eingeschränkten Lebensraums ist das Ziel, die<br />

Aufgabe umso wichtiger.<br />

So vergeht Zeit, man hat eine Ablenkung. Die Uhren ticken auf hoher See komplett<br />

anders – eine Erfahrung, die ich mit zunehmender Dauer noch des Öfteren<br />

machen werde. Tage können zu Wochen oder Monaten werden, man verliert jegliches<br />

Zeitgefühl, es ist nicht selten, dass man keine Antwort auf die Frage findet, welchen<br />

Tag der Kalender zeigt – Parallelen zu Inhaftierten, mit dem einzigen Unterschied,<br />

dass man dies selbst gewählt hat.<br />

Auch mir ist nach meinem Einstieg klar, diese vier Monate durchzuziehen. Der<br />

Abschluss meines Vertrags wird mit einer zusätzlichen Prämie honoriert, was sicher<br />

seine Berechtigung hat. Bezüglich meiner Zukunft nach diesen vier Monaten<br />

bin ich mir aber noch völlig im Unklaren. Vielleicht mache ich meine angefangene<br />

Facharztausbildung fertig oder genehmige mir die Auszeit, um meine ersehnte Reise<br />

zu machen. Diesbezüglich wird die Zeit die Antworten liefern. Innerlich bin ich<br />

bereits ruhiger und gelassener geworden. Die letzten Monate sind sehr konfus und<br />

turbulent verlaufen. Medizinische Unzufriedenheit und Unterforderung haben mir<br />

gefehlt. Mit dieser Entscheidung habe ich mir die Latte sehr hoch gelegt, mir aber<br />

die Möglichkeit gegeben, mich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Es ist besser, an<br />

hohen Zielen zu scheitern, als sie unversucht zu lassen. Zu dieser Erkenntnis bin ich<br />

nach meiner Absage in Reichenhall gekommen. Oft bin ich mir wie der größte Vollidiot<br />

vorgekommen, der sich immer unter seinem Wert verkauft hat. Ich habe mir ein<br />

Versprechen gegeben: Kein zweites Mal werde ich diesen Fehler machen.<br />

Die Arroganz der Amerikaner regt mich nur mehr selten auf, ich habe mich auf sie<br />

eingestellt, weiß, was sie von mir erwarten. Ich behandle sie wie nach einem Lutscher<br />

schreiende Kleinkinder. Jede Behandlung verläuft stereotyp: „Wie geht es Ihnen? Genießen<br />

Sie Ihre Kreuzfahrt? Es tut mir leid, dass Sie mich während Ihrer Kreuzfahrt<br />

konsultieren müssen.“ Auch auf meine Frage, wie ihnen die Kreuzfahrt gefällt, erhalte<br />

ich stereotyp die Antwort: Great! Good food! (Großartig! Exzellentes Essen!)<br />

Nach einem Tag auf Castaway Key, der Privatinsel der Reederei, auf der ich auf<br />

einem Buggy, ausgerüstet mit einer Notfalltasche und einem Walkie Talkie, für Notfälle<br />

zuständig bin, klingelt kurz nach dem Ablegen das Telefon. Becky, diensthabende<br />

Schwester: Ein Passagier klage über Atemnot – sie sei schon auf dem Weg zur<br />

Kabine. Minuten später ertönt über Lautsprecher „Bright Star! Bright Star! Cabin<br />

3346.“ – Alarmcode für einen medizinischen Notfall. Wir treffen in der Kabine auf<br />

eine regungslose 72-jährige Patientin, die mehrmals erbrochen hat. Ich beginne […]<br />

– 21 –


Kein Reisemarkt wächst so schnell wie die Hochsee-Kreuzfahrt. Unter<br />

den schwimmenden Hochhäusern gibt es welche, die 5.000 Passagiere<br />

und mehr über die Meere der Welt befördern. Alle Gäste müssen<br />

sich wohlfühlen und bestens betreut werden. Dafür sind die Crew und<br />

das Dienstleistungspersonal zuständig – auch Ärzte. Die medizinische<br />

Verantwortung für die Passagiere trägt der diensthabende Schiffsarzt<br />

allein, er ist rund um die Uhr für die Gesundheit aller Menschen an<br />

Bord zuständig.<br />

Der Österreicher Jürgen <strong>Preimesberger</strong> war sechs Jahre einer von ihnen.<br />

In seinem Buch erzählt er vom völlig anderen Leben am Schiff.<br />

Der Leser erfährt von den herrlichen Seiten der Kreuzfahrten, vom<br />

Publikum, das Abenteuer erleben und unvergessliche Eindrücke gewinnen<br />

will. <strong>Preimesberger</strong> schildert aber auch, welche großen medizinischen<br />

Herausforderungen der Schiffsarzt allein bewältigen<br />

muss. Notfälle stehen an der Tagesordnung: Herzinfarkte, Lungenentzündungen<br />

und Lungenödeme sowie Knochenfrakturen waren für<br />

<strong>Preimesberger</strong> „medizinischer Alltag“. Er wurde auch mit keinesfalls<br />

alltäglichen Situationen konfrontiert: So war eine Passagierin wegen<br />

eines Elefantenbisses zu behandeln, ein Angestellter wegen Leprakrankheit<br />

und 160 Passagiere auf einmal, weil das Noro-Virus ausgebrochen<br />

war.<br />

Jürgen <strong>Preimesberger</strong>, 1973 in Bad Ischl/Oberösterreich geboren;<br />

nach dem Medizinstudium Turnusarzt in Bad Ischl und Linz; ehrgeizig,<br />

unternehmungslustig, zielstrebig und verantwortungsbewusst.<br />

Expeditionsarzt, Zugarzt in der Transsibirischen Eisenbahn und sechs<br />

Jahre lang Arzt auf verschiedenen Kreuzfahrtschiffen. <strong>Preimesberger</strong><br />

ist der am weitesten gereiste Arzt Österreichs. Er lebt und arbeitet<br />

heute als Landarzt in Neumarkt am Wallersee.<br />

ISBN: 978-3-85093-359-9<br />

www.berenkamp-verlag.at<br />

– 22 –<br />

www.kraftplatzl.com

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