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November 2021<br />

Kislew 5782<br />

#11, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />

wina-magazin.at<br />

„Es gibt aus der jüdischen<br />

Geschichte heraus Fragen,<br />

die für die Gegenwart<br />

brennend relevant sind“<br />

Wie BARBARA STAUDINGER,<br />

designierte Direktorin des<br />

Jüdischen Museums in Wien ,<br />

die Zukunft plant<br />

HAPPY<br />

CHANUKKA<br />

Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W /<br />

JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />

11<br />

9 120001 135738<br />

Wenn Zeitgeschichte<br />

zur Geschichte wird<br />

Experten und Expertinnen über<br />

Aufgaben und Möglichkeiten der<br />

Erinnerungskultur, wenn<br />

die Zeitzeugen nicht mehr sind<br />

Das kurze und<br />

heftige Leben des<br />

Amadeo Modigliani<br />

Eine Retrospektive in Wien<br />

widmet sich seinem Leben und Werk<br />

zwischen Avantgarde und Archaik<br />

„Die Suche ist für mich bereits<br />

etwas zutiefst Jüdisches“<br />

AUGUST ZIRNER und seine Tochter ANA<br />

fanden auf der Suche nach Familiengeschichte<br />

viel Verdrängtes und sich selbst<br />

cover_0821.indd 28 15.11.2021 08:25:19


Wieder<br />

erhältlich!<br />

Poldi Fitzka<br />

Gerstner Café-Restaurant<br />

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„Die Presse“<br />

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FESTIVAL DER JÜDISCHEN KULTUR<br />

14. NOV. BIS 9. DEZ. 2021<br />

FRAUENPOWER<br />

IM JUDENTUM<br />

www.ikg-wien.at/festival<br />

PROGRAMM: 14.11. Eröffnungskonzert „See You in Hollywood“ – Anna Rothschild Ensemble Wien mit Ethel<br />

Merhaut und Orsolya Korcsolán • 16.11. Filmvorführung „Hannah Arendt“ • 18.11. Lesung „Money Honey“ – Larissa<br />

Kravitz • 21.11. Filmvorführung „Ask Dr. Ruth“ • 24.11. Ausstellung „Schirat Dvora“ – Dvora Barzilai • 25.11.<br />

Filmvorführung „Geniale Göttin – Die Geschichte von Hedy Lamarr“ • 28.11. Lesung und Konzert „Charlotte<br />

Salomon - Therese Hämer und Julie Sassoon Quartet • 02.12. Konzert „Heute Abend: „So wie musikalisch, aber<br />

leakalisch!“ - Lea Kalisch und Bela Koreny • 07.12. Podiumsdiskussion „G´ttes weibliche Seite“ – Anita Pollak,<br />

Felicitas Heimann-Jelinek, Bea Wyler, Laura Cazés, Dalia Grinfeld • 09.12. Filmvorführung „Truus´ Children“<br />

Sonderprogramm: 08.11. Filmvorführung „Theresienklang“ -<br />

Dokumentation im Andenken an Helga Pollak-Kinsky<br />

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SEIT 1707<br />

Arnulf Rainer, „Schwarze Übermalung“, 1953/54, Öl auf Leinwand, 92 x 75 cm, € 130.000 – 220.000, Auktion 1. Dezember<br />

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AW4-WIN_Wina_20.11.indd 1 11.11.21 15:52


Viel zu oft richten<br />

wir den Fokus auf<br />

den Mangel, anstatt<br />

auf die Wunder die uns<br />

umgeben.<br />

Editorial<br />

Anfang November erinnerten wir uns zum 83. Mal an die Gräuel,<br />

die Österreicherinnen und Österreichern, Jüdinnen und Juden<br />

in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 angetan wurden. Jedes<br />

Zeugnis davon, jede Überlebensgeschichte klingt wie ein Wunder und<br />

war auch ein Wunder.<br />

Auch Ende November erinnern wir uns an ein Wunder: an das Wunder<br />

von Chanukka. Die Lichter der Chanukkia zeugen vom Triumph des<br />

Lichts über die Dunkelheit, der Hoffnung über die Hoffnungslosigkeit.<br />

Wenn wir die erste Kerze anzünden und das Chanukka-Fest beginnt,<br />

danken wir dafür, dass wir in diesem Moment angekommen sind, so wie<br />

wir das bei allen Festen tun, die immer auch ein Wunder markieren.<br />

Ich freue mich jedes Jahr aufs Neue auf die Kerzen, die auf unsere<br />

Fensterbrett brennen, und auf jene, die ich in der Nachbarschaft entdecke,<br />

und auf die Abende, an denen wir nicht nur viel und gut essen,<br />

Freunde und Familie sehen und Geschenke auspacken,<br />

sondern auch auf den Brauch, uns an<br />

jedem Chanukka-Abend einem anderen Wunder<br />

zu widmen, für das wir uns beim Entzünden<br />

der Kerzen bedanken.<br />

Dankbarkeit ist wohl ein zentrales Imperativ,<br />

um feiern zu können. Und das gilt, denke ich,<br />

für unsere spirituellen Ereignisse ebenso wie<br />

für unser Leben selbst. Denn eigentlich sind sie<br />

auch nicht voneinander zu trennen.<br />

Viel zu oft haben wir unseren Fokus auf den<br />

Mangel gerichtet. Den meisten von uns fällt es<br />

leichter, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die<br />

wir im Leben bemängeln, die nicht wunschgemäß<br />

verlaufen. Wir vergessen dabei so vieles, das<br />

wir haben und als selbstverständlich betrachten:<br />

unsere Gesundheit, unsere Fähigkeiten und<br />

Möglichkeiten, den weitgehenden Frieden, der<br />

uns umgibt, und so viele andere Dinge.<br />

Und so sind heuer dies meine Favoriten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:<br />

besonders (und immer) dankbar bin ich dafür, dass mein<br />

Kind mich jeden Morgen mit großen blauen Augen anlächelt. Dass ich<br />

mir die Fähigkeit behalten habe, das Gute zu suchen, und dass mein Interesse<br />

an der Welt und an den Menschen ungebrochen ist. Dass mich<br />

im Beruf wie privat Menschen umgeben, die mir Verständnis, Geduld<br />

und Unterstützung entgegenbringen. Dankbar dafür, dass ich bin, obwohl<br />

alles versucht wurde, um unsere Familien, unser Volk zu vernichten,<br />

und dafür, dass ich damit die Aufgabe geerbt und hoffentlich auch<br />

das richtige Sensorium entwickelt habe, gefährliche politische und<br />

ideologische Entwicklungen früh genug zu erkennen und zu bekämpfen.<br />

Dass ich in einer Tradition aufgewachsen bin, in der wir Chanukka-<br />

Kerzen entzünden, um so die Wunder zu feiern, die unser Volk durch<br />

die Geschichte erfahren hat. Dass wir die Natur noch so um uns erleben<br />

dürfen und dabei auch jeder von uns noch die Möglichkeit hat, etwas<br />

gegen ihre völlige Zerstörung zu unternehmen. Dass wir trotz einer<br />

weltweiten Pandemie – und der Tatsache, dass dieses „Wir“ nur eine<br />

Minderheit der Weltbevölkerung ist – gesund und in Wohlstand leben<br />

dürfen.<br />

Und dankbar macht mich auch, dass wir seit zehn Jahren ein Magazin<br />

produzieren dürfen, das so vielen ans Herz gewachsen ist und dankbar<br />

macht mich auch, dass auch Sie es gerade in der Hand halten.<br />

Und so wünsche ich Ihnen einen November voller Wunder, die Sie in<br />

Ruhe und Dankbarkeit erleben mögen.<br />

Julia Kaldori<br />

„Es gibt zwei Arten<br />

das Leben zu<br />

sehen: Entweder<br />

man glaubt<br />

nicht, dass es<br />

Wunder gäbe,<br />

oder man glaubt,<br />

dass alles ein<br />

Wunder sei.“<br />

Albert Einstein<br />

© Ines Bazdar/123rf<br />

wına-magazin.at<br />

1


S.26<br />

Barbara Staudinger übernimmt im Juli 2022<br />

die Leitung des Jüdischen Museums Wien. Mit<br />

WINA sprach sie über ihren Zugang zur Gestaltung<br />

von Ausstellungen, über das Bespielen des<br />

öffentlichen und digitalen Raums und wie sie<br />

das Judentum darstellen möchte.<br />

INHALT<br />

„Es gibt aus der jüdischen<br />

Geschichte heraus<br />

Fragen, die<br />

für die<br />

Gegenwart<br />

brennend relevant<br />

sind.“<br />

Barbara Staudinger<br />

© Daniel Shaked<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori<br />

Redaktion: Inge Heitzinger<br />

(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />

Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />

(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Wir müssen uns beeilen<br />

Die Zeitzeugen werden weniger. Was<br />

bedeutet das für die Vermittlungsarbeit,<br />

was für die Erinnerungskultur?<br />

10 … was alle versäumt haben<br />

Kurz nach seinem 100. Geburtstag<br />

legte Ernst Fettner mit dem Buch<br />

Geh’ du voran. Ein Jahrhundert seine<br />

Lebenserinnerungen vor.<br />

11 Abschiedsbilder bleiben<br />

In vielen Gesprächen erzählte Maria<br />

König der Rundfunkautorin Antje<br />

Leetz aus ihrem Leben, aber auch,<br />

was sie im Hier und Jetzt bewegte.<br />

12 So aus der Welt gehen<br />

Erinnern an jene dunkle Zeit, als der<br />

Tod als einziger Ausweg für mindestens<br />

1.088 Wiener Jüdinnen und Juden<br />

schien.<br />

14 Experimentierfeld Wien<br />

In Wien wurde ab 1938 die Abwicklung<br />

der Deportationszüge erprobt,<br />

die Stadt sollte als erste „judenrein“<br />

werden.<br />

16 Quadrate aus Messing<br />

In Salzburg wurden bisher 477 Stolpersteine<br />

verlegt. Jüngst auch für<br />

acht Frauen vor dem ehemaligen<br />

Polizeigefängnis der Stadt.<br />

18 Politiker mit Haltung<br />

Autorin Margaretha Kopeinig präsentiert<br />

eine Biografie des ehemaligen<br />

Bundeskanzlers Franz Vranitzky mit<br />

allen Facetten seiner aufrechten Persönlichkeit.<br />

22 Arzt mit Herz<br />

Lee Ya’ari ist einer der Fachärzte, die<br />

Holocaust-Überlebende in Israel im<br />

Rah men eines Hilfsprojekts kostenlos<br />

zuhause behandeln.<br />

24 Erfinder und Forscher<br />

Ein Lesebuch über israelische Innovationen<br />

ist jetzt auch auf Deutsch erhältlich.<br />

Es bringt interessante Beispiele,<br />

hat aber auch Schwächen.<br />

26 „… auch selbstkritisch sein“<br />

Barbara Staudinger übernimmt ab Juli<br />

2022 die Leitung des Jüdischen Museums<br />

Wien. Sie erzählt, wie sie das Judentum<br />

darstellen möchte.<br />

30 „Mein Ehrgeiz erwacht …“<br />

Jana Wassermann führt seit diesem<br />

Jahr eine Kassenordination als Allgemeinmedizinerin<br />

in der Novaragasse<br />

in der Leopoldstadt.<br />

S.34<br />

Dick aufgetischt<br />

Novemberblues? Dagegen helfen zwei Dinge: fröhliche Farben und exzellentes Essen!<br />

WINA hat dafür schon einmal die passenden Teller aus dem Schrank geholt ...<br />

2 wına | November 2021<br />

November.indb 2 15.11.2021 11:23:14


Wir wünschen ein<br />

frohes Chanukka!<br />

KULTUR<br />

40 „Immer noch eine Wut“<br />

In ihrer Familienbiografie Ella und<br />

Laura begeben sich August Zirner und<br />

seine Tochter Ana auf die Spuren ihrer<br />

Großmütter.<br />

43 „Worüber reden Gojim?“<br />

Unverschämt jüdisch heißt der Band, in<br />

dem Barbara Honigmann ihre bisherigen<br />

Preisreden versammelt.<br />

44 364 Stimmen und ein „Echo“<br />

Evelyn Adunka verführt mit ihrem<br />

Band Meine jüdischen Autobiographien<br />

zum Lesen und blickt in einer Jubiläumsnummer<br />

zurück auf 70 Jahre Jüdisches<br />

Echo.<br />

48 Das kurze heftige Leben<br />

Dem genialen Werk des jüdischen Italieners<br />

Amadeo Modigliani widmet die<br />

Albertina eine beeindruckende Retrospektive<br />

zu seinem 100. Todestag.<br />

„Die Überlebenden<br />

sind die Brücke in die<br />

Vergangenheit, mit ihren<br />

Augen versuchen wir<br />

das Lager zu<br />

sehen und<br />

das Unbegreifliche<br />

zu<br />

begreifen.“<br />

Heidemarie Uhl<br />

S.07<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

03 WINA_Kommentar<br />

Marta S. Halpert über Proteste gegen<br />

den Missbrauch des politischen<br />

Mandats<br />

20 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Partys, Armee und Schulalltag. Israel<br />

post Corona!? Von Gisela Dachs<br />

32 Matok & Maror<br />

Café Bellaria – so geht Kaffeehaus<br />

heute<br />

33 WINA_kocht<br />

Wie spart man traditionell Kalorien<br />

und weshalb braucht man zwei<br />

Herde, aber nur einen Kühlschrank?<br />

34 WINA_Lebensart<br />

Mit fröhlichen Farben und exzellentem<br />

Essen gegen den Novemberblues?<br />

37 Ist Yoga koscher?<br />

Judentum und Yoga: Mit Respekt<br />

und getreu den Jahrtausende alten<br />

Traditionen<br />

51 WINA_Werkstädte<br />

„Die Suche<br />

ist für mich<br />

bereits etwas<br />

zutiefst Jüdisches.“<br />

August Zirner<br />

© Bettina Flittner<br />

S.40<br />

August Zirner und seine<br />

Tochter Ana begeben sich<br />

in ihrer Familienbiografie Ella<br />

und Laura auf die Spuren<br />

ihrer Großmütter und legen<br />

gleichzeitig die Geschichte<br />

des enteigneten Wiener Kaufhauses<br />

Zwieback frei.<br />

WINA ONLINE:<br />

wina-magazin.at<br />

facebook.com/winamagazin<br />

Coverfoto: 123rf<br />

wına-magazin.at<br />

3<br />

November.indb 3 15.11.2021 11:23:18


HIGHLIGHTS | 01<br />

Deutsche Talmud-<br />

Übersetzung online<br />

In Deutschland waren die Nationalsozialisten<br />

bereits an der Macht, als der Orientalist<br />

Lazarus Goldschmidt (1871–1950) seine<br />

Übersetzung des Talmud ins Deutsche beendete.<br />

Ein Team deutscher und österreichischer<br />

Wissenschafter hat diese Übersetzung,<br />

die bisher im Wesentlichen nur in Bibliotheken<br />

genutzt werden konnte, nun auf sefaria.<br />

org digitalisiert und damit einer breiten Leserschaft<br />

online zugänglich gemacht.<br />

„Goldschmidt veröffentlichte die Übersetzung<br />

in einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus,<br />

um gefährliche Mythen zu zerstreuen<br />

und den Text allen deutschsprachigen Menschen<br />

auf der ganzen Welt zugänglich zu machen“,<br />

sagte Autor sowie Sefaria-Mitbegründer<br />

und -Vorsitzender Joshua Foer anlässlich der<br />

Präsentation dieser deutschsprachigen Online-<br />

Talmud-Ausgabe. Verknüpft wurden die einzelnen<br />

Abschnitte der Goldschmidt-Übersetzung<br />

mit Talmud-Texten in Englisch und Hebräisch/<br />

Aramäisch. Damit können die User nun auf sefaria.org<br />

zwischen den Übersetzungen navigieren.<br />

Goldschmidt übertrug daneben auch<br />

ein anderes wichtiges religiöses Werk ins Deutsche:<br />

den Koran. wea<br />

64.440<br />

Namen<br />

ermordeter Jüdinnen und Juden<br />

trägt die Namensmauer vor dem<br />

Alten AKH im Ostarrichipark in Wien.<br />

Eingeweiht wurde die Gedenkstätte<br />

am 9. November. 83 Jahre nach der<br />

sogenannten „Kristallnacht“. 20 Jahre<br />

lang kämpfte der austrokanadische<br />

Überlebende Kurt Yakov Tutter für<br />

die Realisierung. Er selbst überlebte<br />

die Shoah mit seiner kleinen Schwester<br />

im belgischen Versteck, die Eltern<br />

der beiden wurden in Auschwitz<br />

ermordet. Nun sei den fast 65.000<br />

ermordeten Jüdinnen und Juden ihr<br />

Name und damit ihre Würde zurückgegeben<br />

worden, sagte Yakov Tutter<br />

bei der Eröffnung. „Möge es Frieden<br />

bringen in den Herzen.“<br />

Höchststrafe für<br />

den Mörder von<br />

Mireille Knoll<br />

Lebenslange Haft für den antisemitisch<br />

motivierten Mord des 32-Jährigen an<br />

der Shoah-Überlebenden.<br />

Im März 2018 wurde im 11. Bezirk von Paris die<br />

Feuerwehr alarmiert, da aus einer Wohnung<br />

Rauch drang. Die Feuerwehrleute fanden in der<br />

Wohnung die 85-jährige Mireille Knoll tot auf.<br />

Elf Mal war mit einem Messer auf sie eingestochen<br />

worden. Anschließend legte der Mörder<br />

mehrere Feuer in der kleinen Sozialwohnung<br />

und drehte den Gasherd auf.<br />

Die Polizei nahm zeitnah zwei Tatverdächtige<br />

fest. Einer der beiden, Yacine Mihoub, kannte<br />

das Opfer gut, besuchte sie seit seiner Kindheit<br />

und sah in ihr eine Art Ersatzgroßmutter. E war<br />

Stunden vor dem Mord nachweislich in ihrer<br />

Wohnung.<br />

Nach zwei Wochen Prozess verkündete der<br />

zuständige Richter Anfang November das Urteil<br />

der Geschworenen, die dem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

folgten. Sie sahen die Schuld von<br />

Yacine Mihoub und sein antisemitisches Motiv<br />

als erwiesen an. Er wurde zu lebenslanger Haft<br />

verurteilt. Der zweite Täter muss für Raub mit<br />

Todesfolge 15 Jahre lang ins Gefängnis.<br />

Sie haben<br />

Fragen an das<br />

Bundeskanzleramt?<br />

service@bka.gv.at<br />

0800 222 666<br />

Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />

(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />

+43 1 531 15 -204274<br />

Bundeskanzleramt<br />

Ballhausplatz 1<br />

1010 Wien<br />

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />

4 wına | Juni/Juli 2021<br />

Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />

auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />

bundeskanzleramt.gv.at<br />

© Xxx<br />

November.indb 4 15.11.2021 11:23:19


WINA KOMMENTAR<br />

Ein Ende des ruinösen Populismus?<br />

Immer mehr Europäer protestieren gegen den Missbrauch ihres politischen Mandats.<br />

Sieht man sich Ende 2021 in Europa und<br />

weltweit um, dann kommen nicht wenige<br />

korrupte Populisten, hohle Phrasendrescher<br />

und autoritäre Möchtegerns<br />

langsam, aber sicher ins Schleudern.<br />

ie Lage ist nicht so hoffnungslos, wie sie vor einiger<br />

Zeit noch schien. Rhetorisch geschulte Populisten<br />

aller politischer Färbungen und Richtungen<br />

hatten mit billigen Tickets die besten Plätze in Europas<br />

Staatslogen ergattert. Sieht man sich Ende<br />

2021 in Europa und weltweit um, dann kommen nicht wenige<br />

korrupte Populisten, hohle Phrasendrescher und autoritäre<br />

Möchtegerns langsam, aber sicher ins Schleudern.<br />

Im positiven Sinn dafür verantwortlich ist auch die Europäische<br />

Union: Sie handelt zwar viel<br />

Von Marta S. Halpert zu oft zögerlich, unterschätzt aber<br />

insgesamt ihre eigene Wirkmächtigkeit.<br />

Insbesondere die Bevölkerung in den ehemals kommunistisch<br />

unterdrückten Staaten ist seit ihrer EU-Mitgliedschaft<br />

nicht nur reicher und reiselustiger geworden, sondern<br />

vor allem besser informiert und daher weniger von oben steuerbar.<br />

Dank des vielgescholtenen World Wide Webs kommen<br />

sie seit Längerem ohne Bevormundung zu vielfältiger Information<br />

und bilden sich eigene Meinungen. Das gilt nicht nur<br />

für die Jungen, heute sind schon alle Altersgruppen und soziale<br />

Schichten der Gesellschaft inkludiert. Daher entwickelt<br />

sich eine selbstdenkende und selbstbestimmte societas civilis.<br />

Das führt zum Abschied vom gewohnten Wahlverhalten: Die<br />

sogenannten (großen) Volksparteien können die individuell<br />

ausgeprägten Ansprüche nicht mehr abdecken, geschweige<br />

denn befriedigen. Kleinparteien reüssieren und erfrischen<br />

damit die politische Landschaft. Regierungsbildungen werden<br />

komplizierter, denn Zielgruppenpolitik ist mühsam. Aber für<br />

das Gemeinwohl ist das effektiver, denn es finden neue Gruppierungen<br />

zu einem Block zusammen, um etwas zu realisieren,<br />

das übergeordnet allen wichtig ist.<br />

Dieser Trend begann in den USA: Dort gehört jetzt der skrupellos-hetzerische<br />

Verführer Donald Trump der Vergangenheit<br />

an. Der Stern Jair Bolsonaros, der Brasilien verantwortungslos<br />

ins Covid-Desaster führte, ist im Sinkflug. Und in<br />

unserer unmittelbaren Nachbarschaft? Nach jahrelanger Apathie<br />

und Egozentrik ist es jetzt in Ungarn so weit: Die sechs<br />

wichtigsten Oppositionsparteien – die sozialdemokratische<br />

MSZP, die gemäßigt-linke DK, die grünen LMP, Párbeszéd,<br />

das liberale Momentum und die rechte Jobbik – haben endlich<br />

verstanden, dass sie sich für die Parlamentswahlen im<br />

Jahr 2022 zusammenschließen müssen, wenn sie Ministerpräsident<br />

Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei von der Macht<br />

verdrängen wollen. Ungarns Premier regiert im zwölften Jahr:<br />

Seine Amtszeit nutzte er zu einer radikalen politischen Umgestaltung<br />

seines Landes – von der Gleichschaltung der meisten<br />

Medien bis hin zur Kontrolle des größten Teils der Justiz. Antisemitische<br />

und Anti-EU-Kampagnen gehören zum Tagesgeschäft.<br />

Ernsthafte innenpolitische Konkurrenz musste Orbán<br />

seit seinem Machtantritt 2010 kaum fürchten. Jetzt hat Ungarns<br />

vereinte Opposition einen nicht unumstrittenen ehemaligen<br />

Fidesz-Mann zum gemeinsamen Spitzenkandidaten<br />

gekürt: Peter Márki-Zay, der studierte Elektrotechniker und<br />

Marketing-Lektor an der Universität von Szeged, gibt deftige<br />

rechte Sprüche von sich, spricht von einem „neuen, sauberen<br />

Ungarn“ und von „Zigeunern“. Das Verhältnis zur EU will<br />

er verbessern, die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit zusichern.<br />

In Tschechien hat eine solide Mehrheit den der Korruption<br />

verdächtigen schlauen Populisten Andrej Babis aus dem Amt<br />

gewählt. Proteste der Zivilgesellschaft gingen diesem Machtverlust<br />

voraus. In Slowenien finden lautstarke Proteste gegen<br />

Janez Janšas Minderheitsregierung statt, weil diese die Medienfreiheit<br />

im Land empfindlich einschränkt. Während sich<br />

die Berichte über Korruption in Zusammenhang mit den EU-<br />

Aufbaugeldern in Slowenien häufen, blockiert Janša die europäische<br />

Staatsanwaltschaft, die dem Missbrauch von EU-Geldern<br />

nachgeht. Die Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in<br />

Slowenien sei noch etwas besser bestellt als in Ungarn und Polen,<br />

aber die Entwicklungen dennoch besorgniserregend, urteilen<br />

Europa-Abgeordnete.<br />

Und Polen ist endlich am Aktionsradar der EU aufgetaucht.<br />

Bleibt nur zu hoffen, dass die europafreundliche Opposition<br />

mit Unterstützung der protestwilligen Bevölkerung bald eine<br />

politische Wende ermöglicht. Ungarns Oppositionskandidat<br />

Márki-Zay klingt weder sympathisch noch wie der ersehnte liberale<br />

Heilsbringer. Aber falls er Orbán mit demokratischen<br />

Mitteln schlagen kann, besteht zumindest die Hoffnung, dass<br />

seine bunt-gewürfelten Mitstreiter an gestalterischem Einfluss<br />

gewinnen. Auch in Österreich versuchten die parlamentarischen<br />

Oppositionsparteien in der jüngsten Regierungskrise<br />

ihr Glück im Pokerspiel. Die Sozialdemokraten scheuten<br />

auch von dem „blauen Peter“ nicht zurück, das war peinlich<br />

und irritierend. Aber schon der Gedanke, dass ein zeitlich begrenztes<br />

Bündnis gegen das überhebliche, selbstherrlich regierende<br />

„System“ punkten könnte, muss die geübten Masochisten<br />

befriedigt haben.<br />

Einen Lichtblick bietet derzeit unser großer Nachbar<br />

Deutschland. Dort machen sich drei sehr unterschiedliche<br />

Parteien daran, etwas Neues zu probieren. Möge die Übung gelingen.<br />

Das wäre eine vorbildhafte Ermutigung für andere europäische<br />

Staaten, neue politische Konstellationen zu wagen.<br />

wına-magazin.at<br />

5<br />

November.indb 5 15.11.2021 11:23:20


Emotionale Verbindung<br />

DIE BRÜCKE IN DIE VERGANGENHEIT IST BALD NICHT MEHR<br />

Derzeit ist in den Kinos<br />

der Film „Marko Feingold<br />

– Ein jüdisches Leben“ zu<br />

sehen. Für diesen<br />

erzählte der damals bereits<br />

105-Jährige ein letztes<br />

Mal sein Er- und<br />

Überleben des NS-Terrors.<br />

Inzwischen ist Feingold<br />

wie die meisten der<br />

Überlebenden verstorben<br />

– Zeitgeschichte geht<br />

in Geschichte über. Was<br />

bedeutet das für die Vermittlungsarbeit,<br />

was für<br />

die Erinnerungskultur?<br />

WINA bat Expertinnen<br />

und Experten um ihre<br />

Einschätzungen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

„Es war ihr Ziel,<br />

uns umzubringen, warum sollten<br />

wir ihnen dabei helfen.“<br />

Marcello Martini, Italien<br />

Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />

wurde unter Mitwirkung<br />

ehemaliger österreichischer<br />

politischer Häftlinge in diesem<br />

Lager gegründet, die sich zum Teil in hohen<br />

politischen Ämter befanden, wie zum<br />

Beispiel Leopold Figl. Ein anderer ehemaliger<br />

Häftling, Hans Marsalek, war im Innenministerium<br />

für die KZ-Gedenkstätte<br />

tätig und legte eine große Sammlung historischer<br />

Dokumente zum KZ Mauthausen<br />

an, was 1970 in die Eröffnung der Dauerausstellung<br />

an diesem Gedenkort mündete.<br />

Für eine breitere Öffentlichkeit durch<br />

die entsprechende mediale Berichterstattung<br />

sichtbar wurden die Überlebenden<br />

des KZ Mauthausen Jahr für Jahr bei der<br />

Befreiungsfeier.<br />

„Die Bedeutung der Zeitzeugen und<br />

Zeitzeuginnen für die Erinnerungskultur<br />

wird für mich am deutlichsten bei den Befreiungsfeiern<br />

in den ehemaligen Konzentrationslagern“,<br />

sagt die Zeithistorikerin<br />

Heidemarie Uhl von der Österreichischen<br />

Akademie der Wissenschaften. „Die immer<br />

kleiner werdende Gruppe alter Männer<br />

und Frauen – welche Bilder, welches<br />

Wissen um die Grausamkeiten, die hier geschehen<br />

sind, tragen sie in sich? Die Überlebenden<br />

sind die Brücke in die Vergangenheit,<br />

mit ihren Augen versuchen wir<br />

das Lager zu sehen und das Unbegreifliche<br />

zu begreifen. Ihre Präsenz ermöglicht<br />

eine emotionale Verbindung, die in Zukunft<br />

nicht mehr möglich sein wird.“<br />

Zu Gesprächen mit Schulklassen ist<br />

heute noch einige Male im Jahr Anna Hackl<br />

„Wenn ich durch das Fenster<br />

meiner Erinnerungen schaue, sehe<br />

ich nichts als Grabsteine.“<br />

Solomon J. Salat, USA<br />

„Ich war überzeugt,<br />

dass ich überleben musste.“<br />

Leon Ceglarz, Polen<br />

aus der Familie Langthaler an der KZ-Gedenkstätte<br />

Mauthausen, um die Rettungsgeschichte<br />

während der „Mühlviertler Hasenjagd“<br />

zu erzählen, berichtet Christian<br />

Angerer, der an der Gedenkstätte für den<br />

Bereich Pädagogik verantwortlich ist. „Ansonsten<br />

gibt es keine Zeitzeugen mehr, die<br />

in der Lage sind, zur Vermittlungsarbeit an<br />

die KZ-Gedenkstätte zu kommen.“ Die von<br />

Zeitzeugen geschaffenen Text- und Bilddokumente<br />

würden in den pädagogischen<br />

Angeboten der KZ-Gedenkstätte allerdings<br />

eine wichtige Rolle spielen. Hier kommen<br />

Zeugnisse von Überlebenden etwa in Form<br />

von Erinnerungsberichten und Zeichnungen<br />

zum Einsatz. Die 2013 neu gestaltete<br />

Überblicksausstellung zur Geschichte des<br />

KZ Mauthausen enthält in einem Strang<br />

der Schau biografische Zeugnisse ehemaliger<br />

Häftlinge in Form von Texten, Fotos,<br />

Tonspuren und Videos.<br />

Insgesamt hat man darauf geachtet, so<br />

viele Zeitzeugenerinnerungen wie möglich<br />

zu dokumentieren. Von 2002 bis 2003 wurden<br />

im Zuge des Mauthausen Survivor Documentation<br />

Projects an die 860 Interviews mit<br />

Mauthausen-Überlebenden aus vielen<br />

Ländern durchgeführt, großteils wurden<br />

Audiofiles angefertigt, ein Zehntel der Gespräche<br />

wurde auf Video aufgenommen.<br />

2010 bis 2011 führte die Gedenkstätte zudem<br />

Interviews mit etwa 15 Menschen, die<br />

um Umfeld des KZ Mauthausen gelebt hatten.<br />

Viel an Dokumentationsarbeit hat in<br />

den vergangenen Jahrzehnten auch _erinnern.at_<br />

– die Plattform für Holocaust Edu-<br />

6<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 6 15.11.2021 11:23:20


„Die Musik half uns<br />

zu überleben.“<br />

Bohumil Bardo, Tschechien<br />

„Es war unglaublich schwer,<br />

Arm in Arm zu gehen, aber wir dachten,<br />

das sei eine stilvolle Sache.“<br />

Gábor Bán, Ungarn<br />

„Ich war ein<br />

hochschwangeres Skelett.“<br />

Anna Bergman (geb. Kaudrová),<br />

Großbritannien<br />

„Das Lager ist eine<br />

monströse und zum Äußersten<br />

getriebene Parodie unserer<br />

modernen Gesellschaft.“<br />

Jean Laurent Grey, Frankreich<br />

Anerkennung des Leids. Erst in den 1980er-<br />

Jahren hätten sich breitere Teile der österreichischen<br />

Gesellschaft für sie zu interessieren<br />

begonnen, nicht zuletzt angestoßen<br />

durch die TV-Serie Holocaust sowie die<br />

Waldheim-Debatte. Demmer betont aber<br />

auch: Bis heute ließen sich vermutlich Ungleichheiten<br />

mit dem Umgang mit den verschiedenen<br />

Opfergruppen nachzeichnen.<br />

„Manche Betroffene, zum Beispiel Opfer<br />

von Euthanasieverbrechen, erhielten unglaublich<br />

spät Anerkennung, auch auf offizieller<br />

Ebene (Stichwort Entschädigung).<br />

Am Beginn standen politisch Verfolgte, alle<br />

anderen Opfergruppen erhielten wesentlich<br />

später auf gesellschaftlicher und offication<br />

des Bildungsministeriums – geleistet.<br />

Seit 1976 werden in Österreich über<br />

die für politische Bildung zuständige Abteilung<br />

des Bildungsministeriums Überlebende<br />

des Holocaust aus unterschiedlichsten<br />

Opfergruppen als Zeitzeuginnen<br />

und -zeugen an Schulen eingeladen, erzählt<br />

Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeugenprojekts<br />

bei _erinnern.at_. Treibende<br />

Kraft dahinter war der Widerstandskämpfer<br />

und KZ-Überlebende Hermann Langbein.<br />

1978 gab es das erste, von da an jährlich<br />

organisierte „Zeitzeugenseminar“, bei<br />

dem Wissenschafterinnen, Lehrpersonen<br />

und Zeitzeugen zusammentreffen, einander<br />

kennenlernen und gemeinsam Inhalte<br />

für den Geschichtsunterricht diskutieren<br />

und erarbeiten. Heute sind die raren<br />

noch stattfindenden Zeitzeugengespräche<br />

als dialogische Gespräche organisiert – vortragsartige<br />

Frontalveranstaltungen traten<br />

in den vergangenen zehn Jahren nach und<br />

nach in den Hintergrund.<br />

Wobei auch hier das langsame Verschwinden<br />

der Zeitzeugen und -zeuginnen<br />

stark spürbar ist: „Im Jahr 2003 nahmen<br />

noch 44 Zeitzeugen am Seminar teil,<br />

2008 waren 32, 2020 waren zwölf Zeitzeugen<br />

angemeldet. Über die Jahre verkleinerte<br />

sich die Gruppe insbesondere durch<br />

das Ableben vieler ihrer Mitglieder“, erläutert<br />

Demmer. Die Corona-Pandemie verunmöglichte<br />

Besuche von Zeitzeugen an<br />

Schulen. So habe man schließlich Onlinebegegnungen<br />

organisiert – insgesamt zwölf<br />

solcher Onlinezeitzeugengespräche fanden<br />

bisher statt, dabei traten zwei Zeitzeugen in<br />

den Dialog mit Jugendlichen.<br />

Als positiv habe sich hier herausgestellt,<br />

dass die oft teils<br />

schon sehr beschwerliche Anreise<br />

entfällt. Vielleicht kann<br />

so das Zeitfenster, in dem<br />

Zeitzeugen erzählen, noch ein<br />

bisschen länger geöffnet bleiben.<br />

Demmer erinnert aber auch daran, dass<br />

das Wirken der Zeitzeuginnen und -zeugen<br />

nicht immer erwünscht war. „Die Erzählungen<br />

und Erinnerungen von Überlebenden<br />

der Shoah trugen zwar schon seit<br />

1945 zur geschichtswissenschaftlichen Erforschung<br />

der Zeitgeschichte bei“, so Demmer.<br />

Bis zu den Gerichtsprozessen der<br />

1960er- und 1970er-Jahre seien die Stimmen<br />

vieler Opfer insgesamt aber stark in<br />

den Hintergrund gedrängt worden.<br />

„Die Überlebenden sind die<br />

Brücke in die Vergangenheit,<br />

mit ihren Augen versuchen wir<br />

das Lager zu sehen und das<br />

Unbegreifliche zu begreifen.“<br />

Heidemarie Uhl<br />

zieller Ebene Anerkennung, auch jüdische<br />

Überlebende. Dies bewirkte mitunter sogar<br />

Gefühle der Konkurrenz und Anerkennung<br />

zwischen Zeitzeugen und -zeuginnen.“<br />

Demmer sieht bis heute als das<br />

Wichtigste im Umgang mit Überlebenden<br />

„die Anerkennung des Leids, insbesondere<br />

im Akt des empathischen Zuhörens“.<br />

Was sich ändere, wenn Zeitzeugen nicht<br />

mehr persönlich befragt werden könnten,<br />

treibe die pädagogische Fachdiskussion<br />

schon seit vielen Jahren um, berichtet<br />

Demmer. _erinnern.at_ habe hier Videos<br />

erstellt und auf deren Basis viele Unterrichtsmaterialien<br />

entwickelt. „Das persönliche<br />

Gespräch kann aber nicht ersetzt<br />

werden, es hat eine andere Qualität und<br />

Dynamik und andere Beweggründe und<br />

Ziele neben den pädagogischen.“<br />

Angerer meint dazu: „Niemanden mehr<br />

direkt befragen zu können, bedeutet, dass<br />

die Geschichte des Nationalsozialismus<br />

und des Holocaust vom kommunikativen<br />

ins kulturelle Gedächtnis übergeht. Die<br />

Verschiedenheit der Speicherung historischer<br />

Erinnerung (Historiografie, Denkmäler,<br />

Literatur, biografische Zeugnisse)<br />

rückt damit mehr in den Blickpunkt, die<br />

wına-magazin.at<br />

7<br />

November.indb 7 15.11.2021 11:23:20


Moralische Autorität<br />

„Ich will an die Leichenberge<br />

erinnern, an die toten Menschen.<br />

Es waren Unzählige.“<br />

Eva Lukash (geb. Kral), Israel<br />

HIER WERDEN<br />

ZEITZEUGENBERICHTE<br />

KONSERVIERT –<br />

EINE AUSWAHL<br />

„Manchmal haben sie dich viel geschlagen,<br />

manchmal wenig. Aber geschlagen<br />

haben sie dich jeden Tag.“<br />

Michael Horvath, Österreich<br />

KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />

mauthausen-memorial.org/de/<br />

Wissen/ZeitzeugInnen<br />

Erinnern.at<br />

weitererzaehlen.at/<br />

Yad Vashem<br />

yadvashem.org/de/holocaust/<br />

video-testimonies.html<br />

Haus der Geschichte Österreich<br />

hdgoe.at/geschichte_erzaehlt<br />

Centropa<br />

centropa.org/de/ueber-uns/<br />

unsere-interviews<br />

Fortunoff Video Archive for<br />

Holocaust Testimonies<br />

fortunoff.library.yale.edu/<br />

Nationalfonds der Republik<br />

Österreich für Opfer des Nationalsozialismus<br />

nationalfonds.org/<br />

lebensgeschichten<br />

Shoah Foundation – The Institute<br />

for Visual History and Education:<br />

sfi.usc.edu/<br />

Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München<br />

lediz.uni-muenchen.de/<br />

projekt-lediz/index.html<br />

moralische Autorität der Aussagen von Zeitzeugen<br />

und -zeuginnen ist dadurch stärkerer<br />

Konkurrenz von unterschiedlichen<br />

Formen der Geschichtserzählung ausgesetzt<br />

– ein Prozess, der schon lange begonnen<br />

hat.“ Darin liege aber auch die Chance,<br />

den konservierten Erzählungen der Zeitzeugen<br />

ihre unverzichtbare Funktion im<br />

Konzert der Erinnerungsformen zuzuweisen:<br />

die Dimension der persönlichen Erfahrung<br />

von Geschichte zu vermitteln.<br />

Einen besonders sensiblen Umgang mit<br />

solchen Erinnerungen, aber auch Objekten<br />

hat das Haus der Geschichte Österreich gewählt.<br />

„Eine Haltung des Hauses der Geschichte<br />

ist es, dass die Shoah und andere<br />

NS-Verbrechen in einer Form gezeigt werden,<br />

die die Opfer nicht weiter erniedrigt“,<br />

betont die Direktorin des Museums, Monika<br />

Sommer. „So geben beispielsweise<br />

Fotos aus der Täter- und Täterinnenperspektive<br />

deren Gewalt unerwünschten<br />

Raum, und die Konzentration auf Täterdokumente<br />

bringt die Opfer bis heute<br />

zum Schweigen. Diese Perspektive wollen<br />

wir nicht prolongieren.“<br />

Verbrechen dokumentieren. Das Haus der<br />

Geschichte präsentiere daher in seiner<br />

Hauptausstellung Objekte, durch welche<br />

die Opfer selbst sprechen, durch welche die<br />

Absicht sichtbar werde, die Verbrechen zu<br />

dokumentieren und sich dagegen zu wehren.<br />

„Dieser Zugang zeigt sich etwa im Judenstern<br />

von Lotte Freiberger, den sie geheim<br />

und gegen alle Verbote so montiert<br />

hat, dass er abgenommen und versteckt<br />

werden konnte.“ Aber auch die Stimme einer<br />

Ravensbrück-Überlebenden, die im gesamten<br />

Ausstellungsbereich über die Geschichte<br />

des Nationalsozialismus zu hören<br />

sei, sei auf Basis dieser Annäherung gewählt<br />

worden. „Die Zeitzeugin erzählt von<br />

der Deportation, von der gemeinsamen<br />

Leiderfahrung unterschiedlicher Opfergruppen,<br />

aber auch von der Weigerung,<br />

die sie erfahren hat, geraubtes Eigentum<br />

nach 1945 zurückzugeben“, erläutert Sommer.<br />

Sie spreche dabei in ihrer Erstsprache,<br />

Burgenland-Roman. Das Interview<br />

zeige damit etwas sehr Widerständiges.<br />

Diese nur in Österreich existierende Sprache<br />

hätte ausgerottet werden sollen, „aber<br />

sie ist noch da, und die Überlebenden sind<br />

nicht gebrochen.“<br />

Wichtig sei es, mit den letzten noch lebenden<br />

Zeitzeugen und -zeuginnen der<br />

NS-Herrschaft Interviews zu führen und<br />

diese in einen wissenschaftlichen Rahmen<br />

zu setzen, betont Sommer. Wie auch<br />

die durch die Coronapandemie bedingten<br />

Lockdowns gezeigt hätten, könne allerdings<br />

nichts den persönlichen Kontakt<br />

und die individuelle Begegnung ersetzen.<br />

„Das heißt aber nicht, dass es nicht möglich<br />

ist, zentrale Botschaften der Shoah-Überlebenden<br />

und auch der NS-Opfer nicht auch<br />

für nächste Generationen zu erhalten.“ Dafür<br />

brauche es aber eine Übersetzungsleistung<br />

– etwa in Form eines Vermittlungsprogrammes,<br />

wie es auch vom Haus der<br />

Geschichte Österreich angeboten werde.<br />

Die Berichte der Zeitzeuginnen und<br />

-zeugen bedürfen der Dokumentation, um<br />

als historische Quellen das Wissen um die<br />

Shoah zu erweitern und zu vertiefen und<br />

für die Zukunft zu erhalten, betont auch<br />

Heidemarie Uhl. „Was die konkrete Begeg-<br />

8<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 8 15.11.2021 11:23:20


„Lange Zeit habe ich nicht<br />

wahrgenommen, dass ich auch ein<br />

Bestandteil dieser Todesfabrik<br />

geworden war.“<br />

Hans Maršálek, Österreich<br />

„Am Ende halfen wir uns gegenseitig …,<br />

eine Gruppe, um gute Neuigkeiten<br />

auszutauschen, um sich aufzurichten.“<br />

Paul Brusson, Belgien<br />

,<br />

„Mein ganzes Leben schaut so aus,<br />

ich bin ein Kriegsveteran, ein Teilnehmer<br />

des Zweiten Weltkriegs, ein Gefangener im<br />

Konzentrationslager Mauthausen …“<br />

Martin Michalec, Slowakei<br />

„[…] dass die Shoah und andere<br />

NS-Verbrechen in einer<br />

Form gezeigt werden, die die<br />

Opfer nicht weiter erniedrigt.“<br />

Monika Sommer<br />

verstehen wir die Qualität von<br />

Testimonies, wenn wir sie auf<br />

diese Message-Funktion reduzieren.<br />

Zeitzeugen und -zeuginnen<br />

sind zuallererst Menschen,<br />

wir können sie nicht unter allen<br />

Umständen für immer am Leben<br />

erhalten.“ Aufgenommene Zeugnisse<br />

in Form von Video- und Audiointerviews<br />

hätten einen Anfang und ein Ende. Im Gegensatz<br />

zu Versuchen interaktiver Konservierung<br />

von Zeitzeugenberichten – etwa in<br />

Form von Hologrammen durch die USC<br />

Shoah Foundation, aber auch durch das<br />

Münchner Projekt LediZ, für die Zeitzeugen<br />

viele Fragen beantworteten, die dann interaktiv<br />

abgerufen werden können – würden<br />

Videointerviews nicht eine „Illusion<br />

der Unsterblichkeit“ vermitteln.<br />

Besonders sichtbar wurde der Umbruch<br />

von den mündlichen Zeugnissen<br />

hin zu aufgezeichnetem Material für Marianne<br />

Windsperger, wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />

am Wiener Wiesenthal Institut<br />

für Holocaust-Studien (VWI), im Stück Die<br />

letzten Zeugen, einem Projekt des Historikers<br />

und Schriftstellers Doron Rabinovici und<br />

des damaligen Burgtheaterdirektors Matthias<br />

Hartmann. Inszeniert worden sei dieser<br />

Übergang in dem Stück dadurch, dass<br />

Zeitzeuginnen und -zeugen noch auf der<br />

Bühne anwesend waren (die Premiere war<br />

im Oktober 2013), aber auch das Aufschreiben<br />

und Wiederlesen habe eine Rolle gespielt,<br />

so Windsperger.<br />

Bald werden in der Holocaust Education<br />

nur mehr gespeicherte Erinnerungen zum<br />

Einsatz kommen können. Die neuen Medien<br />

würden hier Chancen in der Vermittnung<br />

mit Überlebenden von Audiovisuals<br />

unterscheidet, ist die Ko-Präsenz mit einem<br />

Menschen, der seine Erfahrungen mit<br />

uns teilt, uns durch seine Person, seine Art<br />

des Erzählens unmittelbar berührt. Das ist<br />

ein Momentum, das nicht wiederholt werden<br />

kann.“<br />

Uhl beobachtet zudem einen neuen<br />

Trend: Zuletzt habe das Interesse für die<br />

historischen Orte der NS-Verbrechen erkennbar<br />

zugenommen. Das machte auch<br />

sichtbar, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus<br />

nicht allein in weit entfernten<br />

Orten, hinter Lagermauern und Stacheldraht<br />

zu verorten sind, sondern mitten in<br />

der eigenen Gesellschaft. Sie nennt dabei<br />

die Sammellager in Wien, in denen mehr<br />

als 46.500 österreichische Juden und Jüdinnen<br />

1941 und 1942 vor ihrer Deportation<br />

vom Aspangbahnhof aus interniert worden<br />

waren, als Beispiel. Derzeit erarbeite das<br />

Bundesdenkmalamt eine Karte mit NS-<br />

Opferorten, auf der mehr als 2.000 Orte<br />

eingezeichnet seien. „Die historischen Orte<br />

werden nun verstärkt zu Orten der Weitergabe<br />

der Berichte, die wir den Zeitzeugen<br />

und -zeuginnen verdanken.“<br />

Stephen Naron vom Fortunoff Video Archive<br />

for Holocaust Testimonies gibt allerdings<br />

zum Beklagen des Verschwindens<br />

der Zeitzeugen auch zu bedenken: „Das<br />

Heraufbeschwören des Endes der Zeitzeugenschaft<br />

geht Hand in Hand mit der Aufrufung<br />

der Überlebenden als moralische<br />

Instanz.“ In Zeiten, in denen gesellschaftliche<br />

Übereinkünfte ins Wanken geraten<br />

würden oder wir Krisen durchleben, würden<br />

Zeitzeugen umso mehr zu einer moralischen<br />

Autorität erklärt. „Vielleicht misslung<br />

bringen, meint Naron, er warnt aber<br />

auch vor fragwürdigen Formen der Vermittlung<br />

und kritisiert eben die Form der<br />

Hologramme. Das Fortunoff Archive, das<br />

mit dem VWI an gemeinsamen Projekten<br />

arbeitet, setze hier vor allem auf eine Podcast-Serie.<br />

„Wir haben die Erfahrung gemacht,<br />

dass das Podcast-Hören eine sehr<br />

intime Form der Begegnung mit den Testimonies<br />

ermöglicht.“<br />

Inhaltlich sieht Naron zwei Entwicklungen:<br />

die Tendenz, die Geschichte des Holocaust<br />

zu universalisieren, und die Tendenz,<br />

den Holocaust als Ereignis in der jüdischen<br />

Geschichte zu verstehen.<br />

„Wichtig erscheint mir, dass heute der<br />

Holocaust auf lokaler, nationaler und mikrogeschichtlicher<br />

Ebene verstanden und<br />

erzählt werden soll, auch dazu bieten Testimonials<br />

eine gute Gelegenheit“, so Naron.<br />

Wenn man nach Europa blicke, müsse<br />

man sagen, Deutschland habe sich mit seiner<br />

Geschichte auseinandergesetzt, in Polen<br />

und Ungarn sehe das anders aus.<br />

„Holocaustgeschichte und ihre Vermittlung<br />

leben zu einem großen Teil von und<br />

sterben mit der Bereitschaft und Offenheit,<br />

mit schweren Teilen der eigenen Geschichte<br />

umzugehen – dafür braucht man<br />

eine starke Zivilgesellschaft. Holocaustpädagogik<br />

kann diese real world problems<br />

nicht überwinden.“<br />

Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />

wına-magazin.at<br />

9<br />

November.indb 9 15.11.2021 11:23:20


Müssen uns beeilen<br />

Erinnerungen eines<br />

Widerständigen<br />

Ernst Fettner konnte der<br />

Ermordung durch die Nationalsozialisten<br />

durch Emigration nach<br />

Großbritannien entgegen.<br />

Österreich blieb ihm aber wichtig.<br />

Gemeinsam mit anderen wollte er<br />

für ein freies Österreich kämpfen<br />

– auch mit Waffen. Kurz nach seinem<br />

100. Geburtstag legte Fettner<br />

nun mit dem Buch „Geh’ du<br />

voran. Ein Jahrhundert“ seine<br />

Lebenserinnerungen vor, die zeigen:<br />

Auch wenn Zeitzeugen oft vor<br />

allem nach ihren Erlebnissen in der<br />

NS-Zeit befragt werden,<br />

ging ihr Leben weiter.<br />

Ernst Fettner:<br />

„Geh’ du voran.“<br />

Ein Jahrhundert.<br />

Hg. v. Jana Waldhör,<br />

CLIO 2021,<br />

184 S., 25 €<br />

Text & Foto: Alexia Weiss<br />

Ernst Fettner, den ich Ende September<br />

noch in seiner Wohnung besuchen<br />

konnte, bevor er nächtens<br />

stürzte und sich ein Bein brach, macht<br />

genau das klar: Ja, er sei Zeitzeuge, aber<br />

eben nicht nur. Gerne erzählt er aus seinen<br />

Kinder- und Jugendtagen, die er großteils<br />

in einem jüdischen Waisenhaus in<br />

Baden verbrachte, über seine Lehrzeit in<br />

Wien, seine Verhaftung nach der Machtübernahme<br />

durch die Nationalsozialisten,<br />

über seine Jahre in England und sein Engagement<br />

bei „Young Austria“ und wie es<br />

ihm dort gelang, Teil der britischen Armee<br />

zu werden, als Soldat der Alliierten in der<br />

Normandie zu landen und später zunächst<br />

in Deutschland, dann in Kärnten als Besatzungssoldat<br />

eingesetzt zu sein.<br />

Wichtig ist ihm aber auch all das, was<br />

nach 1945 passierte: seine Laufbahn als<br />

Journalist zunächst beim Volkswille in Klagenfurt,<br />

dann bei der Volksstimme in Wien<br />

– beides Medien der KPÖ. Seine Mitgliedschaft<br />

in der kommunistischen Partei.<br />

Seine Gewerkschaftsarbeit. Sein Leben<br />

mit seiner ersten Frau und Mutter seiner<br />

beiden Söhne, die jedoch recht früh an<br />

Krebs verstarb, seine Ehe mit seiner zweiten<br />

Frau, mit der er schließlich sogar Goldene<br />

Hochzeit feiern sollte.<br />

All das hat Fettner nun in dem Buch Geh’<br />

du voran. Ein Jahrhundert festgehalten. Der<br />

Band entstand in Zusammenarbeit mit<br />

Jana Waldhör vom Literaturhaus Wien. Er<br />

enthält neben den Erinnerungen viele Familienfotos,<br />

Dokumente, aber auch Briefe<br />

aus der NS-Zeit, darunter das letzte Schreiben<br />

des Vaters an seinen Sohn vom 27. August<br />

1939. Der Vater sollte schließlich im<br />

KZ Dachau sterben, die Stiefmutter und<br />

„[...] nach Jahrzehnten wird<br />

mir intensiv bewusst, was<br />

alle zu Tode gebrachten Angehörigen<br />

versäumt haben.“<br />

Ernst Fettner<br />

zwei seiner Halbgeschwister wurden nach<br />

Maly Trostinec deportiert und dort ermordet.<br />

Die Mutter war noch in seiner Kindheit<br />

an der Grippe verstorben, die ältere<br />

Schwester konnte sich nach Palästina retten,<br />

die jüngste Halbschwester gelangte<br />

mit einem Kindertransport nach England.<br />

Abgedruckt finden sich in dem Band<br />

auch Auszüge des Mailverkehrs zwischen<br />

Waldhör und Fettner: Sie bringen eine<br />

neue, sehr reflektierende Ebene in diese<br />

Erinnerungen. So schrieb er etwa nach<br />

Durchsicht der Fotos an Waldhör: „Insbesondere<br />

die Originale emotionalisieren<br />

auch nach vielen Jahren stark. Gerade<br />

auch nach Jahrzehnten wird mir intensiv<br />

bewusst, was alle zu Tode gebrachten Angehörigen<br />

versäumt haben, ein Leben, wie<br />

ich es geführt habe, in ähnlichen Bahnen<br />

verlaufend, in Freiheit nämlich. Es erweckt<br />

zudem ein schlechtes Gewissen, nicht genug<br />

getan zu haben, um diese Menschen<br />

zu retten.“ Und ein anderes Mal, im März<br />

2020: „Soeben erfahre ich, dass einer meiner<br />

ältesten Mitkämpfer, Hans Klamper,<br />

in der Nacht auf heute gestorben ist. Er<br />

wird schon morgen bestattet, Zentralfriedhof<br />

Tor 4/Jüdischer Friedhof. Er war mein<br />

Jahrgang, auch ein Mai-Kind. Ein Schock<br />

für mich. Ich dürfte nun einer der ältesten<br />

Mohikaner der englisch-österreichischen<br />

Jugendemigration sein. Was bedeutet das<br />

für uns? Ein Geschichterl mehr oder weniger,<br />

aber vor allem: now or never. Wir<br />

müssen uns beeilen.“<br />

Beeilt haben sich Fettner und Waldhör,<br />

und so erschien nun im Herbst dieses<br />

Buch, das sich ein bisschen wie ein Fotoalbum<br />

mit vielen, vielen hinzugefügten Erläuterungen,<br />

Erklärungen, Ergänzungen<br />

anfühlt. Hier erzählt ein Zeitzeuge<br />

nicht nur, was er erlebt<br />

hat, er lässt einen auch teilhaben<br />

an seinen Gedanken, seiner<br />

politischen Entwicklung,<br />

seinen persönlichen Familienmomenten,<br />

seinen Leidenschaften.<br />

Eine davon war, Österreich<br />

wieder als freies Land<br />

zu sehen.<br />

10<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 10 15.11.2021 11:23:20


Wenn nur die<br />

Abschiedsbilder bleiben<br />

EAufgewachsen in Łódź in einer<br />

nicht besonders religiösen, dafür<br />

sehr bildungsorientierten Familie<br />

– Marischa besuchte das Gymnasium<br />

–, war sie wie so<br />

viele andere Jüdinnen<br />

und Juden auch mit der<br />

Machtübernahme der<br />

Nazis mit einem völligen<br />

Bruch ihres Lebens<br />

konfrontiert. Die Übersiedlung<br />

ins Ghetto war<br />

dabei der erste Schock,<br />

das Leben dort geriet zu<br />

einem tagtäglichen Überlebenskampf.<br />

Der jüngere Bruder sollte dort schließlich<br />

verhungern, der Vater in ein KZ abgeholt<br />

werden, der ältere Bruder war da<br />

bereits verschollen, so blieben nur Marischa<br />

und ihre Mutter. Doch auch der<br />

Mutter ging es immer schlechter.<br />

Als schließlich die beiden Frauen<br />

in das KZ Auschwitz deportiert wurden,<br />

überlebten sie zwar beide noch<br />

den Transport (andere starben bereits<br />

im Zug), doch nach der Ankunft wurde<br />

die Mutter in der Gaskammer ermordet,<br />

während die Tochter für einen Weitertransport<br />

zu einem Arbeitseinsatz ausgesucht<br />

wurde. „Da sagte sie zu mir, und<br />

wahrscheinlich wusste sie, dass sie das<br />

nicht mehr schafft, da sagte sie noch zu<br />

mir: ‚Du wirst das schaffen.‘ Das waren<br />

ihre letzten Worte. Und ihr war klar, dass<br />

sie nach links geht und ich nach rechts.<br />

[...] Und ich kann nicht sagen, ob ich vielleicht<br />

die Kraft hätte finden müssen, mit<br />

ihr zu gehen ... Damit sie nicht allein ist<br />

bei der Vergasung.“<br />

Interessant ist, wie Maria König im<br />

Gespräch mit Antje Leetz schildert, dass<br />

sie von ihren Lieben immer nur das Bild<br />

des Abschieds im Kopf hat. Die Mutter ihrer<br />

Kindheitstage ist aus dem Gedächtnis<br />

verschwunden, was blieb war die kranke,<br />

abgemagerte Mutter, die kurz darauf ermordet<br />

werden sollte. Den kleinen Bruder<br />

behielt sie nur auf dessen Sterbebett<br />

in Erinnerung, den Vater in jenem Moment,<br />

da er abgeholt wurde.<br />

„‚Du wirst das schaffen.‘<br />

Das waren ihre letzten Worte.<br />

Und ihr war klar, dass sie<br />

nach links geht und ich nach<br />

rechts.“ Maria König<br />

Gleichzeitig schildert sie, wie sie ihr<br />

Leben gelebt und ihr Augenmerk dabei<br />

immer auf das Hier und Jetzt gerichtet<br />

hat: ihre Ehe, ein paar Jahre in New York,<br />

die allerdings hart und beschwerlich waren,<br />

die Rückkehr nach Europa und dabei<br />

bewusst in die DDR, die Möglichkeit dort,<br />

zu studieren, zu arbeiten, sowohl für ihren<br />

Mann wie auch sie, die Geburt und<br />

das Aufwachsen ihres Sohnes, mit dem<br />

die Eltern wenig über die NS-Zeit sprachen.<br />

Schöne, traurige, jedenfalls aber<br />

interessante Einsichten und Ansichten<br />

aus einem langen Leben, das durch die<br />

Shoah eine jähe Zäsur fand – auf so vielen<br />

Ebenen.<br />

Maria König (1921–2019),<br />

genannt Marischa, gehörte zu jenen<br />

Shoah-Überlebenden, die weit<br />

über 90 Jahre alt wurden. Nachdem<br />

ihr Mann, ebenfalls ein Überlebender,<br />

gestorben war, suchten<br />

sie immer öfter Albträume heim.<br />

Das, was sie ein Leben lang zur<br />

Seite geschoben hatte, kam nun<br />

verstärkt wieder hoch. In vielen<br />

Gesprächen erzählte sie der Rundfunkautorin<br />

und Herausgeberin<br />

Antja Leetz aus ihrem Leben, aber<br />

auch, was sie im Hier und Jetzt bewegte.<br />

Diese Erinnerungen sind<br />

nun unter dem Titel „Marischa –<br />

mehr als ein Wunder“ im Wallstein<br />

Verlag erschienen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

Maria König/Antje Leetz<br />

(Aufzeichnung):<br />

Marischa – mehr als ein Wunder.<br />

Eine Überlebensgeschichte.<br />

Wallstein 2021,<br />

144 S., 20,95 €<br />

© Wallstein Verlag<br />

wına-magazin.at<br />

11<br />

November.indb 11 15.11.2021 11:23:20


Neuer Grad der Verfolgung<br />

„... ich bin verurteilt, so<br />

aus der Welt zu gehen ...“<br />

An jene dunkle Zeit, als der Tod<br />

als einziger Ausweg für zumindest<br />

1.088 Wiener Jüdinnen<br />

und Juden erschien, erinnerten<br />

die Misrachi, das Wiener<br />

Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien<br />

und das Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen<br />

Widerstandes am<br />

8. November mit einem Symposium<br />

und einer Gedenkveranstaltung.<br />

Mit der öffentlichen<br />

Verlesung „Das Echo der<br />

Namen“ vor dem Mahnmal auf<br />

dem Judenplatz wurde ihrer<br />

zum Abschluss gemeinsamen<br />

gedacht.<br />

Von Alexia Weiss<br />

as Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen Widerstandes<br />

hat vor vielen Jahren aus Quellen wie den<br />

Sterbebüchern der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

(IKG) Wien, den Deportationskarteien<br />

sowie Friedhofskarteien die<br />

Namen von Juden und Jüdinnen zusammengetragen,<br />

die sich in der Zeit des NS-<br />

Terrorregimes zwischen 1938 und 1945<br />

in Österreich das Leben nahmen. Blättert<br />

man heute durch diese Aufstellung,<br />

liest sich das wie ein Tagebuch der Verzweiflung:<br />

„Selbstmord durch Schlafmittel“,<br />

„Selbstmord durch Sprung aus dem<br />

Fenster“, „Selbstmord durch Erschießen“,<br />

„Selbstmord durch Ertrinken“, „Selbstmord<br />

durch Zyancalivergiftung“ – und<br />

auffällig oft findet sich hier eben die Beschreibung<br />

„Selbstmord durch Leuchtgasvergiftung“.<br />

Dabei handelt es sich um<br />

eine Kohlengasvergiftung.<br />

Der österreichisch-israelische Historiker<br />

Herbert Rosenkranz (1924–2003) widmete<br />

den Selbstmorden von Juden und<br />

Jüdinnen 1978 ein Kapitel in seinem Buch<br />

Verfolgung und Selbstbehauptung der Juden in<br />

Österreich 1938–1945. Darin berichtet er<br />

auch über die Außenwahrnehmung dieses<br />

Phänomens und zitiert etwa die New<br />

York Times, die am 23. März 1938 berich-<br />

Kolisch Eva,<br />

geb. 5.7.1888, letzte Adresse:<br />

Wien 2, Große Pfarrgasse 4,<br />

Selbstmord durch<br />

Leuchtgasvergiftung<br />

am 20. März 1938<br />

Kohut Max,<br />

geb. 16.5.1875, letzte Adresse:<br />

Wien 7, Seidengasse 25,<br />

Selbstmord durch<br />

Erhängen<br />

am 17. März 1938<br />

Sonnenfeld Elfriede,<br />

geb. 3.12.1894, letzte Adresse:<br />

Wien 6, Mariahilfer Straße 126,<br />

Selbstmord durch<br />

Leuchtgasvergiftung<br />

am 15. März 1938<br />

© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />

12<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 12 15.11.2021 11:23:23


Reibpartie als spezielle Form der Demütigung: Jüdische Bürgerinnen und<br />

Bürger wurden gezwungen, die Straßen zu schrubben. Teile der Bevölkerung<br />

standen dabei und sahen zu – März 1938.<br />

© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />

tete: „Eines wird nun klar: Während in<br />

Deutschland die ersten Opfer der Nazis<br />

Linksparteien waren – Sozialisten und<br />

Kommunisten –, sind es in Wien die Juden,<br />

die in erster Linie unter dem revolutionären<br />

Angriff der Nazis zu leiden haben.<br />

In 14 Tagen ist es gelungen, die Juden<br />

einem unendlich härteren Regime zu unterwerfen,<br />

als es in Deutschland in einem<br />

Jahr erreicht wurde. Deshalb ist die<br />

tägliche Liste von Selbstmorden so lang,<br />

denn die Juden sind schutzlos Verhaftung,<br />

Plünderung, Beraubung ihres Lebensunterhalts<br />

und der Wut des Mobs<br />

ausgesetzt.“<br />

Pogromartige Zustände. Der britische<br />

Journalist George Eric Rowe Gedye wiederum<br />

hielt zu den Vorgängen im März<br />

1938 laut Rosenkranz fest: „Von all den<br />

Schrecken, denen Juden, österreichische<br />

Patrioten und österreichische Demokraten<br />

– eigentlich alle Nicht-Nazis – seit<br />

dem 11. März ausgesetzt waren, ist Diebstahl<br />

und Raub der kleinste. Ich glaube<br />

nicht, dass ich nach einigen Tagen irgendwelche<br />

Klagen oder Ängste darüber<br />

von Juden hörte; es wurde eben als unabwendbar<br />

angenommen. Viel entsetzlicher<br />

jedoch war die Selbstverständlichkeit, mit<br />

der jede jüdische Familie nunmehr den<br />

Selbstmord von Familienmitgliedern als<br />

ein normales und natürliches Ereignis<br />

hinnahm. Es war einfach unmöglich, irgendjemandem<br />

außerhalb Österreichs<br />

verständlich zu machen, mit welcher resignierter<br />

Sachlichkeit die österreichi-<br />

schen Juden damals von Selbstmord als<br />

einem alltäglichen Ausweg aus ihrer entsetzlichen<br />

Lage sprachen.“<br />

Unter den Menschen, die Suizid begangen,<br />

waren auch prominente Namen. Der<br />

Historiker Tim Corbett nennt hier etwa<br />

Egon Friedell, der sich vor der drohenden<br />

Festnahme durch SA-<br />

Männer am 16. März 1938<br />

durch einen Sprung aus<br />

dem Fenster entzog. Corbett<br />

veröffentlichte heuer<br />

das über 1.000 Seiten umfassende<br />

Werk Die Grabstätten<br />

meiner Väter. Die jüdischen<br />

Friedhöfe in Wien. Aktuell arbeitet<br />

er sich durch Memoiren<br />

jüdischer Österreicher,<br />

die geflüchtet sind, verrät er im Gespräch<br />

mit WINA. Und auch in diesen Aufzeichnungen<br />

kommen ihm immer wieder Berichte<br />

über Selbstmorde unter.<br />

Selbstmorde im Jahr 1938 würden eher<br />

rund um das Novemberpogrom vermutet,<br />

sagt Corbett. „Aber in Wien gab es eben<br />

schon im März pogromartige Zustände.“<br />

Shoshana Duizend-Jensen, Historikerin<br />

im Wiener Stadt- und Landesarchiv, erinnert<br />

zudem an eine zweite Welle von<br />

Selbstmorden – und zwar 1941/1942, als<br />

Menschen in die Sammellager im zweiten<br />

Bezirk einberufen wurden, von denen aus<br />

sie schließlich deportiert werden sollten.<br />

Da habe sich etwa 1941 eine Elsa Winter<br />

durch die Einnahme von Schlaftabletten<br />

getötet. Im selben Jahr habe eine andere<br />

„In 14 Tagen ist es gelungen, die<br />

Juden einem unendlich härteren<br />

Regime zu unterwerfen, als<br />

es in Deutschland in einem Jahr<br />

erreicht wurde.“ New York Times<br />

Jüdin, Amalie Flaschner, versucht, sich<br />

im Sammellager das Leben zu nehmen<br />

– auch sie verwendete Schlafmittel und<br />

verstarb schließlich im Rothschild-Spital.<br />

Corbett betont zudem, dass ab 1941<br />

auch Nicht-Glaubensjuden, darunter<br />

oftmals Menschen, die von den Nazis einer<br />

Mischlingskategorie zugeordnet wurden,<br />

durch das verpflichtende Tragen des<br />

gelben Sterns als Juden identifiziert werden<br />

konnten. Das sei ein neuer Grad der<br />

Verfolgung gewesen. Und auch Menschen,<br />

die eben erst durch diese äußere<br />

Zuschreibung zu Juden wurden, wählten<br />

nun vermehrt den Freitod. Corbett schildert<br />

hier das Beispiel eines Offiziers, der<br />

im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, ein<br />

Gegner der Nazis war, einen jüdischen<br />

Großelternteil hatte und sich schließlich<br />

das Leben nahm, um seiner eigenen Verfolgung<br />

zuvorzukommen. Spannend findet<br />

der Historiker in diesem Zusammenhang,<br />

dass offenbar doch viele Menschen<br />

wussten, was sonst auf sie zugekommen<br />

wäre.<br />

wına-magazin.at<br />

13<br />

November.indb 13 15.11.2021 11:23:25


Experimentierfeld<br />

Während die Nationalsozialisten<br />

in Deutschland ab 1933<br />

nach und nach ihre Juden und<br />

Jüdinnen ausgrenzende und<br />

verfolgende Politik entwickelten,<br />

ging in Wien alles Schlag<br />

auf Schlag: Nach der Eingliederung<br />

Österreichs ins Deutsche<br />

Reich im März 1938 erleidete<br />

die jüdische Bevölkerung sofort<br />

Ausgrenzung und Verfolgung –<br />

die Pogrome in Wien zeigten ein<br />

bis dahin beispielloses Gewaltpotenzial<br />

in der Gesellschaft.<br />

Von Alexia Weiss<br />

SS-Sperrposten bei Hitlers Ankunft in Wien. Es<br />

wird greifbar, wie willkommen in Österreich die judenfeindliche<br />

Politik der Nazis war.<br />

© ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung; Lorenz Paulus/hdgö<br />

14<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 14 15.11.2021 11:23:29


ALS IN WIEN<br />

DIE RADIKALISIERUNG<br />

ERPROBT WURDE<br />

Einen passenderen Ort für<br />

diese Ausstellung hätte man<br />

nicht finden können: Bis 10.<br />

Dezember ist am Heldenplatz<br />

die Freiluftschau Das<br />

Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich<br />

und die Shoah zu sehen. Das gemeinsame<br />

Projekt vom Haus der Geschichte Österreich,<br />

der Österreichischen Akademie<br />

der Wissenschaften (ÖAW) und des Instituts<br />

für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien nimmt sich kein Blatt vor den<br />

Mund. Hier wird greifbar, wie willkommen<br />

in Österreich die judenfeindliche<br />

Politik der Nazis war.<br />

Adolf Eichmann richtete im von den<br />

Nationalsozialisten zuvor enteigneten<br />

Wiener Palais Rothschild die „Zentralstelle<br />

für jüdische Auswanderung“ ein.<br />

Im ersten Schritt ihrer Verfolgungspolitik<br />

wollten die Nazis so viele Juden wie möglich<br />

dazu bringen, das Land zu verlassen.<br />

Von den etwas mehr als 200.000 österreichischen<br />

Juden und Jüdinnen verließen<br />

innerhalb eines Jahres mehr als 100.000<br />

das Land. In Eichmanns „Zentralstelle“<br />

wurde darauf geschaut, dass sie möglichst<br />

wenig Hab und Gut mitnehmen<br />

konnten. Sowohl Enteignung wie auch<br />

Vertreibung wurden hier effizient organisiert.<br />

Eichmann sollte das nicht zum<br />

Nachteil gereichen. Sein „Wiener Modell“<br />

hinterließ Eindruck, er wurde in das<br />

Reichssicherhauptamt in Berlin berufen.<br />

Wien 1938. Im<br />

ersten Schritt ihrer<br />

Verfolgungspolitik<br />

wollten die Nazis so Wie Vieh in den Zug. Die „Zentralstelle“<br />

viele Juden wie möglich<br />

dazu bringen, wurde indessen zum Schalthebel in der<br />

das Land zu verlassen.<br />

Von den etwas ging es darum, Juden und Jüdinnen in<br />

nächsten Stufe der Verfolgung: Ab 1941<br />

mehr als 200.000 ein Lager oder – wie etwa im Fall der<br />

österreichischen<br />

Transporte in Vernichtungsstätten wie<br />

Juden und Jüdinnen<br />

verließen innerhalb Maly Trostinec – zum Ort ihrer sofortigen<br />

Ermordung zu verbringen. In Wien<br />

eines Jahres mehr als<br />

100.000 das Land. wurde dabei die Abwicklung dieser De-<br />

hdgoe.at/wiener_modell_der_radikalisierung<br />

portationszüge erprobt, die Stadt sollte<br />

als erste im nationalsozialistischen Unrechtsstaat<br />

„judenrein“ werden. Menschen,<br />

die hier aus rassischen Gründen<br />

nicht mehr erwünscht waren, wurden<br />

zunächst in eigens eingerichteten Sammellagern<br />

im zweiten Bezirk interniert.<br />

Dann wurden immer rund 1.000 Personen<br />

am Aspangbahnhof wie Vieh in einen<br />

Zug verladen, in dem sie dann unter<br />

menschenunwürdigen Bedingungen<br />

ihre meist letzte Reise antraten.<br />

Fünf solcher Transporte organisierte<br />

die Wiener Zentralstelle im Februar<br />

und März 1941. Das Modell schien sich<br />

aus Sicht der Nationalsozialisten zu bewähren.<br />

Im Oktober 1941 begannen die<br />

reichsweiten Transporte vom Aspangbahnhof<br />

aus und ging in das Ghetto in<br />

Łódź. Der erste von ihnen startete am 15.<br />

Oktober 1941 und damit vor 80 Jahren.<br />

Von den rund 1.000 an diesem Tag deportierten<br />

Menschen überlebten schließlich<br />

nur einige wenige.<br />

Ohne etwas zu beschönigen führen die<br />

Kuratorinnen dieser Ausstellung, Michaela<br />

Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl und<br />

Isolde Vogel, vor, wie Wien als Motor der<br />

In Wien wurde die Abwicklung der Deportationszüge<br />

erprobt, die Stadt sollte als erste im nationalsozialistischen<br />

Unrechtsstaat „judenrein“ werden.<br />

Radikalisierung des Antisemitismus im<br />

NS-Staat fungierte. Österreich wurde<br />

zum Experimentierfeld nationalsozialistischer<br />

Verfolgungspolitik. Das just an<br />

jenem Platz zu thematisieren, an dem<br />

Adolf Hitler nach dem Einmarsch der NS-<br />

Truppen in Österreich jubelnd empfangen<br />

wurde, ist nicht nur stimmig. Eine<br />

solche Ausstellung im öffentlichen Raum<br />

bringt dieses Narrativ, das den Opfermythos<br />

schon lange hinter sich gelassen hat,<br />

vielleicht auch näher an jene Menschen,<br />

die sich normalerweise nicht eingehend<br />

mit Zeitgeschichte befassen.<br />

wına-magazin.at<br />

15<br />

November.indb 15 15.11.2021 11:23:34


Quadrate aus Messing<br />

Acht Stolperstseine, verlegt vor dem ehemaligen Salzburger Polizeigefängnis,<br />

gedenken an acht Frauenschiksale, die unterschiedlicher nicht sein könnten.<br />

„Es begann mit<br />

Denunziation<br />

und endete<br />

mit der<br />

Ermordung“<br />

In der Stadt Salzburg wurden<br />

bisher 477 Stolpersteine<br />

zur Erinnerung an NS-<br />

Opfer verlegt. Jüngst für acht<br />

Frauen vor dem ehemaligen<br />

Polizeigefängnis.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

* Persönliche Anmerkung der Autorin: Einziger<br />

Schandfleck dieses wichtigen Projektes ist die Tatsache,<br />

dass die Erinnerungsschilder auf dem Trottoir<br />

und vor Haustoren verlegt sind, wo man unweigerlich<br />

auf sie „treten und beschmutzen“ muss.<br />

Das ist ein trauriger Kompromiss, der wegen der<br />

Eigentumsverhältnisse eingegangen wurde.<br />

Viel zu leise und bescheiden<br />

heißt es: „Einladung zur Verlegung<br />

von acht Stolpersteinen<br />

für Frauen vor dem ehemaligen<br />

Salzburger Polizeigefängnis.“ Denn<br />

hinter dieser lakonischen Ankündigung<br />

verbirgt sich Erfreuliches und Erschütterndes:<br />

1. ein bedeutendes Erinnerungsprojekt,<br />

das vom Dachverband Salzburger<br />

Kulturstätten betreut wird, und 2. acht<br />

ergreifende Frauenschicksale, die unterschiedlicher<br />

nicht sein könnten – aber<br />

trotzdem die dramatische Verfolgung und<br />

Vernichtung durch die Nationalsozialisten<br />

gemeinsam haben. Diese acht Frauen,<br />

derer Ende Oktober durch die Verlegung<br />

von quadratischen Messingplatten mit<br />

ihrem Namen gedacht wurde, waren katholisch,<br />

jüdisch, aufmüpfig, widerständisch<br />

oder nur ehrlich zu sich selbst.<br />

Unter dem talmudischen Motto Ein<br />

Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen<br />

ist steht dieses Projekt des deutschen<br />

Künstlers Gunter Deming, das bereits<br />

seit 1996 in ganz Europa ein Begriff<br />

ist. Im Jahr 2007 hat eine überparteiliche<br />

Plattform von über 400 Personen – mit<br />

Unterstützung der Stadt Salzburg – dieses<br />

international beachtete Erinnerungswerk<br />

an die Salzach gebracht, wo bereits<br />

477 Stolpersteine verlegt wurden.* „Unser<br />

Anliegen ist es, gegen das Vergessen<br />

zu arbeiten“, schreibt Thomas Randisek,<br />

der sich gemeinsam mit Ingeborg Haller<br />

und Gert Kerschbaumer dafür engagiert.<br />

„Es geht darum, die Erinnerung an<br />

die Vertreibung und Vernichtung von Juden,<br />

Roma und Sinti, politisch Verfolgten,<br />

Homosexuellen, Zeugen Jehovas und<br />

Menschen mit Beeinträchtigungen und<br />

psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus<br />

lebendig erhalten.“<br />

Das Projekt finanziert sich über die<br />

private Initiative in Form von jährlich finanzierten<br />

Patenschaften, die einzelne<br />

Menschen für die individuellen Stolpersteine<br />

übernehmen, und den engagierten<br />

Einsatz zahlreicher Bürger der Stadt,<br />

Historiker und Wissenschafter, Künstler<br />

(u. a. Karl-Markus Gauß, Vladimir Vertlib),<br />

Politiker aus allen Parteien (u. a. Gabi<br />

Burgstaller), Wirtschaftstreibende (u. a.<br />

Wilhelm Hemetsberger).<br />

Annas Todesurteil. Anna Schneider, 1900<br />

in Hallein geboren und getauft, war das<br />

älteste von sechs Kindern des Zollwachebeamten<br />

Josef Schneider. Dokumentiert<br />

ist, dass sie am 25. April 1944 vom Volksgerichtshof<br />

wegen „Zersetzung der Wehrkraft“<br />

zum Tode verurteilt und am 9. Juni<br />

1944 in Berlin-Plötzensee enthauptet<br />

wurde. Anna Schneider, die eine Hauptund<br />

Handelsschule besucht hatte, arbeitete<br />

als Hotelangestellte zuletzt in Zell am<br />

See. Dort wurde sie wegen kritischer Äußerungen<br />

gegen das kriegsführende Nazi-<br />

Regime denunziert und von der Gestapo<br />

Salzburg verhaftet. Sie wurde nicht in<br />

Salzburg vor Gericht gestellt, sondern<br />

nach Berlin, den Sitz des Volksgerichtshofes,<br />

deportiert.<br />

© Screenshot/Salzburger Stolpersteine; stolpersteine-salzburg.at<br />

16<br />

wına | November 2021<br />

November.indb 16 15.11.2021 11:23:34


477 Stolpersteine entlang der Salzach,<br />

initiiert von einer überparteilichen Plattform,<br />

unterstützt von der Stadt Salzburg.<br />

© Screenshot/Salzburger Stolpersteine; stolpersteine-salzburg.at<br />

Wie jüngste Forschungen belegen, gehörte<br />

Schneider zu den 182 Exekutionsopfern,<br />

die auf einer Liste des Anatomen<br />

Dr. Hermann Stieve standen. Unter dem<br />

NS-Regime betrieb der Arzt in der Berliner<br />

Charité spezielle Experimente an<br />

weiblichen Geschlechtsorganen. Dennoch<br />

konnte Doktor Stieve nach 1945<br />

seine Karriere unbehelligt fortsetzen, zuletzt<br />

in Ost-Berlin als Träger des Nationalpreises<br />

der DDR.<br />

den, ist dokumentiert, dass die 19-jährige<br />

Anna Ferfolja aus slowenisch Gorizia, die<br />

21-jährige Alida Miniussi aus Monfalcone<br />

und die 44-jährige Slowenin Angela Fumeo<br />

als politische Häftlinge am 30. Jänner<br />

1944 aus Triest verschickt wurden.<br />

Das gewaltsame Ende der Partisaninnen<br />

ist ungeklärt, da die SS vor der Befreiung<br />

des KZ Ravensbrück am 30. April 1945 alle<br />

Zeugnisse ihrer Verbrechen inklusive des<br />

Totenbuchs vernichtete.<br />

Die Geschichte der drei Italienerinnen<br />

steht weiter unten auf der Liste der mörderischen<br />

Verbrechen Globocniks: Nach<br />

dem „Anschluss“ Österreichs agierte er<br />

einige Monate als Gauleiter in Wien und<br />

war maßgeblich für die Judenverfolgung<br />

mitverantwortlich. Infolge der deutschen<br />

Besetzung Polens wurde er SS- und Polizeiführer<br />

im Distrikt Lublin, im Generalgouvernement<br />

unterstanden ihm<br />

die Vernichtungslager Belzec, Sobibor<br />

und Treblinka. Ende Mai 1945 nahmen<br />

ihn Angehörige der britischen Armee<br />

in Kärnten fest; nach seinem<br />

ersten Verhör beging<br />

er Selbstmord.<br />

Unter den acht Frauen,<br />

in deren Gedenken am Rudolfsplatz<br />

3 Namensplatten<br />

verlegt wurden, sind auch<br />

zwei Jüdinnen: Am 28. November<br />

1943 ließ die Gestapo<br />

Salzburg Regine und<br />

Federica Verschleisser, Mutter<br />

und Tochter, vom Polizeigefängnis<br />

der Stadt Salzburg nach Auschwitz<br />

deportieren. Beide wurden in diesem<br />

Vernichtungslager ermordet. Erwiesen ist<br />

ferner, dass Adolfo Verschleisser, Ehemann<br />

und Vater der beiden, im KZ Dachau<br />

zu Tode kam. „Mitglieder der Familie<br />

Verschleisser suchten wir allerdings<br />

vergeblich unter den Terroropfern, die<br />

in der 1991 publizierten Dokumentation<br />

Widerstand und Verfolgung in Salzburg oder<br />

in der Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs<br />

des österreichischen Wi-<br />

Odilo Globocnik, der Triestiner Österreicher.<br />

In der besetzten italienischen Hafenstadt<br />

Triest befand sich seit September 1943 die<br />

von SS-Gruppenführer Odilo Globocnik<br />

geleitete Zentrale der „Operationszone<br />

Adriatisches Küstenland“ zur Verfolgung<br />

von Juden und zur Bekämpfung von Partisanen<br />

im Gebiet Friauls, Istriens und im<br />

Karst. Odilo Globocnik, ein in Triest geborener<br />

Österreicher, war verantwortlich<br />

für Geiselerschießungen, für Folter und<br />

Morde im KZ Risiera di San Sabba und für<br />

Deportationen von politischen und jüdischen<br />

Häftlingen – mit Zwischenstation<br />

in Salzburg.<br />

Verbürgt ist, dass drei italienische<br />

Frauen am 4. Februar 1944 von Salzburg<br />

in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert<br />

wurden. Dies geschah aber nicht direkt<br />

über Linz und Prag, sondern – vermutlich<br />

irrtümlich – in einem Sammeltransport<br />

über Mauthausen nach Ravensbrück.<br />

Durch die „Häftlings-Personal-Karten“,<br />

die im KZ-Mauthausen angelegt wurderstandes<br />

(DÖW) aufscheinen“, berichtetet<br />

Thomas Randisek, Geschäftsführer<br />

des Erinnerungsprojektes. „Dennoch ist<br />

es uns mittlerweile gelungen, die Identität<br />

der Shoah-Opfer Regine, Adolfo und<br />

Federica Verschleisser zu klären: Regine<br />

wurde 1879 im österreichischen Kronland<br />

Galizien als Tochter des Ehepaares Lea<br />

und Leo Seemann geboren“, Adolfo, ihr<br />

späterer Mann, 1872 in Lemberg. Nachforschungen<br />

des engagierten Teams in<br />

Salzburg belegen, dass die dreiköpfige<br />

„Es geht darum, die Erinnerung<br />

an die Vertreibung und Vernichtung<br />

von Juden, Roma und Sinti,<br />

politisch Verfolgten […] im<br />

Nationalsozialismus lebendig<br />

erhalten.“ Thomas Randisek<br />

Familie einige Jahrzehnte in der vormals<br />

österreichischen Hafenstadt Pola (kroatisch<br />

Pula) an der Adria lebte.<br />

Wie aus dem fragmentarisch überlieferten<br />

Haftbuch des Polizeigefängnisses<br />

der Stadt Salzburg hervorgeht, ließ die<br />

Gestapo Salzburg rund 300 Frauen ausländischer<br />

Herkunft nach Auschwitz und<br />

über 100 Frauen nach Ravensbrück deportieren.<br />

Wenigstens acht dieser Opfer sind<br />

jetzt nicht gänzlich vergessen, weil ihre Namen<br />

noch frisch auf Messing glänzen.<br />

wına-magazin.at<br />

17<br />

November.indb 17 15.11.2021 11:23:35


Kanzler im Nadelstreif<br />

Ein Politiker nicht<br />

nur mit Haltung<br />

Autorin Margaretha Kopeinig präsentiert eine Biografie<br />

des ehemaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky mit<br />

allen Facetten seiner aufrechten Persönlichkeit.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

Nostalgische Sehnsucht gepaart<br />

mit großem Staunen<br />

über so schnell verblasste Erinnerungen<br />

erfassen einen,<br />

wenn man im Oktober 2021 inmitten der<br />

innenpolitischen Turbulenzen das Buchporträt<br />

über die Person und die Kanzlerschaft<br />

von Franz Vranitzky aus der Feder<br />

von Margaretha Kopeinig liest. Die Sehnsucht<br />

ist schnell erklärt: Mit charakterlich<br />

einwandfreier Haltung in innen- wie<br />

außenpolitischen Belangen, kühl temperierter<br />

Sachlichkeit, Anstand und Stil zugleich<br />

gelang es dem Hernalser Arbeiterkind<br />

sowohl in der SPÖ wie auch in der<br />

Republik einen neuen Kurs einzuschlagen.<br />

Eines seiner größten Verdienste: Als<br />

Staatsmann führte er Österreich mit der<br />

ÖVP zum EU-Beitritt 1995.<br />

Aber schon in den Jahren 1986/87, als<br />

er die außenpolitische Isolation Österreichs<br />

im Zuge der „Waldheim-Affäre“<br />

durchbrach und das Verhältnis sowohl<br />

zu den USA wie auch zu Israel wesentlich<br />

verbesserte, das seinen Botschafter<br />

nach der Wahl Waldheims abgezogen<br />

hatte, war der gelernte Banker zu seiner<br />

Hochform aufgelaufen. Mit seinem historischen<br />

Bekenntnis zu Österreichs Mitschuld<br />

an der Shoah 1991 vor der Knesset<br />

in Jerusalem begrub Vranitzky als<br />

erster österreichischer Politiker offiziell<br />

die „Opferthese“ und leitete damit ein<br />

neues Kapitel in den bis dahin schwierigen<br />

Beziehungen zwischen Israel und<br />

Österreich ein. Auch die jüdischen Ge-<br />

Margaretha Kopeinig hat<br />

unter anderem auch Monografien<br />

über Martin Schulz und Jean-Claude<br />

Juncker herausgebracht.<br />

„Ich habe die Sozialdemokratie<br />

immer<br />

als ein Bollwerk<br />

gegen den Nationalsozialismus<br />

empfunden,<br />

daher habe<br />

ich für mich die<br />

Sozialdemokratie<br />

als Antithese zum<br />

Nationalsozialismus<br />

aufgebaut.“<br />

Franz Vranitzky<br />

© Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione<br />

18 wına | November 2021<br />

November.indb 18 15.11.2021 11:23:52


Historisches Bekenntnis<br />

© Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione<br />

ganze Land mit Bravour<br />

und Größe.<br />

Die gebürtige Kärntner<br />

Autorin Kopeinig, die<br />

in Wien Soziologie, Politikwissenschaft<br />

und Geschichte<br />

studierte und danach<br />

promovierte, schloss<br />

noch ein Post-graduate-<br />

Studium an der Universidad<br />

de los Andes in Bogotá,<br />

Kolumbien, an. „Mein erstes<br />

Interview mit Franz Vranitzky<br />

habe ich als Redakteurin<br />

der Arbeiter-Zeitung<br />

am 24. November 1990 geführt.<br />

Der Titel dieses Interviews<br />

lautete „Umwelt kann<br />

nicht warten – das Thema ist<br />

aktueller denn je“, schreibt<br />

Kopeinig. Der Bundeskanzler legte damals<br />

eine Umweltcharta vor, die zu internationalem<br />

Handeln zwingen sollte. Sein Fazit<br />

im Jahr 1990: „Politiker haben nicht mehr<br />

die Zeit abzuwarten.“ Kann sich irgendjemand<br />

daran erinnern, wie visionär dieser<br />

Kanzler war? Seine Partei heute offensichtlich<br />

nicht.<br />

Doch die langjährige Brüssel-Korrespondentin<br />

und spätere Leiterin des Europaressorts<br />

beim Kurier in Wien erinnert<br />

in ihrem neuen Buch noch an ein weiteres<br />

hochbrisantes Ereignis, das durchaus<br />

Parallelen zum Heute aufweist: „Die SPÖ<br />

konnte die Vorwürfe, sie würde hinter<br />

den Enthüllungen über Waldheims Vermeinden<br />

Österreichs atmeten damals erleichtert<br />

auf.<br />

Das „andere Österreich“. Margaretha Kopeinig<br />

lässt mit ihrer faktenreichen und<br />

gut lesbaren Biografie nicht nur die Herkunft,<br />

Ausbildung und Persönlichkeit<br />

Franz Vranitzkys Revue passieren, sondern<br />

erinnert an vieles, das dieser „Kanzler<br />

im Nadelstreif“, mit dem gar nicht wenige<br />

Genossen lange fremdelten, schon<br />

vorgedacht, aber auch im politischen Alltag<br />

bewältigt hat. Er wurde nämlich 1986<br />

auch über Nacht Kanzler von Rot-Blau, als<br />

SPÖ-Chef Fred Sinowatz infolge der Wahl<br />

Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten<br />

zurücktrat. Als Jörg Haider durch einen<br />

Putsch in der FPÖ an die Macht kam,<br />

beendete er die Koalition. Nach der bitter<br />

geführten Auseinandersetzung um Waldheim<br />

waren SPÖ und ÖVP böse verfeindet,<br />

das Land in schwerer Krise, die Verstaatlichte<br />

pleite und einige SPÖ-Minister bald<br />

in wilde Skandale verwickelt – Lucona und<br />

Noricum. Bei Vranitzkys erster Auslandsreise,<br />

die ihn im Mai 1987 nach Amsterdam<br />

führte, war die Verfasserin dieser<br />

Zeilen als Journalistin dabei.<br />

Mit freundlicher Miene und bewundernswerter<br />

Contenance repräsentierte<br />

er Österreich in den Niederlanden, ohne<br />

den geächteten und von den USA knapp<br />

davor auf die Watchlist gesetzten Bundespräsidenten<br />

irgendwie zu desavouieren.<br />

Er verkörperte das Bild des „anderen“ Österreich,<br />

aber im Ausland vertrat er das<br />

Margaretha Kopeinig:<br />

Franz Vranitzky.<br />

Politik mit Haltun.<br />

Czernin Verlag 2021,<br />

272 S., € 25<br />

gangenheit stehen und über Mittelsmänner<br />

Informationen und Unterlagen an den<br />

World Jewish Congress und an die New York<br />

Times weitergegeben haben, nicht überzeugend<br />

entkräften“, schreibt Kopeinig.<br />

Bis heute seien sich Historiker über die<br />

Hintergründe der Enthüllungen im Unklaren.<br />

Weitreichende Konsequenzen. Franz Vranitzky<br />

ging in den zahlreichen Gesprächen<br />

mit Kopeinig, die unter anderem Monografien<br />

über Martin Schulz und Jean-Claude<br />

Juncker herausgebracht hat, davon aus,<br />

„dass Bundeskanzler Sinowatz keine parteiinterne<br />

Anordnung getroffen hat, die<br />

Wehrmachtsvergangenheit Kurt Waldheims<br />

zu einem Thema im Wahlkampf 1986<br />

zu machen“, zitiert die<br />

„Die Politik ist<br />

eine Berufung und<br />

ein Beruf zugleich.<br />

Für diesen Beruf<br />

braucht man<br />

seine ganze Persönlichkeit,<br />

sein<br />

ganzes Sein und<br />

sein ganzes Ich.<br />

Sonst funktioniert<br />

es nicht. […] Dieser<br />

Gedanke ist mir<br />

immer wichtig<br />

gewesen.“<br />

Franz Vranitzky<br />

Autorin aus Vranitzkys<br />

eigenen Memoiren<br />

Politische Erinnerungen.<br />

„Trotzdem wurde<br />

sie das, sowohl aus Eigendynamik<br />

wie auch<br />

deshalb, weil sich sozialdemokratische<br />

Funktionäre<br />

ihrer bedienten“,<br />

fügt Vranitzky<br />

hinzu. „Er war und ist<br />

von der Unschuld seines<br />

Vorgängers Sinowatz<br />

überzeugt“, resümiert<br />

Kopeinig im<br />

Herbst 2020.<br />

Für Fred Sinowatz<br />

hatte die Affäre Waldheim<br />

weitreichende<br />

politische und persönliche<br />

Konsequenzen:<br />

Am 9. Juni 1986, einen<br />

Tag nach dem Wahlsieg<br />

Waldheims, trat er als<br />

Regierungschef der rotblauen<br />

Koalition zurück: „Das Amt legte er<br />

in die Hände seines Vertrauten Franz Vranitzky“,<br />

heißt es bei Kopeinig in Politik mit<br />

Haltung (Czernin Verlag).<br />

Jahre später wurde Fred Sinowatz wegen<br />

Falschaussage rechtskräftig verurteilt,<br />

weil er geleugnet hatte, im Oktober<br />

1985 vor dem burgenländischen SPÖ-<br />

Parteivorstand Enthüllungen über Waldheims<br />

„braune Vergangenheit“ angekündigt<br />

zu haben. Das Gericht sprach Sinowatz<br />

schuldig, obwohl er „nur“ vor einem parteiinternen<br />

Gremium der Falschaussage<br />

überführt wurde – und nicht vor einem<br />

parlamentarischen Untersuchungsausschuss.<br />

wına-magazin.at<br />

19<br />

November.indb 19 15.11.2021 11:24:10


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Rave-Partys,<br />

Kinder und Armee<br />

Israel versucht so gut es geht, Corona hinter<br />

sich zu lassen, doch die Pandemie wirft weiterhin ihre<br />

langen Schatten.<br />

ie vierte Corona-Welle, die gerade<br />

Österreich überrollt, haben<br />

wir hier gerade hinter<br />

uns gebracht. Sogar Touristen<br />

dürfen neuerdings wieder ins<br />

Land, vorausgesetzt sie halten<br />

sich an die Regeln. Dazu gehört,<br />

dass sie nach einem Test<br />

bei ihrer Ankunft am Flughafen solange im Hotelzimmer<br />

bleiben, bis sie das (negative) Ergebnis<br />

vorweisen können. Damit die Wartezeit nicht<br />

vergeudet ist, haben Reiseleiter virtuelle Vorträge<br />

als neue Programmpunkte vorgesehen. Nach fast<br />

zwei Jahren ohne Arbeit lässt man sich gerne etwas<br />

einfallen. Geplant ist also wieder vieles, aber<br />

ohne Garantie.<br />

Auch die internationalen DJs sind wieder zurück.<br />

Sie spielten gerade beim Bass Desert Festival<br />

in der Arava-Wüste und in den großen Parks<br />

in Tel Aviv und Rishon LeZion. Mehr Nächte stehen<br />

für die hiesige Fangemeinde auf dem Programm.<br />

„Es gab in den letzten Jahren eine sehr<br />

starke Welle an elektronischer und Techno-<br />

Musik“, erklärt Guy Dreifuss, der solche<br />

Veranstaltungen organisiert. „Israelis<br />

lassen gerne Dampf ab, die Zuhörer<br />

kommen aus dem ganzen Land, und aus<br />

Von Gisela Dachs<br />

Strenger als bisher: In Israel verliert der Grüne<br />

Pass schon bald seine Gültigkeit, wenn die zweite<br />

Impfung länger als sechs Monate zurückliegt.<br />

allen Altersgruppen, von 18 bis 60.“ Warum die<br />

Szene gerade in Israel so ausgeprägt ist, erklären<br />

manche mit der stressabbauenden Funktion<br />

solcher Rave-Partys in einem Land unter ständiger<br />

Anspannung. In jedem Fall lebt sie jetzt wieder<br />

auf.<br />

Strenger als bisher wird aber nun auch der<br />

Grüne Pass kontrolliert. Dieser verliert seine Gültigkeit,<br />

wenn die zweite Impfung länger als sechs<br />

Monate zurückliegt. Viele haben sich auch deshalb<br />

schon vor einiger Zeit zum dritten Mal impfen<br />

lassen. Dass man in vieler Hinsicht wieder zur<br />

Normalität zurückkehren kann und sich die Intensivstationen<br />

leeren, wird auf diesen Booster-<br />

Shot zurückgeführt. Sicher ist, dass er vor schweren<br />

Krankheitsverläufen schützt. Vorbei aber ist<br />

nichts. Nicht wenige Israelis sind – aus verschiedenen<br />

Gründen – nicht geimpft. Und es gibt auch<br />

hier einen Kern an ideologischen Gegnern, die jeden<br />

Samstagabend durch die Straßen von Tel Aviv<br />

ziehen und gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung<br />

der Pandemie protestieren. Als einer ihrer<br />

prominentesten Vertreter vor Kurzem an Corona<br />

im Krankenhaus starb, gaben sie der Polizei die<br />

Schuld an seinem Tod.<br />

In Zukunft soll es nun auch Impfungen für<br />

Kinder von fünf bis elf Jahren geben. So hat es<br />

das zuständige Komitee des Gesundheitsministeriums<br />

gerade empfohlen. Man hat es sich nicht<br />

leicht gemacht mit der Entscheidung. Wenn es<br />

um den Nachwuchs geht, sehen viele Eltern die<br />

Sache noch einmal anders. Von 75 Experten haben<br />

sich 73 für eine Immunisierung ausgesprochen.<br />

Deren Debatte hätte erst live in Rundfunk<br />

© flash90/Yossi Aloni<br />

20 wına | November 2021<br />

November.indb 20 15.11.2021 11:24:10


© flash90/Yossi Aloni<br />

und Fernsehen übertragen werden sollen, dann<br />

aber fand sie schließlich doch bloß im kleinen<br />

Kreis und unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />

statt. Gesundheitsminister Nitzan Horowitz verteidigte<br />

den Sinneswandel, verwies auf die Sorge<br />

der Beteiligten vor Drohungen und darauf, dass<br />

es sich ja nicht um gewählten Volksvertreter handele.<br />

Alle Daten würden in jedem Fall auf transparente<br />

Weise präsentiert. Man verstecke nichts.<br />

Corona hat aber im vergangenen Jahr nicht<br />

nur den Schulalltag der Kleinen unberechenbarer<br />

gemacht, sondern auch die Lebensplanung<br />

der Maturanten und Maturantinnen beeinträchtigt.<br />

Denken diese woanders darüber nach, welches<br />

Studium sie demnächst angehen oder wo sie<br />

zuvor vielleicht doch noch ein Gap-Year verbringen<br />

könnten, haben sie hier erst einmal andere<br />

Sorgen. Für sie stellte sich die Frage nach dem<br />

Einzugsbescheid zur Armee. Das war entweder<br />

gleich im August oder steht jetzt im Dezember an<br />

oder aber auch erst im März 2022. Viel später als<br />

üblich wurde dieses Mal über das endgültige Rekrutierungsdatum<br />

entschieden ebenso wie über<br />

die Zuteilung in Einheiten. Das heißt, vielen blieben<br />

diesmal länger als sonst darüber im Ungewissen,<br />

wann genau und in welcher Funktion sie<br />

dem Land dienen würden müssen.<br />

Auskunft in diesen langen Wartezeit gab und<br />

gibt es am Telefon, am anderen Ende sitzen dann<br />

aber in der Regel kaum ältere Rekrutinnen oder<br />

Rekruten, die den Neulingen raten, ihr Anliegen<br />

ordentlich aufzuschreiben und per Messenger via<br />

Facebook zu schicken. Dort wird am schnellsten<br />

reagiert. Manchmal mit der Antwort, dass sich<br />

Die Diskussion, ob<br />

Kinder zwischen dem 5.<br />

und 12. Lebensjahr nun<br />

auch geimpft werden<br />

sollen, wurde aus Sorge<br />

vor Drohungen nicht im<br />

Fernsehen ausgestrahlt.<br />

die Dinge nicht beeinflussen ließen, manchmal<br />

mit der Aufforderung, das Anliegen noch einmal<br />

per E-Mail zu schicken.<br />

Die Pandemie hat sich auch auf die Auswahlverfahren<br />

ausgewirkt. Denn wer 2021 Matura<br />

gemacht hat, absolvierte eventuelle zusätzliche<br />

Eignungsprüfungen virtuell per Zoom vom Kinderzimmer<br />

aus. Coronabedingt war dann – zumindest<br />

bei jenen Rekrutinnen, die für Bürojobs<br />

rekrutiert wurden – sogar ein Teil der obligatorischen<br />

Grundausbildung von zu Hause aus absolviert<br />

worden. Die angehenden Soldatinnen<br />

Corona hat im vergangenen Jahr nicht nur<br />

den Schulalltag der Kleinen unberechenbarer<br />

gemacht, sondern auch die Lebensplanung<br />

der Maturanten und Maturantinnen<br />

beeinträchtigt.<br />

mussten sich dazu in Uniform vor den Bildschirm<br />

sitzen. Den Umgang mit der Waffe, der<br />

in solchen Einheiten ohnehin nicht kritisch ist,<br />

haben sie dann eben erst später gelernt. Zugleich<br />

gab es aber auch einen Anstieg der Zahl an jungen<br />

Frauen, die in Kampfeinheiten dienen.<br />

Eltern erleben es als Kontrollverlust, wenn<br />

der überbehütete Nachwuchs auf einmal in die<br />

Obhut der Armee gerät. Wenn der Zögling krank<br />

wird, hat fortan kein Elternteil mehr über die Behandlung<br />

mitzubestimmen oder auch nur mitzureden.<br />

Der Übergang ist abrupt. Vielleicht war<br />

er in diesem Jahr – zumindest für manche – ein<br />

wenig sanfter.<br />

wına-magazin.at<br />

21<br />

November.indb 21 15.11.2021 11:24:15


Fachgerechte Behandlung<br />

Ein kleines Mädchen wurde von ihrer Mutter<br />

gebracht, weil sie ihre Hand in eine Maismehlmaschine<br />

gesteckt hatte. Ihre Handfläche konnte<br />

wiederhergestellt werden.<br />

Arzt mit<br />

Herz<br />

Die Hilfsorganisation<br />

Lema’anam<br />

(Für sie) bringt<br />

die Klinik zu jenen<br />

nach Hause, die<br />

nicht in die Klinik<br />

kommen können.<br />

„Ich wollte<br />

gerne einen<br />

Beitrag leisten,<br />

aber eigentlich<br />

habe damit ich<br />

ein Geschenk<br />

erhalten.“<br />

Lee Ya’ari<br />

22 wına | November 2021<br />

November.indb 22 15.11.2021 11:24:17


Berührende Geschichten<br />

Hausbesuche von Ärztinnen<br />

und Ärzten sind in<br />

Israel kaum üblich und<br />

meist recht teuer – das<br />

wurde in Corona-Zeiten<br />

unter anderem zum Problem<br />

für viele der oft von<br />

spärlichen Pensionen lebenden<br />

Holocaust-Überlebenden.<br />

Doktor Lee<br />

Ya’ari ist einer der Fachärzte,<br />

die sie jetzt im Rahmen<br />

eines Hilfsprojekts<br />

kostenlos in ihren eigenen<br />

vier Wänden behandeln.<br />

Seine Voluntärarbeit führt<br />

den jungen Orthopäden<br />

auch nach Afrika.<br />

Von Daniela<br />

Segenreich Horsky<br />

SPENDEN & KONTAKT<br />

jgive.com/new/he/ils/donationtargets/60639<br />

ceo@helpapp.co.il<br />

Celina ist entzückt von dem jungen<br />

Doktor mit den blonden Locken.<br />

Sie konnte noch vor Kurzem<br />

nicht auftreten und kaum<br />

noch aus dem Bett steigen. Jeder Arzttermin<br />

wurde damit zur Qual. Mit Corona<br />

kam dann noch die Angst vor der Ansteckung<br />

in öffentlichen Kliniken dazu, und<br />

so blieben ihre wehen Beine einfach unbehandelt.<br />

Nun kommt im Rahmen der<br />

Hilfsorganisation Lema’anam (Für sie)<br />

die Klinik einfach zu ihr nach Hause.<br />

Dank dieser Initiative haben inzwischen<br />

über 800 Ärztinnen und Ärzte aus allen<br />

Fachsparten mehr als 5.000 Patient:innen<br />

behandelt. Falls nötig, bringt ein Mini-Van<br />

die nötige Ausrüstung für Röntgen, Ultraschall<br />

oder Blutabnahme ins Haus, und<br />

in der Folge können die behandelnden<br />

Ärzte gleich für die weitere Planung sorgen<br />

und etwa einen Physiotherapeuten für<br />

die Patient:innen anfordern. „Es geht alles<br />

sehr schnell und effektiv. Nachdem ich<br />

mir ein Bild von Celinas Zustand machen<br />

konnte, habe ich sofort das Röntgengerät<br />

zu ihr bestellt, und am nächsten Tag hatten<br />

wir alle Befunde fertig.“ Der junge Orthopäde<br />

Lee Ya’ari ist seit etwa einem Jahr<br />

ehrenamtlich dabei. „Ich wollte gerne einen<br />

Beitrag leisten, aber eigentlich habe<br />

damit ich ein Geschenk erhalten. Es ist unglaublich<br />

berührend und ein Privileg, dass<br />

ich diesen Menschen helfen und ihnen zuhören<br />

darf“, kommentiert er seine Arbeit<br />

bescheiden.<br />

Das Gefühl, sein Wissen und seine Fähigkeiten<br />

Menschen zur Verfügung stellen<br />

zu wollen, die vom Schicksal weniger<br />

begünstigt sind als er, veranlasste den in<br />

Israel und den USA ausgebildeten Sportmediziner,<br />

der unter anderem die israelische<br />

Fußballnationalliga betreut, im Jahr<br />

2019 dazu, kurzfristig auf seinen Pessach-<br />

Urlaub zu verzichten. Stattdessen flog er<br />

kurzentschlossen auf eigene Kosten mit einer<br />

Ärztedelegation nach Togo, um dort in<br />

einem Krankenhaus zu volontieren. Die<br />

Ankunft der Mediziner wurde im örtlichen<br />

Radio angekündigt, und sofort strömten<br />

Patienten der verschiedensten Altersstufen<br />

in das Spital, um eine fachgerechte Behandlung<br />

zu erhalten.<br />

Ya’ari erinnert sich an die vielen berührenden<br />

Geschichten und Begegnungen,<br />

die er dort erlebte. Zum Beispiel jene mit<br />

Grace, der Vierjährigen mit einem durch<br />

Blount Disease völlig verkrümmten Bein.<br />

Diese Krankheit kann man in Israel schon<br />

in frühem Stadium behandeln, in nicht so<br />

entwickelten Ländern führt sie aber oft<br />

zu schweren Behinderungen: „Sie war so<br />

froh, dass ihr Bein nach der Operation wieder<br />

gerade war und streckte mir ihre ebenfalls<br />

eingebundene Hand zum ‚High Five‘<br />

hin.“ Ein anderes Mädchen wurde von ihrer<br />

Mutter gebracht, weil sie ihre Hand in<br />

eine Maismehlmaschine gesteckt hatte. Es<br />

gibt ein Foto von der Kleinen mit dem verbundenen<br />

Arm „Der Anblick war schwer zu<br />

ertragen, aber zum Glück konnten wir ihre<br />

Handfläche wiederherstellen.“<br />

Im nächsten Frühling soll es mit einer<br />

Gruppe von israelischen Ärzten und<br />

zig Kilogramm an medizinischer Ausrüstung<br />

auf private Initiative nach Tansania<br />

gehen, wo laut Ya’ari jedes der fünf größeren<br />

lokalen Krankenhäuser für etwa 15<br />

Millionen Menschen zuständig ist. Er will<br />

Knowhow und Ausrüstung in die Stadt<br />

Moshi am Fuße des Kilimanjaro bringen<br />

und sein Wissen mit dem dortigen Spitalspersonal<br />

teilen. Ya’ari hofft, dass dann<br />

auch Ärzte aus Tansania die Möglichkeit<br />

haben, für einen Stage-Aufenthalt nach Israel<br />

zu kommen.<br />

Woher nimmt ein so vielbeschäftigter<br />

Orthopäde die Zeit für all diese Projekte?<br />

Die Antwort kommt spontan: „Das ist eine<br />

Frage von Prioritäten. Ich habe volle Unterstützung<br />

vom Spital und auch von meiner<br />

Partnerin, und diese Arbeit ist mir einfach<br />

enorm wichtig. Ich denke, wenn ich es<br />

diesen Menschen ermöglichen kann, eine<br />

gute Behandlung zu erhalten, dann ist das<br />

eines der wunderbarsten Dinge, die ich als<br />

Arzt tun kann.“<br />

wına-magazin.at<br />

23<br />

November.indb 23 15.11.2021 11:24:17


Die Weltverbesserer<br />

Erfinder und Forscher<br />

Ein Lesebuch über israelische<br />

Innovationen ist jetzt auch<br />

auf Deutsch erhältlich. Es<br />

bringt interessante Beispiele,<br />

hat aber auch Schwächen.<br />

Von Reinhard Engel<br />

Avi Jorisch:<br />

Du sollst erfinden.<br />

Wie israelischer<br />

Einfallsreichtum<br />

hilft, die Welt besser<br />

zu machen.<br />

edition menawatch<br />

2021,<br />

294 S., € 19,90<br />

Vor mehr als zehn Jahren erschien<br />

das Wirtschaftsbuch Start-up Nation<br />

Israel von Dan Senor und Saul<br />

Singer und erregte internationale Aufmerksamkeit<br />

(siehe WINA, September<br />

2012). Jetzt hat die Wiener edition menawatch<br />

Du sollst erfinden von Avi Jorisch für<br />

den deutschen Sprachraum herausgegeben.<br />

Jorisch, eigentlich ein israelischer Sicherheitsexperte,<br />

bezieht sich auch explizit<br />

auf den Klassiker über israelische<br />

Innovationskraft und deren Hintergrund.<br />

Der Autor präsentiert eine Reihe eingängiger<br />

Beispiele für israelische Erfinder<br />

und ihre Lösungen, die auf unterschiedlichste<br />

Weise „die Welt besser machen“.<br />

Das reicht von Simcha Blass, der mit der<br />

Technologie der Tröpfchenbewässerung<br />

die Grundlage für die Weltmarke Netafim<br />

gelegt hat, über den Gründer des Cyber-Security-Spezialisten<br />

Check Point<br />

Gil Shwed, dessen Firewall global Unternehmen<br />

wie staatliche Einrichtungen vor<br />

ungewünschten Angriffen schützt, bis zu<br />

den israelischen Arabern Imad und Reem<br />

Younis, die als gelernte Ingenieure mit<br />

der tiefen Hirnstimulation ihres Unternehmens<br />

Alpha Omega unterschiedliche<br />

neurologische Krankheiten behandeln.<br />

Ein Schwerpunkt der Innovationen betrifft<br />

die Medizintechnik, daneben finden<br />

sich erfolgreiche Ideen für die Landwirtschaft,<br />

die Raketenabwehr von Iron<br />

Dome oder ein ausgeklügeltes System dezentraler<br />

Notfallhelfer im israelischen zivilen<br />

Alltag. Die kurzen Porträts der Erfinder<br />

und Firmengründer zeigen auch<br />

immer wieder deren Anfangsschwierigkeiten,<br />

die knappen Geldmittel, die harten<br />

Jahre, bis die Innovationen vom Markt<br />

angenommen wurden. Ähnlich wie bei<br />

Start-up Nation formt sich ein Bild eines für<br />

seine Größe überdurchschnittlich kreativen<br />

und innovativen Landes.<br />

Aber Du sollst erfinden hat auch Schwächen.<br />

So fügt Jorisch den Einzelporträts<br />

eine Liste der „fünfzig wichtigsten Innovationen,<br />

mit denen Israel die Lebensbedingungen<br />

unzähliger Menschen verbessert<br />

hat“ hat. Darunter findet sich<br />

dann neben überzeugenden Beispielen,<br />

wie dem Roboter für komplexe Wirbelsäulen-OPs,<br />

weniger Gewichtiges wie<br />

die Entwicklung der Cocktailtomate aus<br />

ihren normalgroßen Verwandten, die<br />

Kampfsportart und Verteidigungstechnik<br />

Krav Maga oder eine bessere Wasserfilterung<br />

bei Fischzuchtanlagen. Hier wäre<br />

weniger mehr gewesen.<br />

Und auch bei den größeren Einzelreports<br />

gäbe es Luft nach oben. Jorisch erzählt<br />

etwa die Geschichte des Bewässerungsspezialisten<br />

Netafim so, als hätte<br />

dessen Entwicklungsabteilung vor 20<br />

Jahren zu arbeiten aufgehört. Netafims<br />

große Leistung der jüngeren Vergangenheit<br />

war es aber, traditionelle Technologie<br />

mit modernen Methoden deutlich zu verbessern,<br />

etwa mit Sensorik und Automatisierung.<br />

Eine besondere Blöße gibt sich<br />

der Autor im Bereich Sonnenenergie. Jorisch<br />

erzählt die zähe Erfolgsgeschichte der<br />

Der Autor präsentiert eine Reihe eingängiger<br />

Beispiele für israelische Erfinder<br />

und ihre Lösungen, die auf unterschiedlichste<br />

Weise „die Welt besser<br />

machen“.<br />

Warmwasserkollektoren auf den Dächern<br />

der israelischen Häuser, erwähnt aber<br />

mit keinem Nebensatz, dass das Land –<br />

vor allem wegen der Verzögerung durch<br />

den Strommonopolisten Israel Electric<br />

Corporation – bei der Fotovoltaik heute<br />

im internationalen Vergleich doch deutlich<br />

zurückliegt.<br />

Dennoch bleibt das Buch eine interessante<br />

Beispielsammlung, eine Dokumentation<br />

herausragender israelischer<br />

Leistungen, vor allem im medizinischen<br />

und medizintechnischen Bereich. Es mag<br />

daher dazu dienen, erste Grundlageninformationen<br />

zu erhalten, die sich Leserinnen<br />

und Leser dann mit eigenen Internetrecherchen<br />

anreichern können.<br />

24 wına | November 2021<br />

November.indb 24 15.11.2021 11:24:18


HIGHLIGHTS | 02<br />

Der literarische Schamane<br />

Noah Gordon wurde 95<br />

Zum literarischen Schreiben kam der studierte Mediziner und spätere<br />

Wissenschaftsjournalist erst relativ später. Mit knapp 60 Jahren erschien<br />

sein erster Beststeller. Es folgte mehrere weitere, Verfilmungen, Preise.<br />

Heute leben Noah Gordon und seine Frau in einem Altersheim, dem er<br />

auch seine große Bibliothek gespendet hat – und noch immer betreut.<br />

Nur wenige Schriftsteller machen sich<br />

die Mühe, intensiv in die Materie einzutauchen,<br />

über die sie schreiben wollen.<br />

Medicus-Autor Noah Gordon ist so eine<br />

Ausnahme. Vor 95 Jahren, am 11. November<br />

1926, wurde er in Worcester, Massachusetts,<br />

geboren und nach dem kurz<br />

zuvor verstorbenen Großvater mütterlichereits,<br />

Noah Melnikoff, benannt.<br />

Auf Wunsch seiner Eltern studierte<br />

Noah Gordon zunächst Medizin, sein<br />

besondere Interesse an Naturwissenschaften<br />

machte ihm das Studium zugänglich.<br />

Doch seine Liebe zum geschriebenen<br />

Wort, zur Literatur und<br />

zum Journalismus war dann doch größer<br />

– und darüber erfreuen sich Millionen<br />

Leserinnen und Leser weltweit. Der<br />

Bestsellerautor wurde am 11. November<br />

1926 in den USA geboren und lebt<br />

heute in einer Seniorenresidenz, in der<br />

er sich um die dortige Bibliothek kümmert.<br />

Vor einigen Jahren sprach sich<br />

der ehemalige Medizinstudent dafür<br />

aus, dass alte Menschen den Zeitpunkt<br />

ihres Todes selbst wählen dürfen: „Ich<br />

bin überzeugt, dass alle Arten medizinischer<br />

Entscheidungen persönlich getroffen<br />

werden müssen, nicht aus Gründen,<br />

die die Gesellschaft oder Religion<br />

mit sich bringen.“<br />

Seine Interessen auf dem Gebiet der<br />

Medizin und des Journalismus verband<br />

er zunächst als wissenschaftlicher Lektor<br />

und Wissenschaftsjournalist in New<br />

York. Für den Boston Herald recherchierte<br />

und berichtete er vor allem auch<br />

über Krankenhäuser und Forschungslabors<br />

in Boston.<br />

Sein lebenslanger Traum blieb es, Romane<br />

zu schreiben – doch das fiel ihm<br />

schwer: „Schreiben war für mich eigentlich<br />

immer Folter. Ich leide unter dem<br />

Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Mich<br />

auf ein Thema zu konzentrieren, ist eine<br />

„Ich danke jedem Leser<br />

dafür, dass ich mein Leben<br />

als Geschichtenerzähler verbringen<br />

darf.“ Noah Gordon<br />

Herkulesaufgabe“, sagte er im Stern-Interview<br />

anlässlich der Filmpremiere seines<br />

Bestsellers Der Medicus.<br />

Doch er schaffte es dann trotzdem.<br />

Sein erster Roman, Der Rabbi, über die<br />

Liebe und die damit einhergehenden<br />

Konflikte eines Rabbiners mit einer<br />

Nicht-Jüdin landete gleich auf den internationalen<br />

Bestsellerlisten.<br />

Nach mehreren Flops folgte dann<br />

die berühmte Trilogie Der Medicus, Der<br />

Schamane und Die Erben des Medicus,<br />

in der sich der Autor mit der fiktiven<br />

Medizinerdynastie der Familie Cole beschäftigt<br />

und dabei Medizin- und Diasporageschichte<br />

miteinander verbindet.<br />

Auch Der Medicus von Saragossa und<br />

Der Katalane spielen i ähnlichen Milieus.<br />

Die Verfilmung des Medicus kam<br />

2013 in die Kinos, unter anderem mit<br />

Ben Kingsley als dem berühmten persischen<br />

Medizinier Ibn Sina, und wurde<br />

wie schon Gordons Romanvorlage zum<br />

Welterfolg. Als man ihm zum Film befragte,<br />

antwortete Gordon: „Ich fand ihn<br />

extrem interessant. Er riecht wie mein<br />

Buch. Sehr, sehr schmutzig, wirklich<br />

richtig unhygienisch. Leider sind<br />

das letzte Drittel und das Ende<br />

nicht mehr meine Geschichte.<br />

Das wurde komplett neu geschrieben<br />

... Ich könnte mich<br />

natürlich beklagen, dass mein<br />

Kunstwerk verändert wurde.<br />

Aber ich bin froh, dass es den<br />

Film noch gibt, bevor ich nicht<br />

mehr bin.“<br />

promi.tipp<br />

Fidler mit bestem Ruf<br />

Aliosha Biz ist ein wahrer Meister der jüdischen<br />

Klezmer-Musik und geigt sich<br />

virtuos zwischen Hoch- und Subkultur<br />

auf und ab. Nun debütiert er in der Kulisse<br />

zu seinem coronabedingt um ein<br />

Jahr verspäteten 50er mit seinem ersten<br />

Kabarettprogramm Fidler ohne Ruf – ein<br />

Mischmasch aus politisch inkorrektem,<br />

slawischem und jüdischem Humor. An<br />

seiner Seite: sein langjähriger Mitstreiter,<br />

Mitrusse und Mitmusiker Alexander<br />

Shevchenko.<br />

kulisse.at<br />

Noah Gordon<br />

Seine eigene<br />

Identität führt,<br />

wie ein roter<br />

Faden, durch<br />

sein Werk.<br />

Fotos: kulisse.at; www.noahgordon.com<br />

wına-magazin.at<br />

25<br />

November.indb 25 15.11.2021 11:24:19


INTERVIEW MIT BARBARA STAUDINGER<br />

„Ein Museum muss auch<br />

selbstkritisch sein“<br />

Barbara Staudinger, derzeit Direktorin des Jüdischen Museums<br />

Augsburg Schwaben, übernimmt mit Juli 2022 die Leitung des Jüdischen<br />

Museums Wien. WINA sprach mit ihr über ihren Zugang zur Gestaltung<br />

von Ausstellungen, über das Bespielen des öffentlichen und digitalen<br />

Raums und darüber, wie sie das Judentum darstellen möchte. Ein erstes<br />

Fazit: Ihr Zugang ist ein anderer als jener in vielen anderen jüdischen<br />

Museen. Interview:Alexia Weiss; Foto: Daniel Shaked<br />

WINA: Eben wurde in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz die<br />

neue Österreich-Ausstellung eröffnet, die Sie mit kuratiert haben.<br />

Im Jüdischen Museum Augsburg, das Sie seit 2018 leiten,<br />

lief bis Ende Oktober die Schau Schalom Sisters, die im Rahmen<br />

des Jubiläums „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“<br />

jüdisch-feministische Positionen auslotet. Beide Ausstellungen<br />

bemühen sich, die Essenz der Vergangenheit für<br />

die Gegenwart herauszufiltern. Beide Ausstellungen sind sehr<br />

gesellschaftspolitisch angelegt. Sind das die Leitfäden, die<br />

sich durch Ihre Arbeit ziehen?<br />

Barbara Staudinger: Ja. Geschichte ist dazu da, uns<br />

bei gegenwärtigen Fragen eine Leitlinie zu geben. Unsere<br />

verschiedenen Identitäten setzen sich ja auch aus<br />

Geschichten zusammen. Auch bei der jüdischen Geschichte<br />

gilt es zu vermitteln: Geschichte ist nie abgeschlossen.<br />

Und: Es gibt aus der jüdischen Geschichte<br />

heraus Fragen, die für die Gegenwart brennend relevant<br />

sind.<br />

Können Sie hier ein Beispiel nennen?<br />

I Ich habe 2019 eine Schau gemacht über Kindertransporte<br />

aus Augsburg und Schwaben 80 Jahre zuvor.<br />

Ich habe versucht, das anders zu erzählen, weil<br />

die Art und der Grund der Flucht der Kinder sicher<br />

historisch einmalig waren, aber die Geschichte nie<br />

weitererzählt wurde. Die geretteten Kinder waren<br />

das Happy End in dem ganzen furchtbaren Rundherum.<br />

Man wollte nicht sehen, wie die Geschichte für<br />

viele weiterging. Denn wenn man sich das weitere Leben<br />

der Kindertransport-Kinder anschaut, sind das<br />

zuallermeist leider keine Happy Ends. Es kam zu Gewalt,<br />

Drogenabhängigkeit, sexuellem Missbrauch, es<br />

sind zum Teil ganz schreckliche Schicksale.<br />

Ein minderjähriges Kind allein in einem Land,<br />

dessen Sprache es nicht spricht, und ohne Wissen um<br />

das Schicksal der Eltern: Diesen Umstand – nur diesen<br />

Umstand – kann man vergleichen mit unbegleiteten<br />

„Es gibt aus<br />

der jüdischen<br />

Geschichte<br />

heraus Fragen,<br />

die für die<br />

Gegenwart<br />

brennend<br />

relevant sind.“<br />

Barbara<br />

Staudinger<br />

minderjährigen Flüchtlingen heute. Und die psychischen<br />

Folgen sind leider sehr ähnlich. Je jünger das<br />

Kind ist, desto dramatischer sind normalerweise die<br />

Folgen, die bis zum Suizid reichen können – so bei einem<br />

Zwillingspaar aus Augsburg, das mit 13 Jahren<br />

nach Großbritannien kam und getrennt wurde. Daher<br />

hat der Ausstellungstitel Über die Grenzen eine doppelte<br />

Bedeutung – diese Kinder gingen sowohl über<br />

Staatsgrenzen wie auch über die Grenze dessen, was<br />

eine kindliche Psyche ertragen kann. In diesem Sinne<br />

war die historische und vergleichende Ausstellung im<br />

Nachklang von 2015 brandaktuell.<br />

Aber auch Shalom Sisters hatte eine sehr aktuelle<br />

Komponente. Mir war es ganz wichtig, im Rahmen<br />

von „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“<br />

nicht wie die meisten Initiativen zurückzuschauen,<br />

wie reich das jüdische Leben in Deutschland vor dem<br />

Holocaust war, sondern ein Projekt umzusetzen, das<br />

die jüdische Gegenwart nicht nur in Deutschland,<br />

sondern international beleuchtet und die Vielfalt im<br />

Judentum in den Mittelpunkt stellt. Und es war mir<br />

auch wichtig, gerade jetzt zu sagen, Feminismus ist<br />

immer wichtig, gerade in einer Zeit, in der feministische<br />

Werte wieder diskutiert und auch unter den<br />

Tisch gekehrt werden. Wir – mein Team und ich, denn<br />

es ist immer Teamarbeit – wollten also auf der einen<br />

Seite das gegenwärtige internationale und sehr diverse<br />

Judentum zeigen und auf der anderen Seite<br />

die Verwobenheit jüdischer Geschichte mit der Geschichte<br />

der Frauenbewegung beleuchten, indem wir<br />

feministische Bewegungen vom ultraorthodoxen bis<br />

zum liberalen Judentum vorstellen.<br />

Es geht Ihnen also auch darum, aktuelle gesellschaftspolitische<br />

Themen mit Geschichte zu verknüpfen und nicht<br />

nur auf das Judentum zu fokussieren, sondern den weiteren<br />

Blick zu haben.<br />

26 wına | November 2021<br />

November.indb 26 15.11.2021 11:24:19


Geschichte als Leitlinie<br />

BARBARA STAUDINGER,<br />

geb. 1973 in Wien, Historikerin,<br />

Theaterwissenschafterin und<br />

Judaistin, war zunächst von 1998<br />

mit Unterbrechungen bis 2013 am<br />

Institut für Jüdische Geschichte<br />

Österreich in St. Pölten tätig.<br />

Von 2005 bis 2007 Kuratorin am<br />

Jüdischen Museum in München,<br />

anschließend bis 2011 Lektorin an<br />

der Universität Wien. Von 2013 bis<br />

2018 freiberufliche Kuratorin in<br />

Wien, ab 2014 im Kuratoren- und<br />

Kuratorinnenteam für die neue<br />

Österreich-Ausstellung in der<br />

KZ-Gedenkstätte in Auschwitz.<br />

Seit 2018 leitet sie das Jüdische<br />

Museum Augsburg Schwaben.<br />

Mit Sommer 2022 übernimmt<br />

sie die Leitung des Jüdischen<br />

Museums Wien.<br />

wına-magazin.at<br />

27<br />

November.indb 27 15.11.2021 11:24:20


Öffentlicher Raum<br />

I Ein jüdisches Museum ist ein Museum einer gesellschaftlichen<br />

Minderheit. Und aus diesem Status heraus<br />

stellt es Fragen zur jüdischen Geschichte, die auch<br />

für andere Minderheiten relevant sind.<br />

Sie haben eingangs gesagt, es geht auch um die verschiedenen<br />

Identitäten von Menschen. Die Identitätsdebatte nimmt aktuell<br />

vor allem in den USA großen Raum ein, zuletzt kam es dort<br />

im Rahmen des Diskurses zu einem interessanten Phänomen,<br />

nämlich dass Juden und Jüdinnen den unterdrückenden, sozusagen<br />

toxischen Weißen zugeordnet werden. Dabei wird die<br />

Diskriminierung von Juden und Jüdinnen zur Seite geschoben.<br />

I Das ist sehr interessant, und ich lese zurzeit viel dazu<br />

– zum einen zum Wandel des Labelings von Jüdinnen<br />

und Juden von „black“ zu „superwhite“ und zum anderen<br />

über die Rolle jüdischer Identität im Dekolonisierungsdiskurs.<br />

Hinter der Identitätsdebatte liegen<br />

übrigens genau dieselben Mythen, deren Ziel es ist,<br />

Jüdinnen und Juden als böse darzustellen. Nur dass<br />

das Böse früher schwarz war, und jetzt ist es superweiß.<br />

Das heißt aber auch: Juden und Jüdinnen werden in beiden<br />

Fällen einer schlechten Kategorie zugerechnet, womit wir<br />

beim Thema Antisemitismus gelandet wären. Wenn es um<br />

jüdische Museen geht, ist er eines der gesellschaftspolitischen<br />

Themen. Teils wurde in der Vergangenheit versucht, Antisemitismus<br />

auszuklammern, inzwischen gab es da aber einen<br />

Paradigmenwechsel. Werden Sie das Thema Antisemitismus<br />

in den kommenden Jahren im Jüdischen Museum Wien behandeln?<br />

I Noch vor zehn Jahren haben viele Jüdische Museen<br />

gesagt, Antisemitismus ist eine Geschichte der Antisemiten<br />

und nicht eine Geschichte der Jüdinnen und<br />

Juden. Heutzutage, in einer Zeit, in der Antisemitismus<br />

ein ohnehin schon großes und noch zusätzlich<br />

wachsendes gesellschaftliches Problem ist, können<br />

sich Jüdische Museen nicht mehr auf diese Position<br />

zurückziehen. Die Aufgabe von Jüdischen Museen ist,<br />

diesen Kampf mitzuführen. Dazu haben sich eigentlich<br />

alle Jüdischen Museen in Europa und vor allem<br />

im deutschsprachigen Raum auch bekannt. Meines<br />

Erachtens bedarf es dafür aber mehr als Ausstellungen,<br />

wo nur die hingehen, bei denen es weniger Aufklärungsbedarf<br />

gibt. Man muss Bildungs- und Vermittlungsprogramme<br />

entwickeln, die gezielt jene<br />

Gruppen ansprechen, in denen antisemitische Ideologien<br />

entweder schon verbreitet sind oder in denen<br />

sie sich etablieren könnten.<br />

Sie haben in Augsburg gezeigt, wie ein Jüdisches Museum auch<br />

in den öffentlichen Raum gehen kann. Wird das in Wien auch<br />

ein Thema sein – und gibt es in Wien einen größeren Sicherheitsaspekt,<br />

der dabei zu beachten ist?<br />

I Sicherheitsaspekte gibt es immer, und die sind auch<br />

zu bedenken. Wenn man sich allerdings nur von Sorge<br />

um die Sicherheit leiten lässt, macht man nie etwas.<br />

Wir müssen in Augsburg nach dem Anschlag in Halle<br />

jede Veranstaltung polizeilich melden, für jede Veranstaltung<br />

wird von der Polizei ein Sicherheitskonzept erarbeitet.<br />

Das ist der Alltag, das kann ich nicht ändern.<br />

„Noch vor<br />

zehn Jahren<br />

haben viele<br />

Jüdische Museen<br />

gesagt,<br />

Antisemitismus<br />

ist eine<br />

Geschichte<br />

der Antisemiten<br />

und<br />

nicht eine<br />

Geschichte<br />

der Jüdinnen<br />

und Juden.“<br />

Mir ist es jedenfalls sehr wichtig, in den öffentlichen<br />

Raum zu gehen. Wenn man das Museum als<br />

Bildungstempel des 19. Jahrhunderts begreift, wird<br />

das dazu führen, dass die Besucherinnen und Besucher<br />

aussterben werden. Ein Museum hat als städtische<br />

Institution auch einen Auftrag von der Stadt<br />

und daher auch eine Verpflichtung gegenüber der<br />

städtischen Bevölkerung. Diese Verpflichtung heißt,<br />

auf die Stadtgesellschaft zuzugehen. Man muss also<br />

mehr tun, als nur die Museumstür zu öffnen und zu<br />

warten, dass die Menschen kommen.<br />

Im öffentlichen Raum kann man sehr viel machen,<br />

und es gibt auch Konzepte, bei denen es überhaupt<br />

keine Sicherheitsbedenken gibt. Der öffentliche<br />

Raum hat ja ganz andere Bedingungen als ein<br />

Museumsraum. Der Museumsraum ist geprägt durch<br />

Objekte, da gibt es Lichtverhältnisse und begrenzten<br />

Platz. Im öffentlichen Raum gibt es – von fliegenden<br />

Installationen bis zur Performance – ganz andere<br />

Möglichkeiten.<br />

Eine weitere Möglichkeit, Museum größer zu denken, ist<br />

Dinge digital anzubieten. Ist digital gleichbedeutend mit ich<br />

spreche jüngere Leute an?<br />

I Nein, nicht unbedingt. Ich habe mich in den letzten<br />

Jahren sehr intensiv mit Digitalisierung und der digitalen<br />

Museumswelt auseinandergesetzt, und, ganz<br />

kurz zusammengefasst, es interessiert sich ein jüngeres<br />

Publikum nicht per se für digitale Inhalte, wenn<br />

sie nicht speziell für dieses designt sind. Stelle ich für<br />

eine virtuelle Ausstellung etwa Objektfotos mit einem<br />

Online-Tool wie Google Arts & Culture ins Internet, ist<br />

das nicht unbedingt für jüngere Menschen interessant,<br />

sondern eher vielleicht für ein erwachsenes, museumserfahrenes<br />

Publikum außerhalb Österreichs,<br />

dem es nicht möglich ist, das Jüdische Museum selbst<br />

zu besuchen. Will man eine virtuelle Ausstellung für<br />

jüngere Menschen designen, muss man sich mit dem<br />

digitalen Raum und seinen Möglichkeiten auseinandersetzen<br />

und das Zielpublikum ernst nehmen.<br />

In der Zukunft wird der digitale Museumsraum<br />

dieselbe Bedeutung haben wie der reale. Und besonders<br />

werden wir uns mit den Verbindungen zwischen<br />

digitaler und realer Welt beschäftigen müssen. Es ist<br />

nicht so, dass es hier unsere Realität gibt und da das<br />

Digitale. Jede und jeder, der einmal Pokémon Go gesehen<br />

hat, weiß, dass es Verbindungen zwischen der realen<br />

und der digitalen, virtuellen Welt gibt. Das heißt,<br />

man kann die digitale Welt in die reale hineinführen.<br />

Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten – und<br />

aus diesen heraus kann man digitale Angebote sowohl<br />

speziell für Jugendliche kreieren wie auch zum Beispiel<br />

für ein älteres Publikum, das nicht mehr reisen<br />

kann und das Jüdische Museum besuchen möchte.<br />

Es reicht also nicht, die jeweils aktuelle Ausstellung in digitaler<br />

Form abzubilden.<br />

I Nein. Onlineausstellungen müssen für den digitalen<br />

Raum kuratiert werden und von digitalen Vermittlungsformaten<br />

begleitet werden. Dazu braucht<br />

28 wına | November 2021<br />

November.indb 28 15.11.2021 11:24:22


Vielfältiges Judentum<br />

es eine ausführliche digitale Strategie, nach der das<br />

umgesetzt wird.<br />

Denken Sie da an Ausstellungen, die es nur digital geben<br />

wird, oder werden die analogen und digitalen Inhalte schon<br />

verknüpft?<br />

I Man kann beides denken, und es gibt, wenn man<br />

etwa einige Kunstmuseen ansieht, auch spannende<br />

Formate. Das muss man dann mit dem Programm<br />

abstimmen. Museum ist nicht nur eine Ausstellung,<br />

sondern das Spannende ist, dass zum Beispiel durch<br />

das begleitende Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm<br />

für unterschiedliche Besucherinnen und<br />

Besucher ganz verschiedene Aspekte des Themas näher<br />

beleuchtet werden können. Ein digitales Format<br />

kann dann nochmals eine andere Seite zeigen. Es gibt<br />

so viele Möglichkeiten, und ich finde es sehr schön,<br />

wenn das gesamt kuratiert ist.<br />

Jüdische Museen sollten neben den wechselnden Dauerausstellungen<br />

vor allem auch über das Judentum sowie die Geschichte<br />

der jüdischen Gemeinde(n) in dem jeweiligen Land<br />

informieren. Im Jüdischen Museum Wien ist es auf Grund des<br />

beschränkten Raumangebots schwierig, all das unterzubringen.<br />

Sie haben in Augsburg schon gezeigt, dass man hier neue<br />

Wege gehen kann, indem Sie bereits Bestehendes adaptiert haben.<br />

Welche neuen Wege haben Sie sich hier für Wien überlegt?<br />

I Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien<br />

ist 2013 eröffnet worden. Dauerausstellungen wurden<br />

in den 1980er-Jahren für 30 Jahre gemacht, heutzutage<br />

werden sie für etwa zehn Jahre konzipiert. Das heißt,<br />

auch die Dauerausstellung in der Dorotheergasse wird<br />

irgendwann ein Ablaufdatum haben. Was nicht heißt,<br />

dass bis dahin nichts zu tun ist.<br />

Womit ich in Augsburg gearbeitet habe und eigentlich<br />

auch schon davor, sind Interventionen. Mir macht<br />

es großen Spaß, durch temporäre Veränderungen einer<br />

Dauerausstellung neue Perspektiven hineinbringen<br />

zu können. Ein Museum muss dabei selbstkritisch<br />

sein und sich selbst reflektieren. Ein Beispiel: Der Versuch<br />

in Jüdischen Museen „das Judentum“ zu erklären,<br />

endet oft damit, dass ein Bild für ein mehrheitlich<br />

nichtjüdisches Publikum erzeugt wird, das so überhaupt<br />

nicht stimmt. Und ich denke mir, da müssen<br />

jüdische Museen schon selbstkritisch sein und sich<br />

fragen, ob es für die Darstellung eines vielfältigen Judentums<br />

nicht vielleicht andere Ansätze braucht.<br />

Das Platzproblem ist im Palais Eskeles natürlich gegeben.<br />

Aber einerseits muss ich nicht 100.000 Objekte<br />

in einem Raum haben, und andererseits kann ich mir<br />

auch eine Dauerausstellung vorstellen, in der Objekte<br />

viel mehr im Wechsel sind.<br />

Das Judentum darzustellen bedeutet in vielen jüdischen Museen,<br />

den Jahreskreislauf anhand von Judaika wie einer Sederplatte<br />

und einer Chanukkia zu zeigen.<br />

I Das stimmt, und ich glaube nicht, dass irgendjemand<br />

daraus einen Gewinn hat. Das heißt nicht, dass Judaika<br />

keine spannenden Objekte sind. Interessant ist eine<br />

Ausstellung aber dann, wenn Judaika nicht als irgend-<br />

„Wenn man<br />

das Museum<br />

als Bildungstempel<br />

des 19.<br />

Jahrhunderts<br />

begreift, wird<br />

das dazu führen,<br />

dass die<br />

Besucherinnen<br />

und Besucher<br />

aussterben<br />

werden.“<br />

Barbara<br />

Staudinger<br />

welche Platzhalter für Tradition verwendet werden,<br />

sondern eine Geschichte erzählen. Wenn Tradition mit<br />

einem Zinnteller und ein paar Silberobjekten abgetan<br />

ist, dann ist es in Wirklichkeit gar keine Tradition, das<br />

hat kein Leben.<br />

Es geht also darum, was Menschen mit diesen Gegenständen<br />

tun.<br />

I Ja. Und es ist auch ganz wichtig zu sagen, dass Tradition<br />

– ein Begriff, der in den letzten Jahren sehr bemüht<br />

wird – vermittelt, dass sich etwas nicht verändert<br />

hat, dass etwas unverändert weitergetragen wird.<br />

Aber selbstverständlich hat es sich verändert, Tradition<br />

bedeutet in Wirklichkeit permanenten Wandel. In der<br />

jüdischen Geschichte gibt es den ganz großen Bruch<br />

durch die Shoah. Aber nicht nur die Shoah hat Traditionen<br />

verändert, sondern sie verändern sich weiter.<br />

Das muss man zeigen, weil man sonst ein musealisiertes<br />

Judentum ausstellt, zu dem man auch keinen Bezug<br />

aufbauen kann.<br />

In kulturhistorischen Ausstellungen erinnern sich<br />

Menschen beim Hinausgehen am besten an Geschichten<br />

von anderen Menschen. Uns interessiert Kultur,<br />

weil uns Menschen interessieren. Eine Tradition, die<br />

dargestellt wird wie in einem luftleeren Raum und als<br />

hätte sie sich nie verändert, interessiert nicht. Und sie<br />

wird daher auch nicht erinnert werden. Ich sehe es als<br />

meinen Auftrag, das Menschliche und die Menschen<br />

zusammenzubringen.<br />

Am Standort Judenplatz des Jüdischen Museums Wien befasst<br />

sich die dort eben erst neu gestaltete Dauerausstellung mit<br />

dem Judentum vor vielen Jahrhunderten – und zwar mit jüdischem<br />

Leben im mittelalterlichen Wien. Werden Sie diese Ausstellung<br />

so beibehalten oder verändern?<br />

I Ich finde, dass im Museum auch Nachhaltigkeit diskutiert<br />

werden muss. Egal, wie eine Ausstellung konzipiert<br />

ist – und das ist nun nicht als Bewertung dieser<br />

Schau, sondern ganz neutral zu verstehen: Man kann<br />

sie nicht nach einem Jahr schließen. Aber eine Dauerausstellung<br />

muss sich verändern können, muss Fragen<br />

aufwerfen, die ich dann aufgreife, und diese Fragen<br />

kann ich auch durch Interventionen, durch verschiedene<br />

Aktionen stellen. Das muss eine Dauerausstellung<br />

sozusagen aushalten, dann ist es auch eine nachhaltige<br />

Ausstellung.<br />

Das Thema Mittelalter wird am Judenplatz also weiter behandelt<br />

werden.<br />

I Der Standort Judenplatz ist der historische Standort<br />

der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde. Und es gibt<br />

keinen Grund, warum man an diesem historischen<br />

Ort nicht daran erinnern sollte. Das ist der Unterschied<br />

zum Palais Eskeles. Das Palais Eskeles ist nicht<br />

der Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert<br />

gewesen und auch nicht der Mittelpunkt der<br />

Gemeinde in der frühen Neuzeit. Der Judenplatz ist<br />

nicht nur Museum, er ist historischer Schauplatz und<br />

Denkmal. Er steht für die mittelalterliche Gemeinde,<br />

das ist unverrückbar.<br />

wına-magazin.at<br />

29<br />

November.indb 29 15.11.2021 11:24:24


Bezug zu Menschen<br />

„Da ist mein<br />

Ehrgeiz erwacht“<br />

Jana Wassermann führt seit diesem Jahr eine<br />

Kassenordination als Allgemeinmedizinerin in der<br />

Novaragasse in der Leopoldstadt. Sie kehrt damit<br />

in die Straßen ihrer Kindheit zurück.<br />

Von Alexia Weiss, Foto: Daniel Shaked<br />

Sechseinhalb Jahre war Jana Wassermann<br />

alt, als ihre Eltern beschlossen,<br />

von Jerusalem nach Wien zu<br />

übersiedeln. Sie waren schon vor<br />

Janas Geburt mit den beiden älteren Töchtern<br />

von Usbekistan nach Israel ausgewandert.<br />

Nun stand eine größere Familienzusammenführung<br />

in Österreich an. Jana<br />

hatte da schon ein dreiviertel Schuljahr in<br />

Israel absolviert. In Wien musste sie vor allem<br />

sprachlich ganz von vorne anfangen.<br />

Zunächst besuchte sie die Volksschule in<br />

der Staudingergasse im 20. Bezirk, dann<br />

wechselte sie in die Schule in der Novaragasse<br />

– genau dort befindet sich nun ihre<br />

Ordination. Um die Ecke, in der Zirkusgasse,<br />

besuchte sie das Gymnasium.<br />

„Zugleich Jüdin und Ausländerin zu<br />

sein, war oft eine Herausforderung für<br />

mich“, sagt Wassermann im Rückblick. Es<br />

seien die 1980er- und 1990er-Jahre gewesen,<br />

„das war noch eine andere Zeit, da<br />

ist man schnell aufgefallen und wirkte<br />

rasch anders.“ Als besonders schwierig<br />

hat sie den Übertritt in das Gymnasium<br />

in Erinnerung. „Ich war in Deutsch zwar<br />

gut, aber Deutsch war nicht meine Muttersprache.“<br />

Mit einigen Lehrern habe<br />

sie damals schlechte Erfahrungen gemacht.<br />

In Mathematik sei sie in der ersten<br />

Klasse nicht gut gewesen, dann hieß es,<br />

sie könne nicht in die nächste Schulstufe<br />

aufsteigen, weil ihr Deutsch zu schlecht<br />

sei. „Da ist mein Ehrgeiz erwacht“, sagt<br />

die Ärztin heute. „Ich habe gelernt und<br />

wollte nie wieder in so einer Situation<br />

sein. Von da an zeichneten mich Hartnäckigkeit<br />

und Zielstrebigkeit aus.“<br />

Von nun an habe sie immer wieder aufgezeigt<br />

und nachgefragt, wenn sie etwas<br />

im Unterricht nicht verstand. Im Maturajahr<br />

dann aber ein familiärer Tiefschlag:<br />

Ihr Vater, ein Zahnarzt, starb. Er habe sie<br />

sehr geprägt, sagt Wassermann. „Zum großen<br />

Teil ist es auch ihm zu verdanken, dass<br />

ich Ärztin geworden bin.“ Oft erinnere sie<br />

sich daran, wie der Vater das gemeinsame<br />

Abendessen für einen schmerzgeplagten<br />

Patienten unterbrochen habe. Doch auch<br />

die Mutter, die in der ehemaligen Sowjetunion<br />

russische Literatur und Philosophie<br />

studiert hatte, trug viel zum Erfolg der drei<br />

Töchter bei. „Unsere Mutter war die, die darauf<br />

geschaut hat, dass wir lernen. Und sie<br />

war streng, sie hat uns beigebracht, dass<br />

Erfolg mit Leistung verbunden ist.“<br />

Für das Medizinstudium entschied sich<br />

Wassermann, weil es sie faszinierte, was<br />

das Gehirn alles steuern kann und dass<br />

der Körper wie eine perfekt gebaute Ma-<br />

„Eine gesunde<br />

Psyche ist die<br />

Basis eines gesunden<br />

Körpers,<br />

eine solide Vorsorgemedizin<br />

die<br />

Prävention von<br />

lebensbedrohlichen<br />

Erkrankungen.“<br />

Jana Wassermann<br />

schine funktioniert. Im Studium war es vor<br />

allem das Fach der Inneren Medizin, das sie<br />

interessierte und das sie auch im Rahmen<br />

einer Facharztausbildung vertiefen wollte.<br />

Besonders viel Zeit widmete sie dem Studium<br />

des EKG sowie der Blutzucker- und<br />

Blutdruckeinstellungen. „Als Hausärztin<br />

zählt aber immer der Mensch als Gesamtheit.<br />

Eine gesunde Psyche ist die Basis eines<br />

gesunden Körpers, eine solide Vorsorgemedizin<br />

die Prävention von lebensbedrohlichen<br />

Erkrankungen oder vermeidbaren<br />

schweren Komplikationen“, so Wassermann.<br />

Wichtig sei ihr daher der Bezug zum<br />

Menschen, das Reden, das Soziale, auch daraus<br />

ergebe sich oft durch den einen entscheidenden<br />

Hinweis eine Diagnose. Und<br />

das ist genau das, was sie bis heute an ihrer<br />

Arbeit fasziniert. Wassermann arbeitet<br />

gerne für und mit Menschen. Da darf dann<br />

ein Patientengespräch auch gerne einmal<br />

etwas länger dauern, als es eigentlich in einer<br />

Kassenordination üblich ist.<br />

Ihren Turnus absolvierte Wassermann<br />

im Wilhelminenspital, der heutigen Klinik<br />

Ottakring. Mehrmals unterbrach sie<br />

ihn, um in Karenz zu gehen: In dieser Zeit<br />

kamen ihre drei Töchter – heute vier, acht<br />

und zehn Jahre alt – zur Welt. Danach begann<br />

sie 2018 einerseits bei ESRA als Allgemeinmedizinerin<br />

zu arbeiten, andererseits<br />

war sie als Vertretungsärztin in<br />

verschiedenen Ordinationen in Wien tätig.<br />

Dort hat sie erlebt, dass man maximal<br />

fünf bis sieben Minuten mit einem Patienten<br />

verbringen sollte. Bei ESRA hat sie dagegen<br />

die Erfahrung gemacht, wie wichtig<br />

es ist, den Patienten zuzuhören. Dort hat sie<br />

30 wına | November 2021<br />

November.indb 30 15.11.2021 11:24:24


Transgenerationelles Trauma<br />

Jana Wassermann<br />

„Als Hausärztin zählt<br />

aber immer der<br />

Mensch als Gesamtheit.“<br />

auch mitbekommen, dass zum Beispiel ein<br />

transgenerationelles Trauma dafür verantwortlich<br />

sein kann, dass jemand Panikattacken<br />

bekommt, nicht einschlafen kann<br />

oder nicht reden möchte. Die Vielschichtigkeit<br />

der jüdischen Klientel habe ihr besonders<br />

gut gefallen, sagt sie. Viel habe sie<br />

bei ESRA über den NS-Bezug gelernt, den<br />

Schwerpunkt dieser Institution. Gut bekannt<br />

seien ihr aufgrund ihrer eigenen<br />

Biografie jüdische Patienten mit Migrationshintergrund.<br />

Eigene Praxis. Im ersten Corona-Lockdown<br />

brachen Wassermann viele der Stunden als<br />

Vertretungsärztin weg – es kamen kaum<br />

mehr Patienten und Patientinnen in die<br />

Ordinationen. Da reifte die Entscheidung<br />

heran, sich mit einer eigenen Praxis selbstständig<br />

zu machen. Auf der Suche nach einer<br />

Kassenplanstelle sah sie sich bewusst<br />

im zweiten Bezirk um. Dass gerade in der<br />

Novaragasse der Allgemeinmediziner Ignac<br />

Feld nach einem Nachfolger oder einer<br />

Nachfolgerin suchte, sei ein Glücksfall gewesen.<br />

„Ich habe ihn vorher nicht gekannt,<br />

habe aber ziemlich bald festgestellt, dass er<br />

nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein<br />

gutherziger, phantastischer Mensch war.“<br />

So habe sich eine Freundschaft entwickelt<br />

JANA WASSERMANN,<br />

geb. 1980 in Jerusalem, im Alter<br />

von sechs Jahren mit der Familie<br />

nach Wien übersiedelt. Hier Matura,<br />

danach Medizinstudium. Nach<br />

dem Turnus zunächst bei ESRA<br />

als Allgemeinmedizinerin sowie<br />

als Vertretungsärztin in allgemeinmedizinischen<br />

Praxen tätig. Seit<br />

diesem Jahr praktische Ärztin mit<br />

eigener Kassenordination in der<br />

Leopoldstadt. Sprachen: Deutsch,<br />

Russisch, Hebräisch und Englisch.<br />

Wassermann ist verheiratet und<br />

Mutter dreier Töchter.<br />

hauptsachegesund.at<br />

und Feld, der bald nach der Übergabe leider<br />

verstarb, und sie hätten den Übergang<br />

überlappend gestaltet. Das habe sehr gut<br />

funktioniert.<br />

Außerdem hat sie noch alle Hände voll<br />

zu tun, um sich um ihre Kinder zu kümmern.<br />

„Meine drei Töchter und mein Mann<br />

sind das Wichtigste in meinem Leben.“ Mitgeben<br />

wolle sie den Mädchen „die Liebe<br />

zum Lernen und Begeisterungsfähigkeit,<br />

dass sie optimistisch sind und Freude an<br />

ihren Mitmenschen haben“.<br />

Long Covid. Als Mutter hat sie auch miterlebt,<br />

wie sich die Pandemie auf ihre<br />

Kinder ausgewirkt hat. Ihre beiden älteren<br />

Töchter hätten die Hälfte ihrer Volksschulzeit<br />

verpasst. Als Ärztin sieht sie oft<br />

Patienten, die an Long Covid erkrankt<br />

sind. „Jemand, der verlangsamt ist, der<br />

Atemnot bei der geringsten körperlichen<br />

Anstrengung hat, der sein Herz schlagen<br />

hört, wenn er sich nur bückt, der kann<br />

nur Long Covid haben, wenn er vorher<br />

nichts anderes hatte.“ Inzwischen gebe es<br />

hier aber sowohl Rehabilitationsangebote<br />

wie auch Ambulanzen. Man müsse diese<br />

Erkrankung ernst nehmen und dürfe die<br />

Beschwerden nicht bagatellisieren. „Die<br />

Leute leiden extrem.“<br />

wına-magazin.at<br />

31<br />

November.indb 31 15.11.2021 11:24:25


MATOK & MAROR<br />

Café Bellaria: So geht Kaffeehaus heute<br />

Originelle leichte Gerichte und quirliges Lebensgefühl bietet dieses moderne „Wohnzimmer“.<br />

Junge Burgtheater-Schauspieler relaxen<br />

mit Familienanhang an einem langen Ecktisch.<br />

Es riecht nach frischem Brot und Eiern.<br />

Von der Stimmung her weiß man nicht genau,<br />

ob sie sich hier vor oder nach einer Probe<br />

stärken oder vielleicht sogar vom Abend davor<br />

übrig geblieben sind? Daneben freuen sich<br />

vier junge Frauen über ihren sprudelnden Prosecco.<br />

Ein ungarisches Touristenpärchen tuschelt<br />

mittendrin und bearbeitet gleichzeitig<br />

hoffnungsvoll ihre Rubbellose. Willkommen<br />

im neugestalteten Café Bellaria.<br />

Am Eck Bellariastraße/Hansenstraße gelegen,<br />

ist es das älteste noch immer betriebene<br />

Kaffeehaus Wiens. Eröffnet wurde es 1870 in<br />

einem Gründerzeithaus: Stammgäste kamen<br />

aus dem Justizpalast gegenüber, dem Parlament<br />

ebenso wie aus den nahegelegenen Museen<br />

und dem Burg- und Volkstheater. Die alten<br />

Wände bergen sicher viele Geheimnisse<br />

und pikante Anekdoten. Taufpate des Café Bellaria<br />

(nicht koscher) ist Kaiser Franz Joseph:<br />

Der Name des Cafés stammt von einer Rampe<br />

zur Hofburg, die für Kaiserin Maria Theresia<br />

um 1741 gebaut worden war. Wozu? Damit Ihre<br />

Majestät ohne Stiegensteigen mit der Kutsche<br />

vor ihre Gemächer fahren kann. Wegen der guten<br />

Luft, der „Bell-aria“ eben, soll der Kaiser<br />

dort gern spazieren gegangen sein.<br />

Seit Kurzem wird hier ein neues Kapitel<br />

geschrieben: Ob die Luft auf den beiden straßenseitigen<br />

Terrassen des Lokals noch heute<br />

so gut ist? Jedenfalls ist der hohe Innenraum<br />

äußerst einladend: Unterhalb der eindrucksvollen<br />

Stuckaturkuppel und den Rundbogenfenstern<br />

windet sich eine helle Neonschlange<br />

dahin, während die knallroten Thonet-Sessel<br />

und vor allem eine Wandverkleidung aus<br />

grauen Schieferlamellen einen augenzwinkernden<br />

Kontrast erzeugen.<br />

Ende 2020 verabschiedete sich Betreiber<br />

Charly Kotzina nach 42 Jahren in die Pension.<br />

Große Fastfood-Ketten ritterten um diesen<br />

Standort. Zum Glück für die heutigen Gäste erhielten<br />

zwei junge einfallsreiche Gastronomen<br />

den Zuschlag: David Figar, seit 2013 Gastronom<br />

und Hausherr des Figar in der Kirchengasse,<br />

und Rubin Okotie, der 33-jährige ehemalige<br />

Fußballspieler der österreichischen Nationalmannschaft.<br />

„Gesunde Ernährung spielte immer<br />

eine Rolle. Auch deshalb wählte ich privat<br />

„Wir beleben das<br />

Wiener Kaffeehaus<br />

neu – nicht als<br />

Museum, sondern<br />

als Lebensgefühl.“<br />

David Figar<br />

Lachs-Teriyaki-Bowl:<br />

gegrillter Lachs, Sushi-Reis,<br />

Avocado, Ingwer, Fenchel, Rotkraut,<br />

Karotten und hausgemachte<br />

Teriyaki-Sauce.<br />

WINA- TIPP<br />

CAFÉ BELLARIA<br />

Bellariastraße 6, 1010 Wien<br />

+43/(0)1/522 60 85<br />

cafebellaria.at<br />

den veganen Weg“, erklärt Okotie, der bereits<br />

mit seinem Restaurant Plain im Servitenviertel<br />

ein trendiges Lokal betreibt. Im Café Bellaria<br />

punkten die beiden mit einem erfrischenden<br />

Konzept – und dieses wurde vom Tag eins<br />

an positiv aufgenommen.<br />

Bei der kulinarischen Vereinigung wollen<br />

sie mit einer internationalen Fusionsküche<br />

und einem All-Day-Concept ab 7:30 Uhr<br />

nun das Beste aus der Plain- und der Figar-Welt<br />

kombinieren. Zu den morgendlichen Muntermachern<br />

zählen Eggs Florentine (English<br />

Muffin, zwei pochierte Bioeier, sautierter Babyblattspinat,<br />

hausgemachte Bio-Sauce-Hollandaise)<br />

und Eggs Royal auf Croissant (Eierspeise<br />

aus zwei Bioeiern, geräucherter Lachs,<br />

frische Kräuter) um je € 10,50. Vegan gibt es<br />

zwei Angebote: den Avocado-Toast mit sautiertem<br />

Babyblattspinat, Avocado, Tomaten-Concassée<br />

um € 9 (dazu bietet man auch<br />

Räuchertofu um € 2 extra) und den Passionsfrucht-Porridge<br />

aus Biohaferflocken, Kokosmilch,<br />

Passionsfrucht, Bananen, frischen Beeren<br />

sowie karamellisierten Nüssen.<br />

Da Bowls nicht mehr fehlen dürfen, gibt es<br />

eine köstliches Lachs-Teriyaki-Bowl mit gegrilltem<br />

Lachs, Sushi-Reis, Avocado, Ingwer,<br />

Fenchel, Rotkraut, Karotten und hausgemachter<br />

Teriyaki-Sauce (€ 14). Die Vegan Bellaria<br />

Bowl (€ 12) besteht aus Kimchi-Tofu, Gurken,<br />

Glasnudeln, Mango, eingelegten Radieschen<br />

und Sesam-Ponzu. Als Nachschlag empfiehlt<br />

sich der Buttermilk Pancake mit hausgemachter<br />

Nougatcreme, Vanillesauce und frischen<br />

Früchten (€ 8). Hauptspeisen werden im<br />

Café Bellaria ab 11:30 Uhr serviert: Getestet haben<br />

wir die veganen Bellaria Gnocchi, die mit<br />

gegrilltem Kürbis, Tomaten und Frühlingszwiebeln<br />

herrlich geschmeckt haben. Vegan<br />

ist auch der Beyond Meat Burger (€ 15) mit Salatherzen<br />

und Erbsencreme. Dinner wird ab<br />

17 Uhr serviert, zum Beispiel ein pochierter<br />

Seesaibling mit gegartem Zitronenlauch, Shiitake-Pilzen,<br />

Erdäpfel-Espuma, Lauchöl und<br />

Erdäpfel-Stroh. Ein vegetarisches Risotto mit<br />

schwarzer Trüffel, Pecorino Romana, Stundenei<br />

um € 19 ist auch im Angebot.<br />

„Wir beleben das Wiener Kaffeehaus neu<br />

– nicht als Museum, sondern als Lebensgefühl“,<br />

ist David Figar überzeugt. Das scheint<br />

gelungen zu sein. <br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel<br />

wına-magazin.at<br />

32<br />

November.indb 32 15.11.2021 11:24:28


WINAKOCHT<br />

Wie spart man traditionell Kalorien, …<br />

… und weshalb braucht man zwei Herde, aber nur einen Kühlschrank? Die Wiener Küche<br />

steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Koch-<br />

Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Liebe Wina-Redaktion,<br />

Sufganiot gehören zu Chanukka einfach dazu, erinnern<br />

sie doch an das Ölwunder. Für mich als Diätologin<br />

ist das Schmalzgebackene jedoch eine kleine<br />

Nährwertkatastrophe. Wie bringe ich das Gebäck mit<br />

meinen Berufsprinzipien unter einen Hut? Habt ihr da<br />

eine Idee?<br />

Daniela S., Wien<br />

Vielleicht hilft es Ihnen ja, wenn Sie Ihren<br />

Blick auf die anderen inneren Werte<br />

des Schmalzgebackenen lenken. Auf die Tradition<br />

zum Beispiel. Auf das Soul-Food-Potenzial<br />

der flaumigen Kugeln, insbesondere<br />

wenn man sie mit Dulce de Leche füllt (siehe<br />

Rezept). Oder auf folgende Legende, die einfach<br />

zu schön ist, um nicht an sie zu glauben,<br />

und die erklärt, wie Sufganiot zu ihrem österreichischen<br />

Alias „Krapfen“ kamen.<br />

Sie handelt von der Wiener Köchin Cäcilie<br />

Krapf: Aus Ärger über ihren Mann, so heißt<br />

es, habe sie im Jahre 1690 ein Stück Germteig<br />

nach dem Gatten geworfen. Der aber duckte<br />

sich und so fiel der Teig in einen Topf mit siedendem<br />

Fett. Sparsam, wie die Krapf gewesen<br />

sein soll, wurde der „Küchenunfall“ hernach<br />

verzehrt. Mit dem schönen Nebeneffekt,<br />

dass über dem flaumigen Genuss dann auch<br />

der Ehestreit gegessen gewesen sein soll.<br />

Ansonsten bleibt uns nur, Sie an dieser<br />

Stelle in Ihrem professionellen Bemühen um<br />

gesunden und gemäßigten Genuss zu unterstützen. Statt mit<br />

dem Hinweis auf Nährwerte und Kalorien, der – wie Sie sicher<br />

aus eigener (Berufs)Erfahrung wissen – kaum fruchtet, weil<br />

Sufganiot gar so köstlich sind, probieren Sie es doch mal mit<br />

folgendem Argument vom israelischen Comedian Avi Nussbaum,<br />

der damit die Initiative des damaligen ultraorthodoxen<br />

Gesundheitsministers Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes<br />

Tora-Judentum unterstützte, der die Israelis 2016<br />

zu bewussterem Essverhalten anhalten wollte: „Der<br />

Geschichte zufolge hat vor über 2.000 Jahren ein<br />

winziges Fläschchen Öl für acht Tage gereicht.<br />

Müssen wir also wirklich ganze Container in acht<br />

Stunden verbrauchen?“<br />

Sollte Ihre Antwort „Nein“ lauten, könnten Sie<br />

über den Einsatz einer Heißluftfritteuse (neudeutsch:<br />

Air Fryer) nachdenken. Die kommt theoretisch<br />

und praktisch ohne Öl aus. Für die Tradition<br />

– und den Geschmack – könnte man das<br />

Gebäck dann einfach vor dem Heißluftfrittieren<br />

DULCE DE LECHE<br />

ZUTATEN (für ca. 500 g):<br />

1 l Milch<br />

260 Gramm Zucker<br />

1 Messerspitze Natron<br />

1 TL Vanilleextrakt<br />

Geheimzutat: Glasmurmeln<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Milch und Murmeln in einen<br />

Topf geben und erhitzen. Die<br />

Murmeln sorgen dafür, dass die<br />

Masse nicht anbrennt. Kurz vor<br />

dem Siedepunkt Natron, Vanilleextrakt<br />

und Zucker hinzugeben.<br />

Unter ständigem Rühren bei starker<br />

Hitze einkochen lassen, bis<br />

nach zirka einer Stunde eine karamellfarbene<br />

Creme entstanden<br />

ist. Die Creme hat die perfekte<br />

Konsistenz, wenn ein Tropfen<br />

davon nicht mehr auf dem Teller<br />

verrinnt. Dulce de Leche (ohne<br />

die Murmeln) in Gläser abfüllen<br />

und auskühlen lassen. Im Kühlschrank<br />

aufbewahren. Falls beim<br />

Füllen der Sufganiot etwas übrigbleiben<br />

sollte: Die Milchkaramellcreme<br />

schmeckt auch herrlich<br />

auf Brot.<br />

mit etwas Öl besprayen. Ob sich das Ergebnis<br />

allerdings Sufganiot nennen darf, muss jede<br />

und jeder selbst entscheiden. Schließlich bedeutet<br />

Sufganiot übersetzt „Fettschwamm“.<br />

Werte Kochexperten,<br />

bei der Einrichtung meines neuen Hauses stellt sich mir<br />

folgende Frage: Warum brauche ich zum Beispiel zwei<br />

Herde, aber nur einen Kühlschrank? Schließlich könnten<br />

sich ja auch im Kühlschrank zum Beispiel Milchiges<br />

und Fleischiges aus Versehen mischen. Könnt ihr<br />

dieses Rätsel für mich auflösen? <br />

Anonym<br />

Grundsätzlich gelten die Speisegesetze<br />

auch für Küchengeräte, Geschirr, Besteck<br />

und anderes Zubehör. Um Ihre Frage<br />

zu beantworten, müssen wir in das ganz eigene<br />

Gedankensystem der Halacha eintauchen,<br />

das erklärt, warum es sich so und<br />

nicht anders verhält. Die Halacha unterscheidet<br />

nicht nur zwischen verschiedenen<br />

Aggregatszuständen eines Lebensmittels,<br />

auch Hitzegrade haben eine Bedeutung. So<br />

trägt Wärme – die laut Halacha so stark sein<br />

muss, dass die Hand davor zurückschreckt,<br />

also bei 45 Grad Celsius und aufwärts – nicht<br />

nur zum Kochen, Braten oder Dünsten bei,<br />

durch die Erhitzung werden auch Geruch<br />

und Geschmack eines Nahrungsmittels auf<br />

andere Speisen(bestandteile) übertragen.<br />

Dies geschieht zum Beispiel, wenn Fleisch in einer Sauce gedünstet<br />

wird.<br />

Im Kühlschrank findet diese Übertragung aufgrund der<br />

niedrigen Temperaturen nicht statt. Ein Gerät pro koscheren<br />

Haushalt reicht deshalb völlig aus. Sie dürfen sogar einen milchigen<br />

und einen fleischigen Topf in dasselbe Kühlregal stellen<br />

– wobei man natürlich aufpassen muss, dass<br />

kein Tropfen Milch in den fleischigen Topf<br />

fällt und umgekehrt. Und wenn es dennoch<br />

versehentlich geschieht?<br />

Wenn mengenmäßig mehr als 60-mal<br />

mehr Essen im Fleischtopf enthalten ist<br />

als der aus Versehen hineingefallene Milchtropfen,<br />

darf man die Speise trotzdem verzehren.<br />

Das Stichwort lautet hier „Batel beSchischim“, was<br />

wörtlich übersetzt „annulliert in 60“ bedeutet. Man<br />

geht dann davon aus, dass der Geschmack des nicht<br />

koscheren Teils nicht mehr nachweisbar ist und die<br />

Speise damit zulässig.<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />

schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF<br />

wına-magazin.at<br />

33<br />

November.indb 33 15.11.2021 11:24:28


LEBENS ART<br />

Dick aufgetischt<br />

Novemberblues? Dagegen helfen zwei Dinge: Fröhliche Farben und exzellentes Essen!<br />

WINA hat dafür schon einmal die passenden Teller aus dem Schrank geholt …<br />

Ein Fest fürs Auge<br />

Kennen Sie den „Ottolenghi-Effekt“? Damit bezeichnet<br />

man den Moment, in dem der beliebte Chefkoch es<br />

wieder einmal geschafft hat, ein stinknormales Gemüse<br />

in ein kulinarisches Highlights zu verwandeln. Natürlich<br />

braucht es dafür auch die passenden Teller, Schalen,<br />

Schüsseln, Gläser, Tassen und Besteck. Deshalb<br />

lancierte Yontam Ottolenghi nun gemeinsam mit<br />

dem italienischen Künstler Ivo Bisignano für Serax<br />

die fröhliche Tableware-Kollektion „Feast“.<br />

Z. B. über hannibals.at<br />

CHEERS. Ottolenghi bei<br />

der Tortenschlacht im<br />

Metropolitan Museum.<br />

ÜBERWÄLTIGENDER<br />

AUGENSCHMAUS<br />

Dann sollen sie doch Kuchen essen!<br />

Im Sommer 2018 engagierten die Leiter des Metropolitan<br />

Museum of Art in New York den namhaften israelischen<br />

Spitzenkoch Yotam Ottolenghi. Diese Dokumentation<br />

begleitet Ottolenghi und fünf weitere<br />

visionäre Konditoren und Konditorinnen<br />

bei ihrer Mission, das einzigartige kulinarische<br />

Event auf die Beine zu stellen.<br />

Kleiner Spoiler: Das ist nicht immer<br />

nur süß!<br />

© Hersteller, mfa FilmDistribution<br />

34 wına | November 2021<br />

Ab 19. November 2021 auf DVD:<br />

Ottolenghi und die Versuchung von<br />

Versailles, mfa-film.de<br />

November.indb 34 15.11.2021 11:26:30


Geschnitztes<br />

fürs Geschnetzelte<br />

Ein Teller wie ein köstliches Gericht:<br />

„Jedes Exemplar ist anders als das andere.<br />

Ich fertige eine Tonscheibe an<br />

und schnitze von Hand, wodurch das<br />

einzigartige Muster entsteht“, erklärt die<br />

Tel Aviver Ton-Künstlerin Yulia Tsukerman.<br />

Ihre Terrakottaserie hat außerdem<br />

den, äh, perfekten Garpunkt: Im<br />

Inneren ist der Teller blau glasiert, die<br />

Außenseite ist naturbelassen.<br />

yuliatsukerman.com<br />

Super Bowls<br />

In Zeiten der Gender-Diskussion hat es das Sternchen<br />

wahrlich nicht einfach. Der amerikanische Designer<br />

Jonathan Adler hat es deshalb liebevoll und gleich einmal<br />

in verschiedenen Farben auf seine Geschirrserie<br />

„Helsinki“ gepackt. So schick wie schlicht – und deshalb<br />

perfekt für den Alltag und besondere Anlässe.<br />

Natürlich Spülmaschinenfest.<br />

jonathanadler.com<br />

Mega Maiolika<br />

Was macht der Künstler, wenn er Teller braucht? Er fertigt<br />

sie selbst an. So wie Sol LeWitt, der die Vorgänger seiner<br />

Serie „Lines in Four Directions“ Anfang der 1980er-Jahre<br />

eigentlich nur für sein eigenes Zuhause in Italien entworfen<br />

hatte und von Kunsthandwerkern in Deruta herstellten<br />

ließ. Die gleiche Familie, deren Keramiktradition über<br />

600 Jahre zurückreicht, stellt übrigens auch heute noch<br />

LeWitts Designs in Handarbeit her.<br />

lewittstudio.com<br />

Keramik mit Kanten<br />

Nicht immer muss das Eckige ins Runde. Beim<br />

israelischen Studio Adama leben die verschiedenen<br />

Formen der Teller und Schalen etwa in friedlichem<br />

Nebeneinander: als Halbkreis, quadratisch, rechteckig<br />

und sogar pizzastückförmig. Die bunten<br />

Produkte sind in Handarbeit aus Naturmaterialien<br />

geformt.<br />

adamastudio.com<br />

wına-magazin.at<br />

35<br />

November.indb 35 15.11.2021 11:28:27


Thema<br />

© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien; schedl_Barmherzige_Brueder_Wien<br />

Krankenhaus der Barmherzigen<br />

Brüder Wien<br />

Das Krankenhaus der Barmherzigen<br />

Brüder Wien wurde 1614<br />

gegründet. Während der vergangenen<br />

Jahrhunderte ist das Spital im<br />

2. Wiener Gemeindebezirk kontinuierlich<br />

gewachsen. Mittlerweile verfügt das<br />

Wiener Brüder Spital über mehr als 400<br />

Betten, beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter und ist seit<br />

vielen Jahren ein verlässlicher Partner<br />

in der Gesundheitsversorgung in Wien<br />

und in ganz Ostösterreich. 2020 fanden<br />

rund 150.000 Patientinnen und Patienten<br />

im Spital in der Leopoldstadt medizinische<br />

Hilfe. Das Krankenhaus der<br />

Barmherzigen Brüder Wien ist zertifiziert<br />

nach pCC inkl. KTQ, womit einmal<br />

mehr die wichtige Verbindung von<br />

Qualität, Kompetenz sowie Fachlichkeit<br />

mit Barmherzigkeit und Nächstenliebe<br />

belegt wird. Das Spital ist Lehrkrankenhaus<br />

für Medizin als auch für Pflege und<br />

dem Krankenhaus angegliedert<br />

sind eine Apotheke<br />

sowie eine Pflegeakademie.<br />

UMWELTSCHUTZ<br />

IM KRANKEN-<br />

HAUS<br />

Das Krankenhaus hat<br />

auch im Bereich<br />

Umweltschutz ambitionierte<br />

Ziele: Das Ziel, die<br />

CO 2<br />

-Emissionen bis 2025<br />

um fast 50 % zu senken,<br />

wurde dank des Engagements<br />

aller Ordenseinrichtungen der<br />

Barmherzigen Brüder in Österreich<br />

bereits jetzt mit 48 % nahezu erreicht.<br />

Wurden 2017 noch ca. 16.563 Tonnen<br />

CO 2<br />

verursacht, waren es 2020 nur noch<br />

8.622 Tonnen – eine Reduktion um fast<br />

die Hälfte. Dies wurde vor allem durch<br />

die Errichtung von Photovoltaikanlagen,<br />

bauphysikalische Maßnahmen bei<br />

Neubauten, energieeinsparende Maßnahmen<br />

oder den Einsatz 100 % elektrischer<br />

Energie aus Wasserkraft erreicht.<br />

daVinci® Operationsroboter in Action<br />

Luftaufnahme Krankenhaus<br />

der Barmherzigen<br />

Brüder Wien<br />

EIN KRANKENHAUS<br />

FÜR ALLE MENSCHEN<br />

Die Ambulanzen im Krankenhaus<br />

der Barmherzigen Brüder<br />

Wien stehen allen Menschen<br />

offen. Dazu Frater Antonius<br />

Nguyen OH, Prior und oberster<br />

Ordensbruder in Wien: „Wir sind ein<br />

Krankenhaus für alle Menschen. Für<br />

uns zählen nicht die Weltanschauung,<br />

das Einkommen oder die Herkunft. In<br />

unseren Ambulanzen geht es auch nicht<br />

um den Versicherungsstatus. Es geht um<br />

den kranken Menschen und es geht darum,<br />

zu helfen - einfach und unbürokratisch.<br />

Im vergangenen Jahr haben<br />

wir vielen Menschen geholfen und rund<br />

15.000 Menschen ohne Versicherung auf<br />

eigene Kosten versorgt.“<br />

SPITZENMEDIZIN<br />

UND SPITZENPFLEGE<br />

Im Krankenhaus der Barmherzigen<br />

Brüder Wien erwartet die Patientinnen<br />

und Patienten beste Medizin und<br />

Pflege sowie eine topmoderne Ausstattung.<br />

Das Spital ist das einzige in ganz<br />

Österreich mit zwei daVinci® Operationsrobotern<br />

der neuesten Generation,<br />

die mittlerweile von vier medizinischen<br />

Abteilungen eingesetzt werden. Im Bereich<br />

der Pflege gibt es zahlreiche Diplomkrankenpflegepersonen<br />

mit Zusatzausbildungen<br />

und -qualifikationen<br />

wie beispielsweise Diabetesberatung,<br />

Stomaberatung oder auch Wundmanagement.<br />

„Krank zu sein ist für alle Menschen<br />

schwierig - wir sehen unsere Aufgabe<br />

darin, nicht nur die körperlichen Beschwerden<br />

zu heilen und zu lindern,<br />

sondern wir sehen den Menschen ganzheitlich<br />

und kümmern uns auch um den<br />

Geist und die Seele,“ so Frater Antonius<br />

Nguyen OH abschließend.<br />

Bitte unterstützen Sie unseren Einsatz für kranke und nichtversicherte Menschen mit einer Spende<br />

Spendenkonto: IBAN: AT69 6000 0000 0706 4001 BIC: BAWAATWW<br />

Die Spenden sind steuerlich absetzbar. Weitere Informationen unter www.menschlichkeit-bbwien.at wına-magazin.at<br />

36<br />

November.indb 36 15.11.2021 11:28:28


WINA YOGA<br />

Ist Yoga koscher?<br />

Yoga-Minjanim, jüdisch inspirierte Yoga-Kurse und<br />

zahlreiche Publikationen zum Thema Yoga und Judentum<br />

deuten auf das wachsende Interesse hin.<br />

Von Julia Kaldori<br />

Die Frage, die ihm in<br />

den letzten 20 Jahren<br />

am häufigsten gestellt<br />

wurde, besteht<br />

aus drei Worten: „Ist Yoga koscher?“<br />

Die Antwort von Marcus<br />

J Freed war seit jeher immer<br />

ein begeistertes Ja. Er ist<br />

Mitbegründer des Jewish Yoga<br />

Network (jewishyoganetwork.<br />

org) und Autor von The Kosher<br />

Sutras: A Yogi’s Guide to the Torah.<br />

Laut Freed deuten viele jüdische<br />

Quellen darauf hin,<br />

dass die Ausübung von Yoga<br />

zulässig ist, obwohl man wie<br />

bei allen talmudischen Überlegungen<br />

auch in die andere<br />

Richtung argumentieren kann. Trotz des stetig wachsenden<br />

Interesses an Yoga aus jüdischer Sicht, auch in<br />

Israel, sind viele observante Juden immer noch besorgt<br />

darüber, ob Yoga legitimerweise in die authentische jüdische<br />

Praxis integriert werden kann.<br />

Juden ringen mit der Spiritualität – das liegt in ihrer<br />

Natur, meint Freed. „Der Name Israel bedeutet ,der mit<br />

Gott gerungen und überwunden hat‘ (1. Mose 32,28),<br />

und wir können Juden dabei beobachten, wie sie in vielen<br />

verschiedenen Bereichen mit ihrer Beziehung zu<br />

G-tt experimentieren. Wenn wir in unserer eigenen<br />

Tradition keine spirituellen Antworten finden, suchen<br />

manche woanders.“ Es gibt mehrere Ashrams (hinduistisch<br />

oder asiatisch geprägte spirituelle Einkehrzentren),<br />

die jüdische Schüler wie auch jüdische Lehrer haben.<br />

Die Psychotherapeutin und Achtsamkeitslehrerin<br />

Sylvia Boorstein hat ein Buch mit dem Titel That’s Funny,<br />

You Don’t Look Buddhist: On Being a Faithful Jew and a Passionate<br />

Buddhist herausgebracht.<br />

Bevor sie Chabad-Rabbetzin wurde, war Olivia<br />

Schwartz Studentin der spirituellen Führerin Mira Alfassa<br />

in Indien, die ihren Anhängern als Die Mutter bekannt<br />

war. Alfassa war eine sephardische Jüdin, die in<br />

Paris als Tochter einer ägyptisch-jüdischen Mutter und<br />

eines türkisch-jüdischen Vaters geboren wurde. In den<br />

siebzig Jahren, die sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1973 in<br />

Avraham und Rachel Kolberg: Sie betreiben ihr Yoga-<br />

Studio in Beit Shemesh vor allem für orthodoxe Besucher.<br />

Indien verbrachte, erwarb sie<br />

sich großes Ansehen als yogische<br />

Führerin.<br />

Olivia Schwartz verließ Indien<br />

schließlich in Richtung<br />

Israel, wurde strenggläubig<br />

und war über 40 Jahre lang<br />

Co-Direktorin des berühmten<br />

Chai Center in Los Angeles.<br />

Sie hat hunderttausende<br />

von Menschen in Tora-Kursen<br />

unterrichtet und praktiziert<br />

immer noch jeden Tag<br />

Yoga.<br />

Eine große Herausforderung<br />

für viele jüdische Praktizierende<br />

ist es, wenn sie ein<br />

Yoga-Studio betreten und<br />

Statuen hinduistischer Gottheiten vorfinden. Freed rät<br />

dazu, sich zu vergewissern, dass die Yoga-Matte nicht<br />

vor einer der Statuen liegt oder diese Studios zu meiden<br />

und einen Onlinekurs zuhause zu besuchen. WINA-<br />

Autorin Lisa Prutscher (yogashelanu.at), aber auch die<br />

„Wir sind kein Yoga-Disney-Land.<br />

Beide Pfade beschreiten wir mit<br />

Respekt und getreu den Jahrtausende<br />

alten Traditionen.“<br />

Avraham Kolberg, Yoga-Lehrer<br />

in Beit Shemesh<br />

beiden Youtuberinnen Adriene Mishler (yogawithadriene.com)<br />

und Allie Van Fossen (thejourneyjunkie.<br />

com) sind hier empfehlenswerte Alternativen mit jüdischem<br />

Background.<br />

Immer mehr Menschen fühlen sich zu Yoga und Meditation<br />

hingezogen, und so plädiert Marcus J Freed dafür,<br />

Yoga in immer mehr Synagogengemeinschaften<br />

anzubieten, um so die Integrität des religiösen Rahmens<br />

zu bewahren und gleichzeitig immer mehr Menschen<br />

von Yoga und Meditation profitieren zu lassen. Gerade<br />

in Zeiten großer Umbrüche, wie wir sie aktuell erleben.<br />

wına-magazin.at<br />

37<br />

November.indb 37 15.11.2021 11:28:28


Thema<br />

Corona-Update: 1 – 2 – 2,5 – 3: Was gilt?<br />

Momentaufnahme zu den aktuell geltenden<br />

Corona-Regeln in Österreich<br />

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Am 1.11.2021 trat die 3. COVID-Maßnahmenverordnung in Kraft.<br />

Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Noch nie in der Geschichte<br />

der neueren österreichischen Rechtssetzung hat eine Akutsituation<br />

eine solche Fülle laufend neuer Normen mit sich gebracht,<br />

wie die aktuelle Pandemiesituation. Novellen erscheinen bereits 24<br />

Stunden nach Veröffentlichung einer Verordnung, um diese relevant<br />

abzuändern, am 7.11.2021 wurden zudem neue Regeln zu 2G erlassen.<br />

Es ist kein Wunder, dass die Übersicht schwierig wird. Wir geben Ihnen<br />

ein aktuelles Bild:<br />

Mit der am 25.10.2021 kundgemachten 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung<br />

(3. COVID-19-MV) wurde als öffentlich meistdiskutierte<br />

Neuerung die „3G-Regel am Arbeitsplatz“ eingeführt. Ein außerhalb<br />

der Nachtgastronomie tätiger Arbeitnehmer darf seit dem 1.11.2021<br />

seine Arbeitsstätte nur betreten, wenn er geimpft, genesen oder<br />

von einer „befugten Stelle“ (zB Apotheke oder Teststraße) getestet<br />

ist. Ausnahmsweise dürfen Mitarbeiter, die 3G nicht erfüllen, noch<br />

bis längstens 14.11.2021 dennoch dem Arbeitsplatz betreten, wenn<br />

sie dort durchgehend Maske tragen. Ab dem 15.11.2021 fällt diese Option<br />

weg. Wien geht darüber hinaus einen Sonderweg. Hier gilt bereits<br />

jetzt die 2,5G-Regel am Arbeitsplatz, wen nur einen Antigentest<br />

vorweist, muss durchgehend Maske tragen.<br />

Die Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen haben<br />

zusätzlich zum 3G Nachweis in geschlossenen Räumen eine FFP2-<br />

Maske zu tragen, in Wien gilt darüber hinaus eine wöchentliche PCR-<br />

Testpflicht und Maskenpflicht in allen Bereichen der Tätigkeit.<br />

In der Nachtgastronomie gilt bereits seit dem 1.11.2021 auch für Mitarbeiter<br />

die 2G-Regel. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss laufend<br />

einen aktuellen PCR-Test nachweisen und bei Kundenkontakt<br />

Maske tragen. Dasselbe gilt nun ab dem 8.11.2021 auch für Mitarbeiter<br />

mobiler Pflege- und Betreuungsdienstleistungen.<br />

Eine diffizile Frage bleibt die von Gesetzgeber nicht klar genug geregelte<br />

Kontrolle all dieser Vorgaben durch den Arbeitgeber. Nach<br />

zahlreichen Diskussionen der letzten Tage scheint es nun auch seitens<br />

der zuständigen Ministerien klargestellt zu sein, dass der Arbeitgeber<br />

das Vorliegen der entsprechenden Bescheinigungen kontrollieren<br />

und die Maßnahme auch dokumentieren darf.<br />

Persönliche Gesundheitsdaten dürfen zwar nicht gespeichert<br />

werden. Der Dienstgeber darf aber den Namen des Dienstnehmers,<br />

den Zeitpunkt der Überprüfung und den Umstand festhalten, dass<br />

er dem Mitarbeiter den Zutritt gestattet (bzw. ihn abgewiesen) hat.<br />

Dies ist umso mehr erforderlich, als jeder Arbeitsgeber einer Strafbarkeit<br />

unterliegt, sofern er diesen Aufgaben nicht nachkommt. Den<br />

Beweis muss er also antreten dürfen. Die auch für Mitarbeiter vorgesehenen<br />

geringeren Strafen dürften in der Praxis aber – außer bei unerwarteten<br />

Prüfungen der Behörde vor Ort – kaum eine Rolle spielen.<br />

Am 8.11.2021 trat also schon die 2. Novelle zur 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung<br />

in Kraft, mit der nun die Teilnahme an für zahlreiche<br />

Bereiche der Freizeitgestaltung im öffentlichen Raum nur noch<br />

2G (also nur noch geimpft oder genesen) statt bislang 3G (also auch<br />

getestet) möglich ist. Außerdem wurde die Ausweitung der Maskenpflicht<br />

neuerlich ausgeweitet und auch die Bestimmungen für Veranstaltungen<br />

wieder etwas verschärft.<br />

Der strenge 2G-Nachweis war bislang „nur“ für die Nachtgastronomie<br />

(zB Diskotheken, Clubs, Après-Ski-Lokale und Tanzlokale) vorgesehen.<br />

Nunmehr gilt 2G-Pflicht auch in Reisebussen und Ausflugsschiffen,<br />

in allen Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben (mit<br />

Ausnahmen), bei der Inanspruchnahme von körpernahen Dienstleistungen<br />

(Friseur, Masseur, Fußpflege etc), in nicht öffentlichen Sportstätten<br />

(wie zB Fitnessstudios, Tennisplätzen, Golfplätzen etc) für Kunden,<br />

in Freizeiteinrichtungen (Bäder, Freizeit- und Vergnügungsparks,<br />

Tanzschulen, Tierparks und ähnliches) sowie insbesondere auch in<br />

Alten- und Pflegeheime sowie in Krankenhäusern.<br />

Relevant für die Ballsaison ist, dass auch kleinere Veranstaltungen<br />

(ab 26 TeilnehmerInnen) nur noch mit einem 2G-Nachweis besucht<br />

werden dürfen.<br />

Eine bedeutende Ausnahme gilt aber für Personen, die nicht<br />

ohne Gefahr für Leben oder Gesundheit geimpft werden können.<br />

Diese müssen auch weiterhin keinen 2G-Nachweis erbringen, sondern<br />

können auch mit einem negativen PCR-Test, der aber nicht älter<br />

als 72 Stunden sein darf, die oben aufgeführten Orte und Veranstaltungen<br />

besuchen.<br />

Auch für Kinder, die ja derzeit weitestgehend noch nicht geimpft<br />

werden können, gibt es eine Erleichterung. Sie können bis zum Ende<br />

der Schulpflicht auch mit ihrem Corona-Testpass die 2G-Kriterien erfüllen.<br />

Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig sind, müssen aber<br />

- wie Erwachsene - das 2G-Kriterium erfüllen, sonst dürfen sie weder<br />

in die Disco noch ins Fitnessstudio (oder wo sonst noch 2G gilt).<br />

Maskenpflicht herrscht derzeit grundsätzlich (als Faustregel) immer<br />

dann, wenn man geschlossene Räume in öffentlichen Einrichtungen<br />

betritt. Darüber hinaus muss man Maske (FFP2) insbesondere<br />

in folgenden Einrichtungen und Orten tragen: in Handelbetrieben, in<br />

Schülertransporten und sonstigen Massenbeförderungsmitteln (Umnähen,<br />

Zug, Flugzeug) sowie in den dazugehörigen Stationen, Bahnsteigen,<br />

Haltestellen, Bahnhöfen und Flughäfen (und deren jeweiligen<br />

Verbindungsbauwerken), in geschlossenen Räumen, in Taxis und taxiähnlichen<br />

Betrieben, in Imbiss- und Gastronomiestände (in geschlossenen<br />

Räumen) in Alten- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern.<br />

Gültig sind Impfnachweise in der Regel nun nur noch für 270 Tage<br />

nach der Impfung, anstatt wie bisher für 360 Tage.<br />

Es ist zu hoffen, dass die aktuellen Verschärfungen dazu beitragen,<br />

die derzeit erschreckend hohen Infektionszahlen wieder etwas<br />

eindämmen und auch die Menschen, die sich impfen lassen können,<br />

dazu bewegen sich auch tatsächlich impfen zu lassen. Auf dass wir<br />

dies letzte Corona-Winter wird und wir uns künftig wieder ohne Nachweis<br />

eines epidemiologischen Status begegnen können.<br />

Sollten Sie Fragen zu diesen auch für uns Experten teils nicht mehr<br />

immer klaren Thema haben, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.<br />

PIROSKA VARGHA / RA ANDREAS BAUER<br />

Rechtsanwälte für Lansky, Ganzger, Goeth,<br />

Frankl und Partner Rechtsanwälte GmbH<br />

wına-magazin.at<br />

38<br />

Lansky.indd 38 15.11.2021 11:46:24


HIGHLIGHTS | 03<br />

Die Geschichten<br />

dahinter<br />

Afterlives: eine Schau im New Yorker<br />

Jewish Museum über Raubkunst<br />

Man kennt die Namen. Marc Chagall und<br />

Henri Matisse, Picasso, Cézanne, Paul<br />

Klee und Franz Marc. Sie gehören zur Hochmoderne<br />

der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts.<br />

Keine Timeline ohne ihre seinerzeit<br />

bahnbrechenden Arbeiten, die heute zu<br />

höchsten Preisen gehandelt werden.<br />

Das Jewish Museum in Manhattan zeigt<br />

nun Afterlives: Recovering the Lost Stories of<br />

Looted Art, die „vergessenen Geschichten“<br />

diese Maler und ihre Werke. Aber so, dass<br />

einem nach dem Besuch der Kopf schwindelt.<br />

Denn die Geschichten dieser Kunst als<br />

„Raubkunst“ werden hier faszinierend aufregend<br />

offengelegt. So auch die zerschnittenen<br />

kubistischen Gemälde Fedor Löwensteins,<br />

die dieser 1940 aus Paris in die USA zu<br />

senden versuchte und die – als pièce<br />

de resistance – im Keller des<br />

Musée du Louvre überlebten. Interessant<br />

wie erhellend: Vier jüngere<br />

Künstler:innen – Maria Eichhorn,<br />

Lisa Oppenheim, Hadar<br />

Gad, die die verlorene Große Synagoge<br />

von Danzig malte, und<br />

Dor Guez – wurden eingeladen,<br />

individuell, kontrastiv ergänzend<br />

und stilistisch variationsreich darauf<br />

zu reagieren. A.K.<br />

AFTERLIVES: RECOVERING THE LOST<br />

STORIES OF LOOTED ART<br />

Jewish Museum Manhattan<br />

bis 9. Jänner 2022<br />

thejewishmuseum.org<br />

WENN GOLDEN SINGT<br />

„Die Leute können vielleicht behaupten,<br />

dass ich nicht singen kann, aber<br />

niemand kann behaupten, dass ich<br />

nicht gesungen hätte. In der Regie<br />

von Rüdiger Hentzschel steht<br />

keine Geringere als Bühnenallroundwunder<br />

Tania Golden als tragisches<br />

Stimmwunder Florence Foster Jenkins<br />

in Peter Quilters Welterfolg Glorious!<br />

derzeit auf der Bühne der<br />

Wiener Scala. Anrührend komisch,<br />

brillant gespielt. Noch bis 20.11.!<br />

theaterzumfuerchten.at<br />

MUSIKTIPPS<br />

Alles über die<br />

Alleskönnerin<br />

Hello Gorgeous: Ausstellung über, von<br />

und mit Barbra Streisand<br />

Gerade rechtzeitig wurde der Einreisestopp<br />

von Europa in die USA aufgehoben,<br />

sodass man stante pede, besser: per<br />

Flugzeug nach Miami, Florida, reisen kann,<br />

um in der Schau Hello Gorgeous im Jewish Museum<br />

of Florida in Miami Beach alles, wirklich<br />

alles zu erfahren, zu sehen und vor allem zu<br />

hören über Barbra Streisand. Kostüme, Fotografien,<br />

darunter wahrlich viele schöne glamouröse,<br />

Videoaufzeichnungen und Filmausschnitte,<br />

Alben, Alben, Langspielplatten.<br />

Zu jüdisch, zu gewöhnlich-ungewöhnlich,<br />

nicht feminin genug, nicht sexy genug, zu hartnäckig-penetrant:<br />

Alle diese Vorurteile überwand<br />

Streisand, geboren am 24. April 1942,<br />

um Die Streisand zu werden. Eine unfassbar<br />

produktive und äußerst erfolgreiche Sängerin<br />

(145 Millionen verkaufte Tonträger,<br />

57 Gold-Alben und 13 Multi-<br />

Platin-Alben), Schauspielerin,<br />

Komödiantin, Entertainerin, Produzentin.<br />

Kein Wunder, dass ihr<br />

zur großen Ehre der „Streisand-<br />

Effekt“ benannt wurde, das mediale<br />

Phänomen, dass versuchte<br />

Unterdrückung einer Information<br />

diese erst recht verbreitet.<br />

A.K.<br />

HELLO GORGEOUS<br />

Jewish Museum of Florida<br />

bis 20. Februar 2022<br />

jmof.fiu.edu<br />

LEVIT<br />

Es gibt fleißige Pianisten. Es gibt<br />

umtriebige. Und es gibt Igor Levit,<br />

den Aktivisten, Twitteranten, Ordensträger,<br />

Buchautor. Für On Dsch (Sony) spielte er Dmitri<br />

Schostakowitschs weniger bekannte schwierige<br />

Präludien & Fugen op. 87 Nr. 1–24 ein, dessen<br />

Hommage an J. S. Bach. Dazu gibt es Passacaglia<br />

on DSCH des Briten Ronald Stevenson.<br />

Zusammen: eine Entdeckung und ein fast vier<br />

Stunden langes eindringliches Hörerlebnis.<br />

GILTBURG<br />

Manchmal lohnt es sich, krampf-<br />

hafte Jahrestagsaufnahmen links<br />

liegen zu lassen und zu warten. Etwa auf die<br />

sich eindeutig so manche Vorschusslorbee-<br />

ren verdienende Gesamtedition Ludwig van<br />

Beethoven: Klaviersonaten Nr. 1–32<br />

(Naxos) auf<br />

neun CDs. Boris Giltburg spielt mit großer Anmut<br />

und Grazie ebenso wie wie mit klarer, dif-<br />

ferenzierender Intelligenz. Noch größer sind<br />

Virtuosität und Spielfreude des 37-Jährigen.<br />

KREMER<br />

Dafür kauft man sich sogleich –<br />

und gern! – ein neues Regal. Denn<br />

die Box Gidon Kremer – The Warner Collection<br />

(Warner), die sämtliche Einspielungen des Geigers,<br />

der nächsten Februar 75 Jahre wird, bei diesem<br />

Label enthält, liegen nun auf 21 CDs gesammelt<br />

vor. Mit u. a. Martha Argerich und Mstislav<br />

Rostropovich, Karajan, Muti und Harnoncourt<br />

spielte er Brahms bis Schulhoff, Schumann, Strawinsky<br />

und auch Astor Piazzola. A.K.<br />

© Succession H. Matisse / Artists Rights Society (ARS), New York, provided by The Art Institute of Chicago / Art Resource, New York; jmof.fiu.edu<br />

wına-magazin.at<br />

39<br />

November.indb 39 15.11.2021 11:28:29


An das exquisite Modehaus Maison<br />

Zwieback in der Wiener Kärntnerstraße,<br />

dort, wo sich derzeit ein<br />

Apple-Tempel befindet, erinnert<br />

heute gar nichts mehr. Und auch die<br />

Spuren des daran angeschlossenen Jugendstil-Cafés<br />

in der Weihburggasse, Jahrzehnte verborgen im<br />

einstigen Gourmetlokal Drei Husaren, sind nach<br />

dessen Freilegung im Zuge der Umbauarbeiten für<br />

die Conditorei Sluka brutal entfernt worden. Sogar<br />

die Initialen ZZ an den Säulen des hohen Innenraums<br />

wurden übermalt. Ausgelöscht ist damit<br />

vor Ort die Erinnerung an die elegante und charismatische<br />

Wiener Geschäftsfrau Ella Zirner-Zwieback,<br />

die das Kaufhaus von ihrem Vater übernommen<br />

und das Café instinktreich dazu gebaut hatte.<br />

Ihre Konzession musste sie 1938 an einen Berliner<br />

„Ariseur“ abtreten, als Jüdin enteignet emigrierte<br />

sie mit ihrem Sohn Ludwig in die USA, wo sie 1970<br />

starb. Jahrelang kämpfte sie gegen die Windmühlen<br />

der österreichischen Nachkriegsjustiz vergeblich<br />

um die Rückgabe ihrer Konzession.<br />

In umgekehrter Richtung floh ihr in Amerika geborener<br />

Enkel, der Schauspieler und Musiker August<br />

Zirner, vor dem Vietnam-Krieg nach Wien,<br />

um am Max Reinhardt Seminar zu studieren. Seine<br />

Mutter Laura Wärndorfer, aus einer bereits getauften<br />

jüdischen Industriellenfamilie stammend,<br />

musste Wien in der Nazizeit verlassen, heiratete in<br />

Amerika 1942 Ludwig Zirner, kehrte aber nach dessen<br />

frühem Tod später nach Wien zurück. Wie ihre<br />

Schwiegermutter Ella war auch die als Designerin<br />

tätige Laura eine durchaus mode- und selbstbewusste<br />

Frau.<br />

„Von den Müttern unserer Väter“, also ihren jeweiligen<br />

Großmüttern, erzählen nun in einem<br />

Band abwechselnd Vater August und Tochter Ana<br />

Zirner und spüren damit, teils recherchierend,<br />

teils fabulierend, gleichzeitig einem Stück Familien-<br />

und Zeitgeschichte nach. Wie bei allen fremden<br />

Verwandtschaften ist es dabei nicht immer<br />

ganz leicht, den verschlungenen Lebenslinien zu<br />

folgen, zumal Ludwig Zirner als „Kuckuckskind“<br />

aus einem Seitensprung Ellas mit ihrem Klavierlehrer,<br />

dem Komponisten Franz Schmidt, hervorging,<br />

was nicht zuletzt die große Rolle der Musik in<br />

der Familientradition erklärt.<br />

„ICH HABE IMMER N<br />

In ihrer Familienbiografie Ella und Laura begeben<br />

die Spuren ihrer Großmütter und legen gleichzeienteigneten<br />

Wiener Kaufhauses Zwieback schicht-<br />

August Zirner.<br />

„Der Rabbiner von Westminster,<br />

Albert Friedländer,<br />

hat mich gefragt, wollen Sie<br />

tatsächlich 613 Gebote und<br />

Hebräisch lernen?“<br />

sich<br />

tig d<br />

wei<br />

Über Vererbtes in vielerlei Hinsicht im Folgenden<br />

ein Trialog mit Vater und Tochter Zirner.<br />

© Bettina Flittner<br />

40 wına | November 2021<br />

November.indb 40 15.11.2021 11:28:36


Von der Seele schreiben<br />

INTERVIEW MIT AUGUST & ANA ZIRNER<br />

NOCH EINE WUT“<br />

en sich August Zirner und seine Tochter Ana auf<br />

ei- tig die hierzulande verdrängte Geschichte des<br />

t- weise frei. Interview: Anita Pollak<br />

WINA: Meist ist es ja so, dass man sich erst im reiferen Alter<br />

mit der eigenen Herkunft befasst. Dass sich gleichzeitig die<br />

Tochter auch dafür interessiert, ist wohl eher ein Glücksfall.<br />

Ana Zirner: Ich habe mich immer für Geschichte interessiert<br />

und begann mich zufällig genau in der Zeit<br />

für den Holocaust zu interessieren, als auch August<br />

begann, sich damit zu beschäftigen, ich war 13 und<br />

er 42, aber bis zum Buchprojekt hat es dann noch<br />

gedauert.<br />

August Zirner: Der Impuls dazu ging von Ana, also<br />

von der Urenkelin, Enkelin bzw. Tochter aus.<br />

Die Geschichte der beiden Großmütter ist einerseits eine<br />

Wiener Geschichte, andererseits auch eine sehr typische<br />

Geschichte assimilierter Juden, die erst das Naziregime auf<br />

ihr Judentum zurückgeworfen hat. Ihre Eltern waren Emigranten,<br />

trotzdem scheint dieses Thema ziemlich tabu gewesen<br />

zu sein. Warum war das so?<br />

August Zirner: Ich wäre froh, Ihnen diese Frage beantworten<br />

zu können. Ich weiß nur, dass meine Mutter<br />

darauf bestand, dass wir zu Hause Deutsch sprechen.<br />

Sie ringen beide in unterschiedlicher, aber doch auch ähnlicher<br />

Weise mit Ihrer Identität. Die Frage „Bin ich Jude?“<br />

steht im Raum und expressis verbis in Ihrem Buch. Hat sich<br />

an Ihrer diesbezüglichen Identitätskrise im Laufe des Lebens<br />

etwas geändert?<br />

„Verdrängung kann sich<br />

leider auch vererben.“<br />

Ana Zirner<br />

August Zirner: Die Frage tauchte erstmals auf, als ich<br />

41 war, anlässlich meiner Rolle im Stück Der Fall Furtwängler,<br />

dann folgten Projekte wie Gebürtig von Robert<br />

Schindel, und ich wurde auch berufsmäßig oft<br />

mit dem Thema konfrontiert.<br />

Ana Zirner.<br />

„Wie jüdisch ich mich fühle<br />

oder nicht, ist gar nicht<br />

so relevant, es gibt eine<br />

Familienbande, die in eine<br />

jüdische Vergangenheit<br />

reicht, und die<br />

ist da.“<br />

Ich habe Sie persönlich vor einigen Jahren bei einem öffentlichen<br />

Sederabend im Wiener Dorotheum kennengelernt.<br />

Suchen Sie öfter solche Anlässe auf?<br />

August Zirner: Ja, da wollte ich gerade konvertieren.<br />

Aber der Rabbiner von Westminster, Albert Friedländer,<br />

hat mich gefragt, wollen Sie tatsächlich 613 Gebote<br />

und Hebräisch lernen? Sie müssen das Judentum<br />

nur ehren. Ich weiß inzwischen, dass ich nicht<br />

konvertieren muss, ich bin es trotzdem. Ich weiß, wo<br />

ich herkomme, aus welchem alten Kulturkreis, und<br />

ich habe eine jüdische Identität, die kann man mir<br />

nicht nehmen. Erika Jakubovits hat mir den wunderbaren<br />

Satz gesagt: „August, warum willst du irgendwo<br />

dazugehören?“ Und sie hat Recht.<br />

wına-magazin.at<br />

41<br />

November.indb 41 15.11.2021 11:28:45


Großelterngeneration aufarbeiten<br />

Sie schreiben eindrücklich von dieser „genetischen Diaspora“,<br />

die ja ein Teil der jüdischen Identität ist, denn wenn man<br />

das spürt, gehört man eigentlich schon dazu.<br />

August Zirner: Die Suche ist für mich bereits etwas<br />

zutiefst Jüdisches. Aber ich bin letzten Endes Agnostiker.<br />

Religiös ist das eine, kulturell ist das andere.<br />

Ana Zirner: Für mich lässt sich das Kulturelle nicht<br />

wegdenken, man kann wohl entscheiden, dass man<br />

damit nichts zu tun haben will, aber das heißt nicht,<br />

dass man dann nichts damit zu tun hat. Wie jüdisch<br />

ich mich fühle oder nicht, ist gar nicht so relevant, es<br />

gibt eine Familienbande, die in eine jüdische Vergangenheit<br />

reicht, und die ist da. Und das finde ich sehr<br />

schön, und das macht mich auch mit aus.<br />

Wien ist, wie Sie Robert Schindel zitieren, nicht nur die<br />

„Hauptstadt des Antisemitismus“, sondern gerade als<br />

Stadt Freuds auch eine Hauptstadt der Verdrängung. Die<br />

ganze Geschichte des neuen Café Sluka ist eigentlich eine<br />

bauliche Verdrängung. Sie hatten mit dem Besitzer Kontakt,<br />

haben Sie dafür eine Erklärung?<br />

August Zirner: Schlechten Charakter! Ich habe<br />

keine Lust mehr, Verständnis dafür aufzubringen,<br />

ich habe wirklich versucht, mit allen Mitteln Brücken<br />

zu bauen. Das betrifft das Denkmalamt Wien,<br />

den Eigentümer Christoph List und auch die Architektengruppe<br />

Wehrdorn.<br />

Ana Zirner: Ich finde das zu einfach. Verdrängung<br />

ist nicht immer etwas Bewusstes, sie kann sich leider<br />

auch vererben. Aber natürlich ist es irgendwann eine<br />

Entscheidung, sich damit nicht auseinandersetzen<br />

zu wollen, und das kann man jemandem ankreiden.<br />

Geschichte einfach zu übermalen, wie es im Sluka<br />

passiert ist, damit macht man sich schon schuldig.<br />

Sie, Herr Zirner, haben also offenbar keineswegs Ihren Frieden<br />

damit gemacht, sondern haben immer noch eine Art<br />

Wut?<br />

August Zirner: Ich habe mir die Wut von der Seele<br />

geschrieben, also eine Art Frieden gefunden. Dachte<br />

ich. Ich bin aber dankbar für Ihre Frage, denn ich<br />

merke gerade, ich habe immer noch eine Art Wut,<br />

und das ärgert mich über mich selbst.<br />

Teilen Sie die diesbezüglichen Gefühle Ihres Vaters? Fühlen<br />

Sie sich in der dritten bzw. vierten Generation um Ihr<br />

Erbe betrogen, in materieller oder ideeller Sicht?<br />

Ana Zirner: Es gibt schon ein Bewusstsein über die<br />

Ungerechtigkeit, und da werde ich auch wütend, aber<br />

eher in dem Sinn, dass viele Dinge bis heute nicht aufgearbeitet<br />

wurden, weniger in Bezug auf den Besitz<br />

als auf die Anerkennung der Geschichte. Dass das so<br />

wenig stattfindet, zum Beispiel beim Sluka, das finde<br />

ich schmerzhaft.<br />

Wie steht es um die Restitution, um die Ella Zirner so lange<br />

gekämpft hat?<br />

August Zirner: Die Restitution gab es und ist juristisch<br />

einwandfrei abgeschlossen. Meine Großmutter<br />

hat eine Entschädigung bekommen. Es gibt noch den<br />

„Die Suche ist für mich bereits<br />

etwas zutiefst Jüdisches.“<br />

August Zirner<br />

Ana Zirner,<br />

August Zirner:<br />

Ella und Laura.<br />

Von den Müttern<br />

unserer Väter.<br />

Piper 2021,<br />

352 S., € 22,90<br />

offenen Punkt der Konzession, die geraubt wurde, da<br />

wurde mir gesagt: „Herr Zirner, was wollen Sie denn<br />

noch?“ Das ist die einzige juristische Grauzone.<br />

Sie sind geborener Amerikaner und auch Österreicher. Wo<br />

haben Sie heute Heimatgefühle?<br />

August Zirner: In der Gegenwart meiner Kinder und<br />

Enkelkinder. Ich bin eben ein Familienmensch.<br />

Inwieweit sind für Sie, Ana, die starken Frauen der Familie<br />

so etwas wie Role Models?<br />

Ana Zirner: Sicher waren sie Role Models, nur war<br />

mir das nicht bewusst. Meine Mutter ist auch eine<br />

sehr starke Frau, die mich geprägt hat. Ich habe mich<br />

selten diskriminiert oder schlechter behandelt gefühlt.<br />

Inzwischen nehme ich das als ein großes Privileg<br />

wahr, mich in diese Tradition einzureihen.<br />

Was hat sich für Sie beide durch die Arbeit an dem Buch<br />

verändert? Eine Art persönlicher Vergangenheitsbewältigung,<br />

eine Katharsis?<br />

Ana Zirner: Ich habe durch die Arbeit gemerkt, wie<br />

stark Familienbande sind, das hatte ich total unterschätzt,<br />

und ich habe ein viel größeres Verständnis für<br />

meinen Vater gewonnen. Ich habe ihm früher immer<br />

vorgeworfen, dass er sich erst mit über 40 Jahren mit<br />

dem Holocaust auseinandergesetzt hat. Heute kann<br />

ich das besser verstehen. Durch die Beschäftigung<br />

mit seiner Mutter habe ich verstanden, wie Verdrängung<br />

weitergegeben wird.<br />

August Zirner: Für mich ist durch den kritischen<br />

Blick der folgenden Generation klar geworden, dass<br />

der Narzissmus, der mit meinem Beruf auch einhergeht,<br />

mich davon abgehalten hat, mich mit mir selbst<br />

zu beschäftigen. Ich bin nach wie vor mit meinem<br />

Beruf als Schauspieler sehr verbunden, aber je älter<br />

ich werde, desto mehr schwindet die Eitelkeit. Das<br />

Schöne an dem Schreibprozess ist, die Fragen werden<br />

eher größer als kleiner, und das ist ein schöner<br />

Vorgang, auch dass ich mich auseinandersetze, nicht<br />

zuletzt mit mir selbst.<br />

Welche Reaktionen erwarten, erhoffen Sie auf das Buch?<br />

August Zirner: Ich wünsche mir vor allem Gespräche,<br />

zum Beispiel ein solches, wie wir eben führen.<br />

Ana Zirner: Ich fände es schön, wenn wir Menschen<br />

dazu inspirieren könnten, gemeinsam mit den Eltern<br />

die Großelterngeneration aufzuarbeiten. Das ist<br />

sehr bereichernd und einfach ein cooles Konzept. Jedes<br />

Leben ist spannend, und jede und jeder hat etwas<br />

zu erzählen.<br />

42 wına | November 2021<br />

November.indb 42 15.11.2021 11:28:45


„Worüber reden<br />

eigentlich Gojim?“<br />

Es ist der Klassiker. Auf einem Langstreckenflug<br />

erkennen einander<br />

zwei Sitznachbarn als jüdisch und<br />

haben nun reichlich Gesprächsstoff bis<br />

New York. „Worüber reden eigentlich Gojim?“,<br />

fragen sie sich beim Abschied.<br />

Passenderweise gibt Barbara Honigmann<br />

dieses eigene Erlebnis in New York<br />

beim Koret Jewish Book Award zum Besten,<br />

aber auch bei allen anderen Preisgelegenheiten<br />

ist sie meist ohne Umschweife<br />

beim ihrem Thema: der vielzitierten jüdischen<br />

Identität, um die auch ihre meist<br />

autofiktionalen Bücher kreisen.<br />

Als Tochter eines durchaus schillernden<br />

jüdisch-kommunistischen Elternpaares,<br />

das aus der englischen Emigration<br />

nach dem Krieg in die DDR<br />

zurückkehrte, 1949 in Ost-Berlin geboren<br />

und in den künstlerischen Kreisen eines<br />

elitären kommunistischen „Adels“ privilegiert<br />

aufgewachsen, erzählte sie ihren<br />

Familienroman in mehreren „Staffeln“.<br />

Ihrer Wiener Mutter, in erster Ehe mit<br />

dem Doppelspion Kim Philby verheiratet,<br />

widmet sie ein Buch, ihrem charismatischen<br />

Vater, dem Journalisten und Womanizer<br />

„Georg“ zwei, sich selbst in verschiedenen<br />

Beziehungen gleich mehrere.<br />

Nach dem Tod des Vaters findet sie<br />

1984 in Straßburg mit ihrer Familie in<br />

einer „modern orthodoxen“ Gemeinde<br />

eine neue Heimat. Ihr fortan praktiziertes<br />

Judentum „un-verschämt“, d. h. ohne<br />

Scham zu leben, vor allem aber davon<br />

zu erzählen und zu schreiben,<br />

darum ringt sie, wie sie im Vorwort<br />

des neuen Bandes bekennt,<br />

seit ihrer Jugend und findet dieses<br />

Ringen in verschiedenen Varianten<br />

auch bei einigen anderen<br />

bedeutenden jüdischen Autoren<br />

wieder. Bei Jakob Wassermann,<br />

der „jüdische Themen und jüdische<br />

Problematik in die deutsche<br />

Wie arriviert Schriftsteller:innen<br />

sind, lässt sich an<br />

den Auszeichnungen ablesen,<br />

die sie für ihr Werk erhalten.<br />

Zum Ritual der Verleihungen<br />

gehört es, möglichst geschliffene<br />

Dankesreden mit<br />

einem Bezug zum Preisstifter<br />

oder zum Namensgeber<br />

der Auszeichnung zu halten,<br />

oft bereits selbst literarische<br />

Petitessen. Unverschämt jüdisch<br />

heißt aus gutem Grund der<br />

Band, in dem Barbara<br />

Honigmann ihre bisherigen<br />

Preisreden versammelt.<br />

Von Anita Pollak<br />

Literatur hineinschrieb“, am offensichtlichsten,<br />

hintergründiger bei Franz Kafka<br />

und Marcel Proust, in deren Biografien<br />

und Werken, Meilensteinen der Weltliteratur,<br />

sie ganz erstaunliche Parallelen,<br />

frappante Gemeinsamkeiten aufdeckt.<br />

Beide kränkelnde, unverheiratete Söhne<br />

jüdischer Mütter und starker Väter, wobei<br />

Kafka besonders gegen seinen jüdischen<br />

Vater revoltierte, erleben sie als Zeitgenossen<br />

die Dreyfus-Affäre und die antisemitische<br />

Propaganda, Erfahrungen, die<br />

sie allerdings auf verschiedene Weise rezipieren.<br />

Das Dilemma der deutsch schreibenden<br />

Juden von Heine bis Kafka belegt Honigmann<br />

eindrucksvoll zitatenreich, gebildet<br />

und belesen, von der Bibel bis zu den<br />

großen jüdischen Denkern und Philosophen.<br />

Ein Dilemma, das sie inspiriert und<br />

ohne das sie sich wohl selbst nicht denken<br />

kann. „Ich gefalle mir manchmal in<br />

der Rolle als eine der letzten deutschen<br />

„[…] eine der letzten deutschen Juden,<br />

immer noch deutsch und immer noch<br />

jüdisch.“ Barbara Honigmann<br />

Barbara<br />

Honigmann:<br />

Unverschämt<br />

jüdisch.<br />

Hanser 2021,<br />

155 S., € 20,60<br />

Juden, immer noch deutsch und immer<br />

noch jüdisch.“<br />

Privates, Biografisches, Persönliches<br />

ordnet sie oft mit einem humorvollen<br />

Sidestep dieser Erfahrung unter. So erinnert<br />

sie sich in Bremen, dem Ort der<br />

Stadtmusikanten, an ihr Märchenbuch<br />

der Brüder Grimm, nicht ohne festzustellen,<br />

dass diese „die Juden nicht mehr<br />

als normal“ hassten. Als sie den Elisabeth-<br />

Langgässer-Preis entgegennimmt, outet<br />

sich gleich eingangs: „Ich bin also Jüdin“,<br />

damit es also heraus ist. Auch das „Unverschämte“<br />

hat sie also offenbar erst trainieren<br />

müssen.<br />

wına-magazin.at<br />

43<br />

November.indb 43 15.11.2021 11:28:47


Autobiografische Leseverführungen<br />

364 Stimmen<br />

und ein „Echo“<br />

Evelyn Adunka verführt mit ihrem Band Meine jüdischen Autobiographien<br />

zum Lesen und blickt in einer Jubiläumsnummer<br />

zurück auf 70 Jahre Jüdisches Echo.<br />

Von Anita Pollak<br />

Evelyn Adunka:<br />

Meine jüdischen<br />

Autobiographien.<br />

Eine Leseverführung<br />

und subjektive<br />

Auswahl.<br />

Verlag der Theodor<br />

Kramer Gesellschaft,<br />

616 S., € 30<br />

Debatten und<br />

Träume. 70 Jahre<br />

Das Jüdische Echo.<br />

Jüdisches Leben in<br />

Österreich, Europa<br />

und Israel.<br />

Vol. 69/70, € 19,90<br />

s gab gottgläubige Ostjuden und<br />

goethegläubige Westjuden. […]<br />

Ein Jude konnte damals alles sein,<br />

sogar Antisemit und Faschist.“<br />

So Georg Stefan Troller vor 30 Jahren in<br />

seiner „Selbstbeschreibung“. Am 10. Dezember<br />

feiert der Wiener Autor und Journalist<br />

seinen 100. Geburtstag. Ad mea we<br />

esrim, lieber Troller!<br />

In a nutshell. Was ein Jude alles sein konnte,<br />

was Juden alles waren, erlebten, erlitten,<br />

also das fantastisch breite Spektrum jüdischer<br />

Daseinserfahrungen zwischen<br />

Gottesglauben und Goethe,<br />

wobei eher Schiller<br />

der klassische Hausheilige<br />

der Westjuden war,<br />

das lässt sich am Besten in<br />

Selbstzeugnissen Betroffener<br />

nachlesen.<br />

364 solcher autobiografischer<br />

Zeugnisse jüdischer<br />

Autor:innen der letzten<br />

beiden Jahrhunderte aus<br />

20 Ländern, ganze Lebensläufe<br />

in a nutshell, hat die<br />

Publizistin und Historikerin<br />

Evelyn Adunka nun in<br />

einem beeindruckenden<br />

Band versammelt. Neben<br />

Beruflichem sollte ebenso<br />

„Neunundneunzig<br />

Prozent<br />

Kant<br />

und Goethe<br />

und nur ein<br />

Prozent Altes<br />

Testament.“<br />

Franz<br />

Oppenheimer<br />

Privates und vor allem eine Auseinandersetzung<br />

mit dem wie auch immer erlebten<br />

Judentum in ihnen zur Sprache<br />

kommen, begründet sie ihre „subjektive<br />

Auswahl“. Dass es sich aber um kein wissenschaftliches<br />

Buch handle, wie Adunka<br />

in ihrem Vorwort meint, ist angesichts<br />

des Respekt gebietenden Rechercheaufwands<br />

natürlich eine gelinde Untertreibung.<br />

Adunka schöpft in jeder Hinsicht<br />

aus dem Vollen. Aus ihrer eigenen Jahrzehnte<br />

langen einschlägigen Arbeit, die<br />

ihr auch Gelegenheit zu etlichen persönlichen<br />

Begegnungen gab, und aus der<br />

Fülle des Materials.<br />

Von alten „Bekannten“, Autoren<br />

wie Elias Canetti oder Amos Oz,<br />

Politiker:innen wie die als Simone Jacob<br />

geborene Simone Weil oder Golda Meir,<br />

von Künstler:innen wie Hugo Wiener<br />

oder Hilde Zadek erfährt man hier auch<br />

so manch Neues, aber gerade in den Lebenserinnerungen<br />

weniger prominenter<br />

Personen spiegelt sich in ungefilterter<br />

Direktheit der sogenannte Zeitgeist und<br />

dessen Veränderung im<br />

Laufe der Geschichte, besonders<br />

auch der Wandel<br />

im Zugang zur sogenannten<br />

„Jüdischkeit“.<br />

Aufklärung, Emanzipation,<br />

Assimilation einerseits,<br />

Tradition, das<br />

Festhalten an der Religion<br />

bzw. die Rückkehr<br />

zum Glauben der Väter<br />

andererseits, lassen sich<br />

in den treffend gewählten,<br />

erhellenden Zitaten,<br />

die den einzelnen autobiografischen<br />

Abrissen<br />

vorangestellt sind, ablesen.<br />

Bei vielen wird man<br />

mehr wissen wollen, die Lust zum Weiterlesen<br />

kommt in dieser „Leseverführung“<br />

jedenfalls auf.<br />

Anziehung und Abstoßung. Die Taufe ihrer<br />

Kinder war für die 1833 in Weißrussland<br />

geborenen Pessele Epstein nicht nur<br />

der „schwerste Schlag“ ihres Lebens, sondern<br />

auch ein „Nationalunglück. Ich betrauerte<br />

nicht nur als Mutter, sondern<br />

auch als Jüdin das ganze jüdische Volk,<br />

44 wına | November 2021<br />

November.indb 44 15.11.2021 11:28:47


Intellektueller Lesesalon<br />

Highlights aus<br />

sieben Jahrzehnten<br />

das so viele edle Kräfte verlor.“ Wie viel<br />

jüdische Geschichte wird allein in diesem<br />

kurzen Zitat aus den Memoiren einer Großmutter<br />

offenbar.<br />

Symbolische, symptomatische Details,<br />

wie ein Christbaum oder der Schinken in<br />

jüdischen Haushalten werden als Gradmesser<br />

der Anpassung an die nichtjüdische<br />

Umgebung und letztlich oft als vergebliches<br />

Werben um Anerkennung in<br />

dieser bedeutsam.<br />

Kindheitserinnerungen an die starken<br />

jüdischen Väter, die noch beteten, an<br />

Festtage bei den frommen Großmüttern<br />

tauchen immer wieder bewegend auf.<br />

Anziehung und Abstoßung durchziehen<br />

leitmotivisch und tragisch die jüdische<br />

Existenz. Deutscher als deutsch<br />

waren und wollten sie sein, „neunundneunzig<br />

Prozent Kant und Goethe und<br />

nur ein Prozent Altes Testament“ und<br />

da nur die „Lutherbibel“ (Franz Oppenheimer)<br />

und natürlich kaisertreuer und<br />

Wienerischer als alle anderen. In den<br />

jüdischen Ecken der Monarchie strahlte<br />

Wien als Sehnsuchtsort weit heller als Jerusalem,<br />

das erst mit dem aufkommenden<br />

Zionismus, der vielfach durchaus<br />

ambivalent betrachtet wurde, überhaupt<br />

in den Fokus geriet. Mit ihm wird auch<br />

die Beziehung zum jüdischen Staat zunehmend<br />

Thema der Reflexionen.<br />

Leben und Überleben im Nationalsozialismus,<br />

Emigration, Exil und die<br />

Shoah dominieren in einer großen Bandbreite<br />

die traumatischen Erinnerungen<br />

der Überlebenden und vielfach noch<br />

die Nachgeborenen, wie Gila Lustiger,<br />

mit Jahrgang 1963 die Jüngste des Bandes,<br />

schreibt: „[...] jeder Nachgeborene<br />

glaubt, er müsste das Erbe der Geretteten<br />

und Ermordeten antreten, in dem er<br />

selbst den dümmsten Alltag meistert.“<br />

Eine „Art gedruckter Salon, wo die<br />

Besten des österreichischen Geisteslebens<br />

[...] sich einfinden sollen“.<br />

Leon Zelman<br />

Leon Zelman (1928–2007) ist einer der Stimmen<br />

in Adunkas Auswahl. Nach Auschwitz<br />

und anderen Lagern wurde er 1944 in Ebensee<br />

befreit. „Es gab keine Zukunft. Es gab keine Hoffnung.“<br />

Doch Leon gab nicht auf, studierte in Wien<br />

Publizistik und gründete 1951 mit einigen „halbverhungerten<br />

Studenten“ die Kulturzeitschrift Das Jüdische<br />

Echo.<br />

Zum 70. Geburtstag der jährlich erscheinenden<br />

Zeitschrift gestaltete Evelyn Adunka das Jubiläumsheft.<br />

Bereits zum 50er hatte sie auf Einladung Zelmans<br />

eine Geschichte des Echo verfasst. Wiederum<br />

aus dem Vollen schöpfend wählt sie nun im Rückblick<br />

gleichsam in einer Blütenlese die Highlights aus<br />

diesen Jahrzehnten, gruppiert nach Kernthemen wie<br />

Österreichisches Judentum, Exil, jüdische Welt bis Israel<br />

und dazu jeweils die repräsentativsten Beiträge<br />

passend zum Motto „Debatten und Träume“ aus.<br />

Als eine „Art gedruckten Salon, wo die Besten des<br />

österreichischen Geisteslebens neben international<br />

renommierten Denkern sich einfinden sollen“,<br />

verstand Zelman sein Echo. Demgemäß vereint die<br />

glanzvolle Jubelnummer nunmehr viele dieser Besten<br />

zu den jeweiligen Schwerpunkten. Von Hilde<br />

Spiel und Eli Wiesel bis Doron Rabinovici, Vladimir<br />

Vertlib, Helene Maimann und vielen anderen. Insgesamt<br />

ein intellektuelles Panorama jüdisch-österreichischer<br />

Nachkriegsgeschichte in Gesellschaft,<br />

Kultur, Wissenschaft und Politik bis hin zur unmittelbaren<br />

Gegenwart. Abschließend auch dazu der<br />

Wunsch: Ad mea we esrim! Bis 120!<br />

wına-magazin.at<br />

45<br />

November.indb 45 15.11.2021 11:28:47


Thema<br />

wına-magazin.at<br />

46<br />

November.indb 46 15.11.2021 11:28:48


Avantgarde und Archaik<br />

© Archives Jean Bouret<br />

Pablo Picasso war eitel und<br />

heikel, daher ließ er sich<br />

auch nicht von Künstlerkollegen<br />

porträtieren. Nur bei<br />

einem engen Freund machte<br />

er eine Ausnahme: Amadeo Modigliani<br />

durfte sogar zwei Porträts von ihm anfertigen<br />

– und beide sind derzeit in der<br />

Wiener Albertina zu bewundern. Mit insgesamt<br />

80 seiner Werke würdigt die Albertina<br />

Amedeo Modigliani (1884–1920)<br />

anlässlich seines 100. Todestages im Vorjahr.<br />

Aufgrund der Pandemie musste die<br />

Schau auf heuer verschoben werden:<br />

Nun wird dieser faszinierende, unverkennbare<br />

Künstler erstmals auch in Österreich<br />

umfassend gezeigt. Obwohl er<br />

zeitlebens wenig erfolgreich war, erzielen<br />

seine Werke heute dreistellige Millionenbeträge.<br />

Als „eines der größten<br />

Genies der klassischen Moderne“ bezeichnete<br />

Direktor Klaus Albrecht Schröder<br />

den Künstler bei der Ausstellungseröffnung.<br />

Diese umfangreiche Retrospektive<br />

vereint jetzt in Wien Modiglianis Hauptwerke<br />

aus den renommiertesten Museen<br />

und Privatsammlungen von den USA bis<br />

Singapur, von Großbritannien bis Russland<br />

mit größeren Leihgaben aus dem<br />

Musée Picasso Paris und der Sammlung<br />

Jonas Netter, der ein großer Förderer Modiglianis<br />

zu seinen Lebzeiten war.<br />

Das Außergewöhnliche an dieser auch<br />

kunsthistorisch faszinierenden Schau<br />

von insgesamt 130 Objekten ist aber der<br />

Zugang und die Aufklärung über die Ursprünge<br />

dieser Kunst: Denn obwohl sich<br />

Modigliani in seinen Werken einerseits<br />

auf die Renaissance bezog, griff er andererseits<br />

auch afrikanische, ägyptische,<br />

ostasiatische und griechisch-archaische<br />

Kunst auf. Auf diese lebenslange<br />

Auseinandersetzung mit den Ursprüngen<br />

der Kunst legt der Kurator Marc Restellini,<br />

Kunsthistoriker und Herausgeber<br />

des Werkverzeichnisses der Gemälde<br />

Amedeo Modiglianis, besonderes Augenmerk:<br />

Dem Œuvre des jüdischen Italieners<br />

werden Werke seiner Freunde<br />

in Paris, wie Pablo Picasso, Constantin<br />

Brancusi und André Derain, sowie Artefakte<br />

prähistorischer und außereuropäischer<br />

Weltkulturen gegenübergestellt.<br />

Und obwohl sich Modigliani inmitten<br />

des Pariser Montmartre mit den Größen<br />

seiner Zeit in ständigem Austausch<br />

und manchmal auch im Alkoholrausch<br />

MODIGLIANI<br />

REVOLUTION DES<br />

PRIMITIVISMUS<br />

ist bis 9. Jänner 2022 in<br />

der Albertina zu sehen.<br />

Amedeo Modigliani<br />

in seinem Atelier in Paris 1915.<br />

Das kurze und heftige<br />

Leben des Amadeo<br />

Modigliani<br />

Dem genialen Werk des jüdischen<br />

Italieners widmet die Wiener Albertina<br />

eine beeindruckende Retrospektive<br />

zu seinem 100. Todestag.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

wına-magazin.at<br />

47<br />

November.indb 47 15.11.2021 11:28:48


Ästhetik des Fragmentarischen<br />

Mädchen mit rotem<br />

Haar (1918). Bildnisse<br />

konstruiert Modigliani oft<br />

aus ovalen, maskenhaften<br />

Gesichtern mit zylindrischen,<br />

langen Hälsen.<br />

„Das kleine t am<br />

Ende des Wortes<br />

Pier-rot ist so<br />

geschrieben, dass<br />

man es auch als<br />

roi, also König<br />

lesen könnte: König<br />

der Steine.“<br />

Daniel Benyes<br />

Jeanne Hébuterne<br />

(1918).<br />

Kunststudentin,<br />

die große Liebe<br />

und Verlobte<br />

Modiglianis.<br />

befand, wurde ihm in seiner kurzen Lebenszeit<br />

von nur 35 Jahren die verdiente<br />

Anerkennung verwehrt: Er blieb stets ein<br />

Außenseiter und Einzelgänger, der seinen<br />

eigenen Stil verfolgte.<br />

Amedeo Clemente Modigliani wird<br />

1884 als viertes und jüngstes Kind einer<br />

verarmten jüdisch-sephardischen Familie<br />

im toskanischen Livorno geboren. Sein<br />

Vater ist als Holz- und Kohlehändler infolge<br />

der schlechten Wirtschaftslage bankrott<br />

gegangen. Modiglianis ursprünglich<br />

aus Marseille stammende Mutter Eugenie<br />

Garsin trägt als Übersetzerin und Privatlehrerin<br />

maßgeblich zum Familienunterhalt<br />

bei. „Die Mitglieder beider Familien,<br />

Modigliani und Garsin, die nahezu gleichzeitig<br />

geschäftlich vor dem Ruin standen,<br />

teilten sich ein Haus; jeder arbeitete, um<br />

zu überleben. In einer freudlos-nüchternen<br />

Atmosphäre von Arbeit und Verzicht<br />

verbrachte Dedo – so der Kosename<br />

für den Jüngsten – seine ersten Lebensjahre“,<br />

schreibt Paul Alexandre, Dermatologe<br />

und erster Mäzen von Modigliani,<br />

den der Künstler auch oft zeichnete.<br />

Im Alter von elf Jahren erkrankt Amadeo<br />

an einer schweren Rippenfellentzündung.<br />

Nach Erzählungen seiner Mutter<br />

soll er in einem seiner kindlichen Fieberträume<br />

von seiner Bestimmung als<br />

Künstler fantasiert haben. Nach seiner<br />

Genesung erhält Modigliani von seinen<br />

Eltern die Erlaubnis, die Schule abzubrechen<br />

und ein Kunststudium zu beginnen.<br />

Insbesondere die Mutter fördert sein Talent,<br />

bringt ihm auch früh Französisch<br />

bei, was ihm sein späteres Leben in Paris<br />

erleichtert. Mit 14 Jahren erkrankt er an<br />

Typhus, später leidet er an chronischer<br />

Tuberkulose, die letztlich auch zu seinem<br />

frühen Tod führt. 1898 verlässt Modigliani<br />

die Oberschule und wird jüngster<br />

Schüler einer privaten Kunstschule.<br />

1902 wechselt er an die Akademien von<br />

Florenz und Venedig.<br />

Nur zwei Jahre später zieht Modigliani<br />

nach Paris, ins damalige internationale<br />

Zentrum der Künste. Die Stadt wird zum<br />

Schmelztiegel der Avantgarde: Spanische,<br />

italienische und russische Künstler werden<br />

zu Repräsentanten der École de Paris:<br />

Pablo Picasso, Constantin Brancusi und<br />

Diego Rivera wirken hier – kein Wunder<br />

also, dass es auch den 22-jährigen Modigliani,<br />

den die Pariser Bohème bald „Modi“<br />

nennt, in die Seine-Metropole zieht. Insgesamt<br />

wird Modigliani – unterbrochen<br />

durch Reisen in seine Heimat – vierzehn<br />

Jahre in Paris leben.<br />

© Albertina, Bildrecht, Wien 2021; Wikimedia; bpk/metropolitan museum of art; Fonds de donation Jonas Netter; Albertina;<br />

48 wına | November 2021<br />

November.indb 48 15.11.2021 11:28:50


Fauvismus und Kubismus<br />

Freunde und Kollegen. Modigliani mit Pablo Picasso<br />

(Mitte) und André Salmon, Paris 1916.<br />

© Albertina, Bildrecht, Wien 2021; Wikimedia; bpk/metropolitan museum of art; Fonds de donation Jonas Netter; Albertina;<br />

Chaim Soutine<br />

(1916). Porträt<br />

eines Kollegen.<br />

gesehene Galerist Paul Guillaume nimmt<br />

Modigliani 1914 unter Vertrag, und so kehrt<br />

dieser zur Staffelei zurück. In den zahlreichen<br />

Porträts seiner Freunde sowie anonymen<br />

Damenbildnissen überträgt er den<br />

Stil seines bildhauerischen Werks nun auf<br />

die Malerei: Die Bildnisse konstruiert er<br />

aus einfachen Kurven und versieht sie mit<br />

einem runden oder ovalen maskenhaften<br />

Gesicht. Zylindrische, lange Hälse, die er<br />

den geschnitzten Reliquienwächtern der<br />

Fang – einem zentralafrikanischen Stamm<br />

in Gabun – entlehnt. Viele von Modiglianis<br />

Porträts zeigen ähnlich wie Picassos Kopfstudien<br />

ihrer Pupillen beraubte, mandelförmige<br />

Augen. Die Dargestellten erlangen<br />

dadurch eine starke Verinnerlichung und<br />

Abwendung von allem Äußeren; eine Qualität<br />

des Zeitlosen.<br />

Während die Franzosen 1914 zum<br />

Kriegsdienst einberufen werden, beleben<br />

ausländische, darunter viele jüdische osteuropäische<br />

Künstler die Cafés am Mont-<br />

Fauvismus und Kubismus. Von 1909 bis 1914<br />

widmet sich Modigliani der Bildhauerei<br />

und schließt sich dem rumänischen Exilanten<br />

Brancusi an. Unter dem Einfluss<br />

von Gauguins Schaffen orientieren sie sich<br />

an außereuropäischer und archaischer<br />

Kunst. 1912 präsentiert Modigliani Skulpturen<br />

im renommierten Salon d’Automne.<br />

Die strenge, überlange Form von Modiglianis<br />

Steinskulpturen wird später auch für<br />

seine Malerei stilprägend. Der Erfolg in der<br />

Bildhauerei lässt auf sich warten, zudem<br />

ist das anstrengende und Staub produzierende<br />

Behauen der Steine der Gesundheit<br />

des chronisch lungenschwachen Modigliani<br />

mehr als abträglich.<br />

Er wendet sich wieder der Malerei zu,<br />

und da hauptsächlich dem Porträt. Den<br />

Stil seines skulpturalen Werks führt er allerdings<br />

in der Malerei fort und orientiert<br />

sich außerdem an Fauvismus und Kubismus.<br />

Dennoch kann sein Werk diesen Strömungen<br />

nicht zugeordnet werden. Der anparnasse.<br />

Unter ärmlichsten Verhältnissen<br />

leben sie nun im verwahrlosten Atelierhaus<br />

La Ruche. Diese Gruppe erhält von<br />

Kunstkritikern bald den Namen Pariser<br />

Schule, um sie als Reaktion auf Fremdenfeindlichkeit<br />

und grassierenden Antisemitismus<br />

in Frankreich zu „frankophonisieren“.<br />

Modigliani verbringt diese Zeit mit<br />

den Kollegen Chaim Soutine, Maurice Utrillo,<br />

Jacques Lipchitz, Moise Kisling und<br />

Max Jacob.<br />

„Wenn ich deine Seele kenne, werde ich<br />

deine Augen malen“, ist ein berühmter<br />

Ausspruch Modiglianis, und man könnte<br />

dies mit der jüdischen „Neshuma“ (Seele)<br />

assoziieren. Finden sich denn jüdische Elemente<br />

in Modiglianis malerischen Motiven?<br />

„Ich würde eher sagen, einiges an<br />

Kabbalistischem und Mystischem“, erklärt<br />

Daniel Benyes, selbst Spross einer sephardischen<br />

Familie und Pressesprecher der<br />

Albertina. Er verweist auf ein Modigliani-<br />

Porträt des weißrussisch-jüdischen Malers<br />

Chaim Soutine (1893–1943) aus dem<br />

Jahr 1916, auf dem dieser die Finger seiner<br />

rechten Hand wie die Kohanim beim<br />

Segnen gespreizt hat. Auch Modiglianis<br />

berühmtes Selbstporträt als Pierrot mit<br />

Halskrause kann kabbalistisch ausgelegt<br />

werden. „Das kleine t am Ende des Wortes<br />

Pierrot ist so geschrieben, dass man es<br />

auch als roi, also König lesen könnte: König<br />

der Steine“, so Benyes.<br />

Handfester Skandal. Der aus Polen stammende<br />

Kunsthändler Leopold Zborowski<br />

nimmt Modigliani 1916 unter Vertrag, und<br />

wına-magazin.at<br />

49<br />

November.indb 49 15.11.2021 11:28:50


Zeitlose Schönheit<br />

in dessen Atelierhaus malt er erstmals an<br />

die zwanzig Akte. Im April 1917 lernt er die<br />

19-jährige Kunststudentin Jeanne Hébuterne,<br />

seine große Liebe, kennen. Sie ziehen<br />

zusammen, und im gleichen Jahr findet<br />

die einzige Einzelausstellung zu seinen<br />

Lebzeiten in der Galerie Berthe Weill statt;<br />

wegen der offen gezeigte Nacktheit wird<br />

die Polizei gerufen, und die Schau wird zu<br />

einem handfesten Skandal.<br />

Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges,<br />

als deutsche Fliegerbomben Paris treffen<br />

und mit einer Invasion gerechnet wird,<br />

verlässt das Paar die Stadt und lässt sich<br />

für ein Jahr in Cagnes-sur-Mer nieder,<br />

wo Jeanne im November 1918 eine Tochter<br />

zur Welt bringt. Als Jeanne 1919 erneut<br />

schwanger wird, verlobt sich Modigliani<br />

mit ihr. Die beabsichtige Hochzeit kann<br />

leider nicht stattfinden: Gegen Ende des<br />

Jahres erkrankt Modigliani schwer an<br />

Tuberkulose und verstirbt am 24. Jänner<br />

1920 in der Pariser Charité. Die im achten<br />

Monat erneut schwangere unverheiratete<br />

Mutter einer erst vierzehn Monate alten<br />

Tochter, die von ihrer Familie verstoßen<br />

wurde und mittellos ist, stürzt sich zwei<br />

Tage nach Modiglianis Tod aus dem Fenster<br />

im obersten Stock ihres Elternhauses.<br />

Lola de Valence,<br />

die berühmte Tänzerin, 1915.<br />

„Wenn ich deine Seele<br />

kenne, werde ich deine<br />

Augen malen.“<br />

Amadeo Modigliani<br />

Modiglianis Begräbnis gerät zu einem<br />

Ereignis: „Als wäre ein Prinz gestorben“,<br />

hieß es am Montparnasse. Die Künstlerfreunde<br />

sammeln Geld, um die Beisetzung<br />

zu finanzieren: Maler, Schriftsteller,<br />

Modelle, Galeristen und viele Barbesitzer<br />

nehmen Abschied. Erst 1930 wird<br />

Jeanne Hébuterne mit Modigliani im gemeinsamen<br />

Grab auf dem Friedhof Pére-<br />

Lachaise wiedervereint. Die kleine Tochter<br />

wird von Modiglianis Schwester in<br />

Livorno adoptiert.<br />

Modiglianis Suche nach einer zeitlosen<br />

Schönheit, die über den Kulturen<br />

steht und nicht mehr dem Ideal einer<br />

europäischen Tradition folgt, zeigt sich<br />

in seiner Ästhetik des Fragmentarischen<br />

und Altertümlichen. „Sein Brückenschlag<br />

zwischen moderner Kunst und<br />

Jahrhunderte zurückliegenden Epochen<br />

stellt einen bis heute aktuellen, herausragenden<br />

und völlig individuellen Beitrag<br />

in der Kunstgeschichte dar“, fasst<br />

es Kurator Marc Restellini im informativen<br />

und reichhaltigen Katalog zusammen.<br />

„Das Spannungsfeld seiner Kunst<br />

zwischen Avantgarde und Archaik ist<br />

auch Sinnbild seines eigenen dramatischen<br />

Lebens.“<br />

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15:12


WINA WERK-STÄDTE<br />

Paris<br />

Kein Chanukkafest ohne Chanukkaleuchter. Seit<br />

mehr als 1.700 Jahren sind sie in verschiedenen<br />

Formen überall auf der Welt gebräuchlich.<br />

Von Esther Graf<br />

Der<br />

Chanukkaleuchter<br />

aus dem 14. Jahrhundert<br />

befindet sich im Jüdischen<br />

Museum Paris.<br />

m Judentum unterscheidet man zwischen Feiertagen<br />

aus der Tora und solchen, die erst in<br />

der Zeit danach entstanden sind. Zu letzterer<br />

Gruppe gehört Chanukka. Es geht auf den siegreichen<br />

Kampf der Makkabäer gegen die Seleukiden<br />

zurück und die Wiedereinweihung des<br />

Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. d. Z. Erwähnt<br />

wird der Feiertag erstmalig im Talmud. Im Traktat<br />

Schabbat ist auch die Bestimmung zu finden,<br />

dass sich der Chanukkaleuchter nicht zuletzt<br />

durch das neunte Licht von einer Menora und<br />

allen anderen Lichtquellen im Haus unterscheiden<br />

soll. Die ältesten uns erhaltenen Chanukkaleuchter<br />

sind aus Stein und stammen aus dem<br />

12. und 13. Jahrhundert. Spätestens im 14. Jahrhundert<br />

wurden sie durch Bronzeleuchter des<br />

sogenannten Banktypus ersetzt. Dabei werden<br />

die vertikale Rückplatte und die Bank, auf der<br />

die acht Ölpfännchen angeordnet sind, miteinander<br />

verbunden. Während die Rückplatte ursprünglich<br />

dazu diente, die Chanukkaleuchter<br />

an die Wand zu hängen, behielt man diese Form<br />

auch bei, als sie nicht mehr aufgehängt wurden.<br />

Das Dekor entstammt oftmals architektonischen<br />

Elementen der umgebenden Mehrheitskultur.<br />

Das hier gezeigte Exemplar stammt aus<br />

Frankreich. Die dreieckige Rückplatte erinnert<br />

an einen Giebel, in dessen Mitte eine ausgestanzte<br />

gotischen Rosette thront. Unterhalb der<br />

Rosette bilden elf Bögen ein weiteres dekoratives<br />

Element, das wir auch aus gotischen Sakralbauten<br />

kennen.<br />

PARIS<br />

In der Hauptstadt Frankreichs ist jüdisches Leben seit dem 6. Jahrhundert nachgewiesen. Nach Vertreibungen<br />

im 12. und 14. Jahrhundert siedelten Juden erst wieder im 17. Jahrhundert. Die kulturelle<br />

Blüte fand durch die Kapitulation Frankreichs 1940 ein jähes Ende. Von den etwa 50.000 Deportierten<br />

überlebten nur etwa drei Prozent. Durch den Zuzug aus Nordafrika in den 1950er- und 1960er-<br />

Jahren wuchs die Gemeinde auf mehr als 300.000 Personen. Antisemitische Übergriffe und Morde<br />

führten zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Auswanderungswelle nach Israel.<br />

© Moise.nedjar, 2015, Commons Wikimedia<br />

wına-magazin.at<br />

51<br />

November.indb 51 15.11.2021 11:28:51


WINA KOMMENTAR<br />

Ein Wochenende in Tel Aviv<br />

Mit knapp einer halben Million Einwohner ist Tel Aviv eine vergleichsweise<br />

kleine Metropole. Was Multikulturalität anbelangt, können sich<br />

viele Städte noch was abschauen – aber vor allem hinsichtlich Toleranz.<br />

el Aviv gehört zu den größten Metropolen in<br />

Israel und das mit etwa 500.000 Einwohnern.<br />

Was man in anderen Ländern als „Städtchen“<br />

bezeichnet, wird hier als zweitgrößte Stadt<br />

nach Einwohnern (hinter Jerusalem) gefeiert.<br />

Zurecht. Schließlich muss sich Tel Aviv im Großstadtvergleich<br />

nicht verstecken, selbst wenn es um Themen<br />

Von Itamar Gross<br />

wie attraktive Jobchancen,<br />

Gastronomie, Kultur, Lifestyle<br />

und Diversität geht. Die Möglichkeiten,<br />

sich in den verschiedensten Szenen und<br />

Kulturen wiederzufinden, scheinen unendlich und<br />

können dennoch mit nur einem typischen Tel-Aviv-<br />

Wochenende zusammengefasst werden.<br />

Um das Wochenende in guter Atmosphäre zu starten,<br />

bietet sich Yafo als sehr gute Option an. Die Stadt, die<br />

quasi zu Tel Aviv gehört, ist stark von ihrer arabischen<br />

Bevölkerung geprägt und lädt vor allem im nördlichen<br />

Teil zur Kulinarik ein. Restaurants im Shuk HaPishpeshim<br />

sind prall gefüllt mit Menschen, die genüsslich<br />

orientalische Speisen wie Hummus und Knafeh (eine<br />

trendige arabische Nachspeise) essen, während sich<br />

im Hintergrund arabische Mizrahi-Musik mit Muezzins<br />

vermischt.<br />

Hat man Lust auf etwas Abwechslung, lohnt sich ein<br />

kleiner Abstecher in die benachbarte Gegend Florentin<br />

(Süd-Tel-Aviv). Keine Ahnung, wie man hinkommen<br />

soll? Einfach der lauten Technomusik folgen, die sich<br />

vom Bass her nicht einmal vor Berliner Clubs schämen<br />

muss. Wo vor 30 Jahren nicht allzu viele freiwillig wohnen<br />

wollten, entsteht eine immer größer werdende Gemeinschaft<br />

an Young Professionals, Künstlerinnen und<br />

Künstlern sowie Hipstern, die das gute Leben genießen<br />

wollen. Dazu gehören auch die<br />

Rooftop-Partys, die ab Freitagmittag<br />

omnipräsent sind. Alternativ<br />

bietet sich auch der<br />

Besuch in einer der vielen Bars<br />

der Gegend an, die selbst mit<br />

ihren überteuerten Preisen<br />

(um die zehn Euro pro Bier plus<br />

Trinkgeld) kein Grund sind, zu<br />

Hause zu bleiben.<br />

Im Zentrum der Stadt ist die Atmosphäre nicht anders.<br />

Am Freitag ist die ganze Stadt unterwegs und in ihrer<br />

ganzen Buntheit zu sehen. Menschen treffen einander<br />

auf der Rothschild Straße, dem Kikar Dizengoff oder<br />

in einem der unzähligen szenigen Restaurants und Bars.<br />

Auf der Straße versuchen motivierte Chabbadnikim,<br />

Männern ihre Te fil lin anzudrehen, während Demonstranten<br />

die Trennung von Religion und Staat fordern.<br />

Wem das zu viel ist, der kann sich mit einem Spaziergang<br />

bei Sonnenuntergang auf der Strandpromenade<br />

helfen. Alle paar hundert Meter formt sich eine<br />

Menschentraube, die talentierten Musikern lauscht. Die<br />

Der Gesang aus den Synagogen vermischt<br />

sich mit Partymusik aus den<br />

Bars. Jeder lebt seine Überzeugung aus<br />

und versucht sich nicht (zumindest<br />

allzu sehr) auf die Füße zu treten.<br />

Auswahl variiert von Top Charts über Rock und israelische<br />

Klassiker bis hin zu einem Streichquartett, das seinen<br />

Stammplatz am Schabbat-Morgen am Frischmann-<br />

Strand hat.<br />

Die jedoch mächtigste Szene, die die Stadt zu bieten<br />

hat, spielt sich meiner Meinung nach kurz vor Schabbat<br />

ab. Menschen mit den verschiedensten Kippot gehen<br />

in die verschiedensten Synagogen (aschkenasisch,<br />

sephardisch, Carlebach, orthodox, reform, konservativ,<br />

jekisch, italienisch und viele andere), während leicht<br />

bekleidete Personen Volleyball am Strand spielen. Der<br />

Gesang aus den Synagogen vermischt sich mit Partymusik<br />

aus den Bars. Jeder lebt<br />

seine Überzeugung aus und<br />

versucht sich nicht (zumindest<br />

allzu sehr) auf die Füße zu treten.<br />

Utopie wird zu Realität?<br />

Wahrscheinlich nicht. Dazu<br />

gibt es noch viel zu viele Herausforderungen.<br />

Aber es sind<br />

genau diese Momente, die ei-<br />

© Flash90/Olivier Fitoussi<br />

52 wına | Juni/Juli 2021<br />

November.indb 52 15.11.2021 11:28:54


URBAN LEGENDS<br />

Die Bilder<br />

können ja nichts dafür<br />

Am Zürcher Heimplatz wurde jüngst das erweiterte Kunsthaus feierlich eröffnet.<br />

Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof.<br />

Die einzigartige Schönheit der gezeigten Bilder hat auch ihren Preis.<br />

as offizielle Zürich ist stolz, wurde<br />

doch jüngst der Erweiterungsbau<br />

des Kunsthaus Zürich, der jahrelang<br />

für Diskussionsstoff gesorgt<br />

hatte, feierlich eröffnet. Auf dem<br />

Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive<br />

Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und<br />

Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung.<br />

Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung<br />

samt Identitätscheck<br />

Von Paul Divjak<br />

darf das massive Portal, das anmutet<br />

wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten<br />

werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel<br />

– ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive.<br />

Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander<br />

durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die<br />

Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an<br />

den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung<br />

Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes<br />

der Natur in der Kunst.<br />

Auf den lichtdurchfluteten Ebenen des neuen Museumsmonolithen<br />

wimmelt es geschäftig; Familien mit Kindern,<br />

unterschiedliche Paare verschiedenen Alters, Damen und<br />

Herren im Sonntagsoutfit – Menschen von nah und fern. Die<br />

Besucher:innen schauen sich um, verharren angesichts der<br />

Dimensionen und Impressionen, führen angeregte Diskussionen.<br />

Einmal mehr wäre das MoMa Vorbild gewesen, hätte<br />

die museale Schablone gebildet, hört man hier, und dort wird<br />

festgestellt, dass alte, gelungen adaptierte Industriebauten à<br />

la Tate Modern einfach doch noch einmal andere Dimensionen<br />

hätten und eine ganz spezielle Aura verströmen würden.<br />

Dauerhafter Gratiseintritt für alle, wie im Museum an<br />

der Themse, das wäre wünschenswert gewesen, stellen zwei<br />

elegante Damen fest. Die Chipperfield-Architektur und die<br />

verwendeten erlesenen Materialien werden unter die Lupe<br />

genommen und genauer reflektiert: Marmor- und Eichenböden,<br />

Messingverkleidungen und -handläufe und die obligaten<br />

Rohbetonwände.<br />

Auch das dauerhafte Aufeinandertreffen der bedeutenden<br />

Sammlung des Ehepaars Merzbacher und der Sammlung<br />

Bührle im nunmehr größten Kunstmuseum der Schweiz ist<br />

ein Thema. Auf der einen Seite: die Werke aus dem Besitz von<br />

„Die Zukunft ist mit der Lebensweise der<br />

Viren näher verwandt als mit der des<br />

Menschen oder seiner Denkmäler.“<br />

(Emanuele Coccia)<br />

Werner Merzbacher, der mit einem Kindertransport in die<br />

Schweiz kam und dessen Eltern im Holocaust ermordet wurden.<br />

Auf der anderen: die aus den Beständen von Emil Bührle<br />

(1890–1956), einem Waffenindustriellen mit Naziverstrickung,<br />

dessen Impressionisten-Highlights nun laut Kunsthaus „einen<br />

Quantensprung im Bereich der Sammlung“ darstellen<br />

würden. – Und das mit einem Spin in Sachen Provenienzfragwürdigkeit.<br />

Zu Bührle finden sich in einem Vermittlungsraum des<br />

neuen Hauses Wandtexte mit dem Lebenslauf in Kapiteln.<br />

Hier heißt es unter anderem: „Gegen Ende des Krieges verdichten<br />

sich die Nachrichten vom deutschen Kunstraub im<br />

besetzten Frankreich, und Emil Bührle wird bei Käufen vorsichtiger.“<br />

Der heute 93-jährige Werner Merzbacher hingegen<br />

wird gerne mit den lapidaren Worten „Die Bilder können<br />

ja nichts dafür“ zitiert.<br />

Die einzigartige Schönheit der Bilder hat ihren Preis. Er erzählt<br />

vom Spannungsfeld von Kunst, Politik und Wirtschaft, in<br />

das sich Leben und Überleben, Krieg, Vernichtung, Tod und<br />

Profit einschreiben.<br />

Hinter der schimmernden, hochpolierten Fassade, der<br />

pompösen Inszenierung von kunst- und kulturbasierendem<br />

Humanismus, dem zivilisierten Schein der Ästhetisierung von<br />

Alltag durch Vermögen sowie dem Wunsch nach einem gewaltigen<br />

Vermächtnis und dem Standortbegehren nach Weltformat,<br />

zeichnet sich unter einem gemeinsamen Dach das Drama<br />

der Geschichte ab.<br />

Das der Kunsthistorie gewidmete neue Schatzhaus scheint<br />

zu einem impressiven Symbol für den ambivalenten Umgang<br />

mit der NS-Zeit – gerade auch der Schweiz – geworden<br />

zu sein: Es ist gleichsam Kathedrale der Kunst wie monumentaler<br />

Sarkophag ihrer kryptischen Einverleibung, Spiegelbild<br />

einer Gesellschaft und ihrer ästhetischen Errungenschaften<br />

und menschlichen Abgründe.<br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

53<br />

November.indb 53 15.11.2021 11:28:54


NOVEMBER KALENDER<br />

Von Angela Heide<br />

GEDENKAUSSTELLUNG<br />

Hauptbahnhof Wien<br />

1100 Wien<br />

BIS 30. NOVEMBER 2021<br />

ABFAHRT ASPANG-<br />

BAHNHOF<br />

In ihrer aktuellen Ausstellung 80 Jahre<br />

Deportationen Wien–Riga, einer Kooperation<br />

der Stadt Wien/Gruppe Europa<br />

mit den Österreichischen Bundesbahnen<br />

und dem Nationalfonds<br />

der Republik Österreich für Opfer des<br />

Nationalsozialismus, widmen sich Kuratorin<br />

Milli Segal und Historikerin Brigitte<br />

Bailer-Galanda dem Gedenken<br />

an jene 4.200 Jüdinnen und Juden,<br />

die von Dezember 1941 bis Februar<br />

1942 vom Aspangbahnhof in Wien in<br />

das Ghetto von Riga, damals Teil des<br />

„Reichskommissariats Ostland“, führten.<br />

Viele von ihnen, darunter zahlreiche<br />

Kinder, wurden nach den Tagen<br />

der qualvollen Reise kurz nach ihrer<br />

Ankunft erschossen, und auch die<br />

meisten älteren Personen wurden, zuletzt<br />

im Februar 1942, sofort ermordet.<br />

Jenen, denen der lange Marsch zum<br />

Lager bereits zu beschwerlich war,<br />

wurden zuletzt auch als Lastkraftwagen<br />

getarnte „Gaswagen“ angeboten …<br />

Nur rund 100 Menschen überlebten<br />

Transport, Ghetto, Zwangsarbeit und<br />

Konzentrationslager. Ihren Abschied<br />

aus Wien zeichnet die Gedenkausstellung<br />

bedrückend nach.<br />

AUSSTELLUNG<br />

Haus der Geschichte Österreich (hdgö)<br />

Neue Burg, 1010 Heldenplatz<br />

hdgoe.at<br />

BIS 14. NOVEMBER 2021<br />

EINE SCHACHTEL LEBEN<br />

Die Ausstellung Der kalte Blick, eine Kooperation<br />

von Naturhistorischem Museum Wien,<br />

Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />

Europas und Stiftung Topographie des Terrors,<br />

die nur noch wenige Tage im Haus der<br />

Geschichte Österreich zu sehen ist, begibt sich<br />

auf der einen Seite auf die Spur von NS-Täterinnen,<br />

auf der anderen Seite werden letzte Bilder<br />

jüdischer Familien aus dem Ghetto von<br />

Tarnów gezeigt – dabei wird deutlich, wie eng<br />

eben diese Bilder mit jenem titelgebenden<br />

„kalten Blick“ zweier junger österreichischer<br />

Anthropologinnen verbunden ist, die im Rahmen<br />

ihrer „rassenkundlichen Forschungen“<br />

im März 1942 über 100 jüdische Familien und<br />

über 550 Menschen in der deutsch besetzten<br />

südpolnischen Stadt Tarnów „untersuchten“<br />

und fotografierten. Nur knapp 25 von ihnen<br />

überlebten und konnten nach Kriegsende<br />

vom Projekt über „typische Ostjuden“ der beiden<br />

Wiener Wissenschaftlerinnen Dora Maria<br />

Kahlich und Elfriede Fliethmann erzählen. Die<br />

Ausstellung verbindet erstmals die erhaltenen<br />

Fotografien mit den Namen jener fast durchwegs<br />

kurz darauf deportierten und ermordeten<br />

Menschen, die sie zeigen.<br />

FESTIVAL<br />

Ehrbar Saal, Filmhaus Kino Spittelberg, Kulturcafé<br />

Max, Lorely Saal, Metropol, Österr. Volksliedwerk, erk,<br />

Porgy & Bess, Sargfabrik, Theater Akzent<br />

klezmore-vienna.at<br />

6. BIS 21. NOVEMBER 2021<br />

KlezMORE FESTIVAL 2021<br />

Gemeinsam haben Festivalgründer und -leiter<br />

Friedl Preisl und Roman Britschgi für<br />

dieses Jahr ein Programm kuratiert, das sich<br />

leichtfüßig-tiefsinnig zwischen Hoffnung –<br />

dass das Festival heuer auch endlich wieder<br />

stattfindet – und „Glik“ – dem sich die zahlreichen<br />

„kulturellen Schmankerln, akustischen<br />

und intellektuellen Freudenspender“<br />

dieser Festivalausgabe widmen werden – bewegt<br />

und sich, so die beiden Festivalkuratoren,<br />

in seiner Gesamtheit als deutliches, vor<br />

allem positives „Statement“ erkennen lässt.<br />

Eröffnet wird mit einer Gala, bei der Ethel<br />

Merhaut mit den Wladigerhoff Brothers den<br />

Lorely Saal zum Swingen bringt (6.11.); geendet<br />

wird im Metropol mit dem Vienna Klezmore<br />

Orchestra, das so ziemlich „alle Stückerl<br />

spielt“ und Publikumsliebling Merhaut noch<br />

einmal auf die Bühne bittet. Dazwischen spielen<br />

Wiener(ische), österreichische und internationale<br />

Gäste auf, die sich vielfach auch<br />

bislang schon in die Herzen der Festivalfans<br />

musiziert oder, wie die großartige Isabel Frey,<br />

mit unglaublicher Schnelligkeit neue Fangemeinden<br />

aufgebaut haben. Dazu gibt es die<br />

fast schon traditionellen Stummfilmmatineen,<br />

Workshops und, so Covid-19 es erlaubt,<br />

so manchen Abend des gemeinsamen Feierns.<br />

Optimistischer kann ein musikalischer<br />

November nicht sein.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />

54 wına | November 2021<br />

November.indb 54 15.11.2021 11:28:55


BUCHPRÄSENTATION<br />

UND WORKSHOP<br />

Festival der jüdischen Kultur<br />

19:30 Uhr, Urania,<br />

Uraniastraße 1, 1010 Wien<br />

ikg-wien.at/festival<br />

AUSSTELLUNG<br />

Festival der jüdischen Kultur<br />

Kunstraum Nestroyhof,<br />

Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />

ikg-wien.at/festival<br />

afé<br />

rk,<br />

FILMPROGRAMM<br />

Festival der jüdischen Kultur<br />

Votivkino,<br />

Währinger Straße 12, 1090 Wien<br />

ikg-wien.at/festival<br />

24. NOV. BIS 1. DEZ. 2021<br />

STARKE FRAUEN IM FILM<br />

Gleich mit vier Filmen ist das diesjährige<br />

Festival der jüdischen Kultur reich bestückt<br />

– und schließt damit konsequent an das<br />

vor einem Monat zu Ende gegangene Jüdische<br />

Filmfestival an. Auf dem Programm<br />

stehen Margarethe von Trottas Hannah-<br />

Arendt-Film aus dem Jahr 2012 mit Barbara<br />

Sukowa in einer ihrer wichtigsten Lebensrollen<br />

(16. 11., 20 Uhr), Ask Dr. Ruth<br />

von Ryan White von 2019 (21. 11., 12:45 Uhr)<br />

über die Emigrantin und spätere Sex-Beraterin<br />

der US-Nation Karola Ruth Siegel, die<br />

ab den 1980er-Jahren mit ihrer Show Sexually<br />

Speaking nicht mehr aus den amerikanischen<br />

Radios und Fernsehschirmen<br />

wegzudenken war, Geniale Göttin – Die<br />

Geschichte von Hedy Lamarr (25. 11.,<br />

18:30 Uhr) von Alexandra Dean aus dem<br />

Jahr 2017 über eine österreichische „Sexgöttin“,<br />

Emigrantin und geniale Erfinderin,<br />

die viel zu spät erst die Anerkennung bekam,<br />

die sie verdiente, und zuletzt die Österreich-Premiere<br />

des 2020 entstandenen<br />

Dokumentarfilms Truus’ Children von Pamela<br />

Sturhoofd und Jessica van Tijn über<br />

die bedeutende niederländische Widerstandskämpferin<br />

und Lebensretterin Truus<br />

Wijsmuller (9. 12., 18:30 Uhr). Es sind durchwegs<br />

faszinierende und starke Frauen, denen<br />

hier verdiente filmische Denkmäler gesetzt<br />

werden.<br />

18. NOVEMBER 2021<br />

„WEIBLICH“ INVESTIEREN<br />

Frauen investieren viel, meistens aber<br />

sind es Zeit, Geduld, Liebe – seltener<br />

schon sind es Geld oder gar Macht.<br />

Dass man als Frau aber auch für sich<br />

ganz persönlich vorsorgen kann, und<br />

das nicht nur im emotionalen, sondern<br />

eben auch im ganz realen finanziellen<br />

Sinne, davon erzählt die Wiener<br />

Frauenfinanzberaterin Larissa<br />

Kravitz unter dem Titel Money, honey!<br />

– Vorsorgen und investieren für<br />

Einsteigerinnen. Wichtig ist, keine<br />

Scheu zu haben, dass man auch mal<br />

als Frau an sich denkt – und das nachhaltig<br />

und langfristig. „Make the markets<br />

female!“, fordert Kravitz selbstbewusst<br />

und zeigt auf, dass für jede<br />

von uns die passende Investitionsform<br />

gefunden werden kann, auch<br />

fürs „kleine Börsel“ und für alle, die<br />

sich bislang nicht getraut haben. Ein<br />

wichtiger und spannender Workshop-<br />

Abend unter dem Motto „Empowered<br />

Women, Empower Women“!<br />

Anmeldung unter:<br />

ikg-wien.at/festival<br />

Larissa Kravitz:<br />

Money, honey!<br />

Vorsorgen und<br />

Investieren für<br />

Einsteigerinnen.<br />

Kremayr & Scheriau,<br />

240 S., € 22<br />

24. NOV. BIS 1. DEZ. 2021<br />

STARKE FRAUEN IM BILD<br />

Dvora Barzilai widmet sich in ihrer aktuellen<br />

Schau Shirat Dvora dem (Ab-)Bild starker jüdischer<br />

Frauen aus Antike und Mythos und verbindet<br />

die von ihr thematisierten Figuren mit<br />

dem Leben modern-orthodoxer Frauen. Barzilai<br />

gelingt es immer wieder, auf einprägsame Weise<br />

in ihren Arbeiten das Religiöse mit dem Weltlichen<br />

zu verbinden. Mit Shirat Dvora versucht<br />

die Künstlerin zu zeigen, „dass Frauen auf allen<br />

Ebenen schon immer viel bewegt haben und<br />

auch heutzutage eine tragende Rolle spielen“.<br />

LESUNG MIT KONZERT<br />

Festival der jüdischen Kultur<br />

11 Uhr<br />

Theater Nestroyhof Hamakom,<br />

Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />

28. NOVEMBER 2021<br />

SORGEN WIR GUT DAFÜR<br />

Charlotte Salomon wurde mit 26 Jahren in<br />

Auschwitz ermordet. Salomon, eine der bedeutendsten<br />

jüdischen Malerinnen des frühen 20.<br />

Jahrhunderts, gab mit den Worten „Sorg' gut dafür:<br />

Es ist mein ganzes Leben“ vor ihrer Deportation<br />

hunderte Arbeiten an einen Freund. Erst vor<br />

wenigen Jahren wurde ihr Werk, wurde die Künstlerin<br />

selbst wieder aus dem Schatten des Vergessens<br />

geholt – ihre Texte, ihre Erinnerungen und ihr<br />

eminentes Œuvre werden bei dieser Matinee über<br />

politisch-historisches Erinnern mit allen Sinnen<br />

von Therese Hämer (Lesung) und dem Julie Sassoon<br />

Quartet (Musik) thematisiert und in Form einer<br />

berührenden Hommage hochgehalten.<br />

© Klaus Pichler, hdgö; Krassimir Kolev; Thomas Sturmberger; PID/Christian Fürthner<br />

wına-magazin.at<br />

55<br />

November.indb 55 15.11.2021 11:28:58


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal,<br />

ganz fantastisch gejammt habe ich … bei der<br />

letzten Vienna Klezmer Session im Oktober. Es war<br />

lange nicht möglich, mit so vielen Leuten und internationalen<br />

Gästen zu jammen. Letztlich hatten wir<br />

dann doch die große Freude, mit lieben Gästen<br />

aus New York und München die ganze Nacht durch<br />

einen wilden Mix aus jiddischen Volksliedern,<br />

fetzigen Klezmer-Nummern bis hin zu Boney M. zu<br />

spielen. Das ganze randvolle Café Max hat getanzt!<br />

Das letzte Mal einen tollen neuen jiddischen Ausdruck<br />

gelernt habe ich … auf der Suche nach einem<br />

passenden Namen für mein A-cappella-Duo mit Isabel<br />

Frey. Nachdem wir gesagt bekommen haben,<br />

dass Duo Wratschko & Frey mehr nach einer Anwaltskanzlei<br />

klingt als nach einem Yiddish Folk Duo, haben<br />

wir uns nach einigem Überlegen für „Soveles“ entschieden.<br />

„Sovele“ ist eine kleine Eule. Und nachdem<br />

wir beide recht nachtaktive Singvögelchen sind, hat<br />

uns das letztlich überzeugt.<br />

Das letzte Mal, dass ich New York vermisst habe,<br />

war … bei einem herbstlichen Spaziergang im Augarten.<br />

Ich habe damals in New York in der Nähe des Prospect<br />

Parks in Brooklyn gewohnt, und Spaziergänge<br />

im riesigen Park zwischen bunten Blättern und den<br />

Enten im dortigen See waren für mich ein wichtiger<br />

Moment der Ruhe in der umtriebigen Großstadt.<br />

Das letzte Mal, dass ich mit Kindern zu meinem<br />

Kinder-Punkrock abgefeiert habe, war … beim<br />

Tagträumer*innen Festival im Kunsthaus Horn. Nachdem<br />

die Telepunkies eine längere coronabedingte<br />

Konzertpause hinter sich hatten, haben wir uns an<br />

einem herbstlichen Samstagmorgen in das schöne<br />

Waldviertel aufgemacht und dort endlich wieder vor<br />

echten Menschen, kleinen wie großen, die Sau rausgelassen.<br />

Die Kids und ihre Omas sind voll abgegangen,<br />

wir vor Glück vergangen – aber der größte Hit<br />

war fast die Konfettikanone.<br />

Das letzte Mal, dass ich ein wunderbares Chorerlebnis<br />

hatte, war ..., als ich zum ersten Mal seit Langem<br />

wieder auf der Bühne des Wiener Konzerthauses<br />

gestanden bin, um Leonard Bernsteins Kaddish<br />

zu singen. Ich liebe Bernstein, er ist als Dirigent, Komponist<br />

und Pädagoge eine große Inspiration. Und<br />

dieses beeindruckende Werk in der Leitung seiner<br />

ehemaligen Schülerin Marin Alsop aufzuführen, war<br />

ein sehr berührender und besonderer Moment.<br />

VOR GLÜCK<br />

VERGEHEN<br />

Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />

In diesem Monat erzählt uns Musikerin Esther Wratschko<br />

über ihr Leben als nachtaktiver Singvogel und wann sie im<br />

Waldviertel die Konfettikanone gezündet hat.<br />

Esther Wratschko studierte Germanistik in Wien und anschließend<br />

Musikerziehung und Chorleitung an der Universität für Musik und darstellende<br />

Kunst. Dieses Studium schloss sie 2017 nach einem sechsmonatigen<br />

Artistic Fellowship am Center for Jewish History in New<br />

York ab. Sie spielt in diversen Formationen – unter anderem Punkrock<br />

für Kinder! – , leitet mehrere Chöre und organisiert Klezmer-Sessions.<br />

Esther Wratschko ist im Rahmen des KlezMore Festivals zu<br />

sehen (8., 14. & 15. November, klezmore.at).<br />

Solo tritt sie am 11. November um 19.30 Uhr im Kulturhaus<br />

Brotfabrik der Ankerbrotfabrik auf. Alle Infos unter<br />

estherwratschko.com<br />

© Marlene Karpischekw<br />

56 wına | November 2021<br />

November.indb 56 15.11.2021 11:29:00

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