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November 2021<br />
Kislew 5782<br />
#11, Jg. 10; € 4,90 DAS JÜDISCHE STADTMAGAZIN<br />
wina-magazin.at<br />
„Es gibt aus der jüdischen<br />
Geschichte heraus Fragen,<br />
die für die Gegenwart<br />
brennend relevant sind“<br />
Wie BARBARA STAUDINGER,<br />
designierte Direktorin des<br />
Jüdischen Museums in Wien ,<br />
die Zukunft plant<br />
HAPPY<br />
CHANUKKA<br />
Österreichische Post AG / WZ 11Z039078W /<br />
JMV, Seitenstetteng. 4, 1010 Wien / ISSN 2307-5341<br />
11<br />
9 120001 135738<br />
Wenn Zeitgeschichte<br />
zur Geschichte wird<br />
Experten und Expertinnen über<br />
Aufgaben und Möglichkeiten der<br />
Erinnerungskultur, wenn<br />
die Zeitzeugen nicht mehr sind<br />
Das kurze und<br />
heftige Leben des<br />
Amadeo Modigliani<br />
Eine Retrospektive in Wien<br />
widmet sich seinem Leben und Werk<br />
zwischen Avantgarde und Archaik<br />
„Die Suche ist für mich bereits<br />
etwas zutiefst Jüdisches“<br />
AUGUST ZIRNER und seine Tochter ANA<br />
fanden auf der Suche nach Familiengeschichte<br />
viel Verdrängtes und sich selbst<br />
cover_0821.indd 28 15.11.2021 08:25:19
Wieder<br />
erhältlich!<br />
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FESTIVAL DER JÜDISCHEN KULTUR<br />
14. NOV. BIS 9. DEZ. 2021<br />
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IM JUDENTUM<br />
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PROGRAMM: 14.11. Eröffnungskonzert „See You in Hollywood“ – Anna Rothschild Ensemble Wien mit Ethel<br />
Merhaut und Orsolya Korcsolán • 16.11. Filmvorführung „Hannah Arendt“ • 18.11. Lesung „Money Honey“ – Larissa<br />
Kravitz • 21.11. Filmvorführung „Ask Dr. Ruth“ • 24.11. Ausstellung „Schirat Dvora“ – Dvora Barzilai • 25.11.<br />
Filmvorführung „Geniale Göttin – Die Geschichte von Hedy Lamarr“ • 28.11. Lesung und Konzert „Charlotte<br />
Salomon - Therese Hämer und Julie Sassoon Quartet • 02.12. Konzert „Heute Abend: „So wie musikalisch, aber<br />
leakalisch!“ - Lea Kalisch und Bela Koreny • 07.12. Podiumsdiskussion „G´ttes weibliche Seite“ – Anita Pollak,<br />
Felicitas Heimann-Jelinek, Bea Wyler, Laura Cazés, Dalia Grinfeld • 09.12. Filmvorführung „Truus´ Children“<br />
Sonderprogramm: 08.11. Filmvorführung „Theresienklang“ -<br />
Dokumentation im Andenken an Helga Pollak-Kinsky<br />
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AW4-WIN_Wina_20.11.indd 1 11.11.21 15:52
Viel zu oft richten<br />
wir den Fokus auf<br />
den Mangel, anstatt<br />
auf die Wunder die uns<br />
umgeben.<br />
Editorial<br />
Anfang November erinnerten wir uns zum 83. Mal an die Gräuel,<br />
die Österreicherinnen und Österreichern, Jüdinnen und Juden<br />
in der Nacht von 9. auf 10. November 1938 angetan wurden. Jedes<br />
Zeugnis davon, jede Überlebensgeschichte klingt wie ein Wunder und<br />
war auch ein Wunder.<br />
Auch Ende November erinnern wir uns an ein Wunder: an das Wunder<br />
von Chanukka. Die Lichter der Chanukkia zeugen vom Triumph des<br />
Lichts über die Dunkelheit, der Hoffnung über die Hoffnungslosigkeit.<br />
Wenn wir die erste Kerze anzünden und das Chanukka-Fest beginnt,<br />
danken wir dafür, dass wir in diesem Moment angekommen sind, so wie<br />
wir das bei allen Festen tun, die immer auch ein Wunder markieren.<br />
Ich freue mich jedes Jahr aufs Neue auf die Kerzen, die auf unsere<br />
Fensterbrett brennen, und auf jene, die ich in der Nachbarschaft entdecke,<br />
und auf die Abende, an denen wir nicht nur viel und gut essen,<br />
Freunde und Familie sehen und Geschenke auspacken,<br />
sondern auch auf den Brauch, uns an<br />
jedem Chanukka-Abend einem anderen Wunder<br />
zu widmen, für das wir uns beim Entzünden<br />
der Kerzen bedanken.<br />
Dankbarkeit ist wohl ein zentrales Imperativ,<br />
um feiern zu können. Und das gilt, denke ich,<br />
für unsere spirituellen Ereignisse ebenso wie<br />
für unser Leben selbst. Denn eigentlich sind sie<br />
auch nicht voneinander zu trennen.<br />
Viel zu oft haben wir unseren Fokus auf den<br />
Mangel gerichtet. Den meisten von uns fällt es<br />
leichter, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die<br />
wir im Leben bemängeln, die nicht wunschgemäß<br />
verlaufen. Wir vergessen dabei so vieles, das<br />
wir haben und als selbstverständlich betrachten:<br />
unsere Gesundheit, unsere Fähigkeiten und<br />
Möglichkeiten, den weitgehenden Frieden, der<br />
uns umgibt, und so viele andere Dinge.<br />
Und so sind heuer dies meine Favoriten – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:<br />
besonders (und immer) dankbar bin ich dafür, dass mein<br />
Kind mich jeden Morgen mit großen blauen Augen anlächelt. Dass ich<br />
mir die Fähigkeit behalten habe, das Gute zu suchen, und dass mein Interesse<br />
an der Welt und an den Menschen ungebrochen ist. Dass mich<br />
im Beruf wie privat Menschen umgeben, die mir Verständnis, Geduld<br />
und Unterstützung entgegenbringen. Dankbar dafür, dass ich bin, obwohl<br />
alles versucht wurde, um unsere Familien, unser Volk zu vernichten,<br />
und dafür, dass ich damit die Aufgabe geerbt und hoffentlich auch<br />
das richtige Sensorium entwickelt habe, gefährliche politische und<br />
ideologische Entwicklungen früh genug zu erkennen und zu bekämpfen.<br />
Dass ich in einer Tradition aufgewachsen bin, in der wir Chanukka-<br />
Kerzen entzünden, um so die Wunder zu feiern, die unser Volk durch<br />
die Geschichte erfahren hat. Dass wir die Natur noch so um uns erleben<br />
dürfen und dabei auch jeder von uns noch die Möglichkeit hat, etwas<br />
gegen ihre völlige Zerstörung zu unternehmen. Dass wir trotz einer<br />
weltweiten Pandemie – und der Tatsache, dass dieses „Wir“ nur eine<br />
Minderheit der Weltbevölkerung ist – gesund und in Wohlstand leben<br />
dürfen.<br />
Und dankbar macht mich auch, dass wir seit zehn Jahren ein Magazin<br />
produzieren dürfen, das so vielen ans Herz gewachsen ist und dankbar<br />
macht mich auch, dass auch Sie es gerade in der Hand halten.<br />
Und so wünsche ich Ihnen einen November voller Wunder, die Sie in<br />
Ruhe und Dankbarkeit erleben mögen.<br />
Julia Kaldori<br />
„Es gibt zwei Arten<br />
das Leben zu<br />
sehen: Entweder<br />
man glaubt<br />
nicht, dass es<br />
Wunder gäbe,<br />
oder man glaubt,<br />
dass alles ein<br />
Wunder sei.“<br />
Albert Einstein<br />
© Ines Bazdar/123rf<br />
wına-magazin.at<br />
1
S.26<br />
Barbara Staudinger übernimmt im Juli 2022<br />
die Leitung des Jüdischen Museums Wien. Mit<br />
WINA sprach sie über ihren Zugang zur Gestaltung<br />
von Ausstellungen, über das Bespielen des<br />
öffentlichen und digitalen Raums und wie sie<br />
das Judentum darstellen möchte.<br />
INHALT<br />
„Es gibt aus der jüdischen<br />
Geschichte heraus<br />
Fragen, die<br />
für die<br />
Gegenwart<br />
brennend relevant<br />
sind.“<br />
Barbara Staudinger<br />
© Daniel Shaked<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori<br />
Redaktion: Inge Heitzinger<br />
(T. 01/53104–271), office@jmv-wien.at<br />
Anzeigenannahme: Manuela Glamm<br />
(T. 01/53104–272), m.glamm@jmv-wien.at<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH.<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Wir müssen uns beeilen<br />
Die Zeitzeugen werden weniger. Was<br />
bedeutet das für die Vermittlungsarbeit,<br />
was für die Erinnerungskultur?<br />
10 … was alle versäumt haben<br />
Kurz nach seinem 100. Geburtstag<br />
legte Ernst Fettner mit dem Buch<br />
Geh’ du voran. Ein Jahrhundert seine<br />
Lebenserinnerungen vor.<br />
11 Abschiedsbilder bleiben<br />
In vielen Gesprächen erzählte Maria<br />
König der Rundfunkautorin Antje<br />
Leetz aus ihrem Leben, aber auch,<br />
was sie im Hier und Jetzt bewegte.<br />
12 So aus der Welt gehen<br />
Erinnern an jene dunkle Zeit, als der<br />
Tod als einziger Ausweg für mindestens<br />
1.088 Wiener Jüdinnen und Juden<br />
schien.<br />
14 Experimentierfeld Wien<br />
In Wien wurde ab 1938 die Abwicklung<br />
der Deportationszüge erprobt,<br />
die Stadt sollte als erste „judenrein“<br />
werden.<br />
16 Quadrate aus Messing<br />
In Salzburg wurden bisher 477 Stolpersteine<br />
verlegt. Jüngst auch für<br />
acht Frauen vor dem ehemaligen<br />
Polizeigefängnis der Stadt.<br />
18 Politiker mit Haltung<br />
Autorin Margaretha Kopeinig präsentiert<br />
eine Biografie des ehemaligen<br />
Bundeskanzlers Franz Vranitzky mit<br />
allen Facetten seiner aufrechten Persönlichkeit.<br />
22 Arzt mit Herz<br />
Lee Ya’ari ist einer der Fachärzte, die<br />
Holocaust-Überlebende in Israel im<br />
Rah men eines Hilfsprojekts kostenlos<br />
zuhause behandeln.<br />
24 Erfinder und Forscher<br />
Ein Lesebuch über israelische Innovationen<br />
ist jetzt auch auf Deutsch erhältlich.<br />
Es bringt interessante Beispiele,<br />
hat aber auch Schwächen.<br />
26 „… auch selbstkritisch sein“<br />
Barbara Staudinger übernimmt ab Juli<br />
2022 die Leitung des Jüdischen Museums<br />
Wien. Sie erzählt, wie sie das Judentum<br />
darstellen möchte.<br />
30 „Mein Ehrgeiz erwacht …“<br />
Jana Wassermann führt seit diesem<br />
Jahr eine Kassenordination als Allgemeinmedizinerin<br />
in der Novaragasse<br />
in der Leopoldstadt.<br />
S.34<br />
Dick aufgetischt<br />
Novemberblues? Dagegen helfen zwei Dinge: fröhliche Farben und exzellentes Essen!<br />
WINA hat dafür schon einmal die passenden Teller aus dem Schrank geholt ...<br />
2 wına | November 2021<br />
November.indb 2 15.11.2021 11:23:14
Wir wünschen ein<br />
frohes Chanukka!<br />
KULTUR<br />
40 „Immer noch eine Wut“<br />
In ihrer Familienbiografie Ella und<br />
Laura begeben sich August Zirner und<br />
seine Tochter Ana auf die Spuren ihrer<br />
Großmütter.<br />
43 „Worüber reden Gojim?“<br />
Unverschämt jüdisch heißt der Band, in<br />
dem Barbara Honigmann ihre bisherigen<br />
Preisreden versammelt.<br />
44 364 Stimmen und ein „Echo“<br />
Evelyn Adunka verführt mit ihrem<br />
Band Meine jüdischen Autobiographien<br />
zum Lesen und blickt in einer Jubiläumsnummer<br />
zurück auf 70 Jahre Jüdisches<br />
Echo.<br />
48 Das kurze heftige Leben<br />
Dem genialen Werk des jüdischen Italieners<br />
Amadeo Modigliani widmet die<br />
Albertina eine beeindruckende Retrospektive<br />
zu seinem 100. Todestag.<br />
„Die Überlebenden<br />
sind die Brücke in die<br />
Vergangenheit, mit ihren<br />
Augen versuchen wir<br />
das Lager zu<br />
sehen und<br />
das Unbegreifliche<br />
zu<br />
begreifen.“<br />
Heidemarie Uhl<br />
S.07<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
03 WINA_Kommentar<br />
Marta S. Halpert über Proteste gegen<br />
den Missbrauch des politischen<br />
Mandats<br />
20 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Partys, Armee und Schulalltag. Israel<br />
post Corona!? Von Gisela Dachs<br />
32 Matok & Maror<br />
Café Bellaria – so geht Kaffeehaus<br />
heute<br />
33 WINA_kocht<br />
Wie spart man traditionell Kalorien<br />
und weshalb braucht man zwei<br />
Herde, aber nur einen Kühlschrank?<br />
34 WINA_Lebensart<br />
Mit fröhlichen Farben und exzellentem<br />
Essen gegen den Novemberblues?<br />
37 Ist Yoga koscher?<br />
Judentum und Yoga: Mit Respekt<br />
und getreu den Jahrtausende alten<br />
Traditionen<br />
51 WINA_Werkstädte<br />
„Die Suche<br />
ist für mich<br />
bereits etwas<br />
zutiefst Jüdisches.“<br />
August Zirner<br />
© Bettina Flittner<br />
S.40<br />
August Zirner und seine<br />
Tochter Ana begeben sich<br />
in ihrer Familienbiografie Ella<br />
und Laura auf die Spuren<br />
ihrer Großmütter und legen<br />
gleichzeitig die Geschichte<br />
des enteigneten Wiener Kaufhauses<br />
Zwieback frei.<br />
WINA ONLINE:<br />
wina-magazin.at<br />
facebook.com/winamagazin<br />
Coverfoto: 123rf<br />
wına-magazin.at<br />
3<br />
November.indb 3 15.11.2021 11:23:18
HIGHLIGHTS | 01<br />
Deutsche Talmud-<br />
Übersetzung online<br />
In Deutschland waren die Nationalsozialisten<br />
bereits an der Macht, als der Orientalist<br />
Lazarus Goldschmidt (1871–1950) seine<br />
Übersetzung des Talmud ins Deutsche beendete.<br />
Ein Team deutscher und österreichischer<br />
Wissenschafter hat diese Übersetzung,<br />
die bisher im Wesentlichen nur in Bibliotheken<br />
genutzt werden konnte, nun auf sefaria.<br />
org digitalisiert und damit einer breiten Leserschaft<br />
online zugänglich gemacht.<br />
„Goldschmidt veröffentlichte die Übersetzung<br />
in einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus,<br />
um gefährliche Mythen zu zerstreuen<br />
und den Text allen deutschsprachigen Menschen<br />
auf der ganzen Welt zugänglich zu machen“,<br />
sagte Autor sowie Sefaria-Mitbegründer<br />
und -Vorsitzender Joshua Foer anlässlich der<br />
Präsentation dieser deutschsprachigen Online-<br />
Talmud-Ausgabe. Verknüpft wurden die einzelnen<br />
Abschnitte der Goldschmidt-Übersetzung<br />
mit Talmud-Texten in Englisch und Hebräisch/<br />
Aramäisch. Damit können die User nun auf sefaria.org<br />
zwischen den Übersetzungen navigieren.<br />
Goldschmidt übertrug daneben auch<br />
ein anderes wichtiges religiöses Werk ins Deutsche:<br />
den Koran. wea<br />
64.440<br />
Namen<br />
ermordeter Jüdinnen und Juden<br />
trägt die Namensmauer vor dem<br />
Alten AKH im Ostarrichipark in Wien.<br />
Eingeweiht wurde die Gedenkstätte<br />
am 9. November. 83 Jahre nach der<br />
sogenannten „Kristallnacht“. 20 Jahre<br />
lang kämpfte der austrokanadische<br />
Überlebende Kurt Yakov Tutter für<br />
die Realisierung. Er selbst überlebte<br />
die Shoah mit seiner kleinen Schwester<br />
im belgischen Versteck, die Eltern<br />
der beiden wurden in Auschwitz<br />
ermordet. Nun sei den fast 65.000<br />
ermordeten Jüdinnen und Juden ihr<br />
Name und damit ihre Würde zurückgegeben<br />
worden, sagte Yakov Tutter<br />
bei der Eröffnung. „Möge es Frieden<br />
bringen in den Herzen.“<br />
Höchststrafe für<br />
den Mörder von<br />
Mireille Knoll<br />
Lebenslange Haft für den antisemitisch<br />
motivierten Mord des 32-Jährigen an<br />
der Shoah-Überlebenden.<br />
Im März 2018 wurde im 11. Bezirk von Paris die<br />
Feuerwehr alarmiert, da aus einer Wohnung<br />
Rauch drang. Die Feuerwehrleute fanden in der<br />
Wohnung die 85-jährige Mireille Knoll tot auf.<br />
Elf Mal war mit einem Messer auf sie eingestochen<br />
worden. Anschließend legte der Mörder<br />
mehrere Feuer in der kleinen Sozialwohnung<br />
und drehte den Gasherd auf.<br />
Die Polizei nahm zeitnah zwei Tatverdächtige<br />
fest. Einer der beiden, Yacine Mihoub, kannte<br />
das Opfer gut, besuchte sie seit seiner Kindheit<br />
und sah in ihr eine Art Ersatzgroßmutter. E war<br />
Stunden vor dem Mord nachweislich in ihrer<br />
Wohnung.<br />
Nach zwei Wochen Prozess verkündete der<br />
zuständige Richter Anfang November das Urteil<br />
der Geschworenen, die dem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
folgten. Sie sahen die Schuld von<br />
Yacine Mihoub und sein antisemitisches Motiv<br />
als erwiesen an. Er wurde zu lebenslanger Haft<br />
verurteilt. Der zweite Täter muss für Raub mit<br />
Todesfolge 15 Jahre lang ins Gefängnis.<br />
Sie haben<br />
Fragen an das<br />
Bundeskanzleramt?<br />
service@bka.gv.at<br />
0800 222 666<br />
Mo bis Fr: 8 –16 Uhr<br />
(gebührenfrei aus ganz Österreich)<br />
+43 1 531 15 -204274<br />
Bundeskanzleramt<br />
Ballhausplatz 1<br />
1010 Wien<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />
4 wına | Juni/Juli 2021<br />
Das Bürgerinnen- und Bürgerservice des Bundeskanzleramts freut sich<br />
auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />
bundeskanzleramt.gv.at<br />
© Xxx<br />
November.indb 4 15.11.2021 11:23:19
WINA KOMMENTAR<br />
Ein Ende des ruinösen Populismus?<br />
Immer mehr Europäer protestieren gegen den Missbrauch ihres politischen Mandats.<br />
Sieht man sich Ende 2021 in Europa und<br />
weltweit um, dann kommen nicht wenige<br />
korrupte Populisten, hohle Phrasendrescher<br />
und autoritäre Möchtegerns<br />
langsam, aber sicher ins Schleudern.<br />
ie Lage ist nicht so hoffnungslos, wie sie vor einiger<br />
Zeit noch schien. Rhetorisch geschulte Populisten<br />
aller politischer Färbungen und Richtungen<br />
hatten mit billigen Tickets die besten Plätze in Europas<br />
Staatslogen ergattert. Sieht man sich Ende<br />
2021 in Europa und weltweit um, dann kommen nicht wenige<br />
korrupte Populisten, hohle Phrasendrescher und autoritäre<br />
Möchtegerns langsam, aber sicher ins Schleudern.<br />
Im positiven Sinn dafür verantwortlich ist auch die Europäische<br />
Union: Sie handelt zwar viel<br />
Von Marta S. Halpert zu oft zögerlich, unterschätzt aber<br />
insgesamt ihre eigene Wirkmächtigkeit.<br />
Insbesondere die Bevölkerung in den ehemals kommunistisch<br />
unterdrückten Staaten ist seit ihrer EU-Mitgliedschaft<br />
nicht nur reicher und reiselustiger geworden, sondern<br />
vor allem besser informiert und daher weniger von oben steuerbar.<br />
Dank des vielgescholtenen World Wide Webs kommen<br />
sie seit Längerem ohne Bevormundung zu vielfältiger Information<br />
und bilden sich eigene Meinungen. Das gilt nicht nur<br />
für die Jungen, heute sind schon alle Altersgruppen und soziale<br />
Schichten der Gesellschaft inkludiert. Daher entwickelt<br />
sich eine selbstdenkende und selbstbestimmte societas civilis.<br />
Das führt zum Abschied vom gewohnten Wahlverhalten: Die<br />
sogenannten (großen) Volksparteien können die individuell<br />
ausgeprägten Ansprüche nicht mehr abdecken, geschweige<br />
denn befriedigen. Kleinparteien reüssieren und erfrischen<br />
damit die politische Landschaft. Regierungsbildungen werden<br />
komplizierter, denn Zielgruppenpolitik ist mühsam. Aber für<br />
das Gemeinwohl ist das effektiver, denn es finden neue Gruppierungen<br />
zu einem Block zusammen, um etwas zu realisieren,<br />
das übergeordnet allen wichtig ist.<br />
Dieser Trend begann in den USA: Dort gehört jetzt der skrupellos-hetzerische<br />
Verführer Donald Trump der Vergangenheit<br />
an. Der Stern Jair Bolsonaros, der Brasilien verantwortungslos<br />
ins Covid-Desaster führte, ist im Sinkflug. Und in<br />
unserer unmittelbaren Nachbarschaft? Nach jahrelanger Apathie<br />
und Egozentrik ist es jetzt in Ungarn so weit: Die sechs<br />
wichtigsten Oppositionsparteien – die sozialdemokratische<br />
MSZP, die gemäßigt-linke DK, die grünen LMP, Párbeszéd,<br />
das liberale Momentum und die rechte Jobbik – haben endlich<br />
verstanden, dass sie sich für die Parlamentswahlen im<br />
Jahr 2022 zusammenschließen müssen, wenn sie Ministerpräsident<br />
Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei von der Macht<br />
verdrängen wollen. Ungarns Premier regiert im zwölften Jahr:<br />
Seine Amtszeit nutzte er zu einer radikalen politischen Umgestaltung<br />
seines Landes – von der Gleichschaltung der meisten<br />
Medien bis hin zur Kontrolle des größten Teils der Justiz. Antisemitische<br />
und Anti-EU-Kampagnen gehören zum Tagesgeschäft.<br />
Ernsthafte innenpolitische Konkurrenz musste Orbán<br />
seit seinem Machtantritt 2010 kaum fürchten. Jetzt hat Ungarns<br />
vereinte Opposition einen nicht unumstrittenen ehemaligen<br />
Fidesz-Mann zum gemeinsamen Spitzenkandidaten<br />
gekürt: Peter Márki-Zay, der studierte Elektrotechniker und<br />
Marketing-Lektor an der Universität von Szeged, gibt deftige<br />
rechte Sprüche von sich, spricht von einem „neuen, sauberen<br />
Ungarn“ und von „Zigeunern“. Das Verhältnis zur EU will<br />
er verbessern, die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit zusichern.<br />
In Tschechien hat eine solide Mehrheit den der Korruption<br />
verdächtigen schlauen Populisten Andrej Babis aus dem Amt<br />
gewählt. Proteste der Zivilgesellschaft gingen diesem Machtverlust<br />
voraus. In Slowenien finden lautstarke Proteste gegen<br />
Janez Janšas Minderheitsregierung statt, weil diese die Medienfreiheit<br />
im Land empfindlich einschränkt. Während sich<br />
die Berichte über Korruption in Zusammenhang mit den EU-<br />
Aufbaugeldern in Slowenien häufen, blockiert Janša die europäische<br />
Staatsanwaltschaft, die dem Missbrauch von EU-Geldern<br />
nachgeht. Die Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in<br />
Slowenien sei noch etwas besser bestellt als in Ungarn und Polen,<br />
aber die Entwicklungen dennoch besorgniserregend, urteilen<br />
Europa-Abgeordnete.<br />
Und Polen ist endlich am Aktionsradar der EU aufgetaucht.<br />
Bleibt nur zu hoffen, dass die europafreundliche Opposition<br />
mit Unterstützung der protestwilligen Bevölkerung bald eine<br />
politische Wende ermöglicht. Ungarns Oppositionskandidat<br />
Márki-Zay klingt weder sympathisch noch wie der ersehnte liberale<br />
Heilsbringer. Aber falls er Orbán mit demokratischen<br />
Mitteln schlagen kann, besteht zumindest die Hoffnung, dass<br />
seine bunt-gewürfelten Mitstreiter an gestalterischem Einfluss<br />
gewinnen. Auch in Österreich versuchten die parlamentarischen<br />
Oppositionsparteien in der jüngsten Regierungskrise<br />
ihr Glück im Pokerspiel. Die Sozialdemokraten scheuten<br />
auch von dem „blauen Peter“ nicht zurück, das war peinlich<br />
und irritierend. Aber schon der Gedanke, dass ein zeitlich begrenztes<br />
Bündnis gegen das überhebliche, selbstherrlich regierende<br />
„System“ punkten könnte, muss die geübten Masochisten<br />
befriedigt haben.<br />
Einen Lichtblick bietet derzeit unser großer Nachbar<br />
Deutschland. Dort machen sich drei sehr unterschiedliche<br />
Parteien daran, etwas Neues zu probieren. Möge die Übung gelingen.<br />
Das wäre eine vorbildhafte Ermutigung für andere europäische<br />
Staaten, neue politische Konstellationen zu wagen.<br />
wına-magazin.at<br />
5<br />
November.indb 5 15.11.2021 11:23:20
Emotionale Verbindung<br />
DIE BRÜCKE IN DIE VERGANGENHEIT IST BALD NICHT MEHR<br />
Derzeit ist in den Kinos<br />
der Film „Marko Feingold<br />
– Ein jüdisches Leben“ zu<br />
sehen. Für diesen<br />
erzählte der damals bereits<br />
105-Jährige ein letztes<br />
Mal sein Er- und<br />
Überleben des NS-Terrors.<br />
Inzwischen ist Feingold<br />
wie die meisten der<br />
Überlebenden verstorben<br />
– Zeitgeschichte geht<br />
in Geschichte über. Was<br />
bedeutet das für die Vermittlungsarbeit,<br />
was für<br />
die Erinnerungskultur?<br />
WINA bat Expertinnen<br />
und Experten um ihre<br />
Einschätzungen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
„Es war ihr Ziel,<br />
uns umzubringen, warum sollten<br />
wir ihnen dabei helfen.“<br />
Marcello Martini, Italien<br />
Die KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />
wurde unter Mitwirkung<br />
ehemaliger österreichischer<br />
politischer Häftlinge in diesem<br />
Lager gegründet, die sich zum Teil in hohen<br />
politischen Ämter befanden, wie zum<br />
Beispiel Leopold Figl. Ein anderer ehemaliger<br />
Häftling, Hans Marsalek, war im Innenministerium<br />
für die KZ-Gedenkstätte<br />
tätig und legte eine große Sammlung historischer<br />
Dokumente zum KZ Mauthausen<br />
an, was 1970 in die Eröffnung der Dauerausstellung<br />
an diesem Gedenkort mündete.<br />
Für eine breitere Öffentlichkeit durch<br />
die entsprechende mediale Berichterstattung<br />
sichtbar wurden die Überlebenden<br />
des KZ Mauthausen Jahr für Jahr bei der<br />
Befreiungsfeier.<br />
„Die Bedeutung der Zeitzeugen und<br />
Zeitzeuginnen für die Erinnerungskultur<br />
wird für mich am deutlichsten bei den Befreiungsfeiern<br />
in den ehemaligen Konzentrationslagern“,<br />
sagt die Zeithistorikerin<br />
Heidemarie Uhl von der Österreichischen<br />
Akademie der Wissenschaften. „Die immer<br />
kleiner werdende Gruppe alter Männer<br />
und Frauen – welche Bilder, welches<br />
Wissen um die Grausamkeiten, die hier geschehen<br />
sind, tragen sie in sich? Die Überlebenden<br />
sind die Brücke in die Vergangenheit,<br />
mit ihren Augen versuchen wir<br />
das Lager zu sehen und das Unbegreifliche<br />
zu begreifen. Ihre Präsenz ermöglicht<br />
eine emotionale Verbindung, die in Zukunft<br />
nicht mehr möglich sein wird.“<br />
Zu Gesprächen mit Schulklassen ist<br />
heute noch einige Male im Jahr Anna Hackl<br />
„Wenn ich durch das Fenster<br />
meiner Erinnerungen schaue, sehe<br />
ich nichts als Grabsteine.“<br />
Solomon J. Salat, USA<br />
„Ich war überzeugt,<br />
dass ich überleben musste.“<br />
Leon Ceglarz, Polen<br />
aus der Familie Langthaler an der KZ-Gedenkstätte<br />
Mauthausen, um die Rettungsgeschichte<br />
während der „Mühlviertler Hasenjagd“<br />
zu erzählen, berichtet Christian<br />
Angerer, der an der Gedenkstätte für den<br />
Bereich Pädagogik verantwortlich ist. „Ansonsten<br />
gibt es keine Zeitzeugen mehr, die<br />
in der Lage sind, zur Vermittlungsarbeit an<br />
die KZ-Gedenkstätte zu kommen.“ Die von<br />
Zeitzeugen geschaffenen Text- und Bilddokumente<br />
würden in den pädagogischen<br />
Angeboten der KZ-Gedenkstätte allerdings<br />
eine wichtige Rolle spielen. Hier kommen<br />
Zeugnisse von Überlebenden etwa in Form<br />
von Erinnerungsberichten und Zeichnungen<br />
zum Einsatz. Die 2013 neu gestaltete<br />
Überblicksausstellung zur Geschichte des<br />
KZ Mauthausen enthält in einem Strang<br />
der Schau biografische Zeugnisse ehemaliger<br />
Häftlinge in Form von Texten, Fotos,<br />
Tonspuren und Videos.<br />
Insgesamt hat man darauf geachtet, so<br />
viele Zeitzeugenerinnerungen wie möglich<br />
zu dokumentieren. Von 2002 bis 2003 wurden<br />
im Zuge des Mauthausen Survivor Documentation<br />
Projects an die 860 Interviews mit<br />
Mauthausen-Überlebenden aus vielen<br />
Ländern durchgeführt, großteils wurden<br />
Audiofiles angefertigt, ein Zehntel der Gespräche<br />
wurde auf Video aufgenommen.<br />
2010 bis 2011 führte die Gedenkstätte zudem<br />
Interviews mit etwa 15 Menschen, die<br />
um Umfeld des KZ Mauthausen gelebt hatten.<br />
Viel an Dokumentationsarbeit hat in<br />
den vergangenen Jahrzehnten auch _erinnern.at_<br />
– die Plattform für Holocaust Edu-<br />
6<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 6 15.11.2021 11:23:20
„Die Musik half uns<br />
zu überleben.“<br />
Bohumil Bardo, Tschechien<br />
„Es war unglaublich schwer,<br />
Arm in Arm zu gehen, aber wir dachten,<br />
das sei eine stilvolle Sache.“<br />
Gábor Bán, Ungarn<br />
„Ich war ein<br />
hochschwangeres Skelett.“<br />
Anna Bergman (geb. Kaudrová),<br />
Großbritannien<br />
„Das Lager ist eine<br />
monströse und zum Äußersten<br />
getriebene Parodie unserer<br />
modernen Gesellschaft.“<br />
Jean Laurent Grey, Frankreich<br />
Anerkennung des Leids. Erst in den 1980er-<br />
Jahren hätten sich breitere Teile der österreichischen<br />
Gesellschaft für sie zu interessieren<br />
begonnen, nicht zuletzt angestoßen<br />
durch die TV-Serie Holocaust sowie die<br />
Waldheim-Debatte. Demmer betont aber<br />
auch: Bis heute ließen sich vermutlich Ungleichheiten<br />
mit dem Umgang mit den verschiedenen<br />
Opfergruppen nachzeichnen.<br />
„Manche Betroffene, zum Beispiel Opfer<br />
von Euthanasieverbrechen, erhielten unglaublich<br />
spät Anerkennung, auch auf offizieller<br />
Ebene (Stichwort Entschädigung).<br />
Am Beginn standen politisch Verfolgte, alle<br />
anderen Opfergruppen erhielten wesentlich<br />
später auf gesellschaftlicher und offication<br />
des Bildungsministeriums – geleistet.<br />
Seit 1976 werden in Österreich über<br />
die für politische Bildung zuständige Abteilung<br />
des Bildungsministeriums Überlebende<br />
des Holocaust aus unterschiedlichsten<br />
Opfergruppen als Zeitzeuginnen<br />
und -zeugen an Schulen eingeladen, erzählt<br />
Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeugenprojekts<br />
bei _erinnern.at_. Treibende<br />
Kraft dahinter war der Widerstandskämpfer<br />
und KZ-Überlebende Hermann Langbein.<br />
1978 gab es das erste, von da an jährlich<br />
organisierte „Zeitzeugenseminar“, bei<br />
dem Wissenschafterinnen, Lehrpersonen<br />
und Zeitzeugen zusammentreffen, einander<br />
kennenlernen und gemeinsam Inhalte<br />
für den Geschichtsunterricht diskutieren<br />
und erarbeiten. Heute sind die raren<br />
noch stattfindenden Zeitzeugengespräche<br />
als dialogische Gespräche organisiert – vortragsartige<br />
Frontalveranstaltungen traten<br />
in den vergangenen zehn Jahren nach und<br />
nach in den Hintergrund.<br />
Wobei auch hier das langsame Verschwinden<br />
der Zeitzeugen und -zeuginnen<br />
stark spürbar ist: „Im Jahr 2003 nahmen<br />
noch 44 Zeitzeugen am Seminar teil,<br />
2008 waren 32, 2020 waren zwölf Zeitzeugen<br />
angemeldet. Über die Jahre verkleinerte<br />
sich die Gruppe insbesondere durch<br />
das Ableben vieler ihrer Mitglieder“, erläutert<br />
Demmer. Die Corona-Pandemie verunmöglichte<br />
Besuche von Zeitzeugen an<br />
Schulen. So habe man schließlich Onlinebegegnungen<br />
organisiert – insgesamt zwölf<br />
solcher Onlinezeitzeugengespräche fanden<br />
bisher statt, dabei traten zwei Zeitzeugen in<br />
den Dialog mit Jugendlichen.<br />
Als positiv habe sich hier herausgestellt,<br />
dass die oft teils<br />
schon sehr beschwerliche Anreise<br />
entfällt. Vielleicht kann<br />
so das Zeitfenster, in dem<br />
Zeitzeugen erzählen, noch ein<br />
bisschen länger geöffnet bleiben.<br />
Demmer erinnert aber auch daran, dass<br />
das Wirken der Zeitzeuginnen und -zeugen<br />
nicht immer erwünscht war. „Die Erzählungen<br />
und Erinnerungen von Überlebenden<br />
der Shoah trugen zwar schon seit<br />
1945 zur geschichtswissenschaftlichen Erforschung<br />
der Zeitgeschichte bei“, so Demmer.<br />
Bis zu den Gerichtsprozessen der<br />
1960er- und 1970er-Jahre seien die Stimmen<br />
vieler Opfer insgesamt aber stark in<br />
den Hintergrund gedrängt worden.<br />
„Die Überlebenden sind die<br />
Brücke in die Vergangenheit,<br />
mit ihren Augen versuchen wir<br />
das Lager zu sehen und das<br />
Unbegreifliche zu begreifen.“<br />
Heidemarie Uhl<br />
zieller Ebene Anerkennung, auch jüdische<br />
Überlebende. Dies bewirkte mitunter sogar<br />
Gefühle der Konkurrenz und Anerkennung<br />
zwischen Zeitzeugen und -zeuginnen.“<br />
Demmer sieht bis heute als das<br />
Wichtigste im Umgang mit Überlebenden<br />
„die Anerkennung des Leids, insbesondere<br />
im Akt des empathischen Zuhörens“.<br />
Was sich ändere, wenn Zeitzeugen nicht<br />
mehr persönlich befragt werden könnten,<br />
treibe die pädagogische Fachdiskussion<br />
schon seit vielen Jahren um, berichtet<br />
Demmer. _erinnern.at_ habe hier Videos<br />
erstellt und auf deren Basis viele Unterrichtsmaterialien<br />
entwickelt. „Das persönliche<br />
Gespräch kann aber nicht ersetzt<br />
werden, es hat eine andere Qualität und<br />
Dynamik und andere Beweggründe und<br />
Ziele neben den pädagogischen.“<br />
Angerer meint dazu: „Niemanden mehr<br />
direkt befragen zu können, bedeutet, dass<br />
die Geschichte des Nationalsozialismus<br />
und des Holocaust vom kommunikativen<br />
ins kulturelle Gedächtnis übergeht. Die<br />
Verschiedenheit der Speicherung historischer<br />
Erinnerung (Historiografie, Denkmäler,<br />
Literatur, biografische Zeugnisse)<br />
rückt damit mehr in den Blickpunkt, die<br />
wına-magazin.at<br />
7<br />
November.indb 7 15.11.2021 11:23:20
Moralische Autorität<br />
„Ich will an die Leichenberge<br />
erinnern, an die toten Menschen.<br />
Es waren Unzählige.“<br />
Eva Lukash (geb. Kral), Israel<br />
HIER WERDEN<br />
ZEITZEUGENBERICHTE<br />
KONSERVIERT –<br />
EINE AUSWAHL<br />
„Manchmal haben sie dich viel geschlagen,<br />
manchmal wenig. Aber geschlagen<br />
haben sie dich jeden Tag.“<br />
Michael Horvath, Österreich<br />
KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />
mauthausen-memorial.org/de/<br />
Wissen/ZeitzeugInnen<br />
Erinnern.at<br />
weitererzaehlen.at/<br />
Yad Vashem<br />
yadvashem.org/de/holocaust/<br />
video-testimonies.html<br />
Haus der Geschichte Österreich<br />
hdgoe.at/geschichte_erzaehlt<br />
Centropa<br />
centropa.org/de/ueber-uns/<br />
unsere-interviews<br />
Fortunoff Video Archive for<br />
Holocaust Testimonies<br />
fortunoff.library.yale.edu/<br />
Nationalfonds der Republik<br />
Österreich für Opfer des Nationalsozialismus<br />
nationalfonds.org/<br />
lebensgeschichten<br />
Shoah Foundation – The Institute<br />
for Visual History and Education:<br />
sfi.usc.edu/<br />
Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München<br />
lediz.uni-muenchen.de/<br />
projekt-lediz/index.html<br />
moralische Autorität der Aussagen von Zeitzeugen<br />
und -zeuginnen ist dadurch stärkerer<br />
Konkurrenz von unterschiedlichen<br />
Formen der Geschichtserzählung ausgesetzt<br />
– ein Prozess, der schon lange begonnen<br />
hat.“ Darin liege aber auch die Chance,<br />
den konservierten Erzählungen der Zeitzeugen<br />
ihre unverzichtbare Funktion im<br />
Konzert der Erinnerungsformen zuzuweisen:<br />
die Dimension der persönlichen Erfahrung<br />
von Geschichte zu vermitteln.<br />
Einen besonders sensiblen Umgang mit<br />
solchen Erinnerungen, aber auch Objekten<br />
hat das Haus der Geschichte Österreich gewählt.<br />
„Eine Haltung des Hauses der Geschichte<br />
ist es, dass die Shoah und andere<br />
NS-Verbrechen in einer Form gezeigt werden,<br />
die die Opfer nicht weiter erniedrigt“,<br />
betont die Direktorin des Museums, Monika<br />
Sommer. „So geben beispielsweise<br />
Fotos aus der Täter- und Täterinnenperspektive<br />
deren Gewalt unerwünschten<br />
Raum, und die Konzentration auf Täterdokumente<br />
bringt die Opfer bis heute<br />
zum Schweigen. Diese Perspektive wollen<br />
wir nicht prolongieren.“<br />
Verbrechen dokumentieren. Das Haus der<br />
Geschichte präsentiere daher in seiner<br />
Hauptausstellung Objekte, durch welche<br />
die Opfer selbst sprechen, durch welche die<br />
Absicht sichtbar werde, die Verbrechen zu<br />
dokumentieren und sich dagegen zu wehren.<br />
„Dieser Zugang zeigt sich etwa im Judenstern<br />
von Lotte Freiberger, den sie geheim<br />
und gegen alle Verbote so montiert<br />
hat, dass er abgenommen und versteckt<br />
werden konnte.“ Aber auch die Stimme einer<br />
Ravensbrück-Überlebenden, die im gesamten<br />
Ausstellungsbereich über die Geschichte<br />
des Nationalsozialismus zu hören<br />
sei, sei auf Basis dieser Annäherung gewählt<br />
worden. „Die Zeitzeugin erzählt von<br />
der Deportation, von der gemeinsamen<br />
Leiderfahrung unterschiedlicher Opfergruppen,<br />
aber auch von der Weigerung,<br />
die sie erfahren hat, geraubtes Eigentum<br />
nach 1945 zurückzugeben“, erläutert Sommer.<br />
Sie spreche dabei in ihrer Erstsprache,<br />
Burgenland-Roman. Das Interview<br />
zeige damit etwas sehr Widerständiges.<br />
Diese nur in Österreich existierende Sprache<br />
hätte ausgerottet werden sollen, „aber<br />
sie ist noch da, und die Überlebenden sind<br />
nicht gebrochen.“<br />
Wichtig sei es, mit den letzten noch lebenden<br />
Zeitzeugen und -zeuginnen der<br />
NS-Herrschaft Interviews zu führen und<br />
diese in einen wissenschaftlichen Rahmen<br />
zu setzen, betont Sommer. Wie auch<br />
die durch die Coronapandemie bedingten<br />
Lockdowns gezeigt hätten, könne allerdings<br />
nichts den persönlichen Kontakt<br />
und die individuelle Begegnung ersetzen.<br />
„Das heißt aber nicht, dass es nicht möglich<br />
ist, zentrale Botschaften der Shoah-Überlebenden<br />
und auch der NS-Opfer nicht auch<br />
für nächste Generationen zu erhalten.“ Dafür<br />
brauche es aber eine Übersetzungsleistung<br />
– etwa in Form eines Vermittlungsprogrammes,<br />
wie es auch vom Haus der<br />
Geschichte Österreich angeboten werde.<br />
Die Berichte der Zeitzeuginnen und<br />
-zeugen bedürfen der Dokumentation, um<br />
als historische Quellen das Wissen um die<br />
Shoah zu erweitern und zu vertiefen und<br />
für die Zukunft zu erhalten, betont auch<br />
Heidemarie Uhl. „Was die konkrete Begeg-<br />
8<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 8 15.11.2021 11:23:20
„Lange Zeit habe ich nicht<br />
wahrgenommen, dass ich auch ein<br />
Bestandteil dieser Todesfabrik<br />
geworden war.“<br />
Hans Maršálek, Österreich<br />
„Am Ende halfen wir uns gegenseitig …,<br />
eine Gruppe, um gute Neuigkeiten<br />
auszutauschen, um sich aufzurichten.“<br />
Paul Brusson, Belgien<br />
,<br />
„Mein ganzes Leben schaut so aus,<br />
ich bin ein Kriegsveteran, ein Teilnehmer<br />
des Zweiten Weltkriegs, ein Gefangener im<br />
Konzentrationslager Mauthausen …“<br />
Martin Michalec, Slowakei<br />
„[…] dass die Shoah und andere<br />
NS-Verbrechen in einer<br />
Form gezeigt werden, die die<br />
Opfer nicht weiter erniedrigt.“<br />
Monika Sommer<br />
verstehen wir die Qualität von<br />
Testimonies, wenn wir sie auf<br />
diese Message-Funktion reduzieren.<br />
Zeitzeugen und -zeuginnen<br />
sind zuallererst Menschen,<br />
wir können sie nicht unter allen<br />
Umständen für immer am Leben<br />
erhalten.“ Aufgenommene Zeugnisse<br />
in Form von Video- und Audiointerviews<br />
hätten einen Anfang und ein Ende. Im Gegensatz<br />
zu Versuchen interaktiver Konservierung<br />
von Zeitzeugenberichten – etwa in<br />
Form von Hologrammen durch die USC<br />
Shoah Foundation, aber auch durch das<br />
Münchner Projekt LediZ, für die Zeitzeugen<br />
viele Fragen beantworteten, die dann interaktiv<br />
abgerufen werden können – würden<br />
Videointerviews nicht eine „Illusion<br />
der Unsterblichkeit“ vermitteln.<br />
Besonders sichtbar wurde der Umbruch<br />
von den mündlichen Zeugnissen<br />
hin zu aufgezeichnetem Material für Marianne<br />
Windsperger, wissenschaftliche Mitarbeiterin<br />
am Wiener Wiesenthal Institut<br />
für Holocaust-Studien (VWI), im Stück Die<br />
letzten Zeugen, einem Projekt des Historikers<br />
und Schriftstellers Doron Rabinovici und<br />
des damaligen Burgtheaterdirektors Matthias<br />
Hartmann. Inszeniert worden sei dieser<br />
Übergang in dem Stück dadurch, dass<br />
Zeitzeuginnen und -zeugen noch auf der<br />
Bühne anwesend waren (die Premiere war<br />
im Oktober 2013), aber auch das Aufschreiben<br />
und Wiederlesen habe eine Rolle gespielt,<br />
so Windsperger.<br />
Bald werden in der Holocaust Education<br />
nur mehr gespeicherte Erinnerungen zum<br />
Einsatz kommen können. Die neuen Medien<br />
würden hier Chancen in der Vermittnung<br />
mit Überlebenden von Audiovisuals<br />
unterscheidet, ist die Ko-Präsenz mit einem<br />
Menschen, der seine Erfahrungen mit<br />
uns teilt, uns durch seine Person, seine Art<br />
des Erzählens unmittelbar berührt. Das ist<br />
ein Momentum, das nicht wiederholt werden<br />
kann.“<br />
Uhl beobachtet zudem einen neuen<br />
Trend: Zuletzt habe das Interesse für die<br />
historischen Orte der NS-Verbrechen erkennbar<br />
zugenommen. Das machte auch<br />
sichtbar, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus<br />
nicht allein in weit entfernten<br />
Orten, hinter Lagermauern und Stacheldraht<br />
zu verorten sind, sondern mitten in<br />
der eigenen Gesellschaft. Sie nennt dabei<br />
die Sammellager in Wien, in denen mehr<br />
als 46.500 österreichische Juden und Jüdinnen<br />
1941 und 1942 vor ihrer Deportation<br />
vom Aspangbahnhof aus interniert worden<br />
waren, als Beispiel. Derzeit erarbeite das<br />
Bundesdenkmalamt eine Karte mit NS-<br />
Opferorten, auf der mehr als 2.000 Orte<br />
eingezeichnet seien. „Die historischen Orte<br />
werden nun verstärkt zu Orten der Weitergabe<br />
der Berichte, die wir den Zeitzeugen<br />
und -zeuginnen verdanken.“<br />
Stephen Naron vom Fortunoff Video Archive<br />
for Holocaust Testimonies gibt allerdings<br />
zum Beklagen des Verschwindens<br />
der Zeitzeugen auch zu bedenken: „Das<br />
Heraufbeschwören des Endes der Zeitzeugenschaft<br />
geht Hand in Hand mit der Aufrufung<br />
der Überlebenden als moralische<br />
Instanz.“ In Zeiten, in denen gesellschaftliche<br />
Übereinkünfte ins Wanken geraten<br />
würden oder wir Krisen durchleben, würden<br />
Zeitzeugen umso mehr zu einer moralischen<br />
Autorität erklärt. „Vielleicht misslung<br />
bringen, meint Naron, er warnt aber<br />
auch vor fragwürdigen Formen der Vermittlung<br />
und kritisiert eben die Form der<br />
Hologramme. Das Fortunoff Archive, das<br />
mit dem VWI an gemeinsamen Projekten<br />
arbeitet, setze hier vor allem auf eine Podcast-Serie.<br />
„Wir haben die Erfahrung gemacht,<br />
dass das Podcast-Hören eine sehr<br />
intime Form der Begegnung mit den Testimonies<br />
ermöglicht.“<br />
Inhaltlich sieht Naron zwei Entwicklungen:<br />
die Tendenz, die Geschichte des Holocaust<br />
zu universalisieren, und die Tendenz,<br />
den Holocaust als Ereignis in der jüdischen<br />
Geschichte zu verstehen.<br />
„Wichtig erscheint mir, dass heute der<br />
Holocaust auf lokaler, nationaler und mikrogeschichtlicher<br />
Ebene verstanden und<br />
erzählt werden soll, auch dazu bieten Testimonials<br />
eine gute Gelegenheit“, so Naron.<br />
Wenn man nach Europa blicke, müsse<br />
man sagen, Deutschland habe sich mit seiner<br />
Geschichte auseinandergesetzt, in Polen<br />
und Ungarn sehe das anders aus.<br />
„Holocaustgeschichte und ihre Vermittlung<br />
leben zu einem großen Teil von und<br />
sterben mit der Bereitschaft und Offenheit,<br />
mit schweren Teilen der eigenen Geschichte<br />
umzugehen – dafür braucht man<br />
eine starke Zivilgesellschaft. Holocaustpädagogik<br />
kann diese real world problems<br />
nicht überwinden.“<br />
Quelle: KZ-Gedenkstätte Mauthausen<br />
wına-magazin.at<br />
9<br />
November.indb 9 15.11.2021 11:23:20
Müssen uns beeilen<br />
Erinnerungen eines<br />
Widerständigen<br />
Ernst Fettner konnte der<br />
Ermordung durch die Nationalsozialisten<br />
durch Emigration nach<br />
Großbritannien entgegen.<br />
Österreich blieb ihm aber wichtig.<br />
Gemeinsam mit anderen wollte er<br />
für ein freies Österreich kämpfen<br />
– auch mit Waffen. Kurz nach seinem<br />
100. Geburtstag legte Fettner<br />
nun mit dem Buch „Geh’ du<br />
voran. Ein Jahrhundert“ seine<br />
Lebenserinnerungen vor, die zeigen:<br />
Auch wenn Zeitzeugen oft vor<br />
allem nach ihren Erlebnissen in der<br />
NS-Zeit befragt werden,<br />
ging ihr Leben weiter.<br />
Ernst Fettner:<br />
„Geh’ du voran.“<br />
Ein Jahrhundert.<br />
Hg. v. Jana Waldhör,<br />
CLIO 2021,<br />
184 S., 25 €<br />
Text & Foto: Alexia Weiss<br />
Ernst Fettner, den ich Ende September<br />
noch in seiner Wohnung besuchen<br />
konnte, bevor er nächtens<br />
stürzte und sich ein Bein brach, macht<br />
genau das klar: Ja, er sei Zeitzeuge, aber<br />
eben nicht nur. Gerne erzählt er aus seinen<br />
Kinder- und Jugendtagen, die er großteils<br />
in einem jüdischen Waisenhaus in<br />
Baden verbrachte, über seine Lehrzeit in<br />
Wien, seine Verhaftung nach der Machtübernahme<br />
durch die Nationalsozialisten,<br />
über seine Jahre in England und sein Engagement<br />
bei „Young Austria“ und wie es<br />
ihm dort gelang, Teil der britischen Armee<br />
zu werden, als Soldat der Alliierten in der<br />
Normandie zu landen und später zunächst<br />
in Deutschland, dann in Kärnten als Besatzungssoldat<br />
eingesetzt zu sein.<br />
Wichtig ist ihm aber auch all das, was<br />
nach 1945 passierte: seine Laufbahn als<br />
Journalist zunächst beim Volkswille in Klagenfurt,<br />
dann bei der Volksstimme in Wien<br />
– beides Medien der KPÖ. Seine Mitgliedschaft<br />
in der kommunistischen Partei.<br />
Seine Gewerkschaftsarbeit. Sein Leben<br />
mit seiner ersten Frau und Mutter seiner<br />
beiden Söhne, die jedoch recht früh an<br />
Krebs verstarb, seine Ehe mit seiner zweiten<br />
Frau, mit der er schließlich sogar Goldene<br />
Hochzeit feiern sollte.<br />
All das hat Fettner nun in dem Buch Geh’<br />
du voran. Ein Jahrhundert festgehalten. Der<br />
Band entstand in Zusammenarbeit mit<br />
Jana Waldhör vom Literaturhaus Wien. Er<br />
enthält neben den Erinnerungen viele Familienfotos,<br />
Dokumente, aber auch Briefe<br />
aus der NS-Zeit, darunter das letzte Schreiben<br />
des Vaters an seinen Sohn vom 27. August<br />
1939. Der Vater sollte schließlich im<br />
KZ Dachau sterben, die Stiefmutter und<br />
„[...] nach Jahrzehnten wird<br />
mir intensiv bewusst, was<br />
alle zu Tode gebrachten Angehörigen<br />
versäumt haben.“<br />
Ernst Fettner<br />
zwei seiner Halbgeschwister wurden nach<br />
Maly Trostinec deportiert und dort ermordet.<br />
Die Mutter war noch in seiner Kindheit<br />
an der Grippe verstorben, die ältere<br />
Schwester konnte sich nach Palästina retten,<br />
die jüngste Halbschwester gelangte<br />
mit einem Kindertransport nach England.<br />
Abgedruckt finden sich in dem Band<br />
auch Auszüge des Mailverkehrs zwischen<br />
Waldhör und Fettner: Sie bringen eine<br />
neue, sehr reflektierende Ebene in diese<br />
Erinnerungen. So schrieb er etwa nach<br />
Durchsicht der Fotos an Waldhör: „Insbesondere<br />
die Originale emotionalisieren<br />
auch nach vielen Jahren stark. Gerade<br />
auch nach Jahrzehnten wird mir intensiv<br />
bewusst, was alle zu Tode gebrachten Angehörigen<br />
versäumt haben, ein Leben, wie<br />
ich es geführt habe, in ähnlichen Bahnen<br />
verlaufend, in Freiheit nämlich. Es erweckt<br />
zudem ein schlechtes Gewissen, nicht genug<br />
getan zu haben, um diese Menschen<br />
zu retten.“ Und ein anderes Mal, im März<br />
2020: „Soeben erfahre ich, dass einer meiner<br />
ältesten Mitkämpfer, Hans Klamper,<br />
in der Nacht auf heute gestorben ist. Er<br />
wird schon morgen bestattet, Zentralfriedhof<br />
Tor 4/Jüdischer Friedhof. Er war mein<br />
Jahrgang, auch ein Mai-Kind. Ein Schock<br />
für mich. Ich dürfte nun einer der ältesten<br />
Mohikaner der englisch-österreichischen<br />
Jugendemigration sein. Was bedeutet das<br />
für uns? Ein Geschichterl mehr oder weniger,<br />
aber vor allem: now or never. Wir<br />
müssen uns beeilen.“<br />
Beeilt haben sich Fettner und Waldhör,<br />
und so erschien nun im Herbst dieses<br />
Buch, das sich ein bisschen wie ein Fotoalbum<br />
mit vielen, vielen hinzugefügten Erläuterungen,<br />
Erklärungen, Ergänzungen<br />
anfühlt. Hier erzählt ein Zeitzeuge<br />
nicht nur, was er erlebt<br />
hat, er lässt einen auch teilhaben<br />
an seinen Gedanken, seiner<br />
politischen Entwicklung,<br />
seinen persönlichen Familienmomenten,<br />
seinen Leidenschaften.<br />
Eine davon war, Österreich<br />
wieder als freies Land<br />
zu sehen.<br />
10<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 10 15.11.2021 11:23:20
Wenn nur die<br />
Abschiedsbilder bleiben<br />
EAufgewachsen in Łódź in einer<br />
nicht besonders religiösen, dafür<br />
sehr bildungsorientierten Familie<br />
– Marischa besuchte das Gymnasium<br />
–, war sie wie so<br />
viele andere Jüdinnen<br />
und Juden auch mit der<br />
Machtübernahme der<br />
Nazis mit einem völligen<br />
Bruch ihres Lebens<br />
konfrontiert. Die Übersiedlung<br />
ins Ghetto war<br />
dabei der erste Schock,<br />
das Leben dort geriet zu<br />
einem tagtäglichen Überlebenskampf.<br />
Der jüngere Bruder sollte dort schließlich<br />
verhungern, der Vater in ein KZ abgeholt<br />
werden, der ältere Bruder war da<br />
bereits verschollen, so blieben nur Marischa<br />
und ihre Mutter. Doch auch der<br />
Mutter ging es immer schlechter.<br />
Als schließlich die beiden Frauen<br />
in das KZ Auschwitz deportiert wurden,<br />
überlebten sie zwar beide noch<br />
den Transport (andere starben bereits<br />
im Zug), doch nach der Ankunft wurde<br />
die Mutter in der Gaskammer ermordet,<br />
während die Tochter für einen Weitertransport<br />
zu einem Arbeitseinsatz ausgesucht<br />
wurde. „Da sagte sie zu mir, und<br />
wahrscheinlich wusste sie, dass sie das<br />
nicht mehr schafft, da sagte sie noch zu<br />
mir: ‚Du wirst das schaffen.‘ Das waren<br />
ihre letzten Worte. Und ihr war klar, dass<br />
sie nach links geht und ich nach rechts.<br />
[...] Und ich kann nicht sagen, ob ich vielleicht<br />
die Kraft hätte finden müssen, mit<br />
ihr zu gehen ... Damit sie nicht allein ist<br />
bei der Vergasung.“<br />
Interessant ist, wie Maria König im<br />
Gespräch mit Antje Leetz schildert, dass<br />
sie von ihren Lieben immer nur das Bild<br />
des Abschieds im Kopf hat. Die Mutter ihrer<br />
Kindheitstage ist aus dem Gedächtnis<br />
verschwunden, was blieb war die kranke,<br />
abgemagerte Mutter, die kurz darauf ermordet<br />
werden sollte. Den kleinen Bruder<br />
behielt sie nur auf dessen Sterbebett<br />
in Erinnerung, den Vater in jenem Moment,<br />
da er abgeholt wurde.<br />
„‚Du wirst das schaffen.‘<br />
Das waren ihre letzten Worte.<br />
Und ihr war klar, dass sie<br />
nach links geht und ich nach<br />
rechts.“ Maria König<br />
Gleichzeitig schildert sie, wie sie ihr<br />
Leben gelebt und ihr Augenmerk dabei<br />
immer auf das Hier und Jetzt gerichtet<br />
hat: ihre Ehe, ein paar Jahre in New York,<br />
die allerdings hart und beschwerlich waren,<br />
die Rückkehr nach Europa und dabei<br />
bewusst in die DDR, die Möglichkeit dort,<br />
zu studieren, zu arbeiten, sowohl für ihren<br />
Mann wie auch sie, die Geburt und<br />
das Aufwachsen ihres Sohnes, mit dem<br />
die Eltern wenig über die NS-Zeit sprachen.<br />
Schöne, traurige, jedenfalls aber<br />
interessante Einsichten und Ansichten<br />
aus einem langen Leben, das durch die<br />
Shoah eine jähe Zäsur fand – auf so vielen<br />
Ebenen.<br />
Maria König (1921–2019),<br />
genannt Marischa, gehörte zu jenen<br />
Shoah-Überlebenden, die weit<br />
über 90 Jahre alt wurden. Nachdem<br />
ihr Mann, ebenfalls ein Überlebender,<br />
gestorben war, suchten<br />
sie immer öfter Albträume heim.<br />
Das, was sie ein Leben lang zur<br />
Seite geschoben hatte, kam nun<br />
verstärkt wieder hoch. In vielen<br />
Gesprächen erzählte sie der Rundfunkautorin<br />
und Herausgeberin<br />
Antja Leetz aus ihrem Leben, aber<br />
auch, was sie im Hier und Jetzt bewegte.<br />
Diese Erinnerungen sind<br />
nun unter dem Titel „Marischa –<br />
mehr als ein Wunder“ im Wallstein<br />
Verlag erschienen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
Maria König/Antje Leetz<br />
(Aufzeichnung):<br />
Marischa – mehr als ein Wunder.<br />
Eine Überlebensgeschichte.<br />
Wallstein 2021,<br />
144 S., 20,95 €<br />
© Wallstein Verlag<br />
wına-magazin.at<br />
11<br />
November.indb 11 15.11.2021 11:23:20
Neuer Grad der Verfolgung<br />
„... ich bin verurteilt, so<br />
aus der Welt zu gehen ...“<br />
An jene dunkle Zeit, als der Tod<br />
als einziger Ausweg für zumindest<br />
1.088 Wiener Jüdinnen<br />
und Juden erschien, erinnerten<br />
die Misrachi, das Wiener<br />
Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien<br />
und das Dokumentationsarchiv<br />
des österreichischen<br />
Widerstandes am<br />
8. November mit einem Symposium<br />
und einer Gedenkveranstaltung.<br />
Mit der öffentlichen<br />
Verlesung „Das Echo der<br />
Namen“ vor dem Mahnmal auf<br />
dem Judenplatz wurde ihrer<br />
zum Abschluss gemeinsamen<br />
gedacht.<br />
Von Alexia Weiss<br />
as Dokumentationsarchiv<br />
des österreichischen Widerstandes<br />
hat vor vielen Jahren aus Quellen wie den<br />
Sterbebüchern der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
(IKG) Wien, den Deportationskarteien<br />
sowie Friedhofskarteien die<br />
Namen von Juden und Jüdinnen zusammengetragen,<br />
die sich in der Zeit des NS-<br />
Terrorregimes zwischen 1938 und 1945<br />
in Österreich das Leben nahmen. Blättert<br />
man heute durch diese Aufstellung,<br />
liest sich das wie ein Tagebuch der Verzweiflung:<br />
„Selbstmord durch Schlafmittel“,<br />
„Selbstmord durch Sprung aus dem<br />
Fenster“, „Selbstmord durch Erschießen“,<br />
„Selbstmord durch Ertrinken“, „Selbstmord<br />
durch Zyancalivergiftung“ – und<br />
auffällig oft findet sich hier eben die Beschreibung<br />
„Selbstmord durch Leuchtgasvergiftung“.<br />
Dabei handelt es sich um<br />
eine Kohlengasvergiftung.<br />
Der österreichisch-israelische Historiker<br />
Herbert Rosenkranz (1924–2003) widmete<br />
den Selbstmorden von Juden und<br />
Jüdinnen 1978 ein Kapitel in seinem Buch<br />
Verfolgung und Selbstbehauptung der Juden in<br />
Österreich 1938–1945. Darin berichtet er<br />
auch über die Außenwahrnehmung dieses<br />
Phänomens und zitiert etwa die New<br />
York Times, die am 23. März 1938 berich-<br />
Kolisch Eva,<br />
geb. 5.7.1888, letzte Adresse:<br />
Wien 2, Große Pfarrgasse 4,<br />
Selbstmord durch<br />
Leuchtgasvergiftung<br />
am 20. März 1938<br />
Kohut Max,<br />
geb. 16.5.1875, letzte Adresse:<br />
Wien 7, Seidengasse 25,<br />
Selbstmord durch<br />
Erhängen<br />
am 17. März 1938<br />
Sonnenfeld Elfriede,<br />
geb. 3.12.1894, letzte Adresse:<br />
Wien 6, Mariahilfer Straße 126,<br />
Selbstmord durch<br />
Leuchtgasvergiftung<br />
am 15. März 1938<br />
© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />
12<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 12 15.11.2021 11:23:23
Reibpartie als spezielle Form der Demütigung: Jüdische Bürgerinnen und<br />
Bürger wurden gezwungen, die Straßen zu schrubben. Teile der Bevölkerung<br />
standen dabei und sahen zu – März 1938.<br />
© Votava / Imagno / picturedesk.com<br />
tete: „Eines wird nun klar: Während in<br />
Deutschland die ersten Opfer der Nazis<br />
Linksparteien waren – Sozialisten und<br />
Kommunisten –, sind es in Wien die Juden,<br />
die in erster Linie unter dem revolutionären<br />
Angriff der Nazis zu leiden haben.<br />
In 14 Tagen ist es gelungen, die Juden<br />
einem unendlich härteren Regime zu unterwerfen,<br />
als es in Deutschland in einem<br />
Jahr erreicht wurde. Deshalb ist die<br />
tägliche Liste von Selbstmorden so lang,<br />
denn die Juden sind schutzlos Verhaftung,<br />
Plünderung, Beraubung ihres Lebensunterhalts<br />
und der Wut des Mobs<br />
ausgesetzt.“<br />
Pogromartige Zustände. Der britische<br />
Journalist George Eric Rowe Gedye wiederum<br />
hielt zu den Vorgängen im März<br />
1938 laut Rosenkranz fest: „Von all den<br />
Schrecken, denen Juden, österreichische<br />
Patrioten und österreichische Demokraten<br />
– eigentlich alle Nicht-Nazis – seit<br />
dem 11. März ausgesetzt waren, ist Diebstahl<br />
und Raub der kleinste. Ich glaube<br />
nicht, dass ich nach einigen Tagen irgendwelche<br />
Klagen oder Ängste darüber<br />
von Juden hörte; es wurde eben als unabwendbar<br />
angenommen. Viel entsetzlicher<br />
jedoch war die Selbstverständlichkeit, mit<br />
der jede jüdische Familie nunmehr den<br />
Selbstmord von Familienmitgliedern als<br />
ein normales und natürliches Ereignis<br />
hinnahm. Es war einfach unmöglich, irgendjemandem<br />
außerhalb Österreichs<br />
verständlich zu machen, mit welcher resignierter<br />
Sachlichkeit die österreichi-<br />
schen Juden damals von Selbstmord als<br />
einem alltäglichen Ausweg aus ihrer entsetzlichen<br />
Lage sprachen.“<br />
Unter den Menschen, die Suizid begangen,<br />
waren auch prominente Namen. Der<br />
Historiker Tim Corbett nennt hier etwa<br />
Egon Friedell, der sich vor der drohenden<br />
Festnahme durch SA-<br />
Männer am 16. März 1938<br />
durch einen Sprung aus<br />
dem Fenster entzog. Corbett<br />
veröffentlichte heuer<br />
das über 1.000 Seiten umfassende<br />
Werk Die Grabstätten<br />
meiner Väter. Die jüdischen<br />
Friedhöfe in Wien. Aktuell arbeitet<br />
er sich durch Memoiren<br />
jüdischer Österreicher,<br />
die geflüchtet sind, verrät er im Gespräch<br />
mit WINA. Und auch in diesen Aufzeichnungen<br />
kommen ihm immer wieder Berichte<br />
über Selbstmorde unter.<br />
Selbstmorde im Jahr 1938 würden eher<br />
rund um das Novemberpogrom vermutet,<br />
sagt Corbett. „Aber in Wien gab es eben<br />
schon im März pogromartige Zustände.“<br />
Shoshana Duizend-Jensen, Historikerin<br />
im Wiener Stadt- und Landesarchiv, erinnert<br />
zudem an eine zweite Welle von<br />
Selbstmorden – und zwar 1941/1942, als<br />
Menschen in die Sammellager im zweiten<br />
Bezirk einberufen wurden, von denen aus<br />
sie schließlich deportiert werden sollten.<br />
Da habe sich etwa 1941 eine Elsa Winter<br />
durch die Einnahme von Schlaftabletten<br />
getötet. Im selben Jahr habe eine andere<br />
„In 14 Tagen ist es gelungen, die<br />
Juden einem unendlich härteren<br />
Regime zu unterwerfen, als<br />
es in Deutschland in einem Jahr<br />
erreicht wurde.“ New York Times<br />
Jüdin, Amalie Flaschner, versucht, sich<br />
im Sammellager das Leben zu nehmen<br />
– auch sie verwendete Schlafmittel und<br />
verstarb schließlich im Rothschild-Spital.<br />
Corbett betont zudem, dass ab 1941<br />
auch Nicht-Glaubensjuden, darunter<br />
oftmals Menschen, die von den Nazis einer<br />
Mischlingskategorie zugeordnet wurden,<br />
durch das verpflichtende Tragen des<br />
gelben Sterns als Juden identifiziert werden<br />
konnten. Das sei ein neuer Grad der<br />
Verfolgung gewesen. Und auch Menschen,<br />
die eben erst durch diese äußere<br />
Zuschreibung zu Juden wurden, wählten<br />
nun vermehrt den Freitod. Corbett schildert<br />
hier das Beispiel eines Offiziers, der<br />
im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, ein<br />
Gegner der Nazis war, einen jüdischen<br />
Großelternteil hatte und sich schließlich<br />
das Leben nahm, um seiner eigenen Verfolgung<br />
zuvorzukommen. Spannend findet<br />
der Historiker in diesem Zusammenhang,<br />
dass offenbar doch viele Menschen<br />
wussten, was sonst auf sie zugekommen<br />
wäre.<br />
wına-magazin.at<br />
13<br />
November.indb 13 15.11.2021 11:23:25
Experimentierfeld<br />
Während die Nationalsozialisten<br />
in Deutschland ab 1933<br />
nach und nach ihre Juden und<br />
Jüdinnen ausgrenzende und<br />
verfolgende Politik entwickelten,<br />
ging in Wien alles Schlag<br />
auf Schlag: Nach der Eingliederung<br />
Österreichs ins Deutsche<br />
Reich im März 1938 erleidete<br />
die jüdische Bevölkerung sofort<br />
Ausgrenzung und Verfolgung –<br />
die Pogrome in Wien zeigten ein<br />
bis dahin beispielloses Gewaltpotenzial<br />
in der Gesellschaft.<br />
Von Alexia Weiss<br />
SS-Sperrposten bei Hitlers Ankunft in Wien. Es<br />
wird greifbar, wie willkommen in Österreich die judenfeindliche<br />
Politik der Nazis war.<br />
© ÖNB, Bildarchiv und Grafiksammlung; Lorenz Paulus/hdgö<br />
14<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 14 15.11.2021 11:23:29
ALS IN WIEN<br />
DIE RADIKALISIERUNG<br />
ERPROBT WURDE<br />
Einen passenderen Ort für<br />
diese Ausstellung hätte man<br />
nicht finden können: Bis 10.<br />
Dezember ist am Heldenplatz<br />
die Freiluftschau Das<br />
Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich<br />
und die Shoah zu sehen. Das gemeinsame<br />
Projekt vom Haus der Geschichte Österreich,<br />
der Österreichischen Akademie<br />
der Wissenschaften (ÖAW) und des Instituts<br />
für Zeitgeschichte der Universität<br />
Wien nimmt sich kein Blatt vor den<br />
Mund. Hier wird greifbar, wie willkommen<br />
in Österreich die judenfeindliche<br />
Politik der Nazis war.<br />
Adolf Eichmann richtete im von den<br />
Nationalsozialisten zuvor enteigneten<br />
Wiener Palais Rothschild die „Zentralstelle<br />
für jüdische Auswanderung“ ein.<br />
Im ersten Schritt ihrer Verfolgungspolitik<br />
wollten die Nazis so viele Juden wie möglich<br />
dazu bringen, das Land zu verlassen.<br />
Von den etwas mehr als 200.000 österreichischen<br />
Juden und Jüdinnen verließen<br />
innerhalb eines Jahres mehr als 100.000<br />
das Land. In Eichmanns „Zentralstelle“<br />
wurde darauf geschaut, dass sie möglichst<br />
wenig Hab und Gut mitnehmen<br />
konnten. Sowohl Enteignung wie auch<br />
Vertreibung wurden hier effizient organisiert.<br />
Eichmann sollte das nicht zum<br />
Nachteil gereichen. Sein „Wiener Modell“<br />
hinterließ Eindruck, er wurde in das<br />
Reichssicherhauptamt in Berlin berufen.<br />
Wien 1938. Im<br />
ersten Schritt ihrer<br />
Verfolgungspolitik<br />
wollten die Nazis so Wie Vieh in den Zug. Die „Zentralstelle“<br />
viele Juden wie möglich<br />
dazu bringen, wurde indessen zum Schalthebel in der<br />
das Land zu verlassen.<br />
Von den etwas ging es darum, Juden und Jüdinnen in<br />
nächsten Stufe der Verfolgung: Ab 1941<br />
mehr als 200.000 ein Lager oder – wie etwa im Fall der<br />
österreichischen<br />
Transporte in Vernichtungsstätten wie<br />
Juden und Jüdinnen<br />
verließen innerhalb Maly Trostinec – zum Ort ihrer sofortigen<br />
Ermordung zu verbringen. In Wien<br />
eines Jahres mehr als<br />
100.000 das Land. wurde dabei die Abwicklung dieser De-<br />
hdgoe.at/wiener_modell_der_radikalisierung<br />
portationszüge erprobt, die Stadt sollte<br />
als erste im nationalsozialistischen Unrechtsstaat<br />
„judenrein“ werden. Menschen,<br />
die hier aus rassischen Gründen<br />
nicht mehr erwünscht waren, wurden<br />
zunächst in eigens eingerichteten Sammellagern<br />
im zweiten Bezirk interniert.<br />
Dann wurden immer rund 1.000 Personen<br />
am Aspangbahnhof wie Vieh in einen<br />
Zug verladen, in dem sie dann unter<br />
menschenunwürdigen Bedingungen<br />
ihre meist letzte Reise antraten.<br />
Fünf solcher Transporte organisierte<br />
die Wiener Zentralstelle im Februar<br />
und März 1941. Das Modell schien sich<br />
aus Sicht der Nationalsozialisten zu bewähren.<br />
Im Oktober 1941 begannen die<br />
reichsweiten Transporte vom Aspangbahnhof<br />
aus und ging in das Ghetto in<br />
Łódź. Der erste von ihnen startete am 15.<br />
Oktober 1941 und damit vor 80 Jahren.<br />
Von den rund 1.000 an diesem Tag deportierten<br />
Menschen überlebten schließlich<br />
nur einige wenige.<br />
Ohne etwas zu beschönigen führen die<br />
Kuratorinnen dieser Ausstellung, Michaela<br />
Raggam-Blesch, Heidemarie Uhl und<br />
Isolde Vogel, vor, wie Wien als Motor der<br />
In Wien wurde die Abwicklung der Deportationszüge<br />
erprobt, die Stadt sollte als erste im nationalsozialistischen<br />
Unrechtsstaat „judenrein“ werden.<br />
Radikalisierung des Antisemitismus im<br />
NS-Staat fungierte. Österreich wurde<br />
zum Experimentierfeld nationalsozialistischer<br />
Verfolgungspolitik. Das just an<br />
jenem Platz zu thematisieren, an dem<br />
Adolf Hitler nach dem Einmarsch der NS-<br />
Truppen in Österreich jubelnd empfangen<br />
wurde, ist nicht nur stimmig. Eine<br />
solche Ausstellung im öffentlichen Raum<br />
bringt dieses Narrativ, das den Opfermythos<br />
schon lange hinter sich gelassen hat,<br />
vielleicht auch näher an jene Menschen,<br />
die sich normalerweise nicht eingehend<br />
mit Zeitgeschichte befassen.<br />
wına-magazin.at<br />
15<br />
November.indb 15 15.11.2021 11:23:34
Quadrate aus Messing<br />
Acht Stolperstseine, verlegt vor dem ehemaligen Salzburger Polizeigefängnis,<br />
gedenken an acht Frauenschiksale, die unterschiedlicher nicht sein könnten.<br />
„Es begann mit<br />
Denunziation<br />
und endete<br />
mit der<br />
Ermordung“<br />
In der Stadt Salzburg wurden<br />
bisher 477 Stolpersteine<br />
zur Erinnerung an NS-<br />
Opfer verlegt. Jüngst für acht<br />
Frauen vor dem ehemaligen<br />
Polizeigefängnis.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
* Persönliche Anmerkung der Autorin: Einziger<br />
Schandfleck dieses wichtigen Projektes ist die Tatsache,<br />
dass die Erinnerungsschilder auf dem Trottoir<br />
und vor Haustoren verlegt sind, wo man unweigerlich<br />
auf sie „treten und beschmutzen“ muss.<br />
Das ist ein trauriger Kompromiss, der wegen der<br />
Eigentumsverhältnisse eingegangen wurde.<br />
Viel zu leise und bescheiden<br />
heißt es: „Einladung zur Verlegung<br />
von acht Stolpersteinen<br />
für Frauen vor dem ehemaligen<br />
Salzburger Polizeigefängnis.“ Denn<br />
hinter dieser lakonischen Ankündigung<br />
verbirgt sich Erfreuliches und Erschütterndes:<br />
1. ein bedeutendes Erinnerungsprojekt,<br />
das vom Dachverband Salzburger<br />
Kulturstätten betreut wird, und 2. acht<br />
ergreifende Frauenschicksale, die unterschiedlicher<br />
nicht sein könnten – aber<br />
trotzdem die dramatische Verfolgung und<br />
Vernichtung durch die Nationalsozialisten<br />
gemeinsam haben. Diese acht Frauen,<br />
derer Ende Oktober durch die Verlegung<br />
von quadratischen Messingplatten mit<br />
ihrem Namen gedacht wurde, waren katholisch,<br />
jüdisch, aufmüpfig, widerständisch<br />
oder nur ehrlich zu sich selbst.<br />
Unter dem talmudischen Motto Ein<br />
Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen<br />
ist steht dieses Projekt des deutschen<br />
Künstlers Gunter Deming, das bereits<br />
seit 1996 in ganz Europa ein Begriff<br />
ist. Im Jahr 2007 hat eine überparteiliche<br />
Plattform von über 400 Personen – mit<br />
Unterstützung der Stadt Salzburg – dieses<br />
international beachtete Erinnerungswerk<br />
an die Salzach gebracht, wo bereits<br />
477 Stolpersteine verlegt wurden.* „Unser<br />
Anliegen ist es, gegen das Vergessen<br />
zu arbeiten“, schreibt Thomas Randisek,<br />
der sich gemeinsam mit Ingeborg Haller<br />
und Gert Kerschbaumer dafür engagiert.<br />
„Es geht darum, die Erinnerung an<br />
die Vertreibung und Vernichtung von Juden,<br />
Roma und Sinti, politisch Verfolgten,<br />
Homosexuellen, Zeugen Jehovas und<br />
Menschen mit Beeinträchtigungen und<br />
psychischen Erkrankungen im Nationalsozialismus<br />
lebendig erhalten.“<br />
Das Projekt finanziert sich über die<br />
private Initiative in Form von jährlich finanzierten<br />
Patenschaften, die einzelne<br />
Menschen für die individuellen Stolpersteine<br />
übernehmen, und den engagierten<br />
Einsatz zahlreicher Bürger der Stadt,<br />
Historiker und Wissenschafter, Künstler<br />
(u. a. Karl-Markus Gauß, Vladimir Vertlib),<br />
Politiker aus allen Parteien (u. a. Gabi<br />
Burgstaller), Wirtschaftstreibende (u. a.<br />
Wilhelm Hemetsberger).<br />
Annas Todesurteil. Anna Schneider, 1900<br />
in Hallein geboren und getauft, war das<br />
älteste von sechs Kindern des Zollwachebeamten<br />
Josef Schneider. Dokumentiert<br />
ist, dass sie am 25. April 1944 vom Volksgerichtshof<br />
wegen „Zersetzung der Wehrkraft“<br />
zum Tode verurteilt und am 9. Juni<br />
1944 in Berlin-Plötzensee enthauptet<br />
wurde. Anna Schneider, die eine Hauptund<br />
Handelsschule besucht hatte, arbeitete<br />
als Hotelangestellte zuletzt in Zell am<br />
See. Dort wurde sie wegen kritischer Äußerungen<br />
gegen das kriegsführende Nazi-<br />
Regime denunziert und von der Gestapo<br />
Salzburg verhaftet. Sie wurde nicht in<br />
Salzburg vor Gericht gestellt, sondern<br />
nach Berlin, den Sitz des Volksgerichtshofes,<br />
deportiert.<br />
© Screenshot/Salzburger Stolpersteine; stolpersteine-salzburg.at<br />
16<br />
wına | November 2021<br />
November.indb 16 15.11.2021 11:23:34
477 Stolpersteine entlang der Salzach,<br />
initiiert von einer überparteilichen Plattform,<br />
unterstützt von der Stadt Salzburg.<br />
© Screenshot/Salzburger Stolpersteine; stolpersteine-salzburg.at<br />
Wie jüngste Forschungen belegen, gehörte<br />
Schneider zu den 182 Exekutionsopfern,<br />
die auf einer Liste des Anatomen<br />
Dr. Hermann Stieve standen. Unter dem<br />
NS-Regime betrieb der Arzt in der Berliner<br />
Charité spezielle Experimente an<br />
weiblichen Geschlechtsorganen. Dennoch<br />
konnte Doktor Stieve nach 1945<br />
seine Karriere unbehelligt fortsetzen, zuletzt<br />
in Ost-Berlin als Träger des Nationalpreises<br />
der DDR.<br />
den, ist dokumentiert, dass die 19-jährige<br />
Anna Ferfolja aus slowenisch Gorizia, die<br />
21-jährige Alida Miniussi aus Monfalcone<br />
und die 44-jährige Slowenin Angela Fumeo<br />
als politische Häftlinge am 30. Jänner<br />
1944 aus Triest verschickt wurden.<br />
Das gewaltsame Ende der Partisaninnen<br />
ist ungeklärt, da die SS vor der Befreiung<br />
des KZ Ravensbrück am 30. April 1945 alle<br />
Zeugnisse ihrer Verbrechen inklusive des<br />
Totenbuchs vernichtete.<br />
Die Geschichte der drei Italienerinnen<br />
steht weiter unten auf der Liste der mörderischen<br />
Verbrechen Globocniks: Nach<br />
dem „Anschluss“ Österreichs agierte er<br />
einige Monate als Gauleiter in Wien und<br />
war maßgeblich für die Judenverfolgung<br />
mitverantwortlich. Infolge der deutschen<br />
Besetzung Polens wurde er SS- und Polizeiführer<br />
im Distrikt Lublin, im Generalgouvernement<br />
unterstanden ihm<br />
die Vernichtungslager Belzec, Sobibor<br />
und Treblinka. Ende Mai 1945 nahmen<br />
ihn Angehörige der britischen Armee<br />
in Kärnten fest; nach seinem<br />
ersten Verhör beging<br />
er Selbstmord.<br />
Unter den acht Frauen,<br />
in deren Gedenken am Rudolfsplatz<br />
3 Namensplatten<br />
verlegt wurden, sind auch<br />
zwei Jüdinnen: Am 28. November<br />
1943 ließ die Gestapo<br />
Salzburg Regine und<br />
Federica Verschleisser, Mutter<br />
und Tochter, vom Polizeigefängnis<br />
der Stadt Salzburg nach Auschwitz<br />
deportieren. Beide wurden in diesem<br />
Vernichtungslager ermordet. Erwiesen ist<br />
ferner, dass Adolfo Verschleisser, Ehemann<br />
und Vater der beiden, im KZ Dachau<br />
zu Tode kam. „Mitglieder der Familie<br />
Verschleisser suchten wir allerdings<br />
vergeblich unter den Terroropfern, die<br />
in der 1991 publizierten Dokumentation<br />
Widerstand und Verfolgung in Salzburg oder<br />
in der Opferdatenbank des Dokumentationsarchivs<br />
des österreichischen Wi-<br />
Odilo Globocnik, der Triestiner Österreicher.<br />
In der besetzten italienischen Hafenstadt<br />
Triest befand sich seit September 1943 die<br />
von SS-Gruppenführer Odilo Globocnik<br />
geleitete Zentrale der „Operationszone<br />
Adriatisches Küstenland“ zur Verfolgung<br />
von Juden und zur Bekämpfung von Partisanen<br />
im Gebiet Friauls, Istriens und im<br />
Karst. Odilo Globocnik, ein in Triest geborener<br />
Österreicher, war verantwortlich<br />
für Geiselerschießungen, für Folter und<br />
Morde im KZ Risiera di San Sabba und für<br />
Deportationen von politischen und jüdischen<br />
Häftlingen – mit Zwischenstation<br />
in Salzburg.<br />
Verbürgt ist, dass drei italienische<br />
Frauen am 4. Februar 1944 von Salzburg<br />
in das Frauen-KZ Ravensbrück deportiert<br />
wurden. Dies geschah aber nicht direkt<br />
über Linz und Prag, sondern – vermutlich<br />
irrtümlich – in einem Sammeltransport<br />
über Mauthausen nach Ravensbrück.<br />
Durch die „Häftlings-Personal-Karten“,<br />
die im KZ-Mauthausen angelegt wurderstandes<br />
(DÖW) aufscheinen“, berichtetet<br />
Thomas Randisek, Geschäftsführer<br />
des Erinnerungsprojektes. „Dennoch ist<br />
es uns mittlerweile gelungen, die Identität<br />
der Shoah-Opfer Regine, Adolfo und<br />
Federica Verschleisser zu klären: Regine<br />
wurde 1879 im österreichischen Kronland<br />
Galizien als Tochter des Ehepaares Lea<br />
und Leo Seemann geboren“, Adolfo, ihr<br />
späterer Mann, 1872 in Lemberg. Nachforschungen<br />
des engagierten Teams in<br />
Salzburg belegen, dass die dreiköpfige<br />
„Es geht darum, die Erinnerung<br />
an die Vertreibung und Vernichtung<br />
von Juden, Roma und Sinti,<br />
politisch Verfolgten […] im<br />
Nationalsozialismus lebendig<br />
erhalten.“ Thomas Randisek<br />
Familie einige Jahrzehnte in der vormals<br />
österreichischen Hafenstadt Pola (kroatisch<br />
Pula) an der Adria lebte.<br />
Wie aus dem fragmentarisch überlieferten<br />
Haftbuch des Polizeigefängnisses<br />
der Stadt Salzburg hervorgeht, ließ die<br />
Gestapo Salzburg rund 300 Frauen ausländischer<br />
Herkunft nach Auschwitz und<br />
über 100 Frauen nach Ravensbrück deportieren.<br />
Wenigstens acht dieser Opfer sind<br />
jetzt nicht gänzlich vergessen, weil ihre Namen<br />
noch frisch auf Messing glänzen.<br />
wına-magazin.at<br />
17<br />
November.indb 17 15.11.2021 11:23:35
Kanzler im Nadelstreif<br />
Ein Politiker nicht<br />
nur mit Haltung<br />
Autorin Margaretha Kopeinig präsentiert eine Biografie<br />
des ehemaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky mit<br />
allen Facetten seiner aufrechten Persönlichkeit.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
Nostalgische Sehnsucht gepaart<br />
mit großem Staunen<br />
über so schnell verblasste Erinnerungen<br />
erfassen einen,<br />
wenn man im Oktober 2021 inmitten der<br />
innenpolitischen Turbulenzen das Buchporträt<br />
über die Person und die Kanzlerschaft<br />
von Franz Vranitzky aus der Feder<br />
von Margaretha Kopeinig liest. Die Sehnsucht<br />
ist schnell erklärt: Mit charakterlich<br />
einwandfreier Haltung in innen- wie<br />
außenpolitischen Belangen, kühl temperierter<br />
Sachlichkeit, Anstand und Stil zugleich<br />
gelang es dem Hernalser Arbeiterkind<br />
sowohl in der SPÖ wie auch in der<br />
Republik einen neuen Kurs einzuschlagen.<br />
Eines seiner größten Verdienste: Als<br />
Staatsmann führte er Österreich mit der<br />
ÖVP zum EU-Beitritt 1995.<br />
Aber schon in den Jahren 1986/87, als<br />
er die außenpolitische Isolation Österreichs<br />
im Zuge der „Waldheim-Affäre“<br />
durchbrach und das Verhältnis sowohl<br />
zu den USA wie auch zu Israel wesentlich<br />
verbesserte, das seinen Botschafter<br />
nach der Wahl Waldheims abgezogen<br />
hatte, war der gelernte Banker zu seiner<br />
Hochform aufgelaufen. Mit seinem historischen<br />
Bekenntnis zu Österreichs Mitschuld<br />
an der Shoah 1991 vor der Knesset<br />
in Jerusalem begrub Vranitzky als<br />
erster österreichischer Politiker offiziell<br />
die „Opferthese“ und leitete damit ein<br />
neues Kapitel in den bis dahin schwierigen<br />
Beziehungen zwischen Israel und<br />
Österreich ein. Auch die jüdischen Ge-<br />
Margaretha Kopeinig hat<br />
unter anderem auch Monografien<br />
über Martin Schulz und Jean-Claude<br />
Juncker herausgebracht.<br />
„Ich habe die Sozialdemokratie<br />
immer<br />
als ein Bollwerk<br />
gegen den Nationalsozialismus<br />
empfunden,<br />
daher habe<br />
ich für mich die<br />
Sozialdemokratie<br />
als Antithese zum<br />
Nationalsozialismus<br />
aufgebaut.“<br />
Franz Vranitzky<br />
© Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione<br />
18 wına | November 2021<br />
November.indb 18 15.11.2021 11:23:52
Historisches Bekenntnis<br />
© Sebastian Reich / picturedesk.com; Jeff Mangione<br />
ganze Land mit Bravour<br />
und Größe.<br />
Die gebürtige Kärntner<br />
Autorin Kopeinig, die<br />
in Wien Soziologie, Politikwissenschaft<br />
und Geschichte<br />
studierte und danach<br />
promovierte, schloss<br />
noch ein Post-graduate-<br />
Studium an der Universidad<br />
de los Andes in Bogotá,<br />
Kolumbien, an. „Mein erstes<br />
Interview mit Franz Vranitzky<br />
habe ich als Redakteurin<br />
der Arbeiter-Zeitung<br />
am 24. November 1990 geführt.<br />
Der Titel dieses Interviews<br />
lautete „Umwelt kann<br />
nicht warten – das Thema ist<br />
aktueller denn je“, schreibt<br />
Kopeinig. Der Bundeskanzler legte damals<br />
eine Umweltcharta vor, die zu internationalem<br />
Handeln zwingen sollte. Sein Fazit<br />
im Jahr 1990: „Politiker haben nicht mehr<br />
die Zeit abzuwarten.“ Kann sich irgendjemand<br />
daran erinnern, wie visionär dieser<br />
Kanzler war? Seine Partei heute offensichtlich<br />
nicht.<br />
Doch die langjährige Brüssel-Korrespondentin<br />
und spätere Leiterin des Europaressorts<br />
beim Kurier in Wien erinnert<br />
in ihrem neuen Buch noch an ein weiteres<br />
hochbrisantes Ereignis, das durchaus<br />
Parallelen zum Heute aufweist: „Die SPÖ<br />
konnte die Vorwürfe, sie würde hinter<br />
den Enthüllungen über Waldheims Vermeinden<br />
Österreichs atmeten damals erleichtert<br />
auf.<br />
Das „andere Österreich“. Margaretha Kopeinig<br />
lässt mit ihrer faktenreichen und<br />
gut lesbaren Biografie nicht nur die Herkunft,<br />
Ausbildung und Persönlichkeit<br />
Franz Vranitzkys Revue passieren, sondern<br />
erinnert an vieles, das dieser „Kanzler<br />
im Nadelstreif“, mit dem gar nicht wenige<br />
Genossen lange fremdelten, schon<br />
vorgedacht, aber auch im politischen Alltag<br />
bewältigt hat. Er wurde nämlich 1986<br />
auch über Nacht Kanzler von Rot-Blau, als<br />
SPÖ-Chef Fred Sinowatz infolge der Wahl<br />
Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten<br />
zurücktrat. Als Jörg Haider durch einen<br />
Putsch in der FPÖ an die Macht kam,<br />
beendete er die Koalition. Nach der bitter<br />
geführten Auseinandersetzung um Waldheim<br />
waren SPÖ und ÖVP böse verfeindet,<br />
das Land in schwerer Krise, die Verstaatlichte<br />
pleite und einige SPÖ-Minister bald<br />
in wilde Skandale verwickelt – Lucona und<br />
Noricum. Bei Vranitzkys erster Auslandsreise,<br />
die ihn im Mai 1987 nach Amsterdam<br />
führte, war die Verfasserin dieser<br />
Zeilen als Journalistin dabei.<br />
Mit freundlicher Miene und bewundernswerter<br />
Contenance repräsentierte<br />
er Österreich in den Niederlanden, ohne<br />
den geächteten und von den USA knapp<br />
davor auf die Watchlist gesetzten Bundespräsidenten<br />
irgendwie zu desavouieren.<br />
Er verkörperte das Bild des „anderen“ Österreich,<br />
aber im Ausland vertrat er das<br />
Margaretha Kopeinig:<br />
Franz Vranitzky.<br />
Politik mit Haltun.<br />
Czernin Verlag 2021,<br />
272 S., € 25<br />
gangenheit stehen und über Mittelsmänner<br />
Informationen und Unterlagen an den<br />
World Jewish Congress und an die New York<br />
Times weitergegeben haben, nicht überzeugend<br />
entkräften“, schreibt Kopeinig.<br />
Bis heute seien sich Historiker über die<br />
Hintergründe der Enthüllungen im Unklaren.<br />
Weitreichende Konsequenzen. Franz Vranitzky<br />
ging in den zahlreichen Gesprächen<br />
mit Kopeinig, die unter anderem Monografien<br />
über Martin Schulz und Jean-Claude<br />
Juncker herausgebracht hat, davon aus,<br />
„dass Bundeskanzler Sinowatz keine parteiinterne<br />
Anordnung getroffen hat, die<br />
Wehrmachtsvergangenheit Kurt Waldheims<br />
zu einem Thema im Wahlkampf 1986<br />
zu machen“, zitiert die<br />
„Die Politik ist<br />
eine Berufung und<br />
ein Beruf zugleich.<br />
Für diesen Beruf<br />
braucht man<br />
seine ganze Persönlichkeit,<br />
sein<br />
ganzes Sein und<br />
sein ganzes Ich.<br />
Sonst funktioniert<br />
es nicht. […] Dieser<br />
Gedanke ist mir<br />
immer wichtig<br />
gewesen.“<br />
Franz Vranitzky<br />
Autorin aus Vranitzkys<br />
eigenen Memoiren<br />
Politische Erinnerungen.<br />
„Trotzdem wurde<br />
sie das, sowohl aus Eigendynamik<br />
wie auch<br />
deshalb, weil sich sozialdemokratische<br />
Funktionäre<br />
ihrer bedienten“,<br />
fügt Vranitzky<br />
hinzu. „Er war und ist<br />
von der Unschuld seines<br />
Vorgängers Sinowatz<br />
überzeugt“, resümiert<br />
Kopeinig im<br />
Herbst 2020.<br />
Für Fred Sinowatz<br />
hatte die Affäre Waldheim<br />
weitreichende<br />
politische und persönliche<br />
Konsequenzen:<br />
Am 9. Juni 1986, einen<br />
Tag nach dem Wahlsieg<br />
Waldheims, trat er als<br />
Regierungschef der rotblauen<br />
Koalition zurück: „Das Amt legte er<br />
in die Hände seines Vertrauten Franz Vranitzky“,<br />
heißt es bei Kopeinig in Politik mit<br />
Haltung (Czernin Verlag).<br />
Jahre später wurde Fred Sinowatz wegen<br />
Falschaussage rechtskräftig verurteilt,<br />
weil er geleugnet hatte, im Oktober<br />
1985 vor dem burgenländischen SPÖ-<br />
Parteivorstand Enthüllungen über Waldheims<br />
„braune Vergangenheit“ angekündigt<br />
zu haben. Das Gericht sprach Sinowatz<br />
schuldig, obwohl er „nur“ vor einem parteiinternen<br />
Gremium der Falschaussage<br />
überführt wurde – und nicht vor einem<br />
parlamentarischen Untersuchungsausschuss.<br />
wına-magazin.at<br />
19<br />
November.indb 19 15.11.2021 11:24:10
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Rave-Partys,<br />
Kinder und Armee<br />
Israel versucht so gut es geht, Corona hinter<br />
sich zu lassen, doch die Pandemie wirft weiterhin ihre<br />
langen Schatten.<br />
ie vierte Corona-Welle, die gerade<br />
Österreich überrollt, haben<br />
wir hier gerade hinter<br />
uns gebracht. Sogar Touristen<br />
dürfen neuerdings wieder ins<br />
Land, vorausgesetzt sie halten<br />
sich an die Regeln. Dazu gehört,<br />
dass sie nach einem Test<br />
bei ihrer Ankunft am Flughafen solange im Hotelzimmer<br />
bleiben, bis sie das (negative) Ergebnis<br />
vorweisen können. Damit die Wartezeit nicht<br />
vergeudet ist, haben Reiseleiter virtuelle Vorträge<br />
als neue Programmpunkte vorgesehen. Nach fast<br />
zwei Jahren ohne Arbeit lässt man sich gerne etwas<br />
einfallen. Geplant ist also wieder vieles, aber<br />
ohne Garantie.<br />
Auch die internationalen DJs sind wieder zurück.<br />
Sie spielten gerade beim Bass Desert Festival<br />
in der Arava-Wüste und in den großen Parks<br />
in Tel Aviv und Rishon LeZion. Mehr Nächte stehen<br />
für die hiesige Fangemeinde auf dem Programm.<br />
„Es gab in den letzten Jahren eine sehr<br />
starke Welle an elektronischer und Techno-<br />
Musik“, erklärt Guy Dreifuss, der solche<br />
Veranstaltungen organisiert. „Israelis<br />
lassen gerne Dampf ab, die Zuhörer<br />
kommen aus dem ganzen Land, und aus<br />
Von Gisela Dachs<br />
Strenger als bisher: In Israel verliert der Grüne<br />
Pass schon bald seine Gültigkeit, wenn die zweite<br />
Impfung länger als sechs Monate zurückliegt.<br />
allen Altersgruppen, von 18 bis 60.“ Warum die<br />
Szene gerade in Israel so ausgeprägt ist, erklären<br />
manche mit der stressabbauenden Funktion<br />
solcher Rave-Partys in einem Land unter ständiger<br />
Anspannung. In jedem Fall lebt sie jetzt wieder<br />
auf.<br />
Strenger als bisher wird aber nun auch der<br />
Grüne Pass kontrolliert. Dieser verliert seine Gültigkeit,<br />
wenn die zweite Impfung länger als sechs<br />
Monate zurückliegt. Viele haben sich auch deshalb<br />
schon vor einiger Zeit zum dritten Mal impfen<br />
lassen. Dass man in vieler Hinsicht wieder zur<br />
Normalität zurückkehren kann und sich die Intensivstationen<br />
leeren, wird auf diesen Booster-<br />
Shot zurückgeführt. Sicher ist, dass er vor schweren<br />
Krankheitsverläufen schützt. Vorbei aber ist<br />
nichts. Nicht wenige Israelis sind – aus verschiedenen<br />
Gründen – nicht geimpft. Und es gibt auch<br />
hier einen Kern an ideologischen Gegnern, die jeden<br />
Samstagabend durch die Straßen von Tel Aviv<br />
ziehen und gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung<br />
der Pandemie protestieren. Als einer ihrer<br />
prominentesten Vertreter vor Kurzem an Corona<br />
im Krankenhaus starb, gaben sie der Polizei die<br />
Schuld an seinem Tod.<br />
In Zukunft soll es nun auch Impfungen für<br />
Kinder von fünf bis elf Jahren geben. So hat es<br />
das zuständige Komitee des Gesundheitsministeriums<br />
gerade empfohlen. Man hat es sich nicht<br />
leicht gemacht mit der Entscheidung. Wenn es<br />
um den Nachwuchs geht, sehen viele Eltern die<br />
Sache noch einmal anders. Von 75 Experten haben<br />
sich 73 für eine Immunisierung ausgesprochen.<br />
Deren Debatte hätte erst live in Rundfunk<br />
© flash90/Yossi Aloni<br />
20 wına | November 2021<br />
November.indb 20 15.11.2021 11:24:10
© flash90/Yossi Aloni<br />
und Fernsehen übertragen werden sollen, dann<br />
aber fand sie schließlich doch bloß im kleinen<br />
Kreis und unter Ausschluss der Öffentlichkeit<br />
statt. Gesundheitsminister Nitzan Horowitz verteidigte<br />
den Sinneswandel, verwies auf die Sorge<br />
der Beteiligten vor Drohungen und darauf, dass<br />
es sich ja nicht um gewählten Volksvertreter handele.<br />
Alle Daten würden in jedem Fall auf transparente<br />
Weise präsentiert. Man verstecke nichts.<br />
Corona hat aber im vergangenen Jahr nicht<br />
nur den Schulalltag der Kleinen unberechenbarer<br />
gemacht, sondern auch die Lebensplanung<br />
der Maturanten und Maturantinnen beeinträchtigt.<br />
Denken diese woanders darüber nach, welches<br />
Studium sie demnächst angehen oder wo sie<br />
zuvor vielleicht doch noch ein Gap-Year verbringen<br />
könnten, haben sie hier erst einmal andere<br />
Sorgen. Für sie stellte sich die Frage nach dem<br />
Einzugsbescheid zur Armee. Das war entweder<br />
gleich im August oder steht jetzt im Dezember an<br />
oder aber auch erst im März 2022. Viel später als<br />
üblich wurde dieses Mal über das endgültige Rekrutierungsdatum<br />
entschieden ebenso wie über<br />
die Zuteilung in Einheiten. Das heißt, vielen blieben<br />
diesmal länger als sonst darüber im Ungewissen,<br />
wann genau und in welcher Funktion sie<br />
dem Land dienen würden müssen.<br />
Auskunft in diesen langen Wartezeit gab und<br />
gibt es am Telefon, am anderen Ende sitzen dann<br />
aber in der Regel kaum ältere Rekrutinnen oder<br />
Rekruten, die den Neulingen raten, ihr Anliegen<br />
ordentlich aufzuschreiben und per Messenger via<br />
Facebook zu schicken. Dort wird am schnellsten<br />
reagiert. Manchmal mit der Antwort, dass sich<br />
Die Diskussion, ob<br />
Kinder zwischen dem 5.<br />
und 12. Lebensjahr nun<br />
auch geimpft werden<br />
sollen, wurde aus Sorge<br />
vor Drohungen nicht im<br />
Fernsehen ausgestrahlt.<br />
die Dinge nicht beeinflussen ließen, manchmal<br />
mit der Aufforderung, das Anliegen noch einmal<br />
per E-Mail zu schicken.<br />
Die Pandemie hat sich auch auf die Auswahlverfahren<br />
ausgewirkt. Denn wer 2021 Matura<br />
gemacht hat, absolvierte eventuelle zusätzliche<br />
Eignungsprüfungen virtuell per Zoom vom Kinderzimmer<br />
aus. Coronabedingt war dann – zumindest<br />
bei jenen Rekrutinnen, die für Bürojobs<br />
rekrutiert wurden – sogar ein Teil der obligatorischen<br />
Grundausbildung von zu Hause aus absolviert<br />
worden. Die angehenden Soldatinnen<br />
Corona hat im vergangenen Jahr nicht nur<br />
den Schulalltag der Kleinen unberechenbarer<br />
gemacht, sondern auch die Lebensplanung<br />
der Maturanten und Maturantinnen<br />
beeinträchtigt.<br />
mussten sich dazu in Uniform vor den Bildschirm<br />
sitzen. Den Umgang mit der Waffe, der<br />
in solchen Einheiten ohnehin nicht kritisch ist,<br />
haben sie dann eben erst später gelernt. Zugleich<br />
gab es aber auch einen Anstieg der Zahl an jungen<br />
Frauen, die in Kampfeinheiten dienen.<br />
Eltern erleben es als Kontrollverlust, wenn<br />
der überbehütete Nachwuchs auf einmal in die<br />
Obhut der Armee gerät. Wenn der Zögling krank<br />
wird, hat fortan kein Elternteil mehr über die Behandlung<br />
mitzubestimmen oder auch nur mitzureden.<br />
Der Übergang ist abrupt. Vielleicht war<br />
er in diesem Jahr – zumindest für manche – ein<br />
wenig sanfter.<br />
wına-magazin.at<br />
21<br />
November.indb 21 15.11.2021 11:24:15
Fachgerechte Behandlung<br />
Ein kleines Mädchen wurde von ihrer Mutter<br />
gebracht, weil sie ihre Hand in eine Maismehlmaschine<br />
gesteckt hatte. Ihre Handfläche konnte<br />
wiederhergestellt werden.<br />
Arzt mit<br />
Herz<br />
Die Hilfsorganisation<br />
Lema’anam<br />
(Für sie) bringt<br />
die Klinik zu jenen<br />
nach Hause, die<br />
nicht in die Klinik<br />
kommen können.<br />
„Ich wollte<br />
gerne einen<br />
Beitrag leisten,<br />
aber eigentlich<br />
habe damit ich<br />
ein Geschenk<br />
erhalten.“<br />
Lee Ya’ari<br />
22 wına | November 2021<br />
November.indb 22 15.11.2021 11:24:17
Berührende Geschichten<br />
Hausbesuche von Ärztinnen<br />
und Ärzten sind in<br />
Israel kaum üblich und<br />
meist recht teuer – das<br />
wurde in Corona-Zeiten<br />
unter anderem zum Problem<br />
für viele der oft von<br />
spärlichen Pensionen lebenden<br />
Holocaust-Überlebenden.<br />
Doktor Lee<br />
Ya’ari ist einer der Fachärzte,<br />
die sie jetzt im Rahmen<br />
eines Hilfsprojekts<br />
kostenlos in ihren eigenen<br />
vier Wänden behandeln.<br />
Seine Voluntärarbeit führt<br />
den jungen Orthopäden<br />
auch nach Afrika.<br />
Von Daniela<br />
Segenreich Horsky<br />
SPENDEN & KONTAKT<br />
jgive.com/new/he/ils/donationtargets/60639<br />
ceo@helpapp.co.il<br />
Celina ist entzückt von dem jungen<br />
Doktor mit den blonden Locken.<br />
Sie konnte noch vor Kurzem<br />
nicht auftreten und kaum<br />
noch aus dem Bett steigen. Jeder Arzttermin<br />
wurde damit zur Qual. Mit Corona<br />
kam dann noch die Angst vor der Ansteckung<br />
in öffentlichen Kliniken dazu, und<br />
so blieben ihre wehen Beine einfach unbehandelt.<br />
Nun kommt im Rahmen der<br />
Hilfsorganisation Lema’anam (Für sie)<br />
die Klinik einfach zu ihr nach Hause.<br />
Dank dieser Initiative haben inzwischen<br />
über 800 Ärztinnen und Ärzte aus allen<br />
Fachsparten mehr als 5.000 Patient:innen<br />
behandelt. Falls nötig, bringt ein Mini-Van<br />
die nötige Ausrüstung für Röntgen, Ultraschall<br />
oder Blutabnahme ins Haus, und<br />
in der Folge können die behandelnden<br />
Ärzte gleich für die weitere Planung sorgen<br />
und etwa einen Physiotherapeuten für<br />
die Patient:innen anfordern. „Es geht alles<br />
sehr schnell und effektiv. Nachdem ich<br />
mir ein Bild von Celinas Zustand machen<br />
konnte, habe ich sofort das Röntgengerät<br />
zu ihr bestellt, und am nächsten Tag hatten<br />
wir alle Befunde fertig.“ Der junge Orthopäde<br />
Lee Ya’ari ist seit etwa einem Jahr<br />
ehrenamtlich dabei. „Ich wollte gerne einen<br />
Beitrag leisten, aber eigentlich habe<br />
damit ich ein Geschenk erhalten. Es ist unglaublich<br />
berührend und ein Privileg, dass<br />
ich diesen Menschen helfen und ihnen zuhören<br />
darf“, kommentiert er seine Arbeit<br />
bescheiden.<br />
Das Gefühl, sein Wissen und seine Fähigkeiten<br />
Menschen zur Verfügung stellen<br />
zu wollen, die vom Schicksal weniger<br />
begünstigt sind als er, veranlasste den in<br />
Israel und den USA ausgebildeten Sportmediziner,<br />
der unter anderem die israelische<br />
Fußballnationalliga betreut, im Jahr<br />
2019 dazu, kurzfristig auf seinen Pessach-<br />
Urlaub zu verzichten. Stattdessen flog er<br />
kurzentschlossen auf eigene Kosten mit einer<br />
Ärztedelegation nach Togo, um dort in<br />
einem Krankenhaus zu volontieren. Die<br />
Ankunft der Mediziner wurde im örtlichen<br />
Radio angekündigt, und sofort strömten<br />
Patienten der verschiedensten Altersstufen<br />
in das Spital, um eine fachgerechte Behandlung<br />
zu erhalten.<br />
Ya’ari erinnert sich an die vielen berührenden<br />
Geschichten und Begegnungen,<br />
die er dort erlebte. Zum Beispiel jene mit<br />
Grace, der Vierjährigen mit einem durch<br />
Blount Disease völlig verkrümmten Bein.<br />
Diese Krankheit kann man in Israel schon<br />
in frühem Stadium behandeln, in nicht so<br />
entwickelten Ländern führt sie aber oft<br />
zu schweren Behinderungen: „Sie war so<br />
froh, dass ihr Bein nach der Operation wieder<br />
gerade war und streckte mir ihre ebenfalls<br />
eingebundene Hand zum ‚High Five‘<br />
hin.“ Ein anderes Mädchen wurde von ihrer<br />
Mutter gebracht, weil sie ihre Hand in<br />
eine Maismehlmaschine gesteckt hatte. Es<br />
gibt ein Foto von der Kleinen mit dem verbundenen<br />
Arm „Der Anblick war schwer zu<br />
ertragen, aber zum Glück konnten wir ihre<br />
Handfläche wiederherstellen.“<br />
Im nächsten Frühling soll es mit einer<br />
Gruppe von israelischen Ärzten und<br />
zig Kilogramm an medizinischer Ausrüstung<br />
auf private Initiative nach Tansania<br />
gehen, wo laut Ya’ari jedes der fünf größeren<br />
lokalen Krankenhäuser für etwa 15<br />
Millionen Menschen zuständig ist. Er will<br />
Knowhow und Ausrüstung in die Stadt<br />
Moshi am Fuße des Kilimanjaro bringen<br />
und sein Wissen mit dem dortigen Spitalspersonal<br />
teilen. Ya’ari hofft, dass dann<br />
auch Ärzte aus Tansania die Möglichkeit<br />
haben, für einen Stage-Aufenthalt nach Israel<br />
zu kommen.<br />
Woher nimmt ein so vielbeschäftigter<br />
Orthopäde die Zeit für all diese Projekte?<br />
Die Antwort kommt spontan: „Das ist eine<br />
Frage von Prioritäten. Ich habe volle Unterstützung<br />
vom Spital und auch von meiner<br />
Partnerin, und diese Arbeit ist mir einfach<br />
enorm wichtig. Ich denke, wenn ich es<br />
diesen Menschen ermöglichen kann, eine<br />
gute Behandlung zu erhalten, dann ist das<br />
eines der wunderbarsten Dinge, die ich als<br />
Arzt tun kann.“<br />
wına-magazin.at<br />
23<br />
November.indb 23 15.11.2021 11:24:17
Die Weltverbesserer<br />
Erfinder und Forscher<br />
Ein Lesebuch über israelische<br />
Innovationen ist jetzt auch<br />
auf Deutsch erhältlich. Es<br />
bringt interessante Beispiele,<br />
hat aber auch Schwächen.<br />
Von Reinhard Engel<br />
Avi Jorisch:<br />
Du sollst erfinden.<br />
Wie israelischer<br />
Einfallsreichtum<br />
hilft, die Welt besser<br />
zu machen.<br />
edition menawatch<br />
2021,<br />
294 S., € 19,90<br />
Vor mehr als zehn Jahren erschien<br />
das Wirtschaftsbuch Start-up Nation<br />
Israel von Dan Senor und Saul<br />
Singer und erregte internationale Aufmerksamkeit<br />
(siehe WINA, September<br />
2012). Jetzt hat die Wiener edition menawatch<br />
Du sollst erfinden von Avi Jorisch für<br />
den deutschen Sprachraum herausgegeben.<br />
Jorisch, eigentlich ein israelischer Sicherheitsexperte,<br />
bezieht sich auch explizit<br />
auf den Klassiker über israelische<br />
Innovationskraft und deren Hintergrund.<br />
Der Autor präsentiert eine Reihe eingängiger<br />
Beispiele für israelische Erfinder<br />
und ihre Lösungen, die auf unterschiedlichste<br />
Weise „die Welt besser machen“.<br />
Das reicht von Simcha Blass, der mit der<br />
Technologie der Tröpfchenbewässerung<br />
die Grundlage für die Weltmarke Netafim<br />
gelegt hat, über den Gründer des Cyber-Security-Spezialisten<br />
Check Point<br />
Gil Shwed, dessen Firewall global Unternehmen<br />
wie staatliche Einrichtungen vor<br />
ungewünschten Angriffen schützt, bis zu<br />
den israelischen Arabern Imad und Reem<br />
Younis, die als gelernte Ingenieure mit<br />
der tiefen Hirnstimulation ihres Unternehmens<br />
Alpha Omega unterschiedliche<br />
neurologische Krankheiten behandeln.<br />
Ein Schwerpunkt der Innovationen betrifft<br />
die Medizintechnik, daneben finden<br />
sich erfolgreiche Ideen für die Landwirtschaft,<br />
die Raketenabwehr von Iron<br />
Dome oder ein ausgeklügeltes System dezentraler<br />
Notfallhelfer im israelischen zivilen<br />
Alltag. Die kurzen Porträts der Erfinder<br />
und Firmengründer zeigen auch<br />
immer wieder deren Anfangsschwierigkeiten,<br />
die knappen Geldmittel, die harten<br />
Jahre, bis die Innovationen vom Markt<br />
angenommen wurden. Ähnlich wie bei<br />
Start-up Nation formt sich ein Bild eines für<br />
seine Größe überdurchschnittlich kreativen<br />
und innovativen Landes.<br />
Aber Du sollst erfinden hat auch Schwächen.<br />
So fügt Jorisch den Einzelporträts<br />
eine Liste der „fünfzig wichtigsten Innovationen,<br />
mit denen Israel die Lebensbedingungen<br />
unzähliger Menschen verbessert<br />
hat“ hat. Darunter findet sich<br />
dann neben überzeugenden Beispielen,<br />
wie dem Roboter für komplexe Wirbelsäulen-OPs,<br />
weniger Gewichtiges wie<br />
die Entwicklung der Cocktailtomate aus<br />
ihren normalgroßen Verwandten, die<br />
Kampfsportart und Verteidigungstechnik<br />
Krav Maga oder eine bessere Wasserfilterung<br />
bei Fischzuchtanlagen. Hier wäre<br />
weniger mehr gewesen.<br />
Und auch bei den größeren Einzelreports<br />
gäbe es Luft nach oben. Jorisch erzählt<br />
etwa die Geschichte des Bewässerungsspezialisten<br />
Netafim so, als hätte<br />
dessen Entwicklungsabteilung vor 20<br />
Jahren zu arbeiten aufgehört. Netafims<br />
große Leistung der jüngeren Vergangenheit<br />
war es aber, traditionelle Technologie<br />
mit modernen Methoden deutlich zu verbessern,<br />
etwa mit Sensorik und Automatisierung.<br />
Eine besondere Blöße gibt sich<br />
der Autor im Bereich Sonnenenergie. Jorisch<br />
erzählt die zähe Erfolgsgeschichte der<br />
Der Autor präsentiert eine Reihe eingängiger<br />
Beispiele für israelische Erfinder<br />
und ihre Lösungen, die auf unterschiedlichste<br />
Weise „die Welt besser<br />
machen“.<br />
Warmwasserkollektoren auf den Dächern<br />
der israelischen Häuser, erwähnt aber<br />
mit keinem Nebensatz, dass das Land –<br />
vor allem wegen der Verzögerung durch<br />
den Strommonopolisten Israel Electric<br />
Corporation – bei der Fotovoltaik heute<br />
im internationalen Vergleich doch deutlich<br />
zurückliegt.<br />
Dennoch bleibt das Buch eine interessante<br />
Beispielsammlung, eine Dokumentation<br />
herausragender israelischer<br />
Leistungen, vor allem im medizinischen<br />
und medizintechnischen Bereich. Es mag<br />
daher dazu dienen, erste Grundlageninformationen<br />
zu erhalten, die sich Leserinnen<br />
und Leser dann mit eigenen Internetrecherchen<br />
anreichern können.<br />
24 wına | November 2021<br />
November.indb 24 15.11.2021 11:24:18
HIGHLIGHTS | 02<br />
Der literarische Schamane<br />
Noah Gordon wurde 95<br />
Zum literarischen Schreiben kam der studierte Mediziner und spätere<br />
Wissenschaftsjournalist erst relativ später. Mit knapp 60 Jahren erschien<br />
sein erster Beststeller. Es folgte mehrere weitere, Verfilmungen, Preise.<br />
Heute leben Noah Gordon und seine Frau in einem Altersheim, dem er<br />
auch seine große Bibliothek gespendet hat – und noch immer betreut.<br />
Nur wenige Schriftsteller machen sich<br />
die Mühe, intensiv in die Materie einzutauchen,<br />
über die sie schreiben wollen.<br />
Medicus-Autor Noah Gordon ist so eine<br />
Ausnahme. Vor 95 Jahren, am 11. November<br />
1926, wurde er in Worcester, Massachusetts,<br />
geboren und nach dem kurz<br />
zuvor verstorbenen Großvater mütterlichereits,<br />
Noah Melnikoff, benannt.<br />
Auf Wunsch seiner Eltern studierte<br />
Noah Gordon zunächst Medizin, sein<br />
besondere Interesse an Naturwissenschaften<br />
machte ihm das Studium zugänglich.<br />
Doch seine Liebe zum geschriebenen<br />
Wort, zur Literatur und<br />
zum Journalismus war dann doch größer<br />
– und darüber erfreuen sich Millionen<br />
Leserinnen und Leser weltweit. Der<br />
Bestsellerautor wurde am 11. November<br />
1926 in den USA geboren und lebt<br />
heute in einer Seniorenresidenz, in der<br />
er sich um die dortige Bibliothek kümmert.<br />
Vor einigen Jahren sprach sich<br />
der ehemalige Medizinstudent dafür<br />
aus, dass alte Menschen den Zeitpunkt<br />
ihres Todes selbst wählen dürfen: „Ich<br />
bin überzeugt, dass alle Arten medizinischer<br />
Entscheidungen persönlich getroffen<br />
werden müssen, nicht aus Gründen,<br />
die die Gesellschaft oder Religion<br />
mit sich bringen.“<br />
Seine Interessen auf dem Gebiet der<br />
Medizin und des Journalismus verband<br />
er zunächst als wissenschaftlicher Lektor<br />
und Wissenschaftsjournalist in New<br />
York. Für den Boston Herald recherchierte<br />
und berichtete er vor allem auch<br />
über Krankenhäuser und Forschungslabors<br />
in Boston.<br />
Sein lebenslanger Traum blieb es, Romane<br />
zu schreiben – doch das fiel ihm<br />
schwer: „Schreiben war für mich eigentlich<br />
immer Folter. Ich leide unter dem<br />
Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Mich<br />
auf ein Thema zu konzentrieren, ist eine<br />
„Ich danke jedem Leser<br />
dafür, dass ich mein Leben<br />
als Geschichtenerzähler verbringen<br />
darf.“ Noah Gordon<br />
Herkulesaufgabe“, sagte er im Stern-Interview<br />
anlässlich der Filmpremiere seines<br />
Bestsellers Der Medicus.<br />
Doch er schaffte es dann trotzdem.<br />
Sein erster Roman, Der Rabbi, über die<br />
Liebe und die damit einhergehenden<br />
Konflikte eines Rabbiners mit einer<br />
Nicht-Jüdin landete gleich auf den internationalen<br />
Bestsellerlisten.<br />
Nach mehreren Flops folgte dann<br />
die berühmte Trilogie Der Medicus, Der<br />
Schamane und Die Erben des Medicus,<br />
in der sich der Autor mit der fiktiven<br />
Medizinerdynastie der Familie Cole beschäftigt<br />
und dabei Medizin- und Diasporageschichte<br />
miteinander verbindet.<br />
Auch Der Medicus von Saragossa und<br />
Der Katalane spielen i ähnlichen Milieus.<br />
Die Verfilmung des Medicus kam<br />
2013 in die Kinos, unter anderem mit<br />
Ben Kingsley als dem berühmten persischen<br />
Medizinier Ibn Sina, und wurde<br />
wie schon Gordons Romanvorlage zum<br />
Welterfolg. Als man ihm zum Film befragte,<br />
antwortete Gordon: „Ich fand ihn<br />
extrem interessant. Er riecht wie mein<br />
Buch. Sehr, sehr schmutzig, wirklich<br />
richtig unhygienisch. Leider sind<br />
das letzte Drittel und das Ende<br />
nicht mehr meine Geschichte.<br />
Das wurde komplett neu geschrieben<br />
... Ich könnte mich<br />
natürlich beklagen, dass mein<br />
Kunstwerk verändert wurde.<br />
Aber ich bin froh, dass es den<br />
Film noch gibt, bevor ich nicht<br />
mehr bin.“<br />
promi.tipp<br />
Fidler mit bestem Ruf<br />
Aliosha Biz ist ein wahrer Meister der jüdischen<br />
Klezmer-Musik und geigt sich<br />
virtuos zwischen Hoch- und Subkultur<br />
auf und ab. Nun debütiert er in der Kulisse<br />
zu seinem coronabedingt um ein<br />
Jahr verspäteten 50er mit seinem ersten<br />
Kabarettprogramm Fidler ohne Ruf – ein<br />
Mischmasch aus politisch inkorrektem,<br />
slawischem und jüdischem Humor. An<br />
seiner Seite: sein langjähriger Mitstreiter,<br />
Mitrusse und Mitmusiker Alexander<br />
Shevchenko.<br />
kulisse.at<br />
Noah Gordon<br />
Seine eigene<br />
Identität führt,<br />
wie ein roter<br />
Faden, durch<br />
sein Werk.<br />
Fotos: kulisse.at; www.noahgordon.com<br />
wına-magazin.at<br />
25<br />
November.indb 25 15.11.2021 11:24:19
INTERVIEW MIT BARBARA STAUDINGER<br />
„Ein Museum muss auch<br />
selbstkritisch sein“<br />
Barbara Staudinger, derzeit Direktorin des Jüdischen Museums<br />
Augsburg Schwaben, übernimmt mit Juli 2022 die Leitung des Jüdischen<br />
Museums Wien. WINA sprach mit ihr über ihren Zugang zur Gestaltung<br />
von Ausstellungen, über das Bespielen des öffentlichen und digitalen<br />
Raums und darüber, wie sie das Judentum darstellen möchte. Ein erstes<br />
Fazit: Ihr Zugang ist ein anderer als jener in vielen anderen jüdischen<br />
Museen. Interview:Alexia Weiss; Foto: Daniel Shaked<br />
WINA: Eben wurde in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz die<br />
neue Österreich-Ausstellung eröffnet, die Sie mit kuratiert haben.<br />
Im Jüdischen Museum Augsburg, das Sie seit 2018 leiten,<br />
lief bis Ende Oktober die Schau Schalom Sisters, die im Rahmen<br />
des Jubiläums „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“<br />
jüdisch-feministische Positionen auslotet. Beide Ausstellungen<br />
bemühen sich, die Essenz der Vergangenheit für<br />
die Gegenwart herauszufiltern. Beide Ausstellungen sind sehr<br />
gesellschaftspolitisch angelegt. Sind das die Leitfäden, die<br />
sich durch Ihre Arbeit ziehen?<br />
Barbara Staudinger: Ja. Geschichte ist dazu da, uns<br />
bei gegenwärtigen Fragen eine Leitlinie zu geben. Unsere<br />
verschiedenen Identitäten setzen sich ja auch aus<br />
Geschichten zusammen. Auch bei der jüdischen Geschichte<br />
gilt es zu vermitteln: Geschichte ist nie abgeschlossen.<br />
Und: Es gibt aus der jüdischen Geschichte<br />
heraus Fragen, die für die Gegenwart brennend relevant<br />
sind.<br />
Können Sie hier ein Beispiel nennen?<br />
I Ich habe 2019 eine Schau gemacht über Kindertransporte<br />
aus Augsburg und Schwaben 80 Jahre zuvor.<br />
Ich habe versucht, das anders zu erzählen, weil<br />
die Art und der Grund der Flucht der Kinder sicher<br />
historisch einmalig waren, aber die Geschichte nie<br />
weitererzählt wurde. Die geretteten Kinder waren<br />
das Happy End in dem ganzen furchtbaren Rundherum.<br />
Man wollte nicht sehen, wie die Geschichte für<br />
viele weiterging. Denn wenn man sich das weitere Leben<br />
der Kindertransport-Kinder anschaut, sind das<br />
zuallermeist leider keine Happy Ends. Es kam zu Gewalt,<br />
Drogenabhängigkeit, sexuellem Missbrauch, es<br />
sind zum Teil ganz schreckliche Schicksale.<br />
Ein minderjähriges Kind allein in einem Land,<br />
dessen Sprache es nicht spricht, und ohne Wissen um<br />
das Schicksal der Eltern: Diesen Umstand – nur diesen<br />
Umstand – kann man vergleichen mit unbegleiteten<br />
„Es gibt aus<br />
der jüdischen<br />
Geschichte<br />
heraus Fragen,<br />
die für die<br />
Gegenwart<br />
brennend<br />
relevant sind.“<br />
Barbara<br />
Staudinger<br />
minderjährigen Flüchtlingen heute. Und die psychischen<br />
Folgen sind leider sehr ähnlich. Je jünger das<br />
Kind ist, desto dramatischer sind normalerweise die<br />
Folgen, die bis zum Suizid reichen können – so bei einem<br />
Zwillingspaar aus Augsburg, das mit 13 Jahren<br />
nach Großbritannien kam und getrennt wurde. Daher<br />
hat der Ausstellungstitel Über die Grenzen eine doppelte<br />
Bedeutung – diese Kinder gingen sowohl über<br />
Staatsgrenzen wie auch über die Grenze dessen, was<br />
eine kindliche Psyche ertragen kann. In diesem Sinne<br />
war die historische und vergleichende Ausstellung im<br />
Nachklang von 2015 brandaktuell.<br />
Aber auch Shalom Sisters hatte eine sehr aktuelle<br />
Komponente. Mir war es ganz wichtig, im Rahmen<br />
von „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“<br />
nicht wie die meisten Initiativen zurückzuschauen,<br />
wie reich das jüdische Leben in Deutschland vor dem<br />
Holocaust war, sondern ein Projekt umzusetzen, das<br />
die jüdische Gegenwart nicht nur in Deutschland,<br />
sondern international beleuchtet und die Vielfalt im<br />
Judentum in den Mittelpunkt stellt. Und es war mir<br />
auch wichtig, gerade jetzt zu sagen, Feminismus ist<br />
immer wichtig, gerade in einer Zeit, in der feministische<br />
Werte wieder diskutiert und auch unter den<br />
Tisch gekehrt werden. Wir – mein Team und ich, denn<br />
es ist immer Teamarbeit – wollten also auf der einen<br />
Seite das gegenwärtige internationale und sehr diverse<br />
Judentum zeigen und auf der anderen Seite<br />
die Verwobenheit jüdischer Geschichte mit der Geschichte<br />
der Frauenbewegung beleuchten, indem wir<br />
feministische Bewegungen vom ultraorthodoxen bis<br />
zum liberalen Judentum vorstellen.<br />
Es geht Ihnen also auch darum, aktuelle gesellschaftspolitische<br />
Themen mit Geschichte zu verknüpfen und nicht<br />
nur auf das Judentum zu fokussieren, sondern den weiteren<br />
Blick zu haben.<br />
26 wına | November 2021<br />
November.indb 26 15.11.2021 11:24:19
Geschichte als Leitlinie<br />
BARBARA STAUDINGER,<br />
geb. 1973 in Wien, Historikerin,<br />
Theaterwissenschafterin und<br />
Judaistin, war zunächst von 1998<br />
mit Unterbrechungen bis 2013 am<br />
Institut für Jüdische Geschichte<br />
Österreich in St. Pölten tätig.<br />
Von 2005 bis 2007 Kuratorin am<br />
Jüdischen Museum in München,<br />
anschließend bis 2011 Lektorin an<br />
der Universität Wien. Von 2013 bis<br />
2018 freiberufliche Kuratorin in<br />
Wien, ab 2014 im Kuratoren- und<br />
Kuratorinnenteam für die neue<br />
Österreich-Ausstellung in der<br />
KZ-Gedenkstätte in Auschwitz.<br />
Seit 2018 leitet sie das Jüdische<br />
Museum Augsburg Schwaben.<br />
Mit Sommer 2022 übernimmt<br />
sie die Leitung des Jüdischen<br />
Museums Wien.<br />
wına-magazin.at<br />
27<br />
November.indb 27 15.11.2021 11:24:20
Öffentlicher Raum<br />
I Ein jüdisches Museum ist ein Museum einer gesellschaftlichen<br />
Minderheit. Und aus diesem Status heraus<br />
stellt es Fragen zur jüdischen Geschichte, die auch<br />
für andere Minderheiten relevant sind.<br />
Sie haben eingangs gesagt, es geht auch um die verschiedenen<br />
Identitäten von Menschen. Die Identitätsdebatte nimmt aktuell<br />
vor allem in den USA großen Raum ein, zuletzt kam es dort<br />
im Rahmen des Diskurses zu einem interessanten Phänomen,<br />
nämlich dass Juden und Jüdinnen den unterdrückenden, sozusagen<br />
toxischen Weißen zugeordnet werden. Dabei wird die<br />
Diskriminierung von Juden und Jüdinnen zur Seite geschoben.<br />
I Das ist sehr interessant, und ich lese zurzeit viel dazu<br />
– zum einen zum Wandel des Labelings von Jüdinnen<br />
und Juden von „black“ zu „superwhite“ und zum anderen<br />
über die Rolle jüdischer Identität im Dekolonisierungsdiskurs.<br />
Hinter der Identitätsdebatte liegen<br />
übrigens genau dieselben Mythen, deren Ziel es ist,<br />
Jüdinnen und Juden als böse darzustellen. Nur dass<br />
das Böse früher schwarz war, und jetzt ist es superweiß.<br />
Das heißt aber auch: Juden und Jüdinnen werden in beiden<br />
Fällen einer schlechten Kategorie zugerechnet, womit wir<br />
beim Thema Antisemitismus gelandet wären. Wenn es um<br />
jüdische Museen geht, ist er eines der gesellschaftspolitischen<br />
Themen. Teils wurde in der Vergangenheit versucht, Antisemitismus<br />
auszuklammern, inzwischen gab es da aber einen<br />
Paradigmenwechsel. Werden Sie das Thema Antisemitismus<br />
in den kommenden Jahren im Jüdischen Museum Wien behandeln?<br />
I Noch vor zehn Jahren haben viele Jüdische Museen<br />
gesagt, Antisemitismus ist eine Geschichte der Antisemiten<br />
und nicht eine Geschichte der Jüdinnen und<br />
Juden. Heutzutage, in einer Zeit, in der Antisemitismus<br />
ein ohnehin schon großes und noch zusätzlich<br />
wachsendes gesellschaftliches Problem ist, können<br />
sich Jüdische Museen nicht mehr auf diese Position<br />
zurückziehen. Die Aufgabe von Jüdischen Museen ist,<br />
diesen Kampf mitzuführen. Dazu haben sich eigentlich<br />
alle Jüdischen Museen in Europa und vor allem<br />
im deutschsprachigen Raum auch bekannt. Meines<br />
Erachtens bedarf es dafür aber mehr als Ausstellungen,<br />
wo nur die hingehen, bei denen es weniger Aufklärungsbedarf<br />
gibt. Man muss Bildungs- und Vermittlungsprogramme<br />
entwickeln, die gezielt jene<br />
Gruppen ansprechen, in denen antisemitische Ideologien<br />
entweder schon verbreitet sind oder in denen<br />
sie sich etablieren könnten.<br />
Sie haben in Augsburg gezeigt, wie ein Jüdisches Museum auch<br />
in den öffentlichen Raum gehen kann. Wird das in Wien auch<br />
ein Thema sein – und gibt es in Wien einen größeren Sicherheitsaspekt,<br />
der dabei zu beachten ist?<br />
I Sicherheitsaspekte gibt es immer, und die sind auch<br />
zu bedenken. Wenn man sich allerdings nur von Sorge<br />
um die Sicherheit leiten lässt, macht man nie etwas.<br />
Wir müssen in Augsburg nach dem Anschlag in Halle<br />
jede Veranstaltung polizeilich melden, für jede Veranstaltung<br />
wird von der Polizei ein Sicherheitskonzept erarbeitet.<br />
Das ist der Alltag, das kann ich nicht ändern.<br />
„Noch vor<br />
zehn Jahren<br />
haben viele<br />
Jüdische Museen<br />
gesagt,<br />
Antisemitismus<br />
ist eine<br />
Geschichte<br />
der Antisemiten<br />
und<br />
nicht eine<br />
Geschichte<br />
der Jüdinnen<br />
und Juden.“<br />
Mir ist es jedenfalls sehr wichtig, in den öffentlichen<br />
Raum zu gehen. Wenn man das Museum als<br />
Bildungstempel des 19. Jahrhunderts begreift, wird<br />
das dazu führen, dass die Besucherinnen und Besucher<br />
aussterben werden. Ein Museum hat als städtische<br />
Institution auch einen Auftrag von der Stadt<br />
und daher auch eine Verpflichtung gegenüber der<br />
städtischen Bevölkerung. Diese Verpflichtung heißt,<br />
auf die Stadtgesellschaft zuzugehen. Man muss also<br />
mehr tun, als nur die Museumstür zu öffnen und zu<br />
warten, dass die Menschen kommen.<br />
Im öffentlichen Raum kann man sehr viel machen,<br />
und es gibt auch Konzepte, bei denen es überhaupt<br />
keine Sicherheitsbedenken gibt. Der öffentliche<br />
Raum hat ja ganz andere Bedingungen als ein<br />
Museumsraum. Der Museumsraum ist geprägt durch<br />
Objekte, da gibt es Lichtverhältnisse und begrenzten<br />
Platz. Im öffentlichen Raum gibt es – von fliegenden<br />
Installationen bis zur Performance – ganz andere<br />
Möglichkeiten.<br />
Eine weitere Möglichkeit, Museum größer zu denken, ist<br />
Dinge digital anzubieten. Ist digital gleichbedeutend mit ich<br />
spreche jüngere Leute an?<br />
I Nein, nicht unbedingt. Ich habe mich in den letzten<br />
Jahren sehr intensiv mit Digitalisierung und der digitalen<br />
Museumswelt auseinandergesetzt, und, ganz<br />
kurz zusammengefasst, es interessiert sich ein jüngeres<br />
Publikum nicht per se für digitale Inhalte, wenn<br />
sie nicht speziell für dieses designt sind. Stelle ich für<br />
eine virtuelle Ausstellung etwa Objektfotos mit einem<br />
Online-Tool wie Google Arts & Culture ins Internet, ist<br />
das nicht unbedingt für jüngere Menschen interessant,<br />
sondern eher vielleicht für ein erwachsenes, museumserfahrenes<br />
Publikum außerhalb Österreichs,<br />
dem es nicht möglich ist, das Jüdische Museum selbst<br />
zu besuchen. Will man eine virtuelle Ausstellung für<br />
jüngere Menschen designen, muss man sich mit dem<br />
digitalen Raum und seinen Möglichkeiten auseinandersetzen<br />
und das Zielpublikum ernst nehmen.<br />
In der Zukunft wird der digitale Museumsraum<br />
dieselbe Bedeutung haben wie der reale. Und besonders<br />
werden wir uns mit den Verbindungen zwischen<br />
digitaler und realer Welt beschäftigen müssen. Es ist<br />
nicht so, dass es hier unsere Realität gibt und da das<br />
Digitale. Jede und jeder, der einmal Pokémon Go gesehen<br />
hat, weiß, dass es Verbindungen zwischen der realen<br />
und der digitalen, virtuellen Welt gibt. Das heißt,<br />
man kann die digitale Welt in die reale hineinführen.<br />
Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten – und<br />
aus diesen heraus kann man digitale Angebote sowohl<br />
speziell für Jugendliche kreieren wie auch zum Beispiel<br />
für ein älteres Publikum, das nicht mehr reisen<br />
kann und das Jüdische Museum besuchen möchte.<br />
Es reicht also nicht, die jeweils aktuelle Ausstellung in digitaler<br />
Form abzubilden.<br />
I Nein. Onlineausstellungen müssen für den digitalen<br />
Raum kuratiert werden und von digitalen Vermittlungsformaten<br />
begleitet werden. Dazu braucht<br />
28 wına | November 2021<br />
November.indb 28 15.11.2021 11:24:22
Vielfältiges Judentum<br />
es eine ausführliche digitale Strategie, nach der das<br />
umgesetzt wird.<br />
Denken Sie da an Ausstellungen, die es nur digital geben<br />
wird, oder werden die analogen und digitalen Inhalte schon<br />
verknüpft?<br />
I Man kann beides denken, und es gibt, wenn man<br />
etwa einige Kunstmuseen ansieht, auch spannende<br />
Formate. Das muss man dann mit dem Programm<br />
abstimmen. Museum ist nicht nur eine Ausstellung,<br />
sondern das Spannende ist, dass zum Beispiel durch<br />
das begleitende Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm<br />
für unterschiedliche Besucherinnen und<br />
Besucher ganz verschiedene Aspekte des Themas näher<br />
beleuchtet werden können. Ein digitales Format<br />
kann dann nochmals eine andere Seite zeigen. Es gibt<br />
so viele Möglichkeiten, und ich finde es sehr schön,<br />
wenn das gesamt kuratiert ist.<br />
Jüdische Museen sollten neben den wechselnden Dauerausstellungen<br />
vor allem auch über das Judentum sowie die Geschichte<br />
der jüdischen Gemeinde(n) in dem jeweiligen Land<br />
informieren. Im Jüdischen Museum Wien ist es auf Grund des<br />
beschränkten Raumangebots schwierig, all das unterzubringen.<br />
Sie haben in Augsburg schon gezeigt, dass man hier neue<br />
Wege gehen kann, indem Sie bereits Bestehendes adaptiert haben.<br />
Welche neuen Wege haben Sie sich hier für Wien überlegt?<br />
I Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Wien<br />
ist 2013 eröffnet worden. Dauerausstellungen wurden<br />
in den 1980er-Jahren für 30 Jahre gemacht, heutzutage<br />
werden sie für etwa zehn Jahre konzipiert. Das heißt,<br />
auch die Dauerausstellung in der Dorotheergasse wird<br />
irgendwann ein Ablaufdatum haben. Was nicht heißt,<br />
dass bis dahin nichts zu tun ist.<br />
Womit ich in Augsburg gearbeitet habe und eigentlich<br />
auch schon davor, sind Interventionen. Mir macht<br />
es großen Spaß, durch temporäre Veränderungen einer<br />
Dauerausstellung neue Perspektiven hineinbringen<br />
zu können. Ein Museum muss dabei selbstkritisch<br />
sein und sich selbst reflektieren. Ein Beispiel: Der Versuch<br />
in Jüdischen Museen „das Judentum“ zu erklären,<br />
endet oft damit, dass ein Bild für ein mehrheitlich<br />
nichtjüdisches Publikum erzeugt wird, das so überhaupt<br />
nicht stimmt. Und ich denke mir, da müssen<br />
jüdische Museen schon selbstkritisch sein und sich<br />
fragen, ob es für die Darstellung eines vielfältigen Judentums<br />
nicht vielleicht andere Ansätze braucht.<br />
Das Platzproblem ist im Palais Eskeles natürlich gegeben.<br />
Aber einerseits muss ich nicht 100.000 Objekte<br />
in einem Raum haben, und andererseits kann ich mir<br />
auch eine Dauerausstellung vorstellen, in der Objekte<br />
viel mehr im Wechsel sind.<br />
Das Judentum darzustellen bedeutet in vielen jüdischen Museen,<br />
den Jahreskreislauf anhand von Judaika wie einer Sederplatte<br />
und einer Chanukkia zu zeigen.<br />
I Das stimmt, und ich glaube nicht, dass irgendjemand<br />
daraus einen Gewinn hat. Das heißt nicht, dass Judaika<br />
keine spannenden Objekte sind. Interessant ist eine<br />
Ausstellung aber dann, wenn Judaika nicht als irgend-<br />
„Wenn man<br />
das Museum<br />
als Bildungstempel<br />
des 19.<br />
Jahrhunderts<br />
begreift, wird<br />
das dazu führen,<br />
dass die<br />
Besucherinnen<br />
und Besucher<br />
aussterben<br />
werden.“<br />
Barbara<br />
Staudinger<br />
welche Platzhalter für Tradition verwendet werden,<br />
sondern eine Geschichte erzählen. Wenn Tradition mit<br />
einem Zinnteller und ein paar Silberobjekten abgetan<br />
ist, dann ist es in Wirklichkeit gar keine Tradition, das<br />
hat kein Leben.<br />
Es geht also darum, was Menschen mit diesen Gegenständen<br />
tun.<br />
I Ja. Und es ist auch ganz wichtig zu sagen, dass Tradition<br />
– ein Begriff, der in den letzten Jahren sehr bemüht<br />
wird – vermittelt, dass sich etwas nicht verändert<br />
hat, dass etwas unverändert weitergetragen wird.<br />
Aber selbstverständlich hat es sich verändert, Tradition<br />
bedeutet in Wirklichkeit permanenten Wandel. In der<br />
jüdischen Geschichte gibt es den ganz großen Bruch<br />
durch die Shoah. Aber nicht nur die Shoah hat Traditionen<br />
verändert, sondern sie verändern sich weiter.<br />
Das muss man zeigen, weil man sonst ein musealisiertes<br />
Judentum ausstellt, zu dem man auch keinen Bezug<br />
aufbauen kann.<br />
In kulturhistorischen Ausstellungen erinnern sich<br />
Menschen beim Hinausgehen am besten an Geschichten<br />
von anderen Menschen. Uns interessiert Kultur,<br />
weil uns Menschen interessieren. Eine Tradition, die<br />
dargestellt wird wie in einem luftleeren Raum und als<br />
hätte sie sich nie verändert, interessiert nicht. Und sie<br />
wird daher auch nicht erinnert werden. Ich sehe es als<br />
meinen Auftrag, das Menschliche und die Menschen<br />
zusammenzubringen.<br />
Am Standort Judenplatz des Jüdischen Museums Wien befasst<br />
sich die dort eben erst neu gestaltete Dauerausstellung mit<br />
dem Judentum vor vielen Jahrhunderten – und zwar mit jüdischem<br />
Leben im mittelalterlichen Wien. Werden Sie diese Ausstellung<br />
so beibehalten oder verändern?<br />
I Ich finde, dass im Museum auch Nachhaltigkeit diskutiert<br />
werden muss. Egal, wie eine Ausstellung konzipiert<br />
ist – und das ist nun nicht als Bewertung dieser<br />
Schau, sondern ganz neutral zu verstehen: Man kann<br />
sie nicht nach einem Jahr schließen. Aber eine Dauerausstellung<br />
muss sich verändern können, muss Fragen<br />
aufwerfen, die ich dann aufgreife, und diese Fragen<br />
kann ich auch durch Interventionen, durch verschiedene<br />
Aktionen stellen. Das muss eine Dauerausstellung<br />
sozusagen aushalten, dann ist es auch eine nachhaltige<br />
Ausstellung.<br />
Das Thema Mittelalter wird am Judenplatz also weiter behandelt<br />
werden.<br />
I Der Standort Judenplatz ist der historische Standort<br />
der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde. Und es gibt<br />
keinen Grund, warum man an diesem historischen<br />
Ort nicht daran erinnern sollte. Das ist der Unterschied<br />
zum Palais Eskeles. Das Palais Eskeles ist nicht<br />
der Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert<br />
gewesen und auch nicht der Mittelpunkt der<br />
Gemeinde in der frühen Neuzeit. Der Judenplatz ist<br />
nicht nur Museum, er ist historischer Schauplatz und<br />
Denkmal. Er steht für die mittelalterliche Gemeinde,<br />
das ist unverrückbar.<br />
wına-magazin.at<br />
29<br />
November.indb 29 15.11.2021 11:24:24
Bezug zu Menschen<br />
„Da ist mein<br />
Ehrgeiz erwacht“<br />
Jana Wassermann führt seit diesem Jahr eine<br />
Kassenordination als Allgemeinmedizinerin in der<br />
Novaragasse in der Leopoldstadt. Sie kehrt damit<br />
in die Straßen ihrer Kindheit zurück.<br />
Von Alexia Weiss, Foto: Daniel Shaked<br />
Sechseinhalb Jahre war Jana Wassermann<br />
alt, als ihre Eltern beschlossen,<br />
von Jerusalem nach Wien zu<br />
übersiedeln. Sie waren schon vor<br />
Janas Geburt mit den beiden älteren Töchtern<br />
von Usbekistan nach Israel ausgewandert.<br />
Nun stand eine größere Familienzusammenführung<br />
in Österreich an. Jana<br />
hatte da schon ein dreiviertel Schuljahr in<br />
Israel absolviert. In Wien musste sie vor allem<br />
sprachlich ganz von vorne anfangen.<br />
Zunächst besuchte sie die Volksschule in<br />
der Staudingergasse im 20. Bezirk, dann<br />
wechselte sie in die Schule in der Novaragasse<br />
– genau dort befindet sich nun ihre<br />
Ordination. Um die Ecke, in der Zirkusgasse,<br />
besuchte sie das Gymnasium.<br />
„Zugleich Jüdin und Ausländerin zu<br />
sein, war oft eine Herausforderung für<br />
mich“, sagt Wassermann im Rückblick. Es<br />
seien die 1980er- und 1990er-Jahre gewesen,<br />
„das war noch eine andere Zeit, da<br />
ist man schnell aufgefallen und wirkte<br />
rasch anders.“ Als besonders schwierig<br />
hat sie den Übertritt in das Gymnasium<br />
in Erinnerung. „Ich war in Deutsch zwar<br />
gut, aber Deutsch war nicht meine Muttersprache.“<br />
Mit einigen Lehrern habe<br />
sie damals schlechte Erfahrungen gemacht.<br />
In Mathematik sei sie in der ersten<br />
Klasse nicht gut gewesen, dann hieß es,<br />
sie könne nicht in die nächste Schulstufe<br />
aufsteigen, weil ihr Deutsch zu schlecht<br />
sei. „Da ist mein Ehrgeiz erwacht“, sagt<br />
die Ärztin heute. „Ich habe gelernt und<br />
wollte nie wieder in so einer Situation<br />
sein. Von da an zeichneten mich Hartnäckigkeit<br />
und Zielstrebigkeit aus.“<br />
Von nun an habe sie immer wieder aufgezeigt<br />
und nachgefragt, wenn sie etwas<br />
im Unterricht nicht verstand. Im Maturajahr<br />
dann aber ein familiärer Tiefschlag:<br />
Ihr Vater, ein Zahnarzt, starb. Er habe sie<br />
sehr geprägt, sagt Wassermann. „Zum großen<br />
Teil ist es auch ihm zu verdanken, dass<br />
ich Ärztin geworden bin.“ Oft erinnere sie<br />
sich daran, wie der Vater das gemeinsame<br />
Abendessen für einen schmerzgeplagten<br />
Patienten unterbrochen habe. Doch auch<br />
die Mutter, die in der ehemaligen Sowjetunion<br />
russische Literatur und Philosophie<br />
studiert hatte, trug viel zum Erfolg der drei<br />
Töchter bei. „Unsere Mutter war die, die darauf<br />
geschaut hat, dass wir lernen. Und sie<br />
war streng, sie hat uns beigebracht, dass<br />
Erfolg mit Leistung verbunden ist.“<br />
Für das Medizinstudium entschied sich<br />
Wassermann, weil es sie faszinierte, was<br />
das Gehirn alles steuern kann und dass<br />
der Körper wie eine perfekt gebaute Ma-<br />
„Eine gesunde<br />
Psyche ist die<br />
Basis eines gesunden<br />
Körpers,<br />
eine solide Vorsorgemedizin<br />
die<br />
Prävention von<br />
lebensbedrohlichen<br />
Erkrankungen.“<br />
Jana Wassermann<br />
schine funktioniert. Im Studium war es vor<br />
allem das Fach der Inneren Medizin, das sie<br />
interessierte und das sie auch im Rahmen<br />
einer Facharztausbildung vertiefen wollte.<br />
Besonders viel Zeit widmete sie dem Studium<br />
des EKG sowie der Blutzucker- und<br />
Blutdruckeinstellungen. „Als Hausärztin<br />
zählt aber immer der Mensch als Gesamtheit.<br />
Eine gesunde Psyche ist die Basis eines<br />
gesunden Körpers, eine solide Vorsorgemedizin<br />
die Prävention von lebensbedrohlichen<br />
Erkrankungen oder vermeidbaren<br />
schweren Komplikationen“, so Wassermann.<br />
Wichtig sei ihr daher der Bezug zum<br />
Menschen, das Reden, das Soziale, auch daraus<br />
ergebe sich oft durch den einen entscheidenden<br />
Hinweis eine Diagnose. Und<br />
das ist genau das, was sie bis heute an ihrer<br />
Arbeit fasziniert. Wassermann arbeitet<br />
gerne für und mit Menschen. Da darf dann<br />
ein Patientengespräch auch gerne einmal<br />
etwas länger dauern, als es eigentlich in einer<br />
Kassenordination üblich ist.<br />
Ihren Turnus absolvierte Wassermann<br />
im Wilhelminenspital, der heutigen Klinik<br />
Ottakring. Mehrmals unterbrach sie<br />
ihn, um in Karenz zu gehen: In dieser Zeit<br />
kamen ihre drei Töchter – heute vier, acht<br />
und zehn Jahre alt – zur Welt. Danach begann<br />
sie 2018 einerseits bei ESRA als Allgemeinmedizinerin<br />
zu arbeiten, andererseits<br />
war sie als Vertretungsärztin in<br />
verschiedenen Ordinationen in Wien tätig.<br />
Dort hat sie erlebt, dass man maximal<br />
fünf bis sieben Minuten mit einem Patienten<br />
verbringen sollte. Bei ESRA hat sie dagegen<br />
die Erfahrung gemacht, wie wichtig<br />
es ist, den Patienten zuzuhören. Dort hat sie<br />
30 wına | November 2021<br />
November.indb 30 15.11.2021 11:24:24
Transgenerationelles Trauma<br />
Jana Wassermann<br />
„Als Hausärztin zählt<br />
aber immer der<br />
Mensch als Gesamtheit.“<br />
auch mitbekommen, dass zum Beispiel ein<br />
transgenerationelles Trauma dafür verantwortlich<br />
sein kann, dass jemand Panikattacken<br />
bekommt, nicht einschlafen kann<br />
oder nicht reden möchte. Die Vielschichtigkeit<br />
der jüdischen Klientel habe ihr besonders<br />
gut gefallen, sagt sie. Viel habe sie<br />
bei ESRA über den NS-Bezug gelernt, den<br />
Schwerpunkt dieser Institution. Gut bekannt<br />
seien ihr aufgrund ihrer eigenen<br />
Biografie jüdische Patienten mit Migrationshintergrund.<br />
Eigene Praxis. Im ersten Corona-Lockdown<br />
brachen Wassermann viele der Stunden als<br />
Vertretungsärztin weg – es kamen kaum<br />
mehr Patienten und Patientinnen in die<br />
Ordinationen. Da reifte die Entscheidung<br />
heran, sich mit einer eigenen Praxis selbstständig<br />
zu machen. Auf der Suche nach einer<br />
Kassenplanstelle sah sie sich bewusst<br />
im zweiten Bezirk um. Dass gerade in der<br />
Novaragasse der Allgemeinmediziner Ignac<br />
Feld nach einem Nachfolger oder einer<br />
Nachfolgerin suchte, sei ein Glücksfall gewesen.<br />
„Ich habe ihn vorher nicht gekannt,<br />
habe aber ziemlich bald festgestellt, dass er<br />
nicht nur ein guter Arzt, sondern auch ein<br />
gutherziger, phantastischer Mensch war.“<br />
So habe sich eine Freundschaft entwickelt<br />
JANA WASSERMANN,<br />
geb. 1980 in Jerusalem, im Alter<br />
von sechs Jahren mit der Familie<br />
nach Wien übersiedelt. Hier Matura,<br />
danach Medizinstudium. Nach<br />
dem Turnus zunächst bei ESRA<br />
als Allgemeinmedizinerin sowie<br />
als Vertretungsärztin in allgemeinmedizinischen<br />
Praxen tätig. Seit<br />
diesem Jahr praktische Ärztin mit<br />
eigener Kassenordination in der<br />
Leopoldstadt. Sprachen: Deutsch,<br />
Russisch, Hebräisch und Englisch.<br />
Wassermann ist verheiratet und<br />
Mutter dreier Töchter.<br />
hauptsachegesund.at<br />
und Feld, der bald nach der Übergabe leider<br />
verstarb, und sie hätten den Übergang<br />
überlappend gestaltet. Das habe sehr gut<br />
funktioniert.<br />
Außerdem hat sie noch alle Hände voll<br />
zu tun, um sich um ihre Kinder zu kümmern.<br />
„Meine drei Töchter und mein Mann<br />
sind das Wichtigste in meinem Leben.“ Mitgeben<br />
wolle sie den Mädchen „die Liebe<br />
zum Lernen und Begeisterungsfähigkeit,<br />
dass sie optimistisch sind und Freude an<br />
ihren Mitmenschen haben“.<br />
Long Covid. Als Mutter hat sie auch miterlebt,<br />
wie sich die Pandemie auf ihre<br />
Kinder ausgewirkt hat. Ihre beiden älteren<br />
Töchter hätten die Hälfte ihrer Volksschulzeit<br />
verpasst. Als Ärztin sieht sie oft<br />
Patienten, die an Long Covid erkrankt<br />
sind. „Jemand, der verlangsamt ist, der<br />
Atemnot bei der geringsten körperlichen<br />
Anstrengung hat, der sein Herz schlagen<br />
hört, wenn er sich nur bückt, der kann<br />
nur Long Covid haben, wenn er vorher<br />
nichts anderes hatte.“ Inzwischen gebe es<br />
hier aber sowohl Rehabilitationsangebote<br />
wie auch Ambulanzen. Man müsse diese<br />
Erkrankung ernst nehmen und dürfe die<br />
Beschwerden nicht bagatellisieren. „Die<br />
Leute leiden extrem.“<br />
wına-magazin.at<br />
31<br />
November.indb 31 15.11.2021 11:24:25
MATOK & MAROR<br />
Café Bellaria: So geht Kaffeehaus heute<br />
Originelle leichte Gerichte und quirliges Lebensgefühl bietet dieses moderne „Wohnzimmer“.<br />
Junge Burgtheater-Schauspieler relaxen<br />
mit Familienanhang an einem langen Ecktisch.<br />
Es riecht nach frischem Brot und Eiern.<br />
Von der Stimmung her weiß man nicht genau,<br />
ob sie sich hier vor oder nach einer Probe<br />
stärken oder vielleicht sogar vom Abend davor<br />
übrig geblieben sind? Daneben freuen sich<br />
vier junge Frauen über ihren sprudelnden Prosecco.<br />
Ein ungarisches Touristenpärchen tuschelt<br />
mittendrin und bearbeitet gleichzeitig<br />
hoffnungsvoll ihre Rubbellose. Willkommen<br />
im neugestalteten Café Bellaria.<br />
Am Eck Bellariastraße/Hansenstraße gelegen,<br />
ist es das älteste noch immer betriebene<br />
Kaffeehaus Wiens. Eröffnet wurde es 1870 in<br />
einem Gründerzeithaus: Stammgäste kamen<br />
aus dem Justizpalast gegenüber, dem Parlament<br />
ebenso wie aus den nahegelegenen Museen<br />
und dem Burg- und Volkstheater. Die alten<br />
Wände bergen sicher viele Geheimnisse<br />
und pikante Anekdoten. Taufpate des Café Bellaria<br />
(nicht koscher) ist Kaiser Franz Joseph:<br />
Der Name des Cafés stammt von einer Rampe<br />
zur Hofburg, die für Kaiserin Maria Theresia<br />
um 1741 gebaut worden war. Wozu? Damit Ihre<br />
Majestät ohne Stiegensteigen mit der Kutsche<br />
vor ihre Gemächer fahren kann. Wegen der guten<br />
Luft, der „Bell-aria“ eben, soll der Kaiser<br />
dort gern spazieren gegangen sein.<br />
Seit Kurzem wird hier ein neues Kapitel<br />
geschrieben: Ob die Luft auf den beiden straßenseitigen<br />
Terrassen des Lokals noch heute<br />
so gut ist? Jedenfalls ist der hohe Innenraum<br />
äußerst einladend: Unterhalb der eindrucksvollen<br />
Stuckaturkuppel und den Rundbogenfenstern<br />
windet sich eine helle Neonschlange<br />
dahin, während die knallroten Thonet-Sessel<br />
und vor allem eine Wandverkleidung aus<br />
grauen Schieferlamellen einen augenzwinkernden<br />
Kontrast erzeugen.<br />
Ende 2020 verabschiedete sich Betreiber<br />
Charly Kotzina nach 42 Jahren in die Pension.<br />
Große Fastfood-Ketten ritterten um diesen<br />
Standort. Zum Glück für die heutigen Gäste erhielten<br />
zwei junge einfallsreiche Gastronomen<br />
den Zuschlag: David Figar, seit 2013 Gastronom<br />
und Hausherr des Figar in der Kirchengasse,<br />
und Rubin Okotie, der 33-jährige ehemalige<br />
Fußballspieler der österreichischen Nationalmannschaft.<br />
„Gesunde Ernährung spielte immer<br />
eine Rolle. Auch deshalb wählte ich privat<br />
„Wir beleben das<br />
Wiener Kaffeehaus<br />
neu – nicht als<br />
Museum, sondern<br />
als Lebensgefühl.“<br />
David Figar<br />
Lachs-Teriyaki-Bowl:<br />
gegrillter Lachs, Sushi-Reis,<br />
Avocado, Ingwer, Fenchel, Rotkraut,<br />
Karotten und hausgemachte<br />
Teriyaki-Sauce.<br />
WINA- TIPP<br />
CAFÉ BELLARIA<br />
Bellariastraße 6, 1010 Wien<br />
+43/(0)1/522 60 85<br />
cafebellaria.at<br />
den veganen Weg“, erklärt Okotie, der bereits<br />
mit seinem Restaurant Plain im Servitenviertel<br />
ein trendiges Lokal betreibt. Im Café Bellaria<br />
punkten die beiden mit einem erfrischenden<br />
Konzept – und dieses wurde vom Tag eins<br />
an positiv aufgenommen.<br />
Bei der kulinarischen Vereinigung wollen<br />
sie mit einer internationalen Fusionsküche<br />
und einem All-Day-Concept ab 7:30 Uhr<br />
nun das Beste aus der Plain- und der Figar-Welt<br />
kombinieren. Zu den morgendlichen Muntermachern<br />
zählen Eggs Florentine (English<br />
Muffin, zwei pochierte Bioeier, sautierter Babyblattspinat,<br />
hausgemachte Bio-Sauce-Hollandaise)<br />
und Eggs Royal auf Croissant (Eierspeise<br />
aus zwei Bioeiern, geräucherter Lachs,<br />
frische Kräuter) um je € 10,50. Vegan gibt es<br />
zwei Angebote: den Avocado-Toast mit sautiertem<br />
Babyblattspinat, Avocado, Tomaten-Concassée<br />
um € 9 (dazu bietet man auch<br />
Räuchertofu um € 2 extra) und den Passionsfrucht-Porridge<br />
aus Biohaferflocken, Kokosmilch,<br />
Passionsfrucht, Bananen, frischen Beeren<br />
sowie karamellisierten Nüssen.<br />
Da Bowls nicht mehr fehlen dürfen, gibt es<br />
eine köstliches Lachs-Teriyaki-Bowl mit gegrilltem<br />
Lachs, Sushi-Reis, Avocado, Ingwer,<br />
Fenchel, Rotkraut, Karotten und hausgemachter<br />
Teriyaki-Sauce (€ 14). Die Vegan Bellaria<br />
Bowl (€ 12) besteht aus Kimchi-Tofu, Gurken,<br />
Glasnudeln, Mango, eingelegten Radieschen<br />
und Sesam-Ponzu. Als Nachschlag empfiehlt<br />
sich der Buttermilk Pancake mit hausgemachter<br />
Nougatcreme, Vanillesauce und frischen<br />
Früchten (€ 8). Hauptspeisen werden im<br />
Café Bellaria ab 11:30 Uhr serviert: Getestet haben<br />
wir die veganen Bellaria Gnocchi, die mit<br />
gegrilltem Kürbis, Tomaten und Frühlingszwiebeln<br />
herrlich geschmeckt haben. Vegan<br />
ist auch der Beyond Meat Burger (€ 15) mit Salatherzen<br />
und Erbsencreme. Dinner wird ab<br />
17 Uhr serviert, zum Beispiel ein pochierter<br />
Seesaibling mit gegartem Zitronenlauch, Shiitake-Pilzen,<br />
Erdäpfel-Espuma, Lauchöl und<br />
Erdäpfel-Stroh. Ein vegetarisches Risotto mit<br />
schwarzer Trüffel, Pecorino Romana, Stundenei<br />
um € 19 ist auch im Angebot.<br />
„Wir beleben das Wiener Kaffeehaus neu<br />
– nicht als Museum, sondern als Lebensgefühl“,<br />
ist David Figar überzeugt. Das scheint<br />
gelungen zu sein. <br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel<br />
wına-magazin.at<br />
32<br />
November.indb 32 15.11.2021 11:24:28
WINAKOCHT<br />
Wie spart man traditionell Kalorien, …<br />
… und weshalb braucht man zwei Herde, aber nur einen Kühlschrank? Die Wiener Küche<br />
steckt voller köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie an dieser Stelle. Ob Koch-<br />
Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leserinnen und Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Liebe Wina-Redaktion,<br />
Sufganiot gehören zu Chanukka einfach dazu, erinnern<br />
sie doch an das Ölwunder. Für mich als Diätologin<br />
ist das Schmalzgebackene jedoch eine kleine<br />
Nährwertkatastrophe. Wie bringe ich das Gebäck mit<br />
meinen Berufsprinzipien unter einen Hut? Habt ihr da<br />
eine Idee?<br />
Daniela S., Wien<br />
Vielleicht hilft es Ihnen ja, wenn Sie Ihren<br />
Blick auf die anderen inneren Werte<br />
des Schmalzgebackenen lenken. Auf die Tradition<br />
zum Beispiel. Auf das Soul-Food-Potenzial<br />
der flaumigen Kugeln, insbesondere<br />
wenn man sie mit Dulce de Leche füllt (siehe<br />
Rezept). Oder auf folgende Legende, die einfach<br />
zu schön ist, um nicht an sie zu glauben,<br />
und die erklärt, wie Sufganiot zu ihrem österreichischen<br />
Alias „Krapfen“ kamen.<br />
Sie handelt von der Wiener Köchin Cäcilie<br />
Krapf: Aus Ärger über ihren Mann, so heißt<br />
es, habe sie im Jahre 1690 ein Stück Germteig<br />
nach dem Gatten geworfen. Der aber duckte<br />
sich und so fiel der Teig in einen Topf mit siedendem<br />
Fett. Sparsam, wie die Krapf gewesen<br />
sein soll, wurde der „Küchenunfall“ hernach<br />
verzehrt. Mit dem schönen Nebeneffekt,<br />
dass über dem flaumigen Genuss dann auch<br />
der Ehestreit gegessen gewesen sein soll.<br />
Ansonsten bleibt uns nur, Sie an dieser<br />
Stelle in Ihrem professionellen Bemühen um<br />
gesunden und gemäßigten Genuss zu unterstützen. Statt mit<br />
dem Hinweis auf Nährwerte und Kalorien, der – wie Sie sicher<br />
aus eigener (Berufs)Erfahrung wissen – kaum fruchtet, weil<br />
Sufganiot gar so köstlich sind, probieren Sie es doch mal mit<br />
folgendem Argument vom israelischen Comedian Avi Nussbaum,<br />
der damit die Initiative des damaligen ultraorthodoxen<br />
Gesundheitsministers Yaakov Litzman von der Partei Vereinigtes<br />
Tora-Judentum unterstützte, der die Israelis 2016<br />
zu bewussterem Essverhalten anhalten wollte: „Der<br />
Geschichte zufolge hat vor über 2.000 Jahren ein<br />
winziges Fläschchen Öl für acht Tage gereicht.<br />
Müssen wir also wirklich ganze Container in acht<br />
Stunden verbrauchen?“<br />
Sollte Ihre Antwort „Nein“ lauten, könnten Sie<br />
über den Einsatz einer Heißluftfritteuse (neudeutsch:<br />
Air Fryer) nachdenken. Die kommt theoretisch<br />
und praktisch ohne Öl aus. Für die Tradition<br />
– und den Geschmack – könnte man das<br />
Gebäck dann einfach vor dem Heißluftfrittieren<br />
DULCE DE LECHE<br />
ZUTATEN (für ca. 500 g):<br />
1 l Milch<br />
260 Gramm Zucker<br />
1 Messerspitze Natron<br />
1 TL Vanilleextrakt<br />
Geheimzutat: Glasmurmeln<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Milch und Murmeln in einen<br />
Topf geben und erhitzen. Die<br />
Murmeln sorgen dafür, dass die<br />
Masse nicht anbrennt. Kurz vor<br />
dem Siedepunkt Natron, Vanilleextrakt<br />
und Zucker hinzugeben.<br />
Unter ständigem Rühren bei starker<br />
Hitze einkochen lassen, bis<br />
nach zirka einer Stunde eine karamellfarbene<br />
Creme entstanden<br />
ist. Die Creme hat die perfekte<br />
Konsistenz, wenn ein Tropfen<br />
davon nicht mehr auf dem Teller<br />
verrinnt. Dulce de Leche (ohne<br />
die Murmeln) in Gläser abfüllen<br />
und auskühlen lassen. Im Kühlschrank<br />
aufbewahren. Falls beim<br />
Füllen der Sufganiot etwas übrigbleiben<br />
sollte: Die Milchkaramellcreme<br />
schmeckt auch herrlich<br />
auf Brot.<br />
mit etwas Öl besprayen. Ob sich das Ergebnis<br />
allerdings Sufganiot nennen darf, muss jede<br />
und jeder selbst entscheiden. Schließlich bedeutet<br />
Sufganiot übersetzt „Fettschwamm“.<br />
Werte Kochexperten,<br />
bei der Einrichtung meines neuen Hauses stellt sich mir<br />
folgende Frage: Warum brauche ich zum Beispiel zwei<br />
Herde, aber nur einen Kühlschrank? Schließlich könnten<br />
sich ja auch im Kühlschrank zum Beispiel Milchiges<br />
und Fleischiges aus Versehen mischen. Könnt ihr<br />
dieses Rätsel für mich auflösen? <br />
Anonym<br />
Grundsätzlich gelten die Speisegesetze<br />
auch für Küchengeräte, Geschirr, Besteck<br />
und anderes Zubehör. Um Ihre Frage<br />
zu beantworten, müssen wir in das ganz eigene<br />
Gedankensystem der Halacha eintauchen,<br />
das erklärt, warum es sich so und<br />
nicht anders verhält. Die Halacha unterscheidet<br />
nicht nur zwischen verschiedenen<br />
Aggregatszuständen eines Lebensmittels,<br />
auch Hitzegrade haben eine Bedeutung. So<br />
trägt Wärme – die laut Halacha so stark sein<br />
muss, dass die Hand davor zurückschreckt,<br />
also bei 45 Grad Celsius und aufwärts – nicht<br />
nur zum Kochen, Braten oder Dünsten bei,<br />
durch die Erhitzung werden auch Geruch<br />
und Geschmack eines Nahrungsmittels auf<br />
andere Speisen(bestandteile) übertragen.<br />
Dies geschieht zum Beispiel, wenn Fleisch in einer Sauce gedünstet<br />
wird.<br />
Im Kühlschrank findet diese Übertragung aufgrund der<br />
niedrigen Temperaturen nicht statt. Ein Gerät pro koscheren<br />
Haushalt reicht deshalb völlig aus. Sie dürfen sogar einen milchigen<br />
und einen fleischigen Topf in dasselbe Kühlregal stellen<br />
– wobei man natürlich aufpassen muss, dass<br />
kein Tropfen Milch in den fleischigen Topf<br />
fällt und umgekehrt. Und wenn es dennoch<br />
versehentlich geschieht?<br />
Wenn mengenmäßig mehr als 60-mal<br />
mehr Essen im Fleischtopf enthalten ist<br />
als der aus Versehen hineingefallene Milchtropfen,<br />
darf man die Speise trotzdem verzehren.<br />
Das Stichwort lautet hier „Batel beSchischim“, was<br />
wörtlich übersetzt „annulliert in 60“ bedeutet. Man<br />
geht dann davon aus, dass der Geschmack des nicht<br />
koscheren Teils nicht mehr nachweisbar ist und die<br />
Speise damit zulässig.<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle Fragen haben,<br />
schicken Sie sie bitte an: office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF<br />
wına-magazin.at<br />
33<br />
November.indb 33 15.11.2021 11:24:28
LEBENS ART<br />
Dick aufgetischt<br />
Novemberblues? Dagegen helfen zwei Dinge: Fröhliche Farben und exzellentes Essen!<br />
WINA hat dafür schon einmal die passenden Teller aus dem Schrank geholt …<br />
Ein Fest fürs Auge<br />
Kennen Sie den „Ottolenghi-Effekt“? Damit bezeichnet<br />
man den Moment, in dem der beliebte Chefkoch es<br />
wieder einmal geschafft hat, ein stinknormales Gemüse<br />
in ein kulinarisches Highlights zu verwandeln. Natürlich<br />
braucht es dafür auch die passenden Teller, Schalen,<br />
Schüsseln, Gläser, Tassen und Besteck. Deshalb<br />
lancierte Yontam Ottolenghi nun gemeinsam mit<br />
dem italienischen Künstler Ivo Bisignano für Serax<br />
die fröhliche Tableware-Kollektion „Feast“.<br />
Z. B. über hannibals.at<br />
CHEERS. Ottolenghi bei<br />
der Tortenschlacht im<br />
Metropolitan Museum.<br />
ÜBERWÄLTIGENDER<br />
AUGENSCHMAUS<br />
Dann sollen sie doch Kuchen essen!<br />
Im Sommer 2018 engagierten die Leiter des Metropolitan<br />
Museum of Art in New York den namhaften israelischen<br />
Spitzenkoch Yotam Ottolenghi. Diese Dokumentation<br />
begleitet Ottolenghi und fünf weitere<br />
visionäre Konditoren und Konditorinnen<br />
bei ihrer Mission, das einzigartige kulinarische<br />
Event auf die Beine zu stellen.<br />
Kleiner Spoiler: Das ist nicht immer<br />
nur süß!<br />
© Hersteller, mfa FilmDistribution<br />
34 wına | November 2021<br />
Ab 19. November 2021 auf DVD:<br />
Ottolenghi und die Versuchung von<br />
Versailles, mfa-film.de<br />
November.indb 34 15.11.2021 11:26:30
Geschnitztes<br />
fürs Geschnetzelte<br />
Ein Teller wie ein köstliches Gericht:<br />
„Jedes Exemplar ist anders als das andere.<br />
Ich fertige eine Tonscheibe an<br />
und schnitze von Hand, wodurch das<br />
einzigartige Muster entsteht“, erklärt die<br />
Tel Aviver Ton-Künstlerin Yulia Tsukerman.<br />
Ihre Terrakottaserie hat außerdem<br />
den, äh, perfekten Garpunkt: Im<br />
Inneren ist der Teller blau glasiert, die<br />
Außenseite ist naturbelassen.<br />
yuliatsukerman.com<br />
Super Bowls<br />
In Zeiten der Gender-Diskussion hat es das Sternchen<br />
wahrlich nicht einfach. Der amerikanische Designer<br />
Jonathan Adler hat es deshalb liebevoll und gleich einmal<br />
in verschiedenen Farben auf seine Geschirrserie<br />
„Helsinki“ gepackt. So schick wie schlicht – und deshalb<br />
perfekt für den Alltag und besondere Anlässe.<br />
Natürlich Spülmaschinenfest.<br />
jonathanadler.com<br />
Mega Maiolika<br />
Was macht der Künstler, wenn er Teller braucht? Er fertigt<br />
sie selbst an. So wie Sol LeWitt, der die Vorgänger seiner<br />
Serie „Lines in Four Directions“ Anfang der 1980er-Jahre<br />
eigentlich nur für sein eigenes Zuhause in Italien entworfen<br />
hatte und von Kunsthandwerkern in Deruta herstellten<br />
ließ. Die gleiche Familie, deren Keramiktradition über<br />
600 Jahre zurückreicht, stellt übrigens auch heute noch<br />
LeWitts Designs in Handarbeit her.<br />
lewittstudio.com<br />
Keramik mit Kanten<br />
Nicht immer muss das Eckige ins Runde. Beim<br />
israelischen Studio Adama leben die verschiedenen<br />
Formen der Teller und Schalen etwa in friedlichem<br />
Nebeneinander: als Halbkreis, quadratisch, rechteckig<br />
und sogar pizzastückförmig. Die bunten<br />
Produkte sind in Handarbeit aus Naturmaterialien<br />
geformt.<br />
adamastudio.com<br />
wına-magazin.at<br />
35<br />
November.indb 35 15.11.2021 11:28:27
Thema<br />
© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien; schedl_Barmherzige_Brueder_Wien<br />
Krankenhaus der Barmherzigen<br />
Brüder Wien<br />
Das Krankenhaus der Barmherzigen<br />
Brüder Wien wurde 1614<br />
gegründet. Während der vergangenen<br />
Jahrhunderte ist das Spital im<br />
2. Wiener Gemeindebezirk kontinuierlich<br />
gewachsen. Mittlerweile verfügt das<br />
Wiener Brüder Spital über mehr als 400<br />
Betten, beschäftigt rund 1.000 Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter und ist seit<br />
vielen Jahren ein verlässlicher Partner<br />
in der Gesundheitsversorgung in Wien<br />
und in ganz Ostösterreich. 2020 fanden<br />
rund 150.000 Patientinnen und Patienten<br />
im Spital in der Leopoldstadt medizinische<br />
Hilfe. Das Krankenhaus der<br />
Barmherzigen Brüder Wien ist zertifiziert<br />
nach pCC inkl. KTQ, womit einmal<br />
mehr die wichtige Verbindung von<br />
Qualität, Kompetenz sowie Fachlichkeit<br />
mit Barmherzigkeit und Nächstenliebe<br />
belegt wird. Das Spital ist Lehrkrankenhaus<br />
für Medizin als auch für Pflege und<br />
dem Krankenhaus angegliedert<br />
sind eine Apotheke<br />
sowie eine Pflegeakademie.<br />
UMWELTSCHUTZ<br />
IM KRANKEN-<br />
HAUS<br />
Das Krankenhaus hat<br />
auch im Bereich<br />
Umweltschutz ambitionierte<br />
Ziele: Das Ziel, die<br />
CO 2<br />
-Emissionen bis 2025<br />
um fast 50 % zu senken,<br />
wurde dank des Engagements<br />
aller Ordenseinrichtungen der<br />
Barmherzigen Brüder in Österreich<br />
bereits jetzt mit 48 % nahezu erreicht.<br />
Wurden 2017 noch ca. 16.563 Tonnen<br />
CO 2<br />
verursacht, waren es 2020 nur noch<br />
8.622 Tonnen – eine Reduktion um fast<br />
die Hälfte. Dies wurde vor allem durch<br />
die Errichtung von Photovoltaikanlagen,<br />
bauphysikalische Maßnahmen bei<br />
Neubauten, energieeinsparende Maßnahmen<br />
oder den Einsatz 100 % elektrischer<br />
Energie aus Wasserkraft erreicht.<br />
daVinci® Operationsroboter in Action<br />
Luftaufnahme Krankenhaus<br />
der Barmherzigen<br />
Brüder Wien<br />
EIN KRANKENHAUS<br />
FÜR ALLE MENSCHEN<br />
Die Ambulanzen im Krankenhaus<br />
der Barmherzigen Brüder<br />
Wien stehen allen Menschen<br />
offen. Dazu Frater Antonius<br />
Nguyen OH, Prior und oberster<br />
Ordensbruder in Wien: „Wir sind ein<br />
Krankenhaus für alle Menschen. Für<br />
uns zählen nicht die Weltanschauung,<br />
das Einkommen oder die Herkunft. In<br />
unseren Ambulanzen geht es auch nicht<br />
um den Versicherungsstatus. Es geht um<br />
den kranken Menschen und es geht darum,<br />
zu helfen - einfach und unbürokratisch.<br />
Im vergangenen Jahr haben<br />
wir vielen Menschen geholfen und rund<br />
15.000 Menschen ohne Versicherung auf<br />
eigene Kosten versorgt.“<br />
SPITZENMEDIZIN<br />
UND SPITZENPFLEGE<br />
Im Krankenhaus der Barmherzigen<br />
Brüder Wien erwartet die Patientinnen<br />
und Patienten beste Medizin und<br />
Pflege sowie eine topmoderne Ausstattung.<br />
Das Spital ist das einzige in ganz<br />
Österreich mit zwei daVinci® Operationsrobotern<br />
der neuesten Generation,<br />
die mittlerweile von vier medizinischen<br />
Abteilungen eingesetzt werden. Im Bereich<br />
der Pflege gibt es zahlreiche Diplomkrankenpflegepersonen<br />
mit Zusatzausbildungen<br />
und -qualifikationen<br />
wie beispielsweise Diabetesberatung,<br />
Stomaberatung oder auch Wundmanagement.<br />
„Krank zu sein ist für alle Menschen<br />
schwierig - wir sehen unsere Aufgabe<br />
darin, nicht nur die körperlichen Beschwerden<br />
zu heilen und zu lindern,<br />
sondern wir sehen den Menschen ganzheitlich<br />
und kümmern uns auch um den<br />
Geist und die Seele,“ so Frater Antonius<br />
Nguyen OH abschließend.<br />
Bitte unterstützen Sie unseren Einsatz für kranke und nichtversicherte Menschen mit einer Spende<br />
Spendenkonto: IBAN: AT69 6000 0000 0706 4001 BIC: BAWAATWW<br />
Die Spenden sind steuerlich absetzbar. Weitere Informationen unter www.menschlichkeit-bbwien.at wına-magazin.at<br />
36<br />
November.indb 36 15.11.2021 11:28:28
WINA YOGA<br />
Ist Yoga koscher?<br />
Yoga-Minjanim, jüdisch inspirierte Yoga-Kurse und<br />
zahlreiche Publikationen zum Thema Yoga und Judentum<br />
deuten auf das wachsende Interesse hin.<br />
Von Julia Kaldori<br />
Die Frage, die ihm in<br />
den letzten 20 Jahren<br />
am häufigsten gestellt<br />
wurde, besteht<br />
aus drei Worten: „Ist Yoga koscher?“<br />
Die Antwort von Marcus<br />
J Freed war seit jeher immer<br />
ein begeistertes Ja. Er ist<br />
Mitbegründer des Jewish Yoga<br />
Network (jewishyoganetwork.<br />
org) und Autor von The Kosher<br />
Sutras: A Yogi’s Guide to the Torah.<br />
Laut Freed deuten viele jüdische<br />
Quellen darauf hin,<br />
dass die Ausübung von Yoga<br />
zulässig ist, obwohl man wie<br />
bei allen talmudischen Überlegungen<br />
auch in die andere<br />
Richtung argumentieren kann. Trotz des stetig wachsenden<br />
Interesses an Yoga aus jüdischer Sicht, auch in<br />
Israel, sind viele observante Juden immer noch besorgt<br />
darüber, ob Yoga legitimerweise in die authentische jüdische<br />
Praxis integriert werden kann.<br />
Juden ringen mit der Spiritualität – das liegt in ihrer<br />
Natur, meint Freed. „Der Name Israel bedeutet ,der mit<br />
Gott gerungen und überwunden hat‘ (1. Mose 32,28),<br />
und wir können Juden dabei beobachten, wie sie in vielen<br />
verschiedenen Bereichen mit ihrer Beziehung zu<br />
G-tt experimentieren. Wenn wir in unserer eigenen<br />
Tradition keine spirituellen Antworten finden, suchen<br />
manche woanders.“ Es gibt mehrere Ashrams (hinduistisch<br />
oder asiatisch geprägte spirituelle Einkehrzentren),<br />
die jüdische Schüler wie auch jüdische Lehrer haben.<br />
Die Psychotherapeutin und Achtsamkeitslehrerin<br />
Sylvia Boorstein hat ein Buch mit dem Titel That’s Funny,<br />
You Don’t Look Buddhist: On Being a Faithful Jew and a Passionate<br />
Buddhist herausgebracht.<br />
Bevor sie Chabad-Rabbetzin wurde, war Olivia<br />
Schwartz Studentin der spirituellen Führerin Mira Alfassa<br />
in Indien, die ihren Anhängern als Die Mutter bekannt<br />
war. Alfassa war eine sephardische Jüdin, die in<br />
Paris als Tochter einer ägyptisch-jüdischen Mutter und<br />
eines türkisch-jüdischen Vaters geboren wurde. In den<br />
siebzig Jahren, die sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1973 in<br />
Avraham und Rachel Kolberg: Sie betreiben ihr Yoga-<br />
Studio in Beit Shemesh vor allem für orthodoxe Besucher.<br />
Indien verbrachte, erwarb sie<br />
sich großes Ansehen als yogische<br />
Führerin.<br />
Olivia Schwartz verließ Indien<br />
schließlich in Richtung<br />
Israel, wurde strenggläubig<br />
und war über 40 Jahre lang<br />
Co-Direktorin des berühmten<br />
Chai Center in Los Angeles.<br />
Sie hat hunderttausende<br />
von Menschen in Tora-Kursen<br />
unterrichtet und praktiziert<br />
immer noch jeden Tag<br />
Yoga.<br />
Eine große Herausforderung<br />
für viele jüdische Praktizierende<br />
ist es, wenn sie ein<br />
Yoga-Studio betreten und<br />
Statuen hinduistischer Gottheiten vorfinden. Freed rät<br />
dazu, sich zu vergewissern, dass die Yoga-Matte nicht<br />
vor einer der Statuen liegt oder diese Studios zu meiden<br />
und einen Onlinekurs zuhause zu besuchen. WINA-<br />
Autorin Lisa Prutscher (yogashelanu.at), aber auch die<br />
„Wir sind kein Yoga-Disney-Land.<br />
Beide Pfade beschreiten wir mit<br />
Respekt und getreu den Jahrtausende<br />
alten Traditionen.“<br />
Avraham Kolberg, Yoga-Lehrer<br />
in Beit Shemesh<br />
beiden Youtuberinnen Adriene Mishler (yogawithadriene.com)<br />
und Allie Van Fossen (thejourneyjunkie.<br />
com) sind hier empfehlenswerte Alternativen mit jüdischem<br />
Background.<br />
Immer mehr Menschen fühlen sich zu Yoga und Meditation<br />
hingezogen, und so plädiert Marcus J Freed dafür,<br />
Yoga in immer mehr Synagogengemeinschaften<br />
anzubieten, um so die Integrität des religiösen Rahmens<br />
zu bewahren und gleichzeitig immer mehr Menschen<br />
von Yoga und Meditation profitieren zu lassen. Gerade<br />
in Zeiten großer Umbrüche, wie wir sie aktuell erleben.<br />
wına-magazin.at<br />
37<br />
November.indb 37 15.11.2021 11:28:28
Thema<br />
Corona-Update: 1 – 2 – 2,5 – 3: Was gilt?<br />
Momentaufnahme zu den aktuell geltenden<br />
Corona-Regeln in Österreich<br />
Bezahlte Anzeige<br />
Am 1.11.2021 trat die 3. COVID-Maßnahmenverordnung in Kraft.<br />
Seitdem geht es Schlag auf Schlag. Noch nie in der Geschichte<br />
der neueren österreichischen Rechtssetzung hat eine Akutsituation<br />
eine solche Fülle laufend neuer Normen mit sich gebracht,<br />
wie die aktuelle Pandemiesituation. Novellen erscheinen bereits 24<br />
Stunden nach Veröffentlichung einer Verordnung, um diese relevant<br />
abzuändern, am 7.11.2021 wurden zudem neue Regeln zu 2G erlassen.<br />
Es ist kein Wunder, dass die Übersicht schwierig wird. Wir geben Ihnen<br />
ein aktuelles Bild:<br />
Mit der am 25.10.2021 kundgemachten 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung<br />
(3. COVID-19-MV) wurde als öffentlich meistdiskutierte<br />
Neuerung die „3G-Regel am Arbeitsplatz“ eingeführt. Ein außerhalb<br />
der Nachtgastronomie tätiger Arbeitnehmer darf seit dem 1.11.2021<br />
seine Arbeitsstätte nur betreten, wenn er geimpft, genesen oder<br />
von einer „befugten Stelle“ (zB Apotheke oder Teststraße) getestet<br />
ist. Ausnahmsweise dürfen Mitarbeiter, die 3G nicht erfüllen, noch<br />
bis längstens 14.11.2021 dennoch dem Arbeitsplatz betreten, wenn<br />
sie dort durchgehend Maske tragen. Ab dem 15.11.2021 fällt diese Option<br />
weg. Wien geht darüber hinaus einen Sonderweg. Hier gilt bereits<br />
jetzt die 2,5G-Regel am Arbeitsplatz, wen nur einen Antigentest<br />
vorweist, muss durchgehend Maske tragen.<br />
Die Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen haben<br />
zusätzlich zum 3G Nachweis in geschlossenen Räumen eine FFP2-<br />
Maske zu tragen, in Wien gilt darüber hinaus eine wöchentliche PCR-<br />
Testpflicht und Maskenpflicht in allen Bereichen der Tätigkeit.<br />
In der Nachtgastronomie gilt bereits seit dem 1.11.2021 auch für Mitarbeiter<br />
die 2G-Regel. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss laufend<br />
einen aktuellen PCR-Test nachweisen und bei Kundenkontakt<br />
Maske tragen. Dasselbe gilt nun ab dem 8.11.2021 auch für Mitarbeiter<br />
mobiler Pflege- und Betreuungsdienstleistungen.<br />
Eine diffizile Frage bleibt die von Gesetzgeber nicht klar genug geregelte<br />
Kontrolle all dieser Vorgaben durch den Arbeitgeber. Nach<br />
zahlreichen Diskussionen der letzten Tage scheint es nun auch seitens<br />
der zuständigen Ministerien klargestellt zu sein, dass der Arbeitgeber<br />
das Vorliegen der entsprechenden Bescheinigungen kontrollieren<br />
und die Maßnahme auch dokumentieren darf.<br />
Persönliche Gesundheitsdaten dürfen zwar nicht gespeichert<br />
werden. Der Dienstgeber darf aber den Namen des Dienstnehmers,<br />
den Zeitpunkt der Überprüfung und den Umstand festhalten, dass<br />
er dem Mitarbeiter den Zutritt gestattet (bzw. ihn abgewiesen) hat.<br />
Dies ist umso mehr erforderlich, als jeder Arbeitsgeber einer Strafbarkeit<br />
unterliegt, sofern er diesen Aufgaben nicht nachkommt. Den<br />
Beweis muss er also antreten dürfen. Die auch für Mitarbeiter vorgesehenen<br />
geringeren Strafen dürften in der Praxis aber – außer bei unerwarteten<br />
Prüfungen der Behörde vor Ort – kaum eine Rolle spielen.<br />
Am 8.11.2021 trat also schon die 2. Novelle zur 3. COVID-19-Maßnahmenverordnung<br />
in Kraft, mit der nun die Teilnahme an für zahlreiche<br />
Bereiche der Freizeitgestaltung im öffentlichen Raum nur noch<br />
2G (also nur noch geimpft oder genesen) statt bislang 3G (also auch<br />
getestet) möglich ist. Außerdem wurde die Ausweitung der Maskenpflicht<br />
neuerlich ausgeweitet und auch die Bestimmungen für Veranstaltungen<br />
wieder etwas verschärft.<br />
Der strenge 2G-Nachweis war bislang „nur“ für die Nachtgastronomie<br />
(zB Diskotheken, Clubs, Après-Ski-Lokale und Tanzlokale) vorgesehen.<br />
Nunmehr gilt 2G-Pflicht auch in Reisebussen und Ausflugsschiffen,<br />
in allen Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben (mit<br />
Ausnahmen), bei der Inanspruchnahme von körpernahen Dienstleistungen<br />
(Friseur, Masseur, Fußpflege etc), in nicht öffentlichen Sportstätten<br />
(wie zB Fitnessstudios, Tennisplätzen, Golfplätzen etc) für Kunden,<br />
in Freizeiteinrichtungen (Bäder, Freizeit- und Vergnügungsparks,<br />
Tanzschulen, Tierparks und ähnliches) sowie insbesondere auch in<br />
Alten- und Pflegeheime sowie in Krankenhäusern.<br />
Relevant für die Ballsaison ist, dass auch kleinere Veranstaltungen<br />
(ab 26 TeilnehmerInnen) nur noch mit einem 2G-Nachweis besucht<br />
werden dürfen.<br />
Eine bedeutende Ausnahme gilt aber für Personen, die nicht<br />
ohne Gefahr für Leben oder Gesundheit geimpft werden können.<br />
Diese müssen auch weiterhin keinen 2G-Nachweis erbringen, sondern<br />
können auch mit einem negativen PCR-Test, der aber nicht älter<br />
als 72 Stunden sein darf, die oben aufgeführten Orte und Veranstaltungen<br />
besuchen.<br />
Auch für Kinder, die ja derzeit weitestgehend noch nicht geimpft<br />
werden können, gibt es eine Erleichterung. Sie können bis zum Ende<br />
der Schulpflicht auch mit ihrem Corona-Testpass die 2G-Kriterien erfüllen.<br />
Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig sind, müssen aber<br />
- wie Erwachsene - das 2G-Kriterium erfüllen, sonst dürfen sie weder<br />
in die Disco noch ins Fitnessstudio (oder wo sonst noch 2G gilt).<br />
Maskenpflicht herrscht derzeit grundsätzlich (als Faustregel) immer<br />
dann, wenn man geschlossene Räume in öffentlichen Einrichtungen<br />
betritt. Darüber hinaus muss man Maske (FFP2) insbesondere<br />
in folgenden Einrichtungen und Orten tragen: in Handelbetrieben, in<br />
Schülertransporten und sonstigen Massenbeförderungsmitteln (Umnähen,<br />
Zug, Flugzeug) sowie in den dazugehörigen Stationen, Bahnsteigen,<br />
Haltestellen, Bahnhöfen und Flughäfen (und deren jeweiligen<br />
Verbindungsbauwerken), in geschlossenen Räumen, in Taxis und taxiähnlichen<br />
Betrieben, in Imbiss- und Gastronomiestände (in geschlossenen<br />
Räumen) in Alten- und Pflegeheimen sowie in Krankenhäusern.<br />
Gültig sind Impfnachweise in der Regel nun nur noch für 270 Tage<br />
nach der Impfung, anstatt wie bisher für 360 Tage.<br />
Es ist zu hoffen, dass die aktuellen Verschärfungen dazu beitragen,<br />
die derzeit erschreckend hohen Infektionszahlen wieder etwas<br />
eindämmen und auch die Menschen, die sich impfen lassen können,<br />
dazu bewegen sich auch tatsächlich impfen zu lassen. Auf dass wir<br />
dies letzte Corona-Winter wird und wir uns künftig wieder ohne Nachweis<br />
eines epidemiologischen Status begegnen können.<br />
Sollten Sie Fragen zu diesen auch für uns Experten teils nicht mehr<br />
immer klaren Thema haben, zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren.<br />
PIROSKA VARGHA / RA ANDREAS BAUER<br />
Rechtsanwälte für Lansky, Ganzger, Goeth,<br />
Frankl und Partner Rechtsanwälte GmbH<br />
wına-magazin.at<br />
38<br />
Lansky.indd 38 15.11.2021 11:46:24
HIGHLIGHTS | 03<br />
Die Geschichten<br />
dahinter<br />
Afterlives: eine Schau im New Yorker<br />
Jewish Museum über Raubkunst<br />
Man kennt die Namen. Marc Chagall und<br />
Henri Matisse, Picasso, Cézanne, Paul<br />
Klee und Franz Marc. Sie gehören zur Hochmoderne<br />
der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts.<br />
Keine Timeline ohne ihre seinerzeit<br />
bahnbrechenden Arbeiten, die heute zu<br />
höchsten Preisen gehandelt werden.<br />
Das Jewish Museum in Manhattan zeigt<br />
nun Afterlives: Recovering the Lost Stories of<br />
Looted Art, die „vergessenen Geschichten“<br />
diese Maler und ihre Werke. Aber so, dass<br />
einem nach dem Besuch der Kopf schwindelt.<br />
Denn die Geschichten dieser Kunst als<br />
„Raubkunst“ werden hier faszinierend aufregend<br />
offengelegt. So auch die zerschnittenen<br />
kubistischen Gemälde Fedor Löwensteins,<br />
die dieser 1940 aus Paris in die USA zu<br />
senden versuchte und die – als pièce<br />
de resistance – im Keller des<br />
Musée du Louvre überlebten. Interessant<br />
wie erhellend: Vier jüngere<br />
Künstler:innen – Maria Eichhorn,<br />
Lisa Oppenheim, Hadar<br />
Gad, die die verlorene Große Synagoge<br />
von Danzig malte, und<br />
Dor Guez – wurden eingeladen,<br />
individuell, kontrastiv ergänzend<br />
und stilistisch variationsreich darauf<br />
zu reagieren. A.K.<br />
AFTERLIVES: RECOVERING THE LOST<br />
STORIES OF LOOTED ART<br />
Jewish Museum Manhattan<br />
bis 9. Jänner 2022<br />
thejewishmuseum.org<br />
WENN GOLDEN SINGT<br />
„Die Leute können vielleicht behaupten,<br />
dass ich nicht singen kann, aber<br />
niemand kann behaupten, dass ich<br />
nicht gesungen hätte. In der Regie<br />
von Rüdiger Hentzschel steht<br />
keine Geringere als Bühnenallroundwunder<br />
Tania Golden als tragisches<br />
Stimmwunder Florence Foster Jenkins<br />
in Peter Quilters Welterfolg Glorious!<br />
derzeit auf der Bühne der<br />
Wiener Scala. Anrührend komisch,<br />
brillant gespielt. Noch bis 20.11.!<br />
theaterzumfuerchten.at<br />
MUSIKTIPPS<br />
Alles über die<br />
Alleskönnerin<br />
Hello Gorgeous: Ausstellung über, von<br />
und mit Barbra Streisand<br />
Gerade rechtzeitig wurde der Einreisestopp<br />
von Europa in die USA aufgehoben,<br />
sodass man stante pede, besser: per<br />
Flugzeug nach Miami, Florida, reisen kann,<br />
um in der Schau Hello Gorgeous im Jewish Museum<br />
of Florida in Miami Beach alles, wirklich<br />
alles zu erfahren, zu sehen und vor allem zu<br />
hören über Barbra Streisand. Kostüme, Fotografien,<br />
darunter wahrlich viele schöne glamouröse,<br />
Videoaufzeichnungen und Filmausschnitte,<br />
Alben, Alben, Langspielplatten.<br />
Zu jüdisch, zu gewöhnlich-ungewöhnlich,<br />
nicht feminin genug, nicht sexy genug, zu hartnäckig-penetrant:<br />
Alle diese Vorurteile überwand<br />
Streisand, geboren am 24. April 1942,<br />
um Die Streisand zu werden. Eine unfassbar<br />
produktive und äußerst erfolgreiche Sängerin<br />
(145 Millionen verkaufte Tonträger,<br />
57 Gold-Alben und 13 Multi-<br />
Platin-Alben), Schauspielerin,<br />
Komödiantin, Entertainerin, Produzentin.<br />
Kein Wunder, dass ihr<br />
zur großen Ehre der „Streisand-<br />
Effekt“ benannt wurde, das mediale<br />
Phänomen, dass versuchte<br />
Unterdrückung einer Information<br />
diese erst recht verbreitet.<br />
A.K.<br />
HELLO GORGEOUS<br />
Jewish Museum of Florida<br />
bis 20. Februar 2022<br />
jmof.fiu.edu<br />
LEVIT<br />
Es gibt fleißige Pianisten. Es gibt<br />
umtriebige. Und es gibt Igor Levit,<br />
den Aktivisten, Twitteranten, Ordensträger,<br />
Buchautor. Für On Dsch (Sony) spielte er Dmitri<br />
Schostakowitschs weniger bekannte schwierige<br />
Präludien & Fugen op. 87 Nr. 1–24 ein, dessen<br />
Hommage an J. S. Bach. Dazu gibt es Passacaglia<br />
on DSCH des Briten Ronald Stevenson.<br />
Zusammen: eine Entdeckung und ein fast vier<br />
Stunden langes eindringliches Hörerlebnis.<br />
GILTBURG<br />
Manchmal lohnt es sich, krampf-<br />
hafte Jahrestagsaufnahmen links<br />
liegen zu lassen und zu warten. Etwa auf die<br />
sich eindeutig so manche Vorschusslorbee-<br />
ren verdienende Gesamtedition Ludwig van<br />
Beethoven: Klaviersonaten Nr. 1–32<br />
(Naxos) auf<br />
neun CDs. Boris Giltburg spielt mit großer Anmut<br />
und Grazie ebenso wie wie mit klarer, dif-<br />
ferenzierender Intelligenz. Noch größer sind<br />
Virtuosität und Spielfreude des 37-Jährigen.<br />
KREMER<br />
Dafür kauft man sich sogleich –<br />
und gern! – ein neues Regal. Denn<br />
die Box Gidon Kremer – The Warner Collection<br />
(Warner), die sämtliche Einspielungen des Geigers,<br />
der nächsten Februar 75 Jahre wird, bei diesem<br />
Label enthält, liegen nun auf 21 CDs gesammelt<br />
vor. Mit u. a. Martha Argerich und Mstislav<br />
Rostropovich, Karajan, Muti und Harnoncourt<br />
spielte er Brahms bis Schulhoff, Schumann, Strawinsky<br />
und auch Astor Piazzola. A.K.<br />
© Succession H. Matisse / Artists Rights Society (ARS), New York, provided by The Art Institute of Chicago / Art Resource, New York; jmof.fiu.edu<br />
wına-magazin.at<br />
39<br />
November.indb 39 15.11.2021 11:28:29
An das exquisite Modehaus Maison<br />
Zwieback in der Wiener Kärntnerstraße,<br />
dort, wo sich derzeit ein<br />
Apple-Tempel befindet, erinnert<br />
heute gar nichts mehr. Und auch die<br />
Spuren des daran angeschlossenen Jugendstil-Cafés<br />
in der Weihburggasse, Jahrzehnte verborgen im<br />
einstigen Gourmetlokal Drei Husaren, sind nach<br />
dessen Freilegung im Zuge der Umbauarbeiten für<br />
die Conditorei Sluka brutal entfernt worden. Sogar<br />
die Initialen ZZ an den Säulen des hohen Innenraums<br />
wurden übermalt. Ausgelöscht ist damit<br />
vor Ort die Erinnerung an die elegante und charismatische<br />
Wiener Geschäftsfrau Ella Zirner-Zwieback,<br />
die das Kaufhaus von ihrem Vater übernommen<br />
und das Café instinktreich dazu gebaut hatte.<br />
Ihre Konzession musste sie 1938 an einen Berliner<br />
„Ariseur“ abtreten, als Jüdin enteignet emigrierte<br />
sie mit ihrem Sohn Ludwig in die USA, wo sie 1970<br />
starb. Jahrelang kämpfte sie gegen die Windmühlen<br />
der österreichischen Nachkriegsjustiz vergeblich<br />
um die Rückgabe ihrer Konzession.<br />
In umgekehrter Richtung floh ihr in Amerika geborener<br />
Enkel, der Schauspieler und Musiker August<br />
Zirner, vor dem Vietnam-Krieg nach Wien,<br />
um am Max Reinhardt Seminar zu studieren. Seine<br />
Mutter Laura Wärndorfer, aus einer bereits getauften<br />
jüdischen Industriellenfamilie stammend,<br />
musste Wien in der Nazizeit verlassen, heiratete in<br />
Amerika 1942 Ludwig Zirner, kehrte aber nach dessen<br />
frühem Tod später nach Wien zurück. Wie ihre<br />
Schwiegermutter Ella war auch die als Designerin<br />
tätige Laura eine durchaus mode- und selbstbewusste<br />
Frau.<br />
„Von den Müttern unserer Väter“, also ihren jeweiligen<br />
Großmüttern, erzählen nun in einem<br />
Band abwechselnd Vater August und Tochter Ana<br />
Zirner und spüren damit, teils recherchierend,<br />
teils fabulierend, gleichzeitig einem Stück Familien-<br />
und Zeitgeschichte nach. Wie bei allen fremden<br />
Verwandtschaften ist es dabei nicht immer<br />
ganz leicht, den verschlungenen Lebenslinien zu<br />
folgen, zumal Ludwig Zirner als „Kuckuckskind“<br />
aus einem Seitensprung Ellas mit ihrem Klavierlehrer,<br />
dem Komponisten Franz Schmidt, hervorging,<br />
was nicht zuletzt die große Rolle der Musik in<br />
der Familientradition erklärt.<br />
„ICH HABE IMMER N<br />
In ihrer Familienbiografie Ella und Laura begeben<br />
die Spuren ihrer Großmütter und legen gleichzeienteigneten<br />
Wiener Kaufhauses Zwieback schicht-<br />
August Zirner.<br />
„Der Rabbiner von Westminster,<br />
Albert Friedländer,<br />
hat mich gefragt, wollen Sie<br />
tatsächlich 613 Gebote und<br />
Hebräisch lernen?“<br />
sich<br />
tig d<br />
wei<br />
Über Vererbtes in vielerlei Hinsicht im Folgenden<br />
ein Trialog mit Vater und Tochter Zirner.<br />
© Bettina Flittner<br />
40 wına | November 2021<br />
November.indb 40 15.11.2021 11:28:36
Von der Seele schreiben<br />
INTERVIEW MIT AUGUST & ANA ZIRNER<br />
NOCH EINE WUT“<br />
en sich August Zirner und seine Tochter Ana auf<br />
ei- tig die hierzulande verdrängte Geschichte des<br />
t- weise frei. Interview: Anita Pollak<br />
WINA: Meist ist es ja so, dass man sich erst im reiferen Alter<br />
mit der eigenen Herkunft befasst. Dass sich gleichzeitig die<br />
Tochter auch dafür interessiert, ist wohl eher ein Glücksfall.<br />
Ana Zirner: Ich habe mich immer für Geschichte interessiert<br />
und begann mich zufällig genau in der Zeit<br />
für den Holocaust zu interessieren, als auch August<br />
begann, sich damit zu beschäftigen, ich war 13 und<br />
er 42, aber bis zum Buchprojekt hat es dann noch<br />
gedauert.<br />
August Zirner: Der Impuls dazu ging von Ana, also<br />
von der Urenkelin, Enkelin bzw. Tochter aus.<br />
Die Geschichte der beiden Großmütter ist einerseits eine<br />
Wiener Geschichte, andererseits auch eine sehr typische<br />
Geschichte assimilierter Juden, die erst das Naziregime auf<br />
ihr Judentum zurückgeworfen hat. Ihre Eltern waren Emigranten,<br />
trotzdem scheint dieses Thema ziemlich tabu gewesen<br />
zu sein. Warum war das so?<br />
August Zirner: Ich wäre froh, Ihnen diese Frage beantworten<br />
zu können. Ich weiß nur, dass meine Mutter<br />
darauf bestand, dass wir zu Hause Deutsch sprechen.<br />
Sie ringen beide in unterschiedlicher, aber doch auch ähnlicher<br />
Weise mit Ihrer Identität. Die Frage „Bin ich Jude?“<br />
steht im Raum und expressis verbis in Ihrem Buch. Hat sich<br />
an Ihrer diesbezüglichen Identitätskrise im Laufe des Lebens<br />
etwas geändert?<br />
„Verdrängung kann sich<br />
leider auch vererben.“<br />
Ana Zirner<br />
August Zirner: Die Frage tauchte erstmals auf, als ich<br />
41 war, anlässlich meiner Rolle im Stück Der Fall Furtwängler,<br />
dann folgten Projekte wie Gebürtig von Robert<br />
Schindel, und ich wurde auch berufsmäßig oft<br />
mit dem Thema konfrontiert.<br />
Ana Zirner.<br />
„Wie jüdisch ich mich fühle<br />
oder nicht, ist gar nicht<br />
so relevant, es gibt eine<br />
Familienbande, die in eine<br />
jüdische Vergangenheit<br />
reicht, und die<br />
ist da.“<br />
Ich habe Sie persönlich vor einigen Jahren bei einem öffentlichen<br />
Sederabend im Wiener Dorotheum kennengelernt.<br />
Suchen Sie öfter solche Anlässe auf?<br />
August Zirner: Ja, da wollte ich gerade konvertieren.<br />
Aber der Rabbiner von Westminster, Albert Friedländer,<br />
hat mich gefragt, wollen Sie tatsächlich 613 Gebote<br />
und Hebräisch lernen? Sie müssen das Judentum<br />
nur ehren. Ich weiß inzwischen, dass ich nicht<br />
konvertieren muss, ich bin es trotzdem. Ich weiß, wo<br />
ich herkomme, aus welchem alten Kulturkreis, und<br />
ich habe eine jüdische Identität, die kann man mir<br />
nicht nehmen. Erika Jakubovits hat mir den wunderbaren<br />
Satz gesagt: „August, warum willst du irgendwo<br />
dazugehören?“ Und sie hat Recht.<br />
wına-magazin.at<br />
41<br />
November.indb 41 15.11.2021 11:28:45
Großelterngeneration aufarbeiten<br />
Sie schreiben eindrücklich von dieser „genetischen Diaspora“,<br />
die ja ein Teil der jüdischen Identität ist, denn wenn man<br />
das spürt, gehört man eigentlich schon dazu.<br />
August Zirner: Die Suche ist für mich bereits etwas<br />
zutiefst Jüdisches. Aber ich bin letzten Endes Agnostiker.<br />
Religiös ist das eine, kulturell ist das andere.<br />
Ana Zirner: Für mich lässt sich das Kulturelle nicht<br />
wegdenken, man kann wohl entscheiden, dass man<br />
damit nichts zu tun haben will, aber das heißt nicht,<br />
dass man dann nichts damit zu tun hat. Wie jüdisch<br />
ich mich fühle oder nicht, ist gar nicht so relevant, es<br />
gibt eine Familienbande, die in eine jüdische Vergangenheit<br />
reicht, und die ist da. Und das finde ich sehr<br />
schön, und das macht mich auch mit aus.<br />
Wien ist, wie Sie Robert Schindel zitieren, nicht nur die<br />
„Hauptstadt des Antisemitismus“, sondern gerade als<br />
Stadt Freuds auch eine Hauptstadt der Verdrängung. Die<br />
ganze Geschichte des neuen Café Sluka ist eigentlich eine<br />
bauliche Verdrängung. Sie hatten mit dem Besitzer Kontakt,<br />
haben Sie dafür eine Erklärung?<br />
August Zirner: Schlechten Charakter! Ich habe<br />
keine Lust mehr, Verständnis dafür aufzubringen,<br />
ich habe wirklich versucht, mit allen Mitteln Brücken<br />
zu bauen. Das betrifft das Denkmalamt Wien,<br />
den Eigentümer Christoph List und auch die Architektengruppe<br />
Wehrdorn.<br />
Ana Zirner: Ich finde das zu einfach. Verdrängung<br />
ist nicht immer etwas Bewusstes, sie kann sich leider<br />
auch vererben. Aber natürlich ist es irgendwann eine<br />
Entscheidung, sich damit nicht auseinandersetzen<br />
zu wollen, und das kann man jemandem ankreiden.<br />
Geschichte einfach zu übermalen, wie es im Sluka<br />
passiert ist, damit macht man sich schon schuldig.<br />
Sie, Herr Zirner, haben also offenbar keineswegs Ihren Frieden<br />
damit gemacht, sondern haben immer noch eine Art<br />
Wut?<br />
August Zirner: Ich habe mir die Wut von der Seele<br />
geschrieben, also eine Art Frieden gefunden. Dachte<br />
ich. Ich bin aber dankbar für Ihre Frage, denn ich<br />
merke gerade, ich habe immer noch eine Art Wut,<br />
und das ärgert mich über mich selbst.<br />
Teilen Sie die diesbezüglichen Gefühle Ihres Vaters? Fühlen<br />
Sie sich in der dritten bzw. vierten Generation um Ihr<br />
Erbe betrogen, in materieller oder ideeller Sicht?<br />
Ana Zirner: Es gibt schon ein Bewusstsein über die<br />
Ungerechtigkeit, und da werde ich auch wütend, aber<br />
eher in dem Sinn, dass viele Dinge bis heute nicht aufgearbeitet<br />
wurden, weniger in Bezug auf den Besitz<br />
als auf die Anerkennung der Geschichte. Dass das so<br />
wenig stattfindet, zum Beispiel beim Sluka, das finde<br />
ich schmerzhaft.<br />
Wie steht es um die Restitution, um die Ella Zirner so lange<br />
gekämpft hat?<br />
August Zirner: Die Restitution gab es und ist juristisch<br />
einwandfrei abgeschlossen. Meine Großmutter<br />
hat eine Entschädigung bekommen. Es gibt noch den<br />
„Die Suche ist für mich bereits<br />
etwas zutiefst Jüdisches.“<br />
August Zirner<br />
Ana Zirner,<br />
August Zirner:<br />
Ella und Laura.<br />
Von den Müttern<br />
unserer Väter.<br />
Piper 2021,<br />
352 S., € 22,90<br />
offenen Punkt der Konzession, die geraubt wurde, da<br />
wurde mir gesagt: „Herr Zirner, was wollen Sie denn<br />
noch?“ Das ist die einzige juristische Grauzone.<br />
Sie sind geborener Amerikaner und auch Österreicher. Wo<br />
haben Sie heute Heimatgefühle?<br />
August Zirner: In der Gegenwart meiner Kinder und<br />
Enkelkinder. Ich bin eben ein Familienmensch.<br />
Inwieweit sind für Sie, Ana, die starken Frauen der Familie<br />
so etwas wie Role Models?<br />
Ana Zirner: Sicher waren sie Role Models, nur war<br />
mir das nicht bewusst. Meine Mutter ist auch eine<br />
sehr starke Frau, die mich geprägt hat. Ich habe mich<br />
selten diskriminiert oder schlechter behandelt gefühlt.<br />
Inzwischen nehme ich das als ein großes Privileg<br />
wahr, mich in diese Tradition einzureihen.<br />
Was hat sich für Sie beide durch die Arbeit an dem Buch<br />
verändert? Eine Art persönlicher Vergangenheitsbewältigung,<br />
eine Katharsis?<br />
Ana Zirner: Ich habe durch die Arbeit gemerkt, wie<br />
stark Familienbande sind, das hatte ich total unterschätzt,<br />
und ich habe ein viel größeres Verständnis für<br />
meinen Vater gewonnen. Ich habe ihm früher immer<br />
vorgeworfen, dass er sich erst mit über 40 Jahren mit<br />
dem Holocaust auseinandergesetzt hat. Heute kann<br />
ich das besser verstehen. Durch die Beschäftigung<br />
mit seiner Mutter habe ich verstanden, wie Verdrängung<br />
weitergegeben wird.<br />
August Zirner: Für mich ist durch den kritischen<br />
Blick der folgenden Generation klar geworden, dass<br />
der Narzissmus, der mit meinem Beruf auch einhergeht,<br />
mich davon abgehalten hat, mich mit mir selbst<br />
zu beschäftigen. Ich bin nach wie vor mit meinem<br />
Beruf als Schauspieler sehr verbunden, aber je älter<br />
ich werde, desto mehr schwindet die Eitelkeit. Das<br />
Schöne an dem Schreibprozess ist, die Fragen werden<br />
eher größer als kleiner, und das ist ein schöner<br />
Vorgang, auch dass ich mich auseinandersetze, nicht<br />
zuletzt mit mir selbst.<br />
Welche Reaktionen erwarten, erhoffen Sie auf das Buch?<br />
August Zirner: Ich wünsche mir vor allem Gespräche,<br />
zum Beispiel ein solches, wie wir eben führen.<br />
Ana Zirner: Ich fände es schön, wenn wir Menschen<br />
dazu inspirieren könnten, gemeinsam mit den Eltern<br />
die Großelterngeneration aufzuarbeiten. Das ist<br />
sehr bereichernd und einfach ein cooles Konzept. Jedes<br />
Leben ist spannend, und jede und jeder hat etwas<br />
zu erzählen.<br />
42 wına | November 2021<br />
November.indb 42 15.11.2021 11:28:45
„Worüber reden<br />
eigentlich Gojim?“<br />
Es ist der Klassiker. Auf einem Langstreckenflug<br />
erkennen einander<br />
zwei Sitznachbarn als jüdisch und<br />
haben nun reichlich Gesprächsstoff bis<br />
New York. „Worüber reden eigentlich Gojim?“,<br />
fragen sie sich beim Abschied.<br />
Passenderweise gibt Barbara Honigmann<br />
dieses eigene Erlebnis in New York<br />
beim Koret Jewish Book Award zum Besten,<br />
aber auch bei allen anderen Preisgelegenheiten<br />
ist sie meist ohne Umschweife<br />
beim ihrem Thema: der vielzitierten jüdischen<br />
Identität, um die auch ihre meist<br />
autofiktionalen Bücher kreisen.<br />
Als Tochter eines durchaus schillernden<br />
jüdisch-kommunistischen Elternpaares,<br />
das aus der englischen Emigration<br />
nach dem Krieg in die DDR<br />
zurückkehrte, 1949 in Ost-Berlin geboren<br />
und in den künstlerischen Kreisen eines<br />
elitären kommunistischen „Adels“ privilegiert<br />
aufgewachsen, erzählte sie ihren<br />
Familienroman in mehreren „Staffeln“.<br />
Ihrer Wiener Mutter, in erster Ehe mit<br />
dem Doppelspion Kim Philby verheiratet,<br />
widmet sie ein Buch, ihrem charismatischen<br />
Vater, dem Journalisten und Womanizer<br />
„Georg“ zwei, sich selbst in verschiedenen<br />
Beziehungen gleich mehrere.<br />
Nach dem Tod des Vaters findet sie<br />
1984 in Straßburg mit ihrer Familie in<br />
einer „modern orthodoxen“ Gemeinde<br />
eine neue Heimat. Ihr fortan praktiziertes<br />
Judentum „un-verschämt“, d. h. ohne<br />
Scham zu leben, vor allem aber davon<br />
zu erzählen und zu schreiben,<br />
darum ringt sie, wie sie im Vorwort<br />
des neuen Bandes bekennt,<br />
seit ihrer Jugend und findet dieses<br />
Ringen in verschiedenen Varianten<br />
auch bei einigen anderen<br />
bedeutenden jüdischen Autoren<br />
wieder. Bei Jakob Wassermann,<br />
der „jüdische Themen und jüdische<br />
Problematik in die deutsche<br />
Wie arriviert Schriftsteller:innen<br />
sind, lässt sich an<br />
den Auszeichnungen ablesen,<br />
die sie für ihr Werk erhalten.<br />
Zum Ritual der Verleihungen<br />
gehört es, möglichst geschliffene<br />
Dankesreden mit<br />
einem Bezug zum Preisstifter<br />
oder zum Namensgeber<br />
der Auszeichnung zu halten,<br />
oft bereits selbst literarische<br />
Petitessen. Unverschämt jüdisch<br />
heißt aus gutem Grund der<br />
Band, in dem Barbara<br />
Honigmann ihre bisherigen<br />
Preisreden versammelt.<br />
Von Anita Pollak<br />
Literatur hineinschrieb“, am offensichtlichsten,<br />
hintergründiger bei Franz Kafka<br />
und Marcel Proust, in deren Biografien<br />
und Werken, Meilensteinen der Weltliteratur,<br />
sie ganz erstaunliche Parallelen,<br />
frappante Gemeinsamkeiten aufdeckt.<br />
Beide kränkelnde, unverheiratete Söhne<br />
jüdischer Mütter und starker Väter, wobei<br />
Kafka besonders gegen seinen jüdischen<br />
Vater revoltierte, erleben sie als Zeitgenossen<br />
die Dreyfus-Affäre und die antisemitische<br />
Propaganda, Erfahrungen, die<br />
sie allerdings auf verschiedene Weise rezipieren.<br />
Das Dilemma der deutsch schreibenden<br />
Juden von Heine bis Kafka belegt Honigmann<br />
eindrucksvoll zitatenreich, gebildet<br />
und belesen, von der Bibel bis zu den<br />
großen jüdischen Denkern und Philosophen.<br />
Ein Dilemma, das sie inspiriert und<br />
ohne das sie sich wohl selbst nicht denken<br />
kann. „Ich gefalle mir manchmal in<br />
der Rolle als eine der letzten deutschen<br />
„[…] eine der letzten deutschen Juden,<br />
immer noch deutsch und immer noch<br />
jüdisch.“ Barbara Honigmann<br />
Barbara<br />
Honigmann:<br />
Unverschämt<br />
jüdisch.<br />
Hanser 2021,<br />
155 S., € 20,60<br />
Juden, immer noch deutsch und immer<br />
noch jüdisch.“<br />
Privates, Biografisches, Persönliches<br />
ordnet sie oft mit einem humorvollen<br />
Sidestep dieser Erfahrung unter. So erinnert<br />
sie sich in Bremen, dem Ort der<br />
Stadtmusikanten, an ihr Märchenbuch<br />
der Brüder Grimm, nicht ohne festzustellen,<br />
dass diese „die Juden nicht mehr<br />
als normal“ hassten. Als sie den Elisabeth-<br />
Langgässer-Preis entgegennimmt, outet<br />
sich gleich eingangs: „Ich bin also Jüdin“,<br />
damit es also heraus ist. Auch das „Unverschämte“<br />
hat sie also offenbar erst trainieren<br />
müssen.<br />
wına-magazin.at<br />
43<br />
November.indb 43 15.11.2021 11:28:47
Autobiografische Leseverführungen<br />
364 Stimmen<br />
und ein „Echo“<br />
Evelyn Adunka verführt mit ihrem Band Meine jüdischen Autobiographien<br />
zum Lesen und blickt in einer Jubiläumsnummer<br />
zurück auf 70 Jahre Jüdisches Echo.<br />
Von Anita Pollak<br />
Evelyn Adunka:<br />
Meine jüdischen<br />
Autobiographien.<br />
Eine Leseverführung<br />
und subjektive<br />
Auswahl.<br />
Verlag der Theodor<br />
Kramer Gesellschaft,<br />
616 S., € 30<br />
Debatten und<br />
Träume. 70 Jahre<br />
Das Jüdische Echo.<br />
Jüdisches Leben in<br />
Österreich, Europa<br />
und Israel.<br />
Vol. 69/70, € 19,90<br />
s gab gottgläubige Ostjuden und<br />
goethegläubige Westjuden. […]<br />
Ein Jude konnte damals alles sein,<br />
sogar Antisemit und Faschist.“<br />
So Georg Stefan Troller vor 30 Jahren in<br />
seiner „Selbstbeschreibung“. Am 10. Dezember<br />
feiert der Wiener Autor und Journalist<br />
seinen 100. Geburtstag. Ad mea we<br />
esrim, lieber Troller!<br />
In a nutshell. Was ein Jude alles sein konnte,<br />
was Juden alles waren, erlebten, erlitten,<br />
also das fantastisch breite Spektrum jüdischer<br />
Daseinserfahrungen zwischen<br />
Gottesglauben und Goethe,<br />
wobei eher Schiller<br />
der klassische Hausheilige<br />
der Westjuden war,<br />
das lässt sich am Besten in<br />
Selbstzeugnissen Betroffener<br />
nachlesen.<br />
364 solcher autobiografischer<br />
Zeugnisse jüdischer<br />
Autor:innen der letzten<br />
beiden Jahrhunderte aus<br />
20 Ländern, ganze Lebensläufe<br />
in a nutshell, hat die<br />
Publizistin und Historikerin<br />
Evelyn Adunka nun in<br />
einem beeindruckenden<br />
Band versammelt. Neben<br />
Beruflichem sollte ebenso<br />
„Neunundneunzig<br />
Prozent<br />
Kant<br />
und Goethe<br />
und nur ein<br />
Prozent Altes<br />
Testament.“<br />
Franz<br />
Oppenheimer<br />
Privates und vor allem eine Auseinandersetzung<br />
mit dem wie auch immer erlebten<br />
Judentum in ihnen zur Sprache<br />
kommen, begründet sie ihre „subjektive<br />
Auswahl“. Dass es sich aber um kein wissenschaftliches<br />
Buch handle, wie Adunka<br />
in ihrem Vorwort meint, ist angesichts<br />
des Respekt gebietenden Rechercheaufwands<br />
natürlich eine gelinde Untertreibung.<br />
Adunka schöpft in jeder Hinsicht<br />
aus dem Vollen. Aus ihrer eigenen Jahrzehnte<br />
langen einschlägigen Arbeit, die<br />
ihr auch Gelegenheit zu etlichen persönlichen<br />
Begegnungen gab, und aus der<br />
Fülle des Materials.<br />
Von alten „Bekannten“, Autoren<br />
wie Elias Canetti oder Amos Oz,<br />
Politiker:innen wie die als Simone Jacob<br />
geborene Simone Weil oder Golda Meir,<br />
von Künstler:innen wie Hugo Wiener<br />
oder Hilde Zadek erfährt man hier auch<br />
so manch Neues, aber gerade in den Lebenserinnerungen<br />
weniger prominenter<br />
Personen spiegelt sich in ungefilterter<br />
Direktheit der sogenannte Zeitgeist und<br />
dessen Veränderung im<br />
Laufe der Geschichte, besonders<br />
auch der Wandel<br />
im Zugang zur sogenannten<br />
„Jüdischkeit“.<br />
Aufklärung, Emanzipation,<br />
Assimilation einerseits,<br />
Tradition, das<br />
Festhalten an der Religion<br />
bzw. die Rückkehr<br />
zum Glauben der Väter<br />
andererseits, lassen sich<br />
in den treffend gewählten,<br />
erhellenden Zitaten,<br />
die den einzelnen autobiografischen<br />
Abrissen<br />
vorangestellt sind, ablesen.<br />
Bei vielen wird man<br />
mehr wissen wollen, die Lust zum Weiterlesen<br />
kommt in dieser „Leseverführung“<br />
jedenfalls auf.<br />
Anziehung und Abstoßung. Die Taufe ihrer<br />
Kinder war für die 1833 in Weißrussland<br />
geborenen Pessele Epstein nicht nur<br />
der „schwerste Schlag“ ihres Lebens, sondern<br />
auch ein „Nationalunglück. Ich betrauerte<br />
nicht nur als Mutter, sondern<br />
auch als Jüdin das ganze jüdische Volk,<br />
44 wına | November 2021<br />
November.indb 44 15.11.2021 11:28:47
Intellektueller Lesesalon<br />
Highlights aus<br />
sieben Jahrzehnten<br />
das so viele edle Kräfte verlor.“ Wie viel<br />
jüdische Geschichte wird allein in diesem<br />
kurzen Zitat aus den Memoiren einer Großmutter<br />
offenbar.<br />
Symbolische, symptomatische Details,<br />
wie ein Christbaum oder der Schinken in<br />
jüdischen Haushalten werden als Gradmesser<br />
der Anpassung an die nichtjüdische<br />
Umgebung und letztlich oft als vergebliches<br />
Werben um Anerkennung in<br />
dieser bedeutsam.<br />
Kindheitserinnerungen an die starken<br />
jüdischen Väter, die noch beteten, an<br />
Festtage bei den frommen Großmüttern<br />
tauchen immer wieder bewegend auf.<br />
Anziehung und Abstoßung durchziehen<br />
leitmotivisch und tragisch die jüdische<br />
Existenz. Deutscher als deutsch<br />
waren und wollten sie sein, „neunundneunzig<br />
Prozent Kant und Goethe und<br />
nur ein Prozent Altes Testament“ und<br />
da nur die „Lutherbibel“ (Franz Oppenheimer)<br />
und natürlich kaisertreuer und<br />
Wienerischer als alle anderen. In den<br />
jüdischen Ecken der Monarchie strahlte<br />
Wien als Sehnsuchtsort weit heller als Jerusalem,<br />
das erst mit dem aufkommenden<br />
Zionismus, der vielfach durchaus<br />
ambivalent betrachtet wurde, überhaupt<br />
in den Fokus geriet. Mit ihm wird auch<br />
die Beziehung zum jüdischen Staat zunehmend<br />
Thema der Reflexionen.<br />
Leben und Überleben im Nationalsozialismus,<br />
Emigration, Exil und die<br />
Shoah dominieren in einer großen Bandbreite<br />
die traumatischen Erinnerungen<br />
der Überlebenden und vielfach noch<br />
die Nachgeborenen, wie Gila Lustiger,<br />
mit Jahrgang 1963 die Jüngste des Bandes,<br />
schreibt: „[...] jeder Nachgeborene<br />
glaubt, er müsste das Erbe der Geretteten<br />
und Ermordeten antreten, in dem er<br />
selbst den dümmsten Alltag meistert.“<br />
Eine „Art gedruckter Salon, wo die<br />
Besten des österreichischen Geisteslebens<br />
[...] sich einfinden sollen“.<br />
Leon Zelman<br />
Leon Zelman (1928–2007) ist einer der Stimmen<br />
in Adunkas Auswahl. Nach Auschwitz<br />
und anderen Lagern wurde er 1944 in Ebensee<br />
befreit. „Es gab keine Zukunft. Es gab keine Hoffnung.“<br />
Doch Leon gab nicht auf, studierte in Wien<br />
Publizistik und gründete 1951 mit einigen „halbverhungerten<br />
Studenten“ die Kulturzeitschrift Das Jüdische<br />
Echo.<br />
Zum 70. Geburtstag der jährlich erscheinenden<br />
Zeitschrift gestaltete Evelyn Adunka das Jubiläumsheft.<br />
Bereits zum 50er hatte sie auf Einladung Zelmans<br />
eine Geschichte des Echo verfasst. Wiederum<br />
aus dem Vollen schöpfend wählt sie nun im Rückblick<br />
gleichsam in einer Blütenlese die Highlights aus<br />
diesen Jahrzehnten, gruppiert nach Kernthemen wie<br />
Österreichisches Judentum, Exil, jüdische Welt bis Israel<br />
und dazu jeweils die repräsentativsten Beiträge<br />
passend zum Motto „Debatten und Träume“ aus.<br />
Als eine „Art gedruckten Salon, wo die Besten des<br />
österreichischen Geisteslebens neben international<br />
renommierten Denkern sich einfinden sollen“,<br />
verstand Zelman sein Echo. Demgemäß vereint die<br />
glanzvolle Jubelnummer nunmehr viele dieser Besten<br />
zu den jeweiligen Schwerpunkten. Von Hilde<br />
Spiel und Eli Wiesel bis Doron Rabinovici, Vladimir<br />
Vertlib, Helene Maimann und vielen anderen. Insgesamt<br />
ein intellektuelles Panorama jüdisch-österreichischer<br />
Nachkriegsgeschichte in Gesellschaft,<br />
Kultur, Wissenschaft und Politik bis hin zur unmittelbaren<br />
Gegenwart. Abschließend auch dazu der<br />
Wunsch: Ad mea we esrim! Bis 120!<br />
wına-magazin.at<br />
45<br />
November.indb 45 15.11.2021 11:28:47
Thema<br />
wına-magazin.at<br />
46<br />
November.indb 46 15.11.2021 11:28:48
Avantgarde und Archaik<br />
© Archives Jean Bouret<br />
Pablo Picasso war eitel und<br />
heikel, daher ließ er sich<br />
auch nicht von Künstlerkollegen<br />
porträtieren. Nur bei<br />
einem engen Freund machte<br />
er eine Ausnahme: Amadeo Modigliani<br />
durfte sogar zwei Porträts von ihm anfertigen<br />
– und beide sind derzeit in der<br />
Wiener Albertina zu bewundern. Mit insgesamt<br />
80 seiner Werke würdigt die Albertina<br />
Amedeo Modigliani (1884–1920)<br />
anlässlich seines 100. Todestages im Vorjahr.<br />
Aufgrund der Pandemie musste die<br />
Schau auf heuer verschoben werden:<br />
Nun wird dieser faszinierende, unverkennbare<br />
Künstler erstmals auch in Österreich<br />
umfassend gezeigt. Obwohl er<br />
zeitlebens wenig erfolgreich war, erzielen<br />
seine Werke heute dreistellige Millionenbeträge.<br />
Als „eines der größten<br />
Genies der klassischen Moderne“ bezeichnete<br />
Direktor Klaus Albrecht Schröder<br />
den Künstler bei der Ausstellungseröffnung.<br />
Diese umfangreiche Retrospektive<br />
vereint jetzt in Wien Modiglianis Hauptwerke<br />
aus den renommiertesten Museen<br />
und Privatsammlungen von den USA bis<br />
Singapur, von Großbritannien bis Russland<br />
mit größeren Leihgaben aus dem<br />
Musée Picasso Paris und der Sammlung<br />
Jonas Netter, der ein großer Förderer Modiglianis<br />
zu seinen Lebzeiten war.<br />
Das Außergewöhnliche an dieser auch<br />
kunsthistorisch faszinierenden Schau<br />
von insgesamt 130 Objekten ist aber der<br />
Zugang und die Aufklärung über die Ursprünge<br />
dieser Kunst: Denn obwohl sich<br />
Modigliani in seinen Werken einerseits<br />
auf die Renaissance bezog, griff er andererseits<br />
auch afrikanische, ägyptische,<br />
ostasiatische und griechisch-archaische<br />
Kunst auf. Auf diese lebenslange<br />
Auseinandersetzung mit den Ursprüngen<br />
der Kunst legt der Kurator Marc Restellini,<br />
Kunsthistoriker und Herausgeber<br />
des Werkverzeichnisses der Gemälde<br />
Amedeo Modiglianis, besonderes Augenmerk:<br />
Dem Œuvre des jüdischen Italieners<br />
werden Werke seiner Freunde<br />
in Paris, wie Pablo Picasso, Constantin<br />
Brancusi und André Derain, sowie Artefakte<br />
prähistorischer und außereuropäischer<br />
Weltkulturen gegenübergestellt.<br />
Und obwohl sich Modigliani inmitten<br />
des Pariser Montmartre mit den Größen<br />
seiner Zeit in ständigem Austausch<br />
und manchmal auch im Alkoholrausch<br />
MODIGLIANI<br />
REVOLUTION DES<br />
PRIMITIVISMUS<br />
ist bis 9. Jänner 2022 in<br />
der Albertina zu sehen.<br />
Amedeo Modigliani<br />
in seinem Atelier in Paris 1915.<br />
Das kurze und heftige<br />
Leben des Amadeo<br />
Modigliani<br />
Dem genialen Werk des jüdischen<br />
Italieners widmet die Wiener Albertina<br />
eine beeindruckende Retrospektive<br />
zu seinem 100. Todestag.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
wına-magazin.at<br />
47<br />
November.indb 47 15.11.2021 11:28:48
Ästhetik des Fragmentarischen<br />
Mädchen mit rotem<br />
Haar (1918). Bildnisse<br />
konstruiert Modigliani oft<br />
aus ovalen, maskenhaften<br />
Gesichtern mit zylindrischen,<br />
langen Hälsen.<br />
„Das kleine t am<br />
Ende des Wortes<br />
Pier-rot ist so<br />
geschrieben, dass<br />
man es auch als<br />
roi, also König<br />
lesen könnte: König<br />
der Steine.“<br />
Daniel Benyes<br />
Jeanne Hébuterne<br />
(1918).<br />
Kunststudentin,<br />
die große Liebe<br />
und Verlobte<br />
Modiglianis.<br />
befand, wurde ihm in seiner kurzen Lebenszeit<br />
von nur 35 Jahren die verdiente<br />
Anerkennung verwehrt: Er blieb stets ein<br />
Außenseiter und Einzelgänger, der seinen<br />
eigenen Stil verfolgte.<br />
Amedeo Clemente Modigliani wird<br />
1884 als viertes und jüngstes Kind einer<br />
verarmten jüdisch-sephardischen Familie<br />
im toskanischen Livorno geboren. Sein<br />
Vater ist als Holz- und Kohlehändler infolge<br />
der schlechten Wirtschaftslage bankrott<br />
gegangen. Modiglianis ursprünglich<br />
aus Marseille stammende Mutter Eugenie<br />
Garsin trägt als Übersetzerin und Privatlehrerin<br />
maßgeblich zum Familienunterhalt<br />
bei. „Die Mitglieder beider Familien,<br />
Modigliani und Garsin, die nahezu gleichzeitig<br />
geschäftlich vor dem Ruin standen,<br />
teilten sich ein Haus; jeder arbeitete, um<br />
zu überleben. In einer freudlos-nüchternen<br />
Atmosphäre von Arbeit und Verzicht<br />
verbrachte Dedo – so der Kosename<br />
für den Jüngsten – seine ersten Lebensjahre“,<br />
schreibt Paul Alexandre, Dermatologe<br />
und erster Mäzen von Modigliani,<br />
den der Künstler auch oft zeichnete.<br />
Im Alter von elf Jahren erkrankt Amadeo<br />
an einer schweren Rippenfellentzündung.<br />
Nach Erzählungen seiner Mutter<br />
soll er in einem seiner kindlichen Fieberträume<br />
von seiner Bestimmung als<br />
Künstler fantasiert haben. Nach seiner<br />
Genesung erhält Modigliani von seinen<br />
Eltern die Erlaubnis, die Schule abzubrechen<br />
und ein Kunststudium zu beginnen.<br />
Insbesondere die Mutter fördert sein Talent,<br />
bringt ihm auch früh Französisch<br />
bei, was ihm sein späteres Leben in Paris<br />
erleichtert. Mit 14 Jahren erkrankt er an<br />
Typhus, später leidet er an chronischer<br />
Tuberkulose, die letztlich auch zu seinem<br />
frühen Tod führt. 1898 verlässt Modigliani<br />
die Oberschule und wird jüngster<br />
Schüler einer privaten Kunstschule.<br />
1902 wechselt er an die Akademien von<br />
Florenz und Venedig.<br />
Nur zwei Jahre später zieht Modigliani<br />
nach Paris, ins damalige internationale<br />
Zentrum der Künste. Die Stadt wird zum<br />
Schmelztiegel der Avantgarde: Spanische,<br />
italienische und russische Künstler werden<br />
zu Repräsentanten der École de Paris:<br />
Pablo Picasso, Constantin Brancusi und<br />
Diego Rivera wirken hier – kein Wunder<br />
also, dass es auch den 22-jährigen Modigliani,<br />
den die Pariser Bohème bald „Modi“<br />
nennt, in die Seine-Metropole zieht. Insgesamt<br />
wird Modigliani – unterbrochen<br />
durch Reisen in seine Heimat – vierzehn<br />
Jahre in Paris leben.<br />
© Albertina, Bildrecht, Wien 2021; Wikimedia; bpk/metropolitan museum of art; Fonds de donation Jonas Netter; Albertina;<br />
48 wına | November 2021<br />
November.indb 48 15.11.2021 11:28:50
Fauvismus und Kubismus<br />
Freunde und Kollegen. Modigliani mit Pablo Picasso<br />
(Mitte) und André Salmon, Paris 1916.<br />
© Albertina, Bildrecht, Wien 2021; Wikimedia; bpk/metropolitan museum of art; Fonds de donation Jonas Netter; Albertina;<br />
Chaim Soutine<br />
(1916). Porträt<br />
eines Kollegen.<br />
gesehene Galerist Paul Guillaume nimmt<br />
Modigliani 1914 unter Vertrag, und so kehrt<br />
dieser zur Staffelei zurück. In den zahlreichen<br />
Porträts seiner Freunde sowie anonymen<br />
Damenbildnissen überträgt er den<br />
Stil seines bildhauerischen Werks nun auf<br />
die Malerei: Die Bildnisse konstruiert er<br />
aus einfachen Kurven und versieht sie mit<br />
einem runden oder ovalen maskenhaften<br />
Gesicht. Zylindrische, lange Hälse, die er<br />
den geschnitzten Reliquienwächtern der<br />
Fang – einem zentralafrikanischen Stamm<br />
in Gabun – entlehnt. Viele von Modiglianis<br />
Porträts zeigen ähnlich wie Picassos Kopfstudien<br />
ihrer Pupillen beraubte, mandelförmige<br />
Augen. Die Dargestellten erlangen<br />
dadurch eine starke Verinnerlichung und<br />
Abwendung von allem Äußeren; eine Qualität<br />
des Zeitlosen.<br />
Während die Franzosen 1914 zum<br />
Kriegsdienst einberufen werden, beleben<br />
ausländische, darunter viele jüdische osteuropäische<br />
Künstler die Cafés am Mont-<br />
Fauvismus und Kubismus. Von 1909 bis 1914<br />
widmet sich Modigliani der Bildhauerei<br />
und schließt sich dem rumänischen Exilanten<br />
Brancusi an. Unter dem Einfluss<br />
von Gauguins Schaffen orientieren sie sich<br />
an außereuropäischer und archaischer<br />
Kunst. 1912 präsentiert Modigliani Skulpturen<br />
im renommierten Salon d’Automne.<br />
Die strenge, überlange Form von Modiglianis<br />
Steinskulpturen wird später auch für<br />
seine Malerei stilprägend. Der Erfolg in der<br />
Bildhauerei lässt auf sich warten, zudem<br />
ist das anstrengende und Staub produzierende<br />
Behauen der Steine der Gesundheit<br />
des chronisch lungenschwachen Modigliani<br />
mehr als abträglich.<br />
Er wendet sich wieder der Malerei zu,<br />
und da hauptsächlich dem Porträt. Den<br />
Stil seines skulpturalen Werks führt er allerdings<br />
in der Malerei fort und orientiert<br />
sich außerdem an Fauvismus und Kubismus.<br />
Dennoch kann sein Werk diesen Strömungen<br />
nicht zugeordnet werden. Der anparnasse.<br />
Unter ärmlichsten Verhältnissen<br />
leben sie nun im verwahrlosten Atelierhaus<br />
La Ruche. Diese Gruppe erhält von<br />
Kunstkritikern bald den Namen Pariser<br />
Schule, um sie als Reaktion auf Fremdenfeindlichkeit<br />
und grassierenden Antisemitismus<br />
in Frankreich zu „frankophonisieren“.<br />
Modigliani verbringt diese Zeit mit<br />
den Kollegen Chaim Soutine, Maurice Utrillo,<br />
Jacques Lipchitz, Moise Kisling und<br />
Max Jacob.<br />
„Wenn ich deine Seele kenne, werde ich<br />
deine Augen malen“, ist ein berühmter<br />
Ausspruch Modiglianis, und man könnte<br />
dies mit der jüdischen „Neshuma“ (Seele)<br />
assoziieren. Finden sich denn jüdische Elemente<br />
in Modiglianis malerischen Motiven?<br />
„Ich würde eher sagen, einiges an<br />
Kabbalistischem und Mystischem“, erklärt<br />
Daniel Benyes, selbst Spross einer sephardischen<br />
Familie und Pressesprecher der<br />
Albertina. Er verweist auf ein Modigliani-<br />
Porträt des weißrussisch-jüdischen Malers<br />
Chaim Soutine (1893–1943) aus dem<br />
Jahr 1916, auf dem dieser die Finger seiner<br />
rechten Hand wie die Kohanim beim<br />
Segnen gespreizt hat. Auch Modiglianis<br />
berühmtes Selbstporträt als Pierrot mit<br />
Halskrause kann kabbalistisch ausgelegt<br />
werden. „Das kleine t am Ende des Wortes<br />
Pierrot ist so geschrieben, dass man es<br />
auch als roi, also König lesen könnte: König<br />
der Steine“, so Benyes.<br />
Handfester Skandal. Der aus Polen stammende<br />
Kunsthändler Leopold Zborowski<br />
nimmt Modigliani 1916 unter Vertrag, und<br />
wına-magazin.at<br />
49<br />
November.indb 49 15.11.2021 11:28:50
Zeitlose Schönheit<br />
in dessen Atelierhaus malt er erstmals an<br />
die zwanzig Akte. Im April 1917 lernt er die<br />
19-jährige Kunststudentin Jeanne Hébuterne,<br />
seine große Liebe, kennen. Sie ziehen<br />
zusammen, und im gleichen Jahr findet<br />
die einzige Einzelausstellung zu seinen<br />
Lebzeiten in der Galerie Berthe Weill statt;<br />
wegen der offen gezeigte Nacktheit wird<br />
die Polizei gerufen, und die Schau wird zu<br />
einem handfesten Skandal.<br />
Kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges,<br />
als deutsche Fliegerbomben Paris treffen<br />
und mit einer Invasion gerechnet wird,<br />
verlässt das Paar die Stadt und lässt sich<br />
für ein Jahr in Cagnes-sur-Mer nieder,<br />
wo Jeanne im November 1918 eine Tochter<br />
zur Welt bringt. Als Jeanne 1919 erneut<br />
schwanger wird, verlobt sich Modigliani<br />
mit ihr. Die beabsichtige Hochzeit kann<br />
leider nicht stattfinden: Gegen Ende des<br />
Jahres erkrankt Modigliani schwer an<br />
Tuberkulose und verstirbt am 24. Jänner<br />
1920 in der Pariser Charité. Die im achten<br />
Monat erneut schwangere unverheiratete<br />
Mutter einer erst vierzehn Monate alten<br />
Tochter, die von ihrer Familie verstoßen<br />
wurde und mittellos ist, stürzt sich zwei<br />
Tage nach Modiglianis Tod aus dem Fenster<br />
im obersten Stock ihres Elternhauses.<br />
Lola de Valence,<br />
die berühmte Tänzerin, 1915.<br />
„Wenn ich deine Seele<br />
kenne, werde ich deine<br />
Augen malen.“<br />
Amadeo Modigliani<br />
Modiglianis Begräbnis gerät zu einem<br />
Ereignis: „Als wäre ein Prinz gestorben“,<br />
hieß es am Montparnasse. Die Künstlerfreunde<br />
sammeln Geld, um die Beisetzung<br />
zu finanzieren: Maler, Schriftsteller,<br />
Modelle, Galeristen und viele Barbesitzer<br />
nehmen Abschied. Erst 1930 wird<br />
Jeanne Hébuterne mit Modigliani im gemeinsamen<br />
Grab auf dem Friedhof Pére-<br />
Lachaise wiedervereint. Die kleine Tochter<br />
wird von Modiglianis Schwester in<br />
Livorno adoptiert.<br />
Modiglianis Suche nach einer zeitlosen<br />
Schönheit, die über den Kulturen<br />
steht und nicht mehr dem Ideal einer<br />
europäischen Tradition folgt, zeigt sich<br />
in seiner Ästhetik des Fragmentarischen<br />
und Altertümlichen. „Sein Brückenschlag<br />
zwischen moderner Kunst und<br />
Jahrhunderte zurückliegenden Epochen<br />
stellt einen bis heute aktuellen, herausragenden<br />
und völlig individuellen Beitrag<br />
in der Kunstgeschichte dar“, fasst<br />
es Kurator Marc Restellini im informativen<br />
und reichhaltigen Katalog zusammen.<br />
„Das Spannungsfeld seiner Kunst<br />
zwischen Avantgarde und Archaik ist<br />
auch Sinnbild seines eigenen dramatischen<br />
Lebens.“<br />
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Paris<br />
Kein Chanukkafest ohne Chanukkaleuchter. Seit<br />
mehr als 1.700 Jahren sind sie in verschiedenen<br />
Formen überall auf der Welt gebräuchlich.<br />
Von Esther Graf<br />
Der<br />
Chanukkaleuchter<br />
aus dem 14. Jahrhundert<br />
befindet sich im Jüdischen<br />
Museum Paris.<br />
m Judentum unterscheidet man zwischen Feiertagen<br />
aus der Tora und solchen, die erst in<br />
der Zeit danach entstanden sind. Zu letzterer<br />
Gruppe gehört Chanukka. Es geht auf den siegreichen<br />
Kampf der Makkabäer gegen die Seleukiden<br />
zurück und die Wiedereinweihung des<br />
Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. d. Z. Erwähnt<br />
wird der Feiertag erstmalig im Talmud. Im Traktat<br />
Schabbat ist auch die Bestimmung zu finden,<br />
dass sich der Chanukkaleuchter nicht zuletzt<br />
durch das neunte Licht von einer Menora und<br />
allen anderen Lichtquellen im Haus unterscheiden<br />
soll. Die ältesten uns erhaltenen Chanukkaleuchter<br />
sind aus Stein und stammen aus dem<br />
12. und 13. Jahrhundert. Spätestens im 14. Jahrhundert<br />
wurden sie durch Bronzeleuchter des<br />
sogenannten Banktypus ersetzt. Dabei werden<br />
die vertikale Rückplatte und die Bank, auf der<br />
die acht Ölpfännchen angeordnet sind, miteinander<br />
verbunden. Während die Rückplatte ursprünglich<br />
dazu diente, die Chanukkaleuchter<br />
an die Wand zu hängen, behielt man diese Form<br />
auch bei, als sie nicht mehr aufgehängt wurden.<br />
Das Dekor entstammt oftmals architektonischen<br />
Elementen der umgebenden Mehrheitskultur.<br />
Das hier gezeigte Exemplar stammt aus<br />
Frankreich. Die dreieckige Rückplatte erinnert<br />
an einen Giebel, in dessen Mitte eine ausgestanzte<br />
gotischen Rosette thront. Unterhalb der<br />
Rosette bilden elf Bögen ein weiteres dekoratives<br />
Element, das wir auch aus gotischen Sakralbauten<br />
kennen.<br />
PARIS<br />
In der Hauptstadt Frankreichs ist jüdisches Leben seit dem 6. Jahrhundert nachgewiesen. Nach Vertreibungen<br />
im 12. und 14. Jahrhundert siedelten Juden erst wieder im 17. Jahrhundert. Die kulturelle<br />
Blüte fand durch die Kapitulation Frankreichs 1940 ein jähes Ende. Von den etwa 50.000 Deportierten<br />
überlebten nur etwa drei Prozent. Durch den Zuzug aus Nordafrika in den 1950er- und 1960er-<br />
Jahren wuchs die Gemeinde auf mehr als 300.000 Personen. Antisemitische Übergriffe und Morde<br />
führten zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu einer Auswanderungswelle nach Israel.<br />
© Moise.nedjar, 2015, Commons Wikimedia<br />
wına-magazin.at<br />
51<br />
November.indb 51 15.11.2021 11:28:51
WINA KOMMENTAR<br />
Ein Wochenende in Tel Aviv<br />
Mit knapp einer halben Million Einwohner ist Tel Aviv eine vergleichsweise<br />
kleine Metropole. Was Multikulturalität anbelangt, können sich<br />
viele Städte noch was abschauen – aber vor allem hinsichtlich Toleranz.<br />
el Aviv gehört zu den größten Metropolen in<br />
Israel und das mit etwa 500.000 Einwohnern.<br />
Was man in anderen Ländern als „Städtchen“<br />
bezeichnet, wird hier als zweitgrößte Stadt<br />
nach Einwohnern (hinter Jerusalem) gefeiert.<br />
Zurecht. Schließlich muss sich Tel Aviv im Großstadtvergleich<br />
nicht verstecken, selbst wenn es um Themen<br />
Von Itamar Gross<br />
wie attraktive Jobchancen,<br />
Gastronomie, Kultur, Lifestyle<br />
und Diversität geht. Die Möglichkeiten,<br />
sich in den verschiedensten Szenen und<br />
Kulturen wiederzufinden, scheinen unendlich und<br />
können dennoch mit nur einem typischen Tel-Aviv-<br />
Wochenende zusammengefasst werden.<br />
Um das Wochenende in guter Atmosphäre zu starten,<br />
bietet sich Yafo als sehr gute Option an. Die Stadt, die<br />
quasi zu Tel Aviv gehört, ist stark von ihrer arabischen<br />
Bevölkerung geprägt und lädt vor allem im nördlichen<br />
Teil zur Kulinarik ein. Restaurants im Shuk HaPishpeshim<br />
sind prall gefüllt mit Menschen, die genüsslich<br />
orientalische Speisen wie Hummus und Knafeh (eine<br />
trendige arabische Nachspeise) essen, während sich<br />
im Hintergrund arabische Mizrahi-Musik mit Muezzins<br />
vermischt.<br />
Hat man Lust auf etwas Abwechslung, lohnt sich ein<br />
kleiner Abstecher in die benachbarte Gegend Florentin<br />
(Süd-Tel-Aviv). Keine Ahnung, wie man hinkommen<br />
soll? Einfach der lauten Technomusik folgen, die sich<br />
vom Bass her nicht einmal vor Berliner Clubs schämen<br />
muss. Wo vor 30 Jahren nicht allzu viele freiwillig wohnen<br />
wollten, entsteht eine immer größer werdende Gemeinschaft<br />
an Young Professionals, Künstlerinnen und<br />
Künstlern sowie Hipstern, die das gute Leben genießen<br />
wollen. Dazu gehören auch die<br />
Rooftop-Partys, die ab Freitagmittag<br />
omnipräsent sind. Alternativ<br />
bietet sich auch der<br />
Besuch in einer der vielen Bars<br />
der Gegend an, die selbst mit<br />
ihren überteuerten Preisen<br />
(um die zehn Euro pro Bier plus<br />
Trinkgeld) kein Grund sind, zu<br />
Hause zu bleiben.<br />
Im Zentrum der Stadt ist die Atmosphäre nicht anders.<br />
Am Freitag ist die ganze Stadt unterwegs und in ihrer<br />
ganzen Buntheit zu sehen. Menschen treffen einander<br />
auf der Rothschild Straße, dem Kikar Dizengoff oder<br />
in einem der unzähligen szenigen Restaurants und Bars.<br />
Auf der Straße versuchen motivierte Chabbadnikim,<br />
Männern ihre Te fil lin anzudrehen, während Demonstranten<br />
die Trennung von Religion und Staat fordern.<br />
Wem das zu viel ist, der kann sich mit einem Spaziergang<br />
bei Sonnenuntergang auf der Strandpromenade<br />
helfen. Alle paar hundert Meter formt sich eine<br />
Menschentraube, die talentierten Musikern lauscht. Die<br />
Der Gesang aus den Synagogen vermischt<br />
sich mit Partymusik aus den<br />
Bars. Jeder lebt seine Überzeugung aus<br />
und versucht sich nicht (zumindest<br />
allzu sehr) auf die Füße zu treten.<br />
Auswahl variiert von Top Charts über Rock und israelische<br />
Klassiker bis hin zu einem Streichquartett, das seinen<br />
Stammplatz am Schabbat-Morgen am Frischmann-<br />
Strand hat.<br />
Die jedoch mächtigste Szene, die die Stadt zu bieten<br />
hat, spielt sich meiner Meinung nach kurz vor Schabbat<br />
ab. Menschen mit den verschiedensten Kippot gehen<br />
in die verschiedensten Synagogen (aschkenasisch,<br />
sephardisch, Carlebach, orthodox, reform, konservativ,<br />
jekisch, italienisch und viele andere), während leicht<br />
bekleidete Personen Volleyball am Strand spielen. Der<br />
Gesang aus den Synagogen vermischt sich mit Partymusik<br />
aus den Bars. Jeder lebt<br />
seine Überzeugung aus und<br />
versucht sich nicht (zumindest<br />
allzu sehr) auf die Füße zu treten.<br />
Utopie wird zu Realität?<br />
Wahrscheinlich nicht. Dazu<br />
gibt es noch viel zu viele Herausforderungen.<br />
Aber es sind<br />
genau diese Momente, die ei-<br />
© Flash90/Olivier Fitoussi<br />
52 wına | Juni/Juli 2021<br />
November.indb 52 15.11.2021 11:28:54
URBAN LEGENDS<br />
Die Bilder<br />
können ja nichts dafür<br />
Am Zürcher Heimplatz wurde jüngst das erweiterte Kunsthaus feierlich eröffnet.<br />
Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel – ganz großer Luxusbahnhof.<br />
Die einzigartige Schönheit der gezeigten Bilder hat auch ihren Preis.<br />
as offizielle Zürich ist stolz, wurde<br />
doch jüngst der Erweiterungsbau<br />
des Kunsthaus Zürich, der jahrelang<br />
für Diskussionsstoff gesorgt<br />
hatte, feierlich eröffnet. Auf dem<br />
Programm standen Previews für die Financiers und VIPs, exklusive<br />
Dinners für Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und<br />
Kultur – und ein Open-House-Weekend für die Bevölkerung.<br />
Nach der obligaten Covid-Zertifikatsüberprüfung<br />
samt Identitätscheck<br />
Von Paul Divjak<br />
darf das massive Portal, das anmutet<br />
wie das repräsentative Entree einer Schweizer Großbank, betreten<br />
werden. Im riesenhaften Foyer herrscht lebhaftes Getümmel<br />
– ganz großer Luxusbahnhof, Eventcharakter inklusive.<br />
Menschen drängen sich maskenlos dicht aneinander<br />
durch die hohe Eingangshalle, das massive Treppenhaus, die<br />
Ausstellungsräumlichkeiten, die endlosen Flure, vorbei an<br />
den Schätzen der Kunstgeschichte und durch die aktuelle Ausstellung<br />
Earth Beats, eine Themenschau zum Wandel des Bildes<br />
der Natur in der Kunst.<br />
Auf den lichtdurchfluteten Ebenen des neuen Museumsmonolithen<br />
wimmelt es geschäftig; Familien mit Kindern,<br />
unterschiedliche Paare verschiedenen Alters, Damen und<br />
Herren im Sonntagsoutfit – Menschen von nah und fern. Die<br />
Besucher:innen schauen sich um, verharren angesichts der<br />
Dimensionen und Impressionen, führen angeregte Diskussionen.<br />
Einmal mehr wäre das MoMa Vorbild gewesen, hätte<br />
die museale Schablone gebildet, hört man hier, und dort wird<br />
festgestellt, dass alte, gelungen adaptierte Industriebauten à<br />
la Tate Modern einfach doch noch einmal andere Dimensionen<br />
hätten und eine ganz spezielle Aura verströmen würden.<br />
Dauerhafter Gratiseintritt für alle, wie im Museum an<br />
der Themse, das wäre wünschenswert gewesen, stellen zwei<br />
elegante Damen fest. Die Chipperfield-Architektur und die<br />
verwendeten erlesenen Materialien werden unter die Lupe<br />
genommen und genauer reflektiert: Marmor- und Eichenböden,<br />
Messingverkleidungen und -handläufe und die obligaten<br />
Rohbetonwände.<br />
Auch das dauerhafte Aufeinandertreffen der bedeutenden<br />
Sammlung des Ehepaars Merzbacher und der Sammlung<br />
Bührle im nunmehr größten Kunstmuseum der Schweiz ist<br />
ein Thema. Auf der einen Seite: die Werke aus dem Besitz von<br />
„Die Zukunft ist mit der Lebensweise der<br />
Viren näher verwandt als mit der des<br />
Menschen oder seiner Denkmäler.“<br />
(Emanuele Coccia)<br />
Werner Merzbacher, der mit einem Kindertransport in die<br />
Schweiz kam und dessen Eltern im Holocaust ermordet wurden.<br />
Auf der anderen: die aus den Beständen von Emil Bührle<br />
(1890–1956), einem Waffenindustriellen mit Naziverstrickung,<br />
dessen Impressionisten-Highlights nun laut Kunsthaus „einen<br />
Quantensprung im Bereich der Sammlung“ darstellen<br />
würden. – Und das mit einem Spin in Sachen Provenienzfragwürdigkeit.<br />
Zu Bührle finden sich in einem Vermittlungsraum des<br />
neuen Hauses Wandtexte mit dem Lebenslauf in Kapiteln.<br />
Hier heißt es unter anderem: „Gegen Ende des Krieges verdichten<br />
sich die Nachrichten vom deutschen Kunstraub im<br />
besetzten Frankreich, und Emil Bührle wird bei Käufen vorsichtiger.“<br />
Der heute 93-jährige Werner Merzbacher hingegen<br />
wird gerne mit den lapidaren Worten „Die Bilder können<br />
ja nichts dafür“ zitiert.<br />
Die einzigartige Schönheit der Bilder hat ihren Preis. Er erzählt<br />
vom Spannungsfeld von Kunst, Politik und Wirtschaft, in<br />
das sich Leben und Überleben, Krieg, Vernichtung, Tod und<br />
Profit einschreiben.<br />
Hinter der schimmernden, hochpolierten Fassade, der<br />
pompösen Inszenierung von kunst- und kulturbasierendem<br />
Humanismus, dem zivilisierten Schein der Ästhetisierung von<br />
Alltag durch Vermögen sowie dem Wunsch nach einem gewaltigen<br />
Vermächtnis und dem Standortbegehren nach Weltformat,<br />
zeichnet sich unter einem gemeinsamen Dach das Drama<br />
der Geschichte ab.<br />
Das der Kunsthistorie gewidmete neue Schatzhaus scheint<br />
zu einem impressiven Symbol für den ambivalenten Umgang<br />
mit der NS-Zeit – gerade auch der Schweiz – geworden<br />
zu sein: Es ist gleichsam Kathedrale der Kunst wie monumentaler<br />
Sarkophag ihrer kryptischen Einverleibung, Spiegelbild<br />
einer Gesellschaft und ihrer ästhetischen Errungenschaften<br />
und menschlichen Abgründe.<br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
53<br />
November.indb 53 15.11.2021 11:28:54
NOVEMBER KALENDER<br />
Von Angela Heide<br />
GEDENKAUSSTELLUNG<br />
Hauptbahnhof Wien<br />
1100 Wien<br />
BIS 30. NOVEMBER 2021<br />
ABFAHRT ASPANG-<br />
BAHNHOF<br />
In ihrer aktuellen Ausstellung 80 Jahre<br />
Deportationen Wien–Riga, einer Kooperation<br />
der Stadt Wien/Gruppe Europa<br />
mit den Österreichischen Bundesbahnen<br />
und dem Nationalfonds<br />
der Republik Österreich für Opfer des<br />
Nationalsozialismus, widmen sich Kuratorin<br />
Milli Segal und Historikerin Brigitte<br />
Bailer-Galanda dem Gedenken<br />
an jene 4.200 Jüdinnen und Juden,<br />
die von Dezember 1941 bis Februar<br />
1942 vom Aspangbahnhof in Wien in<br />
das Ghetto von Riga, damals Teil des<br />
„Reichskommissariats Ostland“, führten.<br />
Viele von ihnen, darunter zahlreiche<br />
Kinder, wurden nach den Tagen<br />
der qualvollen Reise kurz nach ihrer<br />
Ankunft erschossen, und auch die<br />
meisten älteren Personen wurden, zuletzt<br />
im Februar 1942, sofort ermordet.<br />
Jenen, denen der lange Marsch zum<br />
Lager bereits zu beschwerlich war,<br />
wurden zuletzt auch als Lastkraftwagen<br />
getarnte „Gaswagen“ angeboten …<br />
Nur rund 100 Menschen überlebten<br />
Transport, Ghetto, Zwangsarbeit und<br />
Konzentrationslager. Ihren Abschied<br />
aus Wien zeichnet die Gedenkausstellung<br />
bedrückend nach.<br />
AUSSTELLUNG<br />
Haus der Geschichte Österreich (hdgö)<br />
Neue Burg, 1010 Heldenplatz<br />
hdgoe.at<br />
BIS 14. NOVEMBER 2021<br />
EINE SCHACHTEL LEBEN<br />
Die Ausstellung Der kalte Blick, eine Kooperation<br />
von Naturhistorischem Museum Wien,<br />
Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden<br />
Europas und Stiftung Topographie des Terrors,<br />
die nur noch wenige Tage im Haus der<br />
Geschichte Österreich zu sehen ist, begibt sich<br />
auf der einen Seite auf die Spur von NS-Täterinnen,<br />
auf der anderen Seite werden letzte Bilder<br />
jüdischer Familien aus dem Ghetto von<br />
Tarnów gezeigt – dabei wird deutlich, wie eng<br />
eben diese Bilder mit jenem titelgebenden<br />
„kalten Blick“ zweier junger österreichischer<br />
Anthropologinnen verbunden ist, die im Rahmen<br />
ihrer „rassenkundlichen Forschungen“<br />
im März 1942 über 100 jüdische Familien und<br />
über 550 Menschen in der deutsch besetzten<br />
südpolnischen Stadt Tarnów „untersuchten“<br />
und fotografierten. Nur knapp 25 von ihnen<br />
überlebten und konnten nach Kriegsende<br />
vom Projekt über „typische Ostjuden“ der beiden<br />
Wiener Wissenschaftlerinnen Dora Maria<br />
Kahlich und Elfriede Fliethmann erzählen. Die<br />
Ausstellung verbindet erstmals die erhaltenen<br />
Fotografien mit den Namen jener fast durchwegs<br />
kurz darauf deportierten und ermordeten<br />
Menschen, die sie zeigen.<br />
FESTIVAL<br />
Ehrbar Saal, Filmhaus Kino Spittelberg, Kulturcafé<br />
Max, Lorely Saal, Metropol, Österr. Volksliedwerk, erk,<br />
Porgy & Bess, Sargfabrik, Theater Akzent<br />
klezmore-vienna.at<br />
6. BIS 21. NOVEMBER 2021<br />
KlezMORE FESTIVAL 2021<br />
Gemeinsam haben Festivalgründer und -leiter<br />
Friedl Preisl und Roman Britschgi für<br />
dieses Jahr ein Programm kuratiert, das sich<br />
leichtfüßig-tiefsinnig zwischen Hoffnung –<br />
dass das Festival heuer auch endlich wieder<br />
stattfindet – und „Glik“ – dem sich die zahlreichen<br />
„kulturellen Schmankerln, akustischen<br />
und intellektuellen Freudenspender“<br />
dieser Festivalausgabe widmen werden – bewegt<br />
und sich, so die beiden Festivalkuratoren,<br />
in seiner Gesamtheit als deutliches, vor<br />
allem positives „Statement“ erkennen lässt.<br />
Eröffnet wird mit einer Gala, bei der Ethel<br />
Merhaut mit den Wladigerhoff Brothers den<br />
Lorely Saal zum Swingen bringt (6.11.); geendet<br />
wird im Metropol mit dem Vienna Klezmore<br />
Orchestra, das so ziemlich „alle Stückerl<br />
spielt“ und Publikumsliebling Merhaut noch<br />
einmal auf die Bühne bittet. Dazwischen spielen<br />
Wiener(ische), österreichische und internationale<br />
Gäste auf, die sich vielfach auch<br />
bislang schon in die Herzen der Festivalfans<br />
musiziert oder, wie die großartige Isabel Frey,<br />
mit unglaublicher Schnelligkeit neue Fangemeinden<br />
aufgebaut haben. Dazu gibt es die<br />
fast schon traditionellen Stummfilmmatineen,<br />
Workshops und, so Covid-19 es erlaubt,<br />
so manchen Abend des gemeinsamen Feierns.<br />
Optimistischer kann ein musikalischer<br />
November nicht sein.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter: wina.kulturkalender@gmail.com<br />
54 wına | November 2021<br />
November.indb 54 15.11.2021 11:28:55
BUCHPRÄSENTATION<br />
UND WORKSHOP<br />
Festival der jüdischen Kultur<br />
19:30 Uhr, Urania,<br />
Uraniastraße 1, 1010 Wien<br />
ikg-wien.at/festival<br />
AUSSTELLUNG<br />
Festival der jüdischen Kultur<br />
Kunstraum Nestroyhof,<br />
Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />
ikg-wien.at/festival<br />
afé<br />
rk,<br />
FILMPROGRAMM<br />
Festival der jüdischen Kultur<br />
Votivkino,<br />
Währinger Straße 12, 1090 Wien<br />
ikg-wien.at/festival<br />
24. NOV. BIS 1. DEZ. 2021<br />
STARKE FRAUEN IM FILM<br />
Gleich mit vier Filmen ist das diesjährige<br />
Festival der jüdischen Kultur reich bestückt<br />
– und schließt damit konsequent an das<br />
vor einem Monat zu Ende gegangene Jüdische<br />
Filmfestival an. Auf dem Programm<br />
stehen Margarethe von Trottas Hannah-<br />
Arendt-Film aus dem Jahr 2012 mit Barbara<br />
Sukowa in einer ihrer wichtigsten Lebensrollen<br />
(16. 11., 20 Uhr), Ask Dr. Ruth<br />
von Ryan White von 2019 (21. 11., 12:45 Uhr)<br />
über die Emigrantin und spätere Sex-Beraterin<br />
der US-Nation Karola Ruth Siegel, die<br />
ab den 1980er-Jahren mit ihrer Show Sexually<br />
Speaking nicht mehr aus den amerikanischen<br />
Radios und Fernsehschirmen<br />
wegzudenken war, Geniale Göttin – Die<br />
Geschichte von Hedy Lamarr (25. 11.,<br />
18:30 Uhr) von Alexandra Dean aus dem<br />
Jahr 2017 über eine österreichische „Sexgöttin“,<br />
Emigrantin und geniale Erfinderin,<br />
die viel zu spät erst die Anerkennung bekam,<br />
die sie verdiente, und zuletzt die Österreich-Premiere<br />
des 2020 entstandenen<br />
Dokumentarfilms Truus’ Children von Pamela<br />
Sturhoofd und Jessica van Tijn über<br />
die bedeutende niederländische Widerstandskämpferin<br />
und Lebensretterin Truus<br />
Wijsmuller (9. 12., 18:30 Uhr). Es sind durchwegs<br />
faszinierende und starke Frauen, denen<br />
hier verdiente filmische Denkmäler gesetzt<br />
werden.<br />
18. NOVEMBER 2021<br />
„WEIBLICH“ INVESTIEREN<br />
Frauen investieren viel, meistens aber<br />
sind es Zeit, Geduld, Liebe – seltener<br />
schon sind es Geld oder gar Macht.<br />
Dass man als Frau aber auch für sich<br />
ganz persönlich vorsorgen kann, und<br />
das nicht nur im emotionalen, sondern<br />
eben auch im ganz realen finanziellen<br />
Sinne, davon erzählt die Wiener<br />
Frauenfinanzberaterin Larissa<br />
Kravitz unter dem Titel Money, honey!<br />
– Vorsorgen und investieren für<br />
Einsteigerinnen. Wichtig ist, keine<br />
Scheu zu haben, dass man auch mal<br />
als Frau an sich denkt – und das nachhaltig<br />
und langfristig. „Make the markets<br />
female!“, fordert Kravitz selbstbewusst<br />
und zeigt auf, dass für jede<br />
von uns die passende Investitionsform<br />
gefunden werden kann, auch<br />
fürs „kleine Börsel“ und für alle, die<br />
sich bislang nicht getraut haben. Ein<br />
wichtiger und spannender Workshop-<br />
Abend unter dem Motto „Empowered<br />
Women, Empower Women“!<br />
Anmeldung unter:<br />
ikg-wien.at/festival<br />
Larissa Kravitz:<br />
Money, honey!<br />
Vorsorgen und<br />
Investieren für<br />
Einsteigerinnen.<br />
Kremayr & Scheriau,<br />
240 S., € 22<br />
24. NOV. BIS 1. DEZ. 2021<br />
STARKE FRAUEN IM BILD<br />
Dvora Barzilai widmet sich in ihrer aktuellen<br />
Schau Shirat Dvora dem (Ab-)Bild starker jüdischer<br />
Frauen aus Antike und Mythos und verbindet<br />
die von ihr thematisierten Figuren mit<br />
dem Leben modern-orthodoxer Frauen. Barzilai<br />
gelingt es immer wieder, auf einprägsame Weise<br />
in ihren Arbeiten das Religiöse mit dem Weltlichen<br />
zu verbinden. Mit Shirat Dvora versucht<br />
die Künstlerin zu zeigen, „dass Frauen auf allen<br />
Ebenen schon immer viel bewegt haben und<br />
auch heutzutage eine tragende Rolle spielen“.<br />
LESUNG MIT KONZERT<br />
Festival der jüdischen Kultur<br />
11 Uhr<br />
Theater Nestroyhof Hamakom,<br />
Nestroyplatz 1, 1020 Wien<br />
28. NOVEMBER 2021<br />
SORGEN WIR GUT DAFÜR<br />
Charlotte Salomon wurde mit 26 Jahren in<br />
Auschwitz ermordet. Salomon, eine der bedeutendsten<br />
jüdischen Malerinnen des frühen 20.<br />
Jahrhunderts, gab mit den Worten „Sorg' gut dafür:<br />
Es ist mein ganzes Leben“ vor ihrer Deportation<br />
hunderte Arbeiten an einen Freund. Erst vor<br />
wenigen Jahren wurde ihr Werk, wurde die Künstlerin<br />
selbst wieder aus dem Schatten des Vergessens<br />
geholt – ihre Texte, ihre Erinnerungen und ihr<br />
eminentes Œuvre werden bei dieser Matinee über<br />
politisch-historisches Erinnern mit allen Sinnen<br />
von Therese Hämer (Lesung) und dem Julie Sassoon<br />
Quartet (Musik) thematisiert und in Form einer<br />
berührenden Hommage hochgehalten.<br />
© Klaus Pichler, hdgö; Krassimir Kolev; Thomas Sturmberger; PID/Christian Fürthner<br />
wına-magazin.at<br />
55<br />
November.indb 55 15.11.2021 11:28:58
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal,<br />
ganz fantastisch gejammt habe ich … bei der<br />
letzten Vienna Klezmer Session im Oktober. Es war<br />
lange nicht möglich, mit so vielen Leuten und internationalen<br />
Gästen zu jammen. Letztlich hatten wir<br />
dann doch die große Freude, mit lieben Gästen<br />
aus New York und München die ganze Nacht durch<br />
einen wilden Mix aus jiddischen Volksliedern,<br />
fetzigen Klezmer-Nummern bis hin zu Boney M. zu<br />
spielen. Das ganze randvolle Café Max hat getanzt!<br />
Das letzte Mal einen tollen neuen jiddischen Ausdruck<br />
gelernt habe ich … auf der Suche nach einem<br />
passenden Namen für mein A-cappella-Duo mit Isabel<br />
Frey. Nachdem wir gesagt bekommen haben,<br />
dass Duo Wratschko & Frey mehr nach einer Anwaltskanzlei<br />
klingt als nach einem Yiddish Folk Duo, haben<br />
wir uns nach einigem Überlegen für „Soveles“ entschieden.<br />
„Sovele“ ist eine kleine Eule. Und nachdem<br />
wir beide recht nachtaktive Singvögelchen sind, hat<br />
uns das letztlich überzeugt.<br />
Das letzte Mal, dass ich New York vermisst habe,<br />
war … bei einem herbstlichen Spaziergang im Augarten.<br />
Ich habe damals in New York in der Nähe des Prospect<br />
Parks in Brooklyn gewohnt, und Spaziergänge<br />
im riesigen Park zwischen bunten Blättern und den<br />
Enten im dortigen See waren für mich ein wichtiger<br />
Moment der Ruhe in der umtriebigen Großstadt.<br />
Das letzte Mal, dass ich mit Kindern zu meinem<br />
Kinder-Punkrock abgefeiert habe, war … beim<br />
Tagträumer*innen Festival im Kunsthaus Horn. Nachdem<br />
die Telepunkies eine längere coronabedingte<br />
Konzertpause hinter sich hatten, haben wir uns an<br />
einem herbstlichen Samstagmorgen in das schöne<br />
Waldviertel aufgemacht und dort endlich wieder vor<br />
echten Menschen, kleinen wie großen, die Sau rausgelassen.<br />
Die Kids und ihre Omas sind voll abgegangen,<br />
wir vor Glück vergangen – aber der größte Hit<br />
war fast die Konfettikanone.<br />
Das letzte Mal, dass ich ein wunderbares Chorerlebnis<br />
hatte, war ..., als ich zum ersten Mal seit Langem<br />
wieder auf der Bühne des Wiener Konzerthauses<br />
gestanden bin, um Leonard Bernsteins Kaddish<br />
zu singen. Ich liebe Bernstein, er ist als Dirigent, Komponist<br />
und Pädagoge eine große Inspiration. Und<br />
dieses beeindruckende Werk in der Leitung seiner<br />
ehemaligen Schülerin Marin Alsop aufzuführen, war<br />
ein sehr berührender und besonderer Moment.<br />
VOR GLÜCK<br />
VERGEHEN<br />
Für alles gibt es ein erstes Mal – aber auch ein letztes!<br />
In diesem Monat erzählt uns Musikerin Esther Wratschko<br />
über ihr Leben als nachtaktiver Singvogel und wann sie im<br />
Waldviertel die Konfettikanone gezündet hat.<br />
Esther Wratschko studierte Germanistik in Wien und anschließend<br />
Musikerziehung und Chorleitung an der Universität für Musik und darstellende<br />
Kunst. Dieses Studium schloss sie 2017 nach einem sechsmonatigen<br />
Artistic Fellowship am Center for Jewish History in New<br />
York ab. Sie spielt in diversen Formationen – unter anderem Punkrock<br />
für Kinder! – , leitet mehrere Chöre und organisiert Klezmer-Sessions.<br />
Esther Wratschko ist im Rahmen des KlezMore Festivals zu<br />
sehen (8., 14. & 15. November, klezmore.at).<br />
Solo tritt sie am 11. November um 19.30 Uhr im Kulturhaus<br />
Brotfabrik der Ankerbrotfabrik auf. Alle Infos unter<br />
estherwratschko.com<br />
© Marlene Karpischekw<br />
56 wına | November 2021<br />
November.indb 56 15.11.2021 11:29:00