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Sungsoo Hong: Heterogenität und Inklusion (Leseprobe)

Diskurse um Heterogenität und Inklusion haben mittlerweile eine erhebliche Dichte und Komplexität erreicht, sodass die gesamte Topographie kaum überschaubar ist. Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Arbeit als eine Metastudie konzipiert, um die laufenden Diskurse selbst als einen Forschungsgegenstand aufzunehmen und sie systematisch zu rekonstruieren. Dadurch sollen Bedeutungen, Impulse und Schwerpunkte der jeweiligen Stränge sowie deren Probleme und Grenzen sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus soll sie auch zur interdisziplinären Verschränkungsleistung zwischen Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik beitragen.

Diskurse um Heterogenität und Inklusion haben mittlerweile eine erhebliche Dichte und Komplexität erreicht, sodass die gesamte Topographie kaum überschaubar ist. Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Arbeit als eine Metastudie konzipiert, um die laufenden Diskurse selbst als einen Forschungsgegenstand aufzunehmen und sie systematisch zu rekonstruieren. Dadurch sollen Bedeutungen, Impulse und Schwerpunkte der jeweiligen Stränge sowie deren Probleme und Grenzen sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus soll sie auch zur interdisziplinären Verschränkungsleistung zwischen Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik beitragen.

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<strong>Sungsoo</strong> <strong>Hong</strong><br />

<strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

Eine Metastudie zu komplexen Diskursfeldern<br />

in der Erziehungswissenschaft<br />

<strong>und</strong> der Religionspädagogik


Vorwort<br />

Im Sommer 2015 bin ich als Masterstudent an die Theologische Fakultät Jena<br />

gekommen. Hier wurde mir vor allem wissenschaftliche Freiheit <strong>und</strong> zugleich<br />

Orientierung gegeben. Es war eine angenehme <strong>und</strong> wertvolleZeit, in der ich mich<br />

ca. sieben Jahre lang vertieft mit verschiedenen Themen inder Religionspädagogik<br />

<strong>und</strong> Theologie beschäftigen durfte.<br />

Bezüglich meiner Dissertation bin ich 2017 erstmals auf die Themen <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> getroffen. Mein pädagogisches Interesse lag zwar zuallererst<br />

auf dem inklusiven Lernen von Kindern mit <strong>und</strong> ohne Behinderung.Doch<br />

angesichts der Komplexität <strong>und</strong> Diskursivität dieser Themenfelder erscheint<br />

mir es als eine bedeutsame wissenschaftliche Aufgabe, sich tiefgehend damit<br />

auseinanderzusetzen. Zugleich musste ich mir immer bewusstsein, dass es sich<br />

dabei nicht nur um Theorien, Ansätze <strong>und</strong> Diskurse handelt. Dahinter stehen<br />

Menschen, also jede*r einzelne*r von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen, deren Eltern<br />

sowie pädagogischen Fachkräften. Nach vielen Jahren intensiver Arbeit kommt<br />

diese Dissertation nun zu einem Ergebnis. Ich hoffe, dass sie einen Beitrag zur<br />

Weiterentwicklung dieser Themenfelder leistenkann <strong>und</strong> bin sehr dankbar, dass<br />

meine Forschung von 2018 bis 2020 durch das Landesgraduiertenstipendium<br />

gefördert wurde.<br />

Auf dem Wegzur fertigen Dissertation gab es nicht wenige Stolpersteine, die<br />

ich ohne Hilfe meiner Mitmenschen nicht hätte bewältigen können. Jetzt ist es<br />

an der Zeit, mich bei allen Menschen zubedanken, die mich bei der Erstellung<br />

meiner Dissertation unterstützt haben:<br />

An erster Stelle gilt mein Dank meinem Doktorvater Herr Prof. Michael<br />

Wermke, der meinen gesamten wissenschaftlichen Werdegang in Deutschland –<br />

vom Masterstudium über den Übergang bis hin zur Promotion – begleitet hat <strong>und</strong><br />

mir wissenschaftlich wie auch persönlich große Unterstützung gab. Doch auch<br />

Herrn Prof. Henrik Simojoki bin ich für sein zweites Gutachten zu Dank verpflichtet,<br />

insbesondere für seine wissenschaftliche Unterstützung <strong>und</strong> Ermutigung.<br />

Ebenso geht mein Dank an meine Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen im FZRB <strong>und</strong><br />

KuRs.B, die mir vielfältige Unterstützung <strong>und</strong> Anregungen geboten haben. Im<br />

Team fühlte ich mich wirklich wohl <strong>und</strong> zu Hause.<br />

Besonders möchte ich an dieser Stelle auch meiner Familie – meiner Frau<br />

<strong>und</strong> meinen Eltern <strong>und</strong> Schwiegereltern inSüdkorea – für die unermüdliche<br />

Stärkung <strong>und</strong> Motivation sowie für ihre liebevolle Fürsorge danken.<br />

Mein besonderer Dank gilt auch Pastor Jona Kim in der evangelisch-koreanischen<br />

Gemeinde Weimar/Jena, der mich als ein gutes pastorales Vorbild tief


6 Vorwort<br />

beeindruckt <strong>und</strong> persönlich <strong>und</strong> spirituell unterstützt hat, sowie allen Gemeindemitgliedern.<br />

Ich danke auch der Sankyuk evangelisch-presbyterianischen Gemeinde<br />

(Daegu, Südkorea) sowie den Gemeindemitgliedern, die für mich gebetet <strong>und</strong><br />

mich finanziell unterstützt haben.<br />

Die Publikation erfolgt dank der Förderung durchdie Vereinigte Evangelisch-<br />

Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), die Evangelische Kirche inMitteldeutschland<br />

(EKM), die Calwer Verlag-Stiftung (CVS)sowie die Macheon-Segyero<br />

evangelisch-presbyterianische Gemeinde (Seoul, Südkorea), denen mein besonderer<br />

Dank gilt.<br />

Herzlichen Dank!<br />

<strong>Sungsoo</strong> <strong>Hong</strong> Jena, imFebruar 2023


Inhalt<br />

I Einleitung ............................................. 13<br />

1 Hintergr<strong>und</strong> der Arbeit ............................... 13<br />

2 Aktuelle Diskurslage <strong>und</strong> Forschungsdesiderate ............ 16<br />

3 Das Ziel <strong>und</strong> methodische Vorgehen der Arbeit ............. 19<br />

4 Aufbau der Arbeit ................................... 24<br />

II Vier Diskurslinien um <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> ............. 25<br />

1 Vielfalt <strong>und</strong> Anerkennung: die vielfaltsbewusste Diskurslinie .. 25<br />

1.1 Pädagogik der Vielfalt ............................. 27<br />

1.1.1 Ausgangspunkt: drei Arten der schulpädagogischen<br />

Umgangsweise mit <strong>Heterogenität</strong> ................ 27<br />

1.1.1.1 Zum Separierungsmodell: Hierarchisierung<br />

von Differenzen ....................... 28<br />

1.1.1.2 Zum Anpassungsmodell: Angleichung von<br />

Differenzen ........................... 29<br />

1.1.1.3 Zum Ergänzungsmodell: Gleichberechtigung<br />

von Differenzen ....................... 31<br />

1.1.2 Theoretische Überlegung: zwei gr<strong>und</strong>legende<br />

Theoreme der Pädagogik der Vielfalt ............. 32<br />

1.1.2.1 Egalitäre Differenz: Verhältnisbestimmung<br />

zwischen Gleichheit <strong>und</strong> Verschiedenheit .... 32<br />

1.1.2.2 Mehrdimensionales<br />

<strong>Heterogenität</strong>sverständnis: Verschiedenheit,<br />

Vielschichtigkeit, Veränderlichkeit <strong>und</strong><br />

Unbestimmtheit ....................... 35<br />

1.1.3 Schulpädagogische <strong>und</strong> professionelle Konsequenzen:<br />

Anerkennung als Prämisse <strong>und</strong> Reflexionskriterium<br />

für pädagogische Handlungsebene ............... 38<br />

1.1.3.1 Gleichberechtigung aller Schüler*innen mit<br />

ihrer jeweiligen Verschiedenheit .......... 39<br />

1.1.3.2 Pädagogische Beziehungen zwischen<br />

zwischen Anerkennung <strong>und</strong> Verletzung ..... 40<br />

1.1.3.3 Pädagogische Diagnostik, Didaktik <strong>und</strong><br />

Leistungsbewertung .................... 42<br />

1.1.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 44<br />

1.2 Religionspädagogik der Vielfalt ...................... 46<br />

1.2.1 Ausgangspunkt: Behinderung, Menschenbild <strong>und</strong><br />

Bildungsverständnis .......................... 47


8 Inhalt<br />

1.2.1.1 Gleichsetzung von Ges<strong>und</strong>heit mit Glück .... 49<br />

1.2.1.2 Gleichsetzung von Leistung mit Wert ....... 51<br />

1.2.1.3 Gleichsetzung von Person mit Rationalität ... 53<br />

1.2.2 Theologisch-anthropologische Überlegungen ....... 55<br />

1.2.2.1 Gottebenbildlichkeit .................... 55<br />

1.2.2.2 Geschöpflichkeit, Fragmentarität <strong>und</strong><br />

Ambivalenz .......................... 57<br />

1.2.2.3 Menschsein in Beziehung ................ 60<br />

1.2.2.4 Bilderverbot .......................... 61<br />

1.2.3 Religionspädagogische <strong>und</strong> professionelle<br />

Konsequenzen: Kontur eines inklusiven<br />

Bildungsverständnisses <strong>und</strong> Dimensionen religiöser<br />

Bildung ................................... 63<br />

1.2.3.1 Gottebenbildlichkeit als Gr<strong>und</strong>lage für<br />

allgemeine, inklusive Bildung ............ 63<br />

1.2.3.2 Fragmentalität <strong>und</strong> Ambivalenz als<br />

vergessene <strong>und</strong> verdrängte<br />

Bildungsdimension ..................... 65<br />

1.2.3.3 Menschsein in Beziehung: inklusive Bildung<br />

in Begegnung ......................... 69<br />

1.2.3.4 Das Bilderverbot als kritischer Maßstab gegen<br />

Ausgrenzung ......................... 72<br />

1.2.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 73<br />

1.3 Einbeziehung der erziehungswissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

religionspädagogischen Diskurse ..................... 74<br />

2 Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit:<br />

die sozialkritische Diskurslinie .......................... 77<br />

2.1 Benachteiligungssensible Pädagogik .................. 80<br />

2.1.1 Problemlage: soziale Ungleichheit, Benachteiligung<br />

<strong>und</strong> Exklusion im Bildungsbereich ............... 81<br />

2.1.2 Kritische Analyse: ungleichheitsverstärkende<br />

Mechanismen imSchulbereich .................. 88<br />

2.1.2.1 Harte organisatorische Mechanismen:<br />

Makroebene .......................... 89<br />

2.1.2.2 Weiche kulturelle Mechanismen: Meso-,<br />

Mikro- <strong>und</strong> Akteursebene ................ 91<br />

2.1.3 Schulpädagogische <strong>und</strong> professionelle Konsequenzen:<br />

kritische Analyse der Ungleichheit <strong>und</strong> deren<br />

Ausgleich .................................. 97<br />

2.1.3.1 Sensibilisierung: Wahrnehmen, kritisches<br />

Hinterfragen <strong>und</strong> Selbstreflexion .......... 100


Inhalt 9<br />

2.1.3.2 Kompensation: pädagogische Prä- <strong>und</strong><br />

Intervention für den Ausgleich von<br />

Bildungsbenachteiligung ................ 103<br />

2.1.3.3 Bildungsminimum faktisch sichern: starke<br />

Bildungsstandards <strong>und</strong> Kerncurriculum ..... 107<br />

2.1.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 109<br />

2.2 Benachteiligungssensible Religionspädagogik ........... 112<br />

2.2.1 Problemlage: soziale Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Religionspädagogik .......................... 112<br />

2.2.2 Kritische Analyse: religionspädagogische Weichstelle<br />

im Hinblick auf soziale Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Bildungsgerechtigkeit ......................... 114<br />

2.2.2.1 Mangelnde religionspädagogische<br />

Aufarbeitung sozialer Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Exklusion ............................ 115<br />

2.2.2.2 Milieuverengung resp.<br />

Mittelschichtsorientierung der<br />

Religionspädagogik .................... 118<br />

2.2.3 Religionspädagogische <strong>und</strong> professionelle<br />

Konsequenzen: Option für die Benachteiligten <strong>und</strong><br />

der kritische Impetus der Theologie <strong>und</strong><br />

Religionspädagogik .......................... 125<br />

2.2.3.1 Sensibilisierung: ›die vorrangige Option für<br />

die Armen‹ als Wahrnehmungskriterium .... 125<br />

2.2.3.2 Politische Dimension der Religionspädagogik<br />

stärken .............................. 127<br />

2.2.3.3 Seelsorgerliche Unterstützung stärken ...... 130<br />

2.2.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 134<br />

2.3 Einbeziehung der erziehungswissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

religionspädagogischen Diskurse ..................... 136<br />

3 Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere: die machtkritische<br />

Diskurslinie ........................................ 139<br />

3.1 Machtkritische Pädagogik .......................... 141<br />

3.1.1 Ausgangspunkts: Migration als Problemfall? ....... 141<br />

3.1.2 Pädagogische Anmerkungen zu ›Othering‹ ......... 151<br />

3.1.2.1 Zum Begriff des ›Othering‹ ............... 151<br />

3.1.2.2 Kulturelles Othering in pädagogischen<br />

Konzepten <strong>und</strong> Praxen .................. 154<br />

3.1.3 Schulpädagogische <strong>und</strong> professionelle Konsequenzen:<br />

Dekonstruktion als Hinterfragen der<br />

gesellschaftlichen Normalität <strong>und</strong> der<br />

Machtverhältnisse ........................... 164


10 Inhalt<br />

3.1.3.1 Reflexiver Umgang mit dem Kulturbegriff ... 164<br />

3.1.3.2 Zum Subjektverständnis: Subjektsein in<br />

Ambivalenz zwischen der Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> dem Unterworfenen ................. 167<br />

3.1.3.3 Dekonstruktion als<br />

pädagogisch-professionelles Prinzip ........ 172<br />

3.1.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 175<br />

3.2 Machtkritische Religionspädagogik ................... 176<br />

3.2.1 Ausgangspunkt: Religion als Differenzkategorie? .... 177<br />

3.2.2 Identitätsbildung oder Identitätsfalle?: kritische<br />

Anmerkungen zum Identitätsbegriff .............. 183<br />

3.2.2.1 Identitätsdiskurs als Abgrenzungsdiskurs? ... 183<br />

3.2.2.2 Eine homogene, geschlossene christliche<br />

Identität? ............................ 187<br />

3.2.2.3 Identitätsbildung als Ziel religiöser Bildung? 189<br />

3.2.3 Religionspädagogische <strong>und</strong> professionelle<br />

Konsequenzen: hermeneutische Auseinandersetzung<br />

mit dem Eigenen <strong>und</strong> dem Anderen .............. 194<br />

3.2.3.1 Theologisch-religionspädagogischer<br />

Gegenentwurf zum dominanten<br />

Identitätsdiskurs ...................... 194<br />

3.2.3.2 Hermeneutische Frage: die Unzugänglichkeit<br />

des*der Anderen ...................... 204<br />

3.2.3.3 Dekonstruktion als<br />

religionspädagogisch-professionelles Prinzip 209<br />

3.2.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 213<br />

3.3 Einbeziehung der erziehungswissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

religionspädagogischen Diskurse ..................... 215<br />

4 Ressourcen, Unterstützung <strong>und</strong> Ermächtigung:<br />

die förderungsorientierte Diskurslinie .................... 217<br />

4.1 Pädagogik der Ermächtigung ........................ 220<br />

4.1.1 Ausgangspunkt: Verortung des Themas ›Förderung‹<br />

im <strong>Inklusion</strong>sdiskurs ......................... 220<br />

4.1.2 Theoretische Gr<strong>und</strong>lage: Empowerment, Salutogenese<br />

<strong>und</strong> Resilienz ............................... 222<br />

4.1.2.1 Empowerment: Unterstützung zur<br />

Selbstbemächtigung .................... 222<br />

4.1.2.2 Salutogenese: Was macht einen Menschen<br />

ges<strong>und</strong>? ............................. 225<br />

4.1.2.3 Resilienz: innere Widerstandsfähigkeit ...... 228


Inhalt 11<br />

4.1.3 Schulpädagogische <strong>und</strong> professionelle Konsequenzen:<br />

Plädoyer für ein stärkendes, förderndes <strong>und</strong><br />

ermöglichendes pädagogisches Handeln ........... 230<br />

4.1.3.1 Individuelle Förderung als eine umfassende<br />

Begabungsförderung ................... 230<br />

4.1.3.2 Resilienzfördernde pädagogische Arbeit ..... 234<br />

4.1.3.3 Empowerment als pädagogisch-professionelles<br />

Handlungsprinzip ...................... 236<br />

4.1.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 240<br />

4.2 Religionspädagogik der Ermächtigung ................. 242<br />

4.2.1 Ausgangspunkt: Religion als Hilfe zur Lebensdeutung 242<br />

4.2.2 Biblische <strong>und</strong> theologische Betrachtung zur<br />

Ermächtigung ............................... 244<br />

4.2.2.1 Gott als Quelle der Lebenskraft: biblische<br />

Geschichten zur Resilienzförderung ........ 244<br />

4.2.2.2 Vertrauen als Lebensgr<strong>und</strong>haltung: Psalmen<br />

<strong>und</strong> Kohärenzgefühl .................... 246<br />

4.2.2.3 Heilungsgeschichten Jesu als<br />

Empowerment-Geschichten .............. 248<br />

4.2.3 Religionspädagogische <strong>und</strong> professionelle<br />

Konsequenzen: Ermutigung zur Sinnfindung <strong>und</strong><br />

-stiftung ................................... 250<br />

4.2.3.1 Kohärenzgefühl: religiöse Bildung als Beitrag<br />

zur Sinnstiftung ....................... 250<br />

4.2.3.2 Religion <strong>und</strong> Glauben als resilienzfördernde<br />

Faktoren ............................. 254<br />

4.2.3.3 Empowerment als<br />

religionspädagogisch-professionelles<br />

Handlungsprinzip ...................... 257<br />

4.2.4 Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung ....... 259<br />

4.3 Einbeziehung der erziehungswissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

religionspädagogischen Diskurse ..................... 261<br />

III Metaperspektive zu Diskusfeldern .......................... 265<br />

1 Vier Prinzipien für den pädagogischen Umgang<br />

mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> die Umsetzung inklusiver Bildung ..... 266<br />

2 Antinomien beim pädagogischen Handeln im inklusiven<br />

Kontext ........................................... 269<br />

2.1 Begriffsklärung: Antinomie ......................... 269<br />

2.2 Antinomien impädagogischen Kontext von <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> ................................... 271<br />

3 Reflexivität als Metaprinzip für den Umgang mit Antinomien im<br />

wissenschaftlichen <strong>und</strong> professionellen Kontext ............. 278


12 Inhalt<br />

IV Schlusswort ........................................... 281<br />

Literaturverzeichnis ......................................... 285<br />

Abbildungsverzeichnis ....................................... 323<br />

Abkürzungsverzeichnis ...................................... 325


I Einleitung<br />

1Hintergr<strong>und</strong> der Arbeit<br />

Die beiden Stichworte <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> sind in den letzten Jahren ins<br />

Zentrum des gesellschaftlichen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Diskurses gerückt. Als<br />

Hintergr<strong>und</strong> fällt zuallererst die UN-Behindertenrechtskonvention ins Auge,<br />

die seit dem 24. März 2009 fürDeutschland rechtsverbindlich ist. 1 <strong>Inklusion</strong> ist<br />

hierbei menschenrechtlich begründet, <strong>und</strong> deren Verwirklichung auf allen gesellschaftlichen<br />

Ebenen – eben auch im Bildungsbereich – ist gefordert. Es gibt<br />

aber daneben andere Kontextfaktoren, die derzeit die verstärkte Wahrnehmung<br />

der <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong>den Anspruch der <strong>Inklusion</strong> bewirken: Globalisierung <strong>und</strong><br />

Migrationsbewegungen, das gestärkte Bewusstsein über die Pluralität der Gesellschaft,<br />

soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Debatten um Bildungsgerechtigkeit sowie<br />

Genderfragen. 2 Wenn man jedoch noch tiefer in die Thematik einsteigen will,<br />

kann man mit Norbert Wenning danach fragen: Warumkommen sie »jetzt« <strong>und</strong><br />

»in dieser Weise« sostark inden Fokus? Vielleicht weisen sie gewissermaßen<br />

ein gesellschaftliches »Symptom« auf? 3 Bei all den verschiedenen Faktorenlässt<br />

sich eine gr<strong>und</strong>legende Tendenz aus dem derzeitigen gesellschaftlichen Wandel<br />

feststellen, die widersprüchliche Seiten mit sich bringt: Mit der verstärkten<br />

Wahrnehmung der sozialen, kulturellen <strong>und</strong> religiösen Vielfalt stellt sich ein<br />

normativer Anspruch von Toleranz <strong>und</strong> Respekt ein, aber zugleich treten die<br />

Phänomene der Ausgrenzung <strong>und</strong> Abwertung von vermeintlich Anderen noch<br />

stärker auf. 4 Dies stellt uns vor eine gr<strong>und</strong>legende Frage: Wie sollen <strong>und</strong> wollen<br />

wir als vielfältige Menschen ineiner pluralen Gesellschaft zusammenleben?<br />

1<br />

Beauftragte der B<strong>und</strong>esregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen<br />

2017.<br />

2<br />

Zu diesen Kontextfaktoren vgl. EKD 2014a, 17f.; Grümme 2017a, 2–5; Grümme 2017c,<br />

26–37.<br />

3<br />

Wenning 2013, 127 f. (Hervorhebung im Original).<br />

4<br />

Waldschmidt 2014, 173 f.; vgl. Schweiker 2017b, 19.


14 IEinleitung<br />

Verschiedene Kontextfaktoren, damit zusammenhängende öffentliche Debatten<br />

<strong>und</strong> darüber hinaus eine gr<strong>und</strong>legende Fragestellung zu diesem gesellschaftlichen<br />

Wandel sind im Diskurs um <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> zusammengebündelt.<br />

Dementsprechend hat der Diskurs um <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> zwischenzeitlicheineerheblicheDichte<strong>und</strong><br />

Komplexitäterfahren, sodass diegesamte<br />

Topografie kaum überschaubar ist. Zu diesen Themen liegen in denverschiedenen<br />

wissenschaftlichen DisziplinenzahlreicheStudien vor. Sieweisenunterschiedliche<br />

Ausrichtungen auf, weil sie jeweils auf verschiedenartige Denktraditionen <strong>und</strong><br />

Referenztheorien zurückgreifen <strong>und</strong>darausihreArgumentationenfür dieaktuelle<br />

Diskussion aufbringen.<br />

Doch was ist das eigentlich Neue am <strong>Inklusion</strong>s- <strong>und</strong> <strong>Heterogenität</strong>sbegriff?<br />

Ungeachtet unterschiedlicher Auffassungen legt der Minimalkonsens nahe,<br />

dass sie eine perspektivische Veränderung markieren. Laut Andreas Hinz haben<br />

diese neuen Begriffe eine gewisse Deutungsmacht <strong>und</strong> weisen mit ihrem spezifischen<br />

Fokus auf bestimmte Phänomene, Wahrnehmungen <strong>und</strong> Tendenzen<br />

hin. 5 Wenngleich sie keine gänzlich neuen Themen darstellen, dienen sie mindestens<br />

dazu, die etablierten Begrifflichkeiten mit einer veränderten Fokussierung<br />

neu zu aktualisieren. Matthias Trautmann <strong>und</strong> Beate Wischer verweisen<br />

z. B. auf ähnliche Argumentationen <strong>und</strong> Anliegen, aber auch unterschiedliche<br />

Fokussetzungen zwischen dem aktuellen <strong>Inklusion</strong>sdiskurs <strong>und</strong> der Bildungsreformdebatte<br />

in den 1970er-Jahren. 6 Allerdings unterscheidet sich der aktuelle<br />

Diskurs von den vormaligen Bildungsreformdiskussionen durch seine Radikalität<br />

<strong>und</strong> Breite.<br />

Diese neuen Veränderungen, die mit dem Diskurs um <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Inklusion</strong> zustande kommen, verdienen noch genauere Ausführungen. Zunächst<br />

führt er einen Perspektivenwechsel herbei. Im Mittelpunkt steht die Anerkennung<br />

der Verschiedenheit, die nicht zu hierarchisieren, sondern gleichwertig<br />

wertzuschätzen ist. Diese Gleichberechtigung der Verschiedenheit hat allerdings<br />

zuletzt vielmehr einen rechtlichen Anspruch, als rein dem Wohlwollen<br />

von einzelnen Personen überlassen zu werden. 7 Somit steht das bestehende<br />

Bildungssystem unter einem radikalen Reformanspruch. Das geläufige Zwei-<br />

Gruppen-Denkmuster, das zwischen dem Normalen <strong>und</strong> Abweichenden unterscheidet,<br />

wird kritisch hinterfragt. 8 Stattdessen wird »eine heterogene Lerngruppe«<br />

als pädagogischer Ausgangspunkt angenommen. 9 Gefordert wird somit<br />

eine Umkehrung in dem Sinne, dass nicht die Schüler*innen sich den beste-<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Hinz 2004, 42.<br />

Trautmann/Wischer 2008, 159–172, insb. 168 f.<br />

Vgl. Hinz 2010; Hinz 2015, 69.<br />

Hinz 2010; vgl. Hinz 2011, 22.<br />

Sander 2003, 319 (Hervorhebung im Original).


1Hintergr<strong>und</strong> der Arbeit 15<br />

henden Bedingungen der Schule anpassen, sondern die Rahmenbedingungen an<br />

ihren Bedürfnissen <strong>und</strong> Besonderheiten ausrichten sollten. 10 Dementsprechend<br />

besteht die Notwendigkeit auf der Systemebene, »ein homogenisierendes <strong>und</strong><br />

damit in unterschiedliche Schularten aufteilendes Schulsystem […] durch ein<br />

für die Vielfalt sensibles, aber alle [Schüler*innen] umfassendes Bildungsverständnis<br />

[umzugestalten]«. 11<br />

Neben dem Perspektivenwechsel hatten die beiden Begriffe <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> eine erhebliche Erweiterung des Diskursraums zur Folge. Der<br />

aktuelle Diskurs richtet seine Aufmerksamkeit über die <strong>Heterogenität</strong>sdimension<br />

Dis/Ability hinaus <strong>und</strong> weitet sie auf weitere Dimensionen wie Leistungen,<br />

Geschlechter, Kultur, Religion, Weltanschauung, sozialer Hintergr<strong>und</strong> etc.<br />

aus. 12 Hierbei werden pädagogisch relevante <strong>und</strong> diskriminierungsrelevante<br />

Differenzmerkmale zusammengetragen. Diese verschiedenen Merkmale sollten<br />

aber nicht additiv nacheinander hinzugefügt, sondern in ihren Überschneidungen<br />

<strong>und</strong> wechselseitigen Auswirkungen betrachtet werden (Stichwort:<br />

›Intersektionalität‹). 13 Da sich die Perspektive hier nicht auf ein bestimmtes<br />

Differenzmerkmal beschränkt, ist zu Recht von einem ›erweiterten‹ <strong>Inklusion</strong>sverständnis<br />

die Rede. 14<br />

Mit dieser Perspektivveränderung sowie -erweiterung geht <strong>Inklusion</strong> »nicht<br />

mehr von einem partikulären <strong>und</strong> parteilichen Standpunkt [aus], sondern von<br />

einem allgemein <strong>und</strong> für alle Personen anzuwendenden«. 15 Demgemäß versteht<br />

sich Inklusive Pädagogik nicht als eine neue Art der Sonderpädagogik, sondern<br />

als eine Allgemeine Pädagogik. 16 Vondaher kommt <strong>Inklusion</strong> »über alle Fachrichtungen<br />

hinweg als generelle pädagogische Herausforderung« zur Geltung. 17<br />

10<br />

Schumann 2009, 51.<br />

11<br />

EKD 2014a, 35; vgl. UN-BRK, Art. 24.<br />

12<br />

Vgl. Trautmann/Wischer 2011, 41; Hinz 2011, 19; Nord 2016, 1168; inrev 2019.<br />

13<br />

Walgenbach definiert den Begriff der Intersektionalität einschlägig wie folgt: »Unter<br />

Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität,<br />

Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in<br />

ihren ›Verwobenheiten‹ oder ›Überkreuzungen‹ (intersections) analysiert werden müssen.<br />

Additive Perspektiven sollen überw<strong>und</strong>en werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige<br />

Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um<br />

die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer<br />

Wechselwirkungen.« Walgenbach 2012, 81 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu auch<br />

Waldschmidt 2014, 178; Nord 2016, 1168.<br />

14<br />

Zum ›erweiterten‹ <strong>Inklusion</strong>sverständnis siehe auch Sander 2004, 15; Werning/Löser<br />

2010, 105 f.; Knauth et al. 2020, 22.<br />

15<br />

Reiser 2003, 309 (eigene Hervorhebung).<br />

16<br />

Vgl. Schweiker 2017b, 225.<br />

17<br />

Dannenbeck 2013, 460 (eigene Hervorhebung).


16 IEinleitung<br />

Unabhängig von verschiedenen pädagogischen Schwerpunktsetzungen <strong>und</strong><br />

Handlungsfeldern stellt <strong>Inklusion</strong> »eine unhintergehbare Gr<strong>und</strong>bedingung für<br />

pädagogisches Handeln« dar. 18 In aller Kürze: <strong>Inklusion</strong> wird zu einem »generellen<br />

Prinzip« für den pädagogischen sowie ferner gesellschaftlichen Umgang<br />

mit Vielfalt. 19<br />

Vordiesem Hintergr<strong>und</strong> liegt es nahe, dass die Themen <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Inklusion</strong> eine hohe Relevanz <strong>und</strong> zugleich Komplexität enthalten. Anschließend<br />

soll sich der Blick daraufrichten, wie die derzeitige Forschungs- <strong>und</strong> Diskurslage<br />

aussieht.<br />

2Aktuelle Diskurslage <strong>und</strong> Forschungsdesiderate<br />

Anhand des Überblicks der aktuellen Forschungs- <strong>und</strong> Diskurslage lassen sich<br />

die folgendeTendenz <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Forschungsdesiderate ausleuchten,<br />

die für den Kontext <strong>und</strong> das Erkenntnissinteresse der vorliegenden Arbeit bedeutsam<br />

sind:<br />

a) Zunächst fällt eine starke normative Ausprägung des aktuellen Diskurses<br />

ins Auge. 20 Dies ist vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass <strong>Inklusion</strong><br />

menschenrechtlich f<strong>und</strong>iert ist. <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> treten<br />

hierbei als die Gegenpole zur Homogenität <strong>und</strong> Segregation im bestehenden<br />

Schulsystem auf, die überw<strong>und</strong>en werden sollen. 21 Diesbezüglich kommt<br />

<strong>Inklusion</strong> oftmals als ein unteilbarer Anspruch 22 zur Sprache, <strong>Heterogenität</strong><br />

als unhintergehbare Bedingung 23 .Mit Zustimmung zu Karl-Ernst-Ackermann<br />

ist diese Ausprägung jedoch zu bedenken, weil <strong>Inklusion</strong> als pädagogischer<br />

Imperativ lediglich eindimensional verstanden werden kann,<br />

ohne über Unverträglichkeiten <strong>und</strong> Widerstände theoretischer wie praktischer<br />

Art kritisch zu reflektieren. 24 Dabei bleiben Spannungen, Widersprüche<br />

<strong>und</strong> Ambivalenzen ohnehin ausgeblendet. 25 Zu der starken normativen<br />

Aufladung lässt sich ein analytischer Zugang zum Themenfeld komplementär<br />

ergänzen. Letztendlich müssen die beiden Aspekte – eine normative<br />

18<br />

Dannenbeck 2013, 461.<br />

19<br />

EKD 2014a, 17 (eigene Hervorhebung).<br />

20<br />

Bei der starken normativen Aufladung des aktuellen Diskurses ist in verschiedener<br />

Hinsicht Vorsicht geboten. Dazu siehe Budde 2012a; Budde 2015, 127 f.; Emmerich/Hormel<br />

2013, 49; Wischer 2013, 107; Cramer/Harant 2014, 640; Winkler 2014, 109.<br />

21<br />

Vgl. Gomolla 2009, 21; Trautmann/Wischer 2011, 17; Budde 2012b, 529.<br />

22<br />

Wocken 2011, 59, zit. n. Ackermann 2012, 40.<br />

23<br />

Popp 2011, 75.<br />

24<br />

Ackermann 2017, 231.<br />

25<br />

Ackermann 2017, 231.


2Aktuelle Diskurslage <strong>und</strong> Forschungsdesiderate 17<br />

sowie eine deskriptive bzw. analytische – im gesamten Diskus ihren eigenen<br />

Platz finden.<br />

b) Erschwerend kommt hinzu, dass die häufig anzutreffende inhaltliche Unschärfe<br />

<strong>und</strong> Offenheit der zentralen Begrifflichkeiten ambivalente Wirkungen<br />

haben können. Zwar ermöglicht diese Offenheit einerseits komplexe<br />

Herausforderungen im Bildungsbereich zu bündeln, gleichzeitig kann sie<br />

andererseits zu einer semantischen »Überfrachtung« führen. 26 Da sie alles<br />

umfassen können, können sie paradoxerweise nichts Konkretes beinhalten.<br />

Diese »Verunklarung« der zentralen Begrifflichkeitenist nach JürgenBudde<br />

dem Umstand geschuldet, dass sie vielfach tautologisch <strong>und</strong> »selbstreferenziell[…]«<br />

fortgeschrieben werden, ohne deren Bedeutung explizit zu erklären.<br />

27 Dadurch, dass sich rein synonyme <strong>und</strong> verwandte Begriffe <strong>und</strong><br />

Formulierungen multiplizieren <strong>und</strong> reihend nacheinander genannt werden,<br />

werden zentrale Begrifflichkeiten nur »assoziativ <strong>und</strong> damit dem offenen<br />

Feld der Spekulationen überlassen« (Stichwort: »die Verschleierung durch<br />

Vervielfältigung«). 28 Im Bildungsbereich werden <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

oftmals als Prädikate benutzt, wenn man ein Bildungsangebot als innovativ<strong>und</strong><br />

aktuell relevant bezeichnen will. Doch allein Prädikate – wie z. B.<br />

inklusiv, heterogenitätssensibel, vielfaltsbewusst etc. – versprechen weder<br />

Inhalte noch Qualität. Im gesamten Diskurs bleibt es weitgehend unklar,<br />

»wofür diese Begriffe jeweils stehen«. 29 <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> drohen<br />

derzeit über ›Containerbegriffe‹ hinaus zu bloßen ›Leerformeln‹ zu verkommen.<br />

30 Wird diese Problemlage ernst genommen, sind inhaltliche Bestimmungen<br />

der zentralen Begrifflichkeiten dringend geboten. 31<br />

26<br />

Budde 2012b, 526.<br />

27<br />

Budde 2012a.<br />

28<br />

Budde 2012a.<br />

29<br />

Kalpaka 2009b, 269.<br />

30<br />

Insbesondere untersucht Wenning kritisch, welche Effekte die Verwendung der hochabstrakten<br />

übergeordneten Begrifflichkeiten mitbringen könne. Wenning 2013, 394f. Zur<br />

Offenheit <strong>und</strong> Unklarheit der Begrifflichkeiten teilen auch folgende Autor*innen ihre kritische<br />

Stimme: Budde 2012a; Budde 2012b, 526; Rabenstein/Steinwand 2013, 85 f.;<br />

Winkler 2014, 113; Löser/Werning 2015, 21 f.; Grümme 2017a, 9; Schweiker 2017b, 20f.<br />

31<br />

Herriger weist auf die Merkmale des Begriffs Empowerment hin, die interessanterweise<br />

eben auf den <strong>Inklusion</strong>sbegriff übertragen werden können: Da Empowerment gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ein normativer <strong>und</strong> zugleich offener Begriff ist, ist er auch »für widerstreitende Interpretationen<br />

<strong>und</strong> ideologische Rahmungen« anfällig. Er ist zudem ein Containerbegriff bzw. »ein<br />

Bücherregal, das mit unterschiedlichen Gr<strong>und</strong>überzeugungen, Werthaltungen <strong>und</strong> moralischen<br />

Positionen aufgefüllt werden kann«. Mittels seiner Normativität <strong>und</strong> »Bedeutungsoffenheit«<br />

bringt der Begriff Empowerment folgende Effekte mit sich: 1) Der Begriff sichert<br />

damit die »Zustimmung <strong>und</strong> Gefolgschaft inhöchst unterschiedlichen normativen Lagern«.


18 IEinleitung<br />

c) Ein weiteres Problem hängt mit der oben genannten begrifflichenUnschärfe<br />

eng zusammen, aber kommt aus einem anderen Gr<strong>und</strong> zustande. <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> gehören zu denjenigen Begriffen, die eine große<br />

Bandbreite unterschiedlicher Ansätze gebündelt haben. In den komplexen<br />

Diskursfeldern sind unterschiedliche Referenzen, Bezugstheorien <strong>und</strong><br />

Kontexte miteinander verstrickt. So existiert es ein breites Bedeutungsspektrum,<br />

das man im Blick auf die Referenzen jeweils konkret bestimmen<br />

<strong>und</strong> interpretieren sollte. 32 Solche unterschiedlichen Interpretationen führen<br />

wiederum »zu unterschiedlichen pädagogischen Konsequenzen«. 33 Dafür<br />

bedarf es einer systematischen Untersuchung zu den Forschungs- <strong>und</strong> Diskursfeldern<br />

sowie ausdifferenzierter Bestimmungen der Begrifflichkeiten je<br />

nach ihren diskursiven Verortungen, diejedoch derzeit sehr wenig vertreten<br />

sind. 34<br />

d) Für den Umgang mit <strong>Heterogenität</strong> sowie für die Umsetzung der <strong>Inklusion</strong><br />

gibt es verschiedene pädagogische Strategien, die jedoch Widersprüche <strong>und</strong><br />

Ambivalenzen beinhalten. Ein bestimmtes pädagogisches Handeln mit einer<br />

guten Absicht kann aber oft kontraintentionale Wirkungen haben. 35 Dies<br />

Viele »Moralunternehmer, die die Zielsetzung […] inhöchst divergenten normativen Kategorien<br />

verpacken« schließen sich häufig diesem Begriff an. Der Begriff enthält auch »die Aura<br />

der Fortschrittlichkeit <strong>und</strong> der Zukunftsoffenheit« sowie »Attraktivität <strong>und</strong> populistischen<br />

Reiz«. So hat der Begriff »einen festen Platz im modischen Fortschrittsjargon des wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> berufspraktischen Redens« gef<strong>und</strong>en. All dies dient als ein »verkaufsförderndes<br />

Plus«. 2) Diese große Offenheit des Begriffs hat jedoch vielfältige »Sprachprobleme<br />

<strong>und</strong> Fehldeutungen« mit seiner »inhaltliche[n] Beliebigkeit« zur Folge. Herriger 2010, 13f.<br />

32<br />

Eine Vielzahl von Wissenschaftler*innen sind darin einig, dass die Begriffe <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> in Anbetracht ihrer unterschiedlichen Referenztheorien breite Interpretationsmöglichkeiten<br />

aufweisen. Kalpaka bemerkt z. B.: »Es gibt dabei ein breites<br />

Spektrum von Interpretationen <strong>und</strong> daraus zu ziehenden Konsequenzen […], die nicht so<br />

einfach unter einen Hut zu bringen sind.« Kalpaka 2009b, 269. Kunz ist auch der gleichen<br />

Meinung: Die Begriffe <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> bringen mit ihrem »heuristische[n]«<br />

Potenzial sowohl »Erkenntnisgewinn« als auch »Interpretationsbedarf« mit sich. Kunz 2013,<br />

65. Christian Lüders sieht es auch ähnlich: »Seine vielfältigen Referenzen zwingen dazu,<br />

dass man ihn vor weiterem Gebrauch in jedem Fall begrifflich klären muss, also ihn präzisieren<br />

muss.« Lüders 2014, 46.<br />

33<br />

Löser/Werning 2015, 17.<br />

34<br />

Nicht weniger Wissenschaftler*innen bedenken fehlende Untersuchungen zur gesamten<br />

Systematik. Marcus Emmerich <strong>und</strong> UlrikeHormel bedenken z.B., der aktuelle Diskurs<br />

habe bislang »weder gr<strong>und</strong>lagentheoretische Kontroversen noch Ansätze einer systematischen<br />

Selbstreflexion« hervorgebracht. Emmerich/Hormel 2013, 155. Grümme findet es<br />

problematisch, dass »die semantischen Bestimmungen, die Kontexte <strong>und</strong> Verwendungen des<br />

<strong>Heterogenität</strong>sbegriffs« bisher nicht hinreichend reflektiert worden sind. Grümme 2017a, 2.<br />

35<br />

Vgl. Cramer/Harant 2014, 652–654.


3Das Ziel <strong>und</strong> methodische Vorgehen der Arbeit 19<br />

macht wiederum einen ständigen Abwägungs- <strong>und</strong> Balancierungsprozess für<br />

pädagogische Fachkräfte notwendig. Es gibt Untersuchungen zu Antinomien<br />

pädagogischen Handelns im Allgemeinen 36 ,die jedoch im Blick auf den<br />

Umgang mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> inklusive Bildung konkretisiert <strong>und</strong> präzisiert<br />

werden sollten.<br />

e) <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> gelten als Querschnittsthemen, die eine enge<br />

Kooperation verschiedener Disziplinen notwendig machen. 37 Mit Blick auf<br />

ihren Bildungsauftrag zeigen u. a. die Erziehungswissenschaft sowie die<br />

Theologie <strong>und</strong> Religionspädagogik bei dieser Sache eine gewisse Nähe <strong>und</strong><br />

teilen ein unmittelbar gemeinsames Themenfeld. Die Theologie <strong>und</strong> Religionspädagogik<br />

haben soziologische <strong>und</strong> pädagogische Erkenntnisse zu diesen<br />

Themen in einem breiten Umfang rezipiert. Doch <strong>Inklusion</strong> ist für sie nicht<br />

nur eine Herausforderung »von außen«, sondern auch »ihr eigenes Thema«. 38<br />

Die <strong>Inklusion</strong>svorstellung ist nämlich der Evangelischen Theologie »inhärent«.<br />

39 Es gibt deshalb eine Fülle von Studien vonseiten der Theologie<br />

<strong>und</strong> Religionspädagogik, die entweder explizit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

thematisieren oder mindestens bedeutsame Anknüpfungspunkte dafür bereitstellen.<br />

Die Ergebnisse fanden bislang jedoch wenig Aufnahme inden<br />

erziehungswissenschaftlichen Forschungen. Es steht noch diejenige Forschung<br />

aus, die den theologischen <strong>und</strong> religionspädagogischen Diskurs eng<br />

in die gesamte Diskussion mit einbezieht.<br />

Die Zusammenschau der derzeitigen Forschungs- <strong>und</strong> Diskurslage macht folgenden<br />

Aspekt deutlich: Zwar hat der aktuelle Diskurs mit seiner veränderten<br />

<strong>und</strong> erweiterten Perspektive eine innovative Dynamik zur Folge, die aber<br />

gleichzeitig mit einer unübersehbaren Problematik verb<strong>und</strong>en ist, auf die die<br />

vorliegende Arbeit aufmerksam machen möchte.<br />

3Das Ziel <strong>und</strong> methodische Vorgehen der Arbeit<br />

Wenn die vorliegende Arbeit die oben ausgeführten Forschungsdesiderate aufgreifen<br />

soll, dann erscheint eine Metastudie der bisherigen Forschungsarbeiten<br />

als unerlässlich, umden laufenden Diskurs selbst als einen Forschungsgegenstand<br />

aufzunehmen.<br />

36<br />

Zu Antinomien pädagogischen Handelns siehe u.a.: Helsper 1996; Helsper 2016;<br />

Schlömerkemper 2006; Hainschink/Zahra-Ecker 2018.<br />

37<br />

Vgl. Schweiker 2017b, 225.<br />

38<br />

EKD 2014a, 38.<br />

39<br />

Grethlein 2015, 27.


II Vier Diskurslinien um<br />

Heterogenit8t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

1Vielfalt <strong>und</strong> Anerkennung: die vielfaltsbewusste<br />

Diskurslinie<br />

»Wer von <strong>Heterogenität</strong> in der Bildung spricht, mag es, dass Menschen sich unterschieden<br />

<strong>und</strong> bringt zum Ausdruck, dass er die Verschiedenheit von Kindern <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

bereichernd findet <strong>und</strong> wertschätzt.« (Annedore Prengel)<br />

»<strong>Heterogenität</strong> als Chance zu begreifen <strong>und</strong> zum Ausgangspunkt religionspädagogischen<br />

Denkens <strong>und</strong> Handelns zu machen, ist Ziel einer Religionspädagogik der Vielfalt.«<br />

(Annebelle Pithan) 45<br />

Das vorliegende Kapitel 1umfasst die Darlegung einer Diskurslinie, die gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

durch die Wertschätzung der <strong>Heterogenität</strong> charakterisiert ist. Wenngleich<br />

es darin unterschiedliche Argumentationsstränge gibt, die sich aus<br />

verschiedenen theoretischen Quellen <strong>und</strong> Beobachtungsperspektiven speisen,<br />

können sie hier anhandder übergreifenden gemeinsamen Gr<strong>und</strong>prägung als die<br />

vielfaltsbewusste Diskurslinie gebündelt werden.<br />

Fragt man konkret nach wesentlichen Kennzeichen der vielfaltsbewusste<br />

Diskurslinie, ist zuallererst folgende Formulierung von Prengel aufschlussreich:<br />

»Mit dem amerikanischen Slogan Celebrate Diversity ist die Gemeinsamkeit<br />

der Inklusiven Pädagogik, der Diversity-Education, der Pädagogik der Vielfalt, der<br />

Menschenrechtsbildung <strong>und</strong> der demokratischen Erziehung angezeigt.« 46 Unter<br />

Berücksichtigung der verschiedenen aktuellen pädagogischen Strömungen spielt<br />

Prengel hier auf eine gr<strong>und</strong>legende strukturelle Gemeinsamkeit an, die trotz der<br />

Unterschiedlichkeiten im Einzelnen eindeutig zu erkennen ist. Die positive Bestimmung<br />

von Diversität bzw. Vielfalt oder anders formuliert »das ausdrückliche<br />

45<br />

Jedem Kapitel sind zwei Zitate, die jeweils aus dem erziehungswissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

religionspädagogischen Diskurs entspringen, als die Leitidee der nachfolgenden Ausführungen<br />

vorangestellt.<br />

46<br />

Prengel 2010, 1(Hervorhebung im Original).


26 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

Bejahen von <strong>Heterogenität</strong>« 47 ist ein gr<strong>und</strong>legendes Merkmal, das diese verschiedenen<br />

Ansätze gemeinsam charakterisiert. Prengel formuliert es genauso:<br />

»Wer von <strong>Heterogenität</strong> in der Bildung spricht, mag es, dass Menschen sich<br />

unterschieden <strong>und</strong> bringt zum Ausdruck, dass er die Verschiedenheit von Kindern<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen bereichernd findet <strong>und</strong> wertschätzt.« 48 Erkennbar ist<br />

dabei die »Überwindung einer problemfixierten Sichtweise von <strong>Heterogenität</strong> –<br />

zugunsten eines Verständnisses von Verschiedenheit <strong>und</strong> Vielfalt als ›normale‹<br />

Voraussetzung <strong>und</strong> Ressourcen des Unterrichtshandelns«. 49 Aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Gemeinsamkeit bündelt Prengel eine Bandbreite pädagogischer Stränge zur<br />

Kategorie der »Pädagogik der Vielfalt« 50 oder der »vielfaltsbewusste[n] inklusive[n]<br />

Ansätze« 51 .<br />

Die vielfaltsbewusste Diskurslinie zeichnet sich ferner durcheine normative<br />

<strong>und</strong> ethische Prägung aus <strong>und</strong> steuert damit »affirmative Momente« 52 zum gesamten<br />

<strong>Inklusion</strong>sdiskurs bei. Im Begriff von Diversität bzw. Vielfalt ist »eine<br />

normative Haltung der gr<strong>und</strong>sätzlichen Bejahung <strong>und</strong> Würdigung von Unterschiedlichkeit«<br />

bereits implizit enthalten. 53 Als Referenzpunkt wird häufig auf<br />

das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit<br />

Behinderung (UN-BRK) <strong>und</strong> den darin enthaltenen <strong>Inklusion</strong>sbegriff zurückgegriffen,<br />

der eindeutig einen »normativen«, d. h. »wertbasierten <strong>und</strong> richtungweisendenCharakter«<br />

aufweist. 54 Auf Basis der menschenrechtlichen Prinzipien<br />

der Freiheit, Gleichheit <strong>und</strong> Solidarität 55 verpflichtet sich diese Diskurslinie<br />

uneingeschränkt der <strong>Heterogenität</strong> der Lernenden <strong>und</strong> fordert damit unteilbare<br />

<strong>Inklusion</strong> ein. Daraus ergibt sich die pädagogische <strong>und</strong> professionelle Konse-<br />

47<br />

Rupp 2012, 116.<br />

48<br />

Prengel 2004, 44, zit. n. Trautmann/Wischer 2011, 25.<br />

49<br />

Gomolla 2009, 21.<br />

50<br />

Prengel 2015, Abs. 3. Unter »Pädagogik der Vielfalt« versteht Prengel »eine Bezeichnung<br />

unter anderen für facettenreiche Strömungen in der Bildungslandschaft, die heterogene<br />

Lebens- <strong>und</strong> Lernweisen als gleichberechtigt anerkennen <strong>und</strong> ihre <strong>Inklusion</strong> anstreben«. Sie<br />

fasst »Pädagogik der Vielfalt«, »Diversity Education« <strong>und</strong> »Inklusive Pädagogik« als fast<br />

bedeutungsgleich auf.<br />

51<br />

Prengel 2015, Abs. 6.<br />

52<br />

Schambeck 2014, 45.<br />

53<br />

Mecheril/Plößer 2011a, 59; vgl. Schambeck 2014, 28f.<br />

54<br />

Wansing 2015, 43. Diesen menschenrechts- <strong>und</strong> wertbasierten Charakter der <strong>Inklusion</strong><br />

drückt Beate Rudolf, die Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, in einem<br />

Interview genauso aus: »Gelingen kann <strong>Inklusion</strong> vielmehr nur, wenn auch die Menschen<br />

ihren Wert verinnerlicht haben: Wer<strong>Inklusion</strong> ermöglicht, achtet den anderen Menschen als<br />

Inhaber bzw. Inhaberin gleicher Rechte <strong>und</strong> Würde«. Deutsches Institut für Menschenrechte<br />

2012, 42.<br />

55<br />

Prengel 2013a, 31; vgl. Schambeck 2014, 25.


1Vielfalt <strong>und</strong> Anerkennung: die vielfaltsbewusste Diskurslinie 27<br />

quenz, vielfältige Lernens- <strong>und</strong> Lebensweisen der einzelnen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />

wahrzunehmen <strong>und</strong> ihnen gerecht zu werden.<br />

Darunter finden sich parallele Diskurse in der Erziehungswissenschaft <strong>und</strong><br />

der Religionspädagogik, die Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> zugleich Differenzen markieren.<br />

Zunächst sollen der erziehungswissenschaftliche (1.1) <strong>und</strong> der religionspädagogische<br />

Diskurs (1.2) jeweils näher ausgeführt werden, um danach<br />

durch eine Zusammenschau der beiden Diskurse deren Gemeinsamkeit <strong>und</strong><br />

Unterschiede sowie Stärken <strong>und</strong> Ergänzungsbedürftigkeit greifbar machen <strong>und</strong><br />

darüber hinaus die beiden Disziplinen inein sinnvolles Gespräch bringen zu<br />

können (1.3). Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sollen dafür<br />

einige ausgewählte pädagogische <strong>und</strong> religionspädagogische Ansätze verstärkt<br />

in den Blick genommen werden, die exemplarische Sichtweisen für<br />

die vielfaltsbewusste Diskurslinie erkennen lassen resp. einen signifikanten<br />

Standpunkt repräsentieren.<br />

1.1 P8dagogik der Vielfalt<br />

In den folgenden Teilkapiteln kommt die vielfaltsbewusste Diskurslinie inder<br />

Erziehungswissenschaft gr<strong>und</strong>sätzlich zur Untersuchung. Dabei wird auf Prengels<br />

»Pädagogik der Vielfalt« fokussiert, die exemplarisch Kernmerkmale dieser<br />

Diskurslinie aufweist. Dazu werden auch andere Ansätze – wiez.B.von Andreas<br />

Hinz <strong>und</strong>HansWocken – vergleichend <strong>und</strong>ergänzend betrachtet,die alszudieser<br />

Linie gehörig angesehen werden.<br />

Die Untersuchung gliedert sich folgendermaßen: Als Ausgangspunkt werden<br />

drei Typen der geläufigen schulpädagogischen Umgangsweise mit <strong>Heterogenität</strong><br />

dargestellt (1.1.1). Es erfolgt eine theoretische Überlegung, wobei zwei gr<strong>und</strong>legende<br />

Theoreme der Pädagogik der Vielfalt näher behandelt werden (1.1.2).<br />

Danach wird der Frage nachgegangen, welche pädagogischen <strong>und</strong> professionellen<br />

Konsequenzen daraus gezogen werden (1.1.3). Das abschließende Teilkapitel<br />

widmet sich der Zusammenfassung <strong>und</strong> der kritischen Würdigung (1.1.4).<br />

1.1.1 Ausgangspunkt: drei Arten der schulp dagogischen<br />

Umgangsweise mit Heterogenit t<br />

In ihrer Pädagogik der Vielfalt nimmt Prengel einen historischen Rückblick<br />

auf verschiedene pädagogische Strömungen vor, die jeweils auf bestimmte Art<br />

<strong>und</strong> Weise auf die <strong>Heterogenität</strong> der Schüler*innen reagierten. Je nach<br />

Schwerpunkt <strong>und</strong> pädagogischen Einstellungen weisen diese Ansätze differenzierte<br />

Umgangs- <strong>und</strong> Bewältigungsstrategien mit dieser <strong>Heterogenität</strong> auf.<br />

Prengel untergliedert sie in drei Paradigmen – ausgrenzend-repressiv, assimilatorisch<br />

<strong>und</strong> wertschätzend/pflegerisch –,die hier mit Hinz als »Separierungs-,


28 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

Angleichungs- <strong>und</strong> Ergänzungsmodell« benannt werden sollen. 56 Diese historische<br />

<strong>und</strong> systematische Untersuchung bildet einen entscheidenden Ansatzpunkt<br />

für ihre weitere theoretische <strong>und</strong> praktische Arbeit.<br />

1.1.1.1 Zum Separierungsmodell: Hierarchisierung von Differenzen<br />

Im Separierungsmodell wird Verschiedenheit – im Sinne von hierarchischen<br />

Unterschieden – betont <strong>und</strong> dabei der Gleichheitsanspruch ausgeblendet. Die<br />

<strong>Heterogenität</strong> der Schüler*innen soll nach diesem Modell mit einer »Strategie<br />

der Homogenisierung durch Gliederung <strong>und</strong> äußere Differenzierung«, nämlich<br />

durch Gestaltung von Lerngruppen»mit möglichst ›gleichen‹ Kindern« bewältigt<br />

werden. 57 Im gesamten Schulsystem herrschen Prinzipien der äußeren Differenzierung<br />

<strong>und</strong> der Separierung vor – wie z. B. das dreigliedrige Schulsystem,<br />

getrennte Schulen für Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>und</strong> das separierte Sonderschulwesen.<br />

58 Als exemplarische Beispiele für dieses ausgrenzend-repressive Muster<br />

werden die schulische Segregation zwischen deutschen <strong>und</strong> ausländischen<br />

Kindern 59 , der Ausschluss der Mädchen von der höheren Bildung, die Geschlechtertrennung<br />

im höheren Schulwesen 60 <strong>und</strong> der Ausschluss bzw. die<br />

Einschränkung der Bildungschancen für Menschen mit Behinderung 61 ange-<br />

56<br />

Hinz 2004, 58–61.<br />

57<br />

Hinz 1993, 13.<br />

58<br />

Vgl. Prengel 2019, 10.<br />

59<br />

In den 60er- <strong>und</strong> 70er-Jahren wurden schulorganisatorisch verschiedene Segregationsformen<br />

zwischen deutschen <strong>und</strong> ausländischen Kindern gestaltet. Dabei kam Segregation<br />

am häufigsten durch Vorbereitungsklassen vor, in denen ausländische Kinder mit sprachlicher<br />

Förderung auf den Regelunterricht vorbereitet werden sollten. Auernheimer 1984,<br />

278, zit. n. Prengel 2019, 61. Diese Art von schulischer Segregation trägt weiterhin zur<br />

Entwertung der anderen Kulturen <strong>und</strong> zur Hierarchisierung von eigenen <strong>und</strong> fremden<br />

Kulturen bei. Diese negativen Auswirkungen von Segregation kommen noch stärker zur<br />

Geltung, »wenn äußere Differenzierung in langfristigen Sonderklassen für ausländische<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche praktiziert wird, so dass Angehörige verschiedener Kulturen keine<br />

Chance haben, sich wechselseitig kennenzulernen«. Prengel 2019, 70.<br />

60<br />

Eine Hierarchisierung des Geschlechtsverhältnisses führte »zum Ausschluss der Mädchen<br />

aus der höheren Bildung <strong>und</strong> ihrer Zuweisung zu einem gesonderten Schulwesen«.<br />

Institutionell dominierte die Geschlechtertrennung bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein vor allem<br />

im höheren Schulwesen. In der Lehrerschaft war die Überzeugung weit verbreitet, dass<br />

»Jungen <strong>und</strong> Mädchen von Natur aus völlig verschieden begabt seien <strong>und</strong> dass man sie gar<br />

nicht gemeinsam unterrichten könne <strong>und</strong> solle«. Prengel 2013a, 22.<br />

61<br />

In dieser Phase wurden Menschen mit Behinderung entweder von Bildungschancen<br />

ausgeschlossen oder auf einschränkende Weise in separierten Schulen <strong>und</strong> Instituten beschult.<br />

Das Differenzmerkmal der Behinderung wird nach wie vor als minderwertig abgeschätzt<br />

<strong>und</strong> durch Diskriminierung gefährdet. Insbesondere trugen »die medizinisch f<strong>und</strong>ierten<br />

anthropologischen <strong>und</strong> pädagogischen Polarisierungen des Verhältnisses zwischen


1Vielfalt <strong>und</strong> Anerkennung: die vielfaltsbewusste Diskurslinie 29<br />

führt. Mit Hinz lässt sich hierbei »die anthropologische Dominanz von Verschiedenheit«<br />

festhalten, »der zufolge die jeweils anderen in je eigenen Systemen<br />

gebildet <strong>und</strong> erzogen werden sollen, um das ›allgemeine‹ System vor ihrer Andersartigkeit<br />

zu schützen <strong>und</strong> Behinderung von Entwicklungen zu vermeiden«. 62<br />

Eine diesem Muster innewohnende Problematik sieht Prengel in der Hierarchisierung<br />

von Differenzen, also in der Verbindung der Differenzenmit Mehroder<br />

Minderwertigkeit. Es setze sich deshalb relativ ungebrochen »jene schulische<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Hierarchien rechtfertigende Auffassung« durch, dass<br />

»die zwischen Menschen angenommenen Unterschiede eine Rangordnung zwischen<br />

ihnen legitimieren«. 63 Die Hierarchisierung von Differenzen kann ebenso<br />

zu Etikettierung <strong>und</strong> Diskriminierung weiterführen, wenn die Differenz zum<br />

Anderssein diskreditiert <strong>und</strong> als minderwertig eingeordnet wird. Für die Legitimation<br />

dieser Unterordnung wird häufig auf ein bestimmtes Menschenbild<br />

zurückgegriffen. Alle zum Separierungsmodell gehörigen Ansätze f<strong>und</strong>ieren auf<br />

einer Art von Sonderanthropologie, die etwa folgende gemeinsame Konstrukte<br />

ausmacht: »unveränderbares Wesen aufgr<strong>und</strong> natürlicher, erblicher Bestimmung,<br />

Entwertung <strong>und</strong> Missachtung <strong>und</strong> Polarisierung von Eigenschaften«. 64<br />

Nicht selten liegen die Idealisierung des Andersseins oder exotisches Interesse<br />

vor, die schmerzliche Erfahrungen der Betroffenen eher verblenden. 65<br />

1.1.1.2 Zum Anpassungsmodell: Angleichung von Differenzen<br />

Im Anpassungsmodell, in dem umgekehrt Gleichheit überbetont <strong>und</strong> Verschiedenheit<br />

vernachlässigt wird, ist eine andere Problematik zu bemerken: Angleichung<br />

<strong>und</strong> Assimilation. Pädagogisch wird sich primär »auf Angleichung an<br />

Normalstandards <strong>und</strong> Zielgleichheit« ausgerichtet 66 <strong>und</strong> Differenzen der Lernenden<br />

werden ignoriert oder ausgeblendet. Zu diesem Muster zählen Ausländerpädagogik<br />

67 ,Koedukation 68 <strong>und</strong> Sonderpädagogik 69 sowie Normalisierungs-<br />

Behinderten <strong>und</strong> Nichtbehinderten« zur Hierarchisierung bei. Sie wurde legitimiert durch<br />

eine ›Sonder‹-Anthropologie, die Menschen mit Behinderung Inferiorität zuschrieb. Prengel<br />

2019, 151.Der Glaube an die Minderwertigkeit der Menschen mit Behinderung wurde auch<br />

in der Pädagogik transportiert, sodass ihnen eine zentrale menschliche Fähigkeit, »die<br />

Lernfähigkeit«, abgesprochen wurde. Prengel 2019, 153.<br />

62<br />

Hinz 2004, 59.<br />

63<br />

Prengel 2019, 10 f.<br />

64<br />

Prengel 2019, 179f. In einer anderen Studie stellt sie fest, dass »rassistische, sexistische<br />

<strong>und</strong> behindertenfeindliche« Einstellungen auf dem gleichen Gedankenmuster basieren.<br />

Prengel 2013a, 32.<br />

65<br />

Prengel 2019, 5.<br />

66<br />

Hinz 1998, 142 f.<br />

67<br />

Die Ausländerpädagogik war eine in den 70er-Jahren vorherrschende pädagogische<br />

Strategie gegenüber kultureller <strong>und</strong> ethnischer <strong>Heterogenität</strong> der Schüler*innen. Prengel


2Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit 77<br />

wird, geht es nur umeinen »›Spezialfall‹ der Religion von Kindern mit Migrationshintergr<strong>und</strong>«.<br />

375 Dies mag sich dadurch erklären lassen, dass sich die Erziehungswissenschaftbei<br />

der Suche nach »ihrer Selbstzuordnung im Bereichdes<br />

weltanschaulich neutralen öffentlichen Schulwesens« offensichtlich »von ihrer<br />

religiösen Herkunftsgeschichte« abgrenzen wollte. 376 Notwendig ist jedoch eine<br />

stärkere wechselseitige Kooperation zwischen den beiden Disziplinären, sodass<br />

die religionspädagogische Perspektive mit ihrem Spezifikum im <strong>Inklusion</strong>sdiskurs<br />

wieder eine eigene Stelle finden kann. Rita Burrichter plädiert u. a. dafür,<br />

die religionspädagogische Diskussion noch stärker in die allgemeinpädagogische<br />

Auseinandersetzung mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> einzubinden <strong>und</strong> als Potenzial<br />

einzubringen, anstatt religionspädagogische Erkenntnisgewinne nur<br />

additiv in Lücken einzufügen. 377<br />

2Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit:<br />

die sozialkritische Diskurslinie<br />

»Eine umstandslose Subsumption von Ungleichheit unter die Kategorie ›unterschiedlicher<br />

Kindheiten‹ [könnte] zur Banalisierung der Notlagen von Kindern, einer Nivellierung<br />

der Bemühungen um Nachteilsausgleich <strong>und</strong> möglicher weise neuen Formen institutioneller<br />

Diskriminierung führen.« (Christina Huf <strong>und</strong> Irmtraud Schnell)<br />

»Die Rede von Bildungsgerechtigkeit ist gefährlich, weil sie das Bestehende gefährden<br />

<strong>und</strong> die Sicherheiten in Frage stellen könnte. […] Das Thema ist jedenfalls von wachrüttelnder<br />

Qualität.« (Thomas Schlag)<br />

Bei der im vorherigen Kapitel 1vorangegangenen Betrachtung der vielfaltsbewussten<br />

Diskurslinie war eine normativ aufgeladene Argumentation prägend,<br />

dass <strong>Heterogenität</strong> im Sinne von Vielfalt <strong>und</strong> Diversität wertgeschätzt <strong>und</strong> anerkannt<br />

werden soll. Dieser normative Duktus allein scheint jedoch zu kurz zu<br />

greifen, um den komplexen Bedingungen der Schulbildung gerecht zu werden.<br />

Ferner kann man mit einem solch einseitigen Verständnis von <strong>Heterogenität</strong><br />

durchaus Irrtümern unterliegen <strong>und</strong> Unterschiedlichkeit <strong>und</strong> sozial bedingte<br />

Ungleichheit miteinander verwechseln. So weisen Huf <strong>und</strong> Schnell auf Folgendes<br />

hin: »Die Lebensbedingungen von Kindern sind nicht nur unterschiedlich,<br />

sondern auch ungleich« – in dem Sinne, dass nicht alle in gleicher Weise<br />

von Benachteiligungen bedroht sind. 378 Sie fordern darum, beides voneinander<br />

trennscharf zu unterscheiden, weil »eine umstandslose Subsumption von Un-<br />

375<br />

376<br />

377<br />

378<br />

Burrichter 2015, 155.<br />

Burrichter 2015, 155.<br />

Burrichter 2015, 145.<br />

Huf/Schnell 2015, 12 (eigene Hervorhebung).


78 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

gleichheit unter die Kategorie ›unterschiedlicher Kindheiten‹ zur Banalisierung<br />

der Notlagen von Kindern, einer Nivellierung der Bemühungen um Nachteilsausgleich<br />

<strong>und</strong> möglicherweise neuen Formen institutioneller Diskriminierung<br />

führen könnte«. 379 Rainer Möller warnt auch vor einer möglichen Verkehrung<br />

<strong>und</strong> fordert einen differenzierenden Blick ein: »Die aus sozioökonomischer<br />

Marginalisierung resultierenden ›Besonderheiten‹ armer Kinder sind keine<br />

Ressourcen im pädagogischen Sinne, sondern Ausdruck ungerechter sozialer<br />

Verhältnisse, unter denen diese Kinder leiden«. 380 Nicht zuletzt stellt Bernhard<br />

Grümme aus religionspädagogischer Seite fest, dass »Unterschiede <strong>und</strong> Ungleichheiten<br />

korreliert werden« sollen. 381 So lässt sich das gr<strong>und</strong>legende Problem<br />

der vielfaltsbewussten Diskurslinie eindeutig identifizieren: Dort sind alle <strong>Heterogenität</strong>sdimensionen<br />

– auch soziale Ungleichheit – unter Vielfaltsubsumiert,<br />

sodass faktische Ungleichheit <strong>und</strong> Ausschließung somit ausgeblendet <strong>und</strong> nivelliert<br />

werden. Der normative Diskurs allein genügt somit keinesfalls, um<br />

sinnvolle <strong>und</strong> tragfähige pädagogische <strong>und</strong> professionelle Konzeptionen zum<br />

Umgang mit der <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> für inklusive Bildung zu erarbeiten, da in ihm<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich eine kritisch-analytische Perspektive ausbleibt. 382<br />

Aufmerksamkeit verdient darum eine andere Diskurslinie, die die Weichstelle<br />

des normativen <strong>Inklusion</strong>sdiskurses ernst genommen <strong>und</strong> sich an neue<br />

Erkenntnisse soziologischer Ungleichheits- <strong>und</strong> Exklusionsforschungen angeschlossen<br />

hat. 383 Anders als die vielfaltsbewusste Diskurslinie geht sie nicht<br />

379<br />

Huf/Schnell 2015, 13.<br />

380<br />

Möller 2015, 111.<br />

381<br />

Grümme 2017b, 220 (eigene Hervorhebung).<br />

382<br />

Es gilt mittlerweile als ein Konsens in erziehungswissenschaftlichen <strong>Inklusion</strong>sforschungen,<br />

dass eine einseitige affirmative Sichtweise zu <strong>Heterogenität</strong> zu kurz greift <strong>und</strong><br />

durch den kritischen Aspekt ergänzt werden solle. Dieser Konsens lässt sich konkret in zwei<br />

Linien gliedern: a) Eine Reihe von Forschungen problematisieren eine einseitige affirmative<br />

Sichtweise der normativen, vielfaltsbewussten Diskurslinie, die das faktische Exklusionsproblem<br />

außer Acht lässt: Wansing 2013, 18; Cramer/Harant 2014, 655; Budde 2015, 127;<br />

Borbe et al. 2016, 13; Ackermann 2017, 231. b)Andere Forschungen vertreten demgegenüber<br />

die Aufforderung, den sozialkritischen Aspekt stärker hervorzuheben: Dannenbeck/Dorrance<br />

2009; Dannenbeck 2012, 66; Sulzer/Wagner 2011, 20 f.; Rathgeb 2012,<br />

12 f.; Wansing 2013, 17; Wansing 2015, 51; Dederich 2013, 68; Dederich 2017, 78;<br />

Ottersbach et al. 2016, 2f.<br />

383<br />

Soziologische Ungleichheits- <strong>und</strong> Exklusionsforschungen stellen einschlägige Erkenntnisgewinne<br />

für die erziehungswissenschaftliche <strong>Inklusion</strong>sforschung bereit, die mit<br />

Markus Dederich unter folgenden drei Aspekten zusammenzufassen sind. Es wird neu<br />

bewusst: »a) ein erhöhtes Risiko, sich in einer sozioökonomisch prekären Lebenssituation<br />

wiederzufinden oder sogar abgehängt zu werden, b) die zunehmende Abhängigkeit der Individuen<br />

von sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Umständen sowie politischen Entscheidungen, die<br />

durch sie nicht zu beeinflussen sind, c) die Verschiebung der Verantwortung für die Folgen,


2Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit 79<br />

primär mit der normativen Orientierung, sondern mit der faktischen Exklusion<br />

einher. Es geht darum, soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Exklusion im Bildungsbereich<br />

kritisch zu hinterfragen <strong>und</strong> auf dahinterliegende Prozesse <strong>und</strong> Mechanismen<br />

analytisch einzugehen. Als ein Beispiel, das eine solche Sichtweise exemplarisch<br />

erkennen lässt, gilt die Studie von Martin Kronauer »Wer <strong>Inklusion</strong> möchte,<br />

darf über Exklusion nichtschweigen«. In Abgrenzung vom vornehmlich normativ<br />

geprägten <strong>Inklusion</strong>sdiskurs fordert er, Ausschließung <strong>und</strong> Benachteiligung<br />

noch schärfer in den Blick zu nehmen. Somit wird dem Exklusionsbegriff eine<br />

entscheidende Bedeutung beigemessen, weil er auf »die gesellschaftlichen Ungleichheits-<br />

<strong>und</strong> Machtverhältnisse« aufmerksam macht <strong>und</strong> damit »soziale<br />

Ausgrenzungen« hervorbringt. 384 Von der Exklusion her zu denken, so seine<br />

Hauptthese, könne den Blick dafür schärfen, was eigentlich mit <strong>Inklusion</strong> gemeint<br />

sein könnte. 385 Diese Diskurslinie nimmt somitals ihr Kernprinzip soziale<br />

Gerechtigkeit – vor allem ausgleichende Gerechtigkeit – statt der Anerkennung<br />

von Vielfalt an, wie Hans Weiß eindeutig artikuliert: »Anerkennung der Verschiedenheit<br />

<strong>und</strong> Vielfalt« würde ohne »das Prinzip der ausgleichenden (kompensatorischen)<br />

Gerechtigkeit« schlichtweg zynisch. 386 Dieselbe Argumentation<br />

teilend sieht Franz Hamburger »gerechte gesellschaftliche Verhältnisse« als<br />

unerlässliche Prämisse bzw. Vorbedingung für anerkennende Beziehung <strong>und</strong><br />

Austausch an. 387 Zugunsten ihrer gemeinsamen Referenztheorien, Erkenntnissinteresse<br />

<strong>und</strong> Argumentationen scheint mir recht plausibel zu sein, diese<br />

Stränge zur Kategorie der sozialkritischen Diskurslinie zu bündeln <strong>und</strong> sie als<br />

die diese Prozesse für die einzelnen Menschen haben, auf die Seite der Individuen«. Dederich<br />

2017, 74. Dammer verweist auf die unterschiedlichen Betonungen von erziehungswissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> soziologischen Forschungen: »Während des gleichen Zeitraums, in dem die<br />

Pädagogik von <strong>Inklusion</strong> zu sprechen beginnt, [macht] die Soziologie [sich] weit intensiver<br />

Gedanken um das Gegenteil, nämlich Exklusion.« Somit können soziologische Exklusionsforschungen<br />

einen komplementären Aspekt zu erziehungswissenschaftlichen <strong>Inklusion</strong>sforschungen<br />

bieten. Dammer 2011, 7.<br />

384<br />

Kronauer 2015, 155.<br />

385<br />

Kronauer 2015, 148. Damit bemerken Marikus Ottersbach, Andrea Platte <strong>und</strong> Lisa<br />

Rosen, dass der Exklusionsbegriff das »ursprüngliche Anliegen der Leitidee der <strong>Inklusion</strong>«<br />

präziser zur Kenntnis bringen kann. Ottersbach et al. 2016, 2. Dederich sieht es auch<br />

notwendig an, den <strong>Inklusion</strong>sbegriff als »analytisch-kritischen Reflexionsbegriff« zu konzipieren,<br />

anhand dessen man nicht nur institutionelle, organisatorische <strong>und</strong> strukturelle Aspekte,<br />

sondern auch die Weise, wie Lehrer*innen in ihrer Praxis in die Reproduktion sozialer<br />

Ungleichheit eingeb<strong>und</strong>en sind, reflektieren kann. Dederich 2018, 91.<br />

386<br />

Weiß 2009, 10.<br />

387<br />

Hamburger 2018, 81.


80 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

»parallele <strong>und</strong> ergänzende« Forschungslinie 388 zur normativ geprägten vielfaltsbewussten<br />

Diskurslinie zu charakterisieren.<br />

Um die normative <strong>und</strong> die kritisch-analytische Diskurslinie differenzierend<br />

zu untersuchen, ist es noch von konstitutiver Bedeutung, zwischen horizontaler<br />

<strong>und</strong> vertikaler <strong>Heterogenität</strong> zu unterscheiden, was Katharina Walgenbach<br />

vorgenommen hat: Horizontale <strong>Heterogenität</strong> bedeute »Unterschiedlichkeiten«,<br />

die keine negativen Auswirkungen <strong>und</strong> Benachteiligungen mit sich bringen;<br />

vertikale <strong>Heterogenität</strong> im Sinne von »sozialer Ungleichheit« beziehe sich demgegenüber<br />

auf »diejenigen Dimensionen, die hierarchisch eine Gesellschaft<br />

strukturieren <strong>und</strong> die in der ungleichheitsbezogenen Ausdifferenzierung von<br />

sozialen Schichten, Milieus, Klassen bis in schulische Benachteiligungsprozesse<br />

erkennbar wird«. 389 Als Schlussfolgerung spricht sie von »aufgeklärte[r] <strong>Heterogenität</strong>«<br />

– in dem Sinne, dass man zwischen vertikaler <strong>und</strong> horizontaler <strong>Heterogenität</strong><br />

zudifferenzieren habe. 390 Ansonsten entstehe das Risiko, dass unter<br />

dem Duktus ›Celebrate Diversity‹ kritische Perspektiven auf soziale Ungleichheiten<br />

neutralisiert werden. 391<br />

Vordiesem Hintergr<strong>und</strong> kommt im nachfolgenden Kapitel 2die sozialkritische<br />

Diskurslinie zur Untersuchung, wobei Diskurse in der Erziehungswissenschaft<br />

(2.1) sowie der Religionspädagogik (2.2) in den beiden parallelen<br />

Unterkapiteln näher behandelt werden. Am Ende folgt noch ein resümierendes<br />

Unterkapitel, das die Erkenntnisse aus beiden Disziplinenins Gespräch bringen<br />

soll (2.3).<br />

2.1 Benachteiligungssensible P8dagogik<br />

Die sozialkritische Diskurslinie in der Erziehungswissenschaft richtet ihr Augenmerk<br />

primär auf soziale Ungleichheit, Benachteiligung <strong>und</strong> Exklusion im<br />

Bildungsbereich <strong>und</strong> greift auf soziologische Ungleichheitsforschungen sowie<br />

neuere Debatten r<strong>und</strong> um Bildungsgerechtigkeit als ihre zentralen Referenz-<br />

388<br />

Lindmeier/Lindmeier 2015, 48 (eigene Hervorhebung). Fast gleichlautend äußeren sich<br />

Sulzer <strong>und</strong> Wagner zum Stellenwert der sozialkritischen Perspektive, die mit eigener Fokussierung<br />

zur Ergänzung des normativen <strong>Inklusion</strong>sdiskurses dient. Sulzer/Wagner 2011,<br />

18.<br />

389<br />

Walgenbach 2014, 28 f.<br />

390<br />

Walgenbach 2014, 23.<br />

391<br />

Grümme 2017c, 50. In ähnlichem Zusammenhang bedenkt Steven Vertovec, Direktor<br />

des Max-Planck-Instituts für multireligiöse <strong>und</strong> multiethnische Gesellschaften die Schattenseite<br />

des Multikulturalismus: »Das Zelebrieren kultureller Unterschiede würde oftmals<br />

die Diskriminierung in struktureller Hinsicht kompensieren.« Casper-Hehne/Schweiger<br />

2008, 5, zit. n. Jäggle 2015, 78.


2Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Bildungsgerechtigkeit 81<br />

punkte zurück. Es gibt eine Reihe von Gr<strong>und</strong>merkmalen, die die verschiedenen<br />

Ansätze in dieser Diskurslinie verbinden: Schule wird weniger als ein »Ort<br />

fachlichen Lernens«, sondern vielmehr als »eine gesellschaftliche Institution«<br />

charakterisiert, die »an der Herstellung gesellschaftlicher Verhältnisse einschließlich<br />

der darin verwobenen Ungleichheiten beteiligt ist«. 392 Somit wird<br />

der Frage nachgegangen, wie sozialbedingte <strong>Heterogenität</strong> im Schulwesen <strong>und</strong><br />

auf dem weiteren Bildungsweg zur Privilegierung oder Benachteiligung von<br />

bestimmten Gruppen führt <strong>und</strong> damit als Legitimationsgr<strong>und</strong>lage für soziale<br />

Ungleichheit funktioniert. 393 Es scheint mir deshalb naheliegend, die hier zu<br />

behandelnden erziehungswissenschaftlichen Ansätze gemeinsam als eine benachteiligungssensible<br />

Pädagogik zu bezeichnen.<br />

Die Untersuchung in den folgenden Teilkapiteln wird folgendermaßen vorgehen:<br />

Nachdem einleitend die Problemlage dargestellt wird (2.1.1), werden<br />

Prozesse <strong>und</strong> Mechanismen im Bildungsbereich, die Benachteiligung für bestimmte<br />

Schülergruppen hervorbringen <strong>und</strong> damit sozialbedingte Ungleichheiten<br />

weiter verschärfen, ausführlich analysiert (2.1.2). Danach wird darüber<br />

nachgedacht, welche pädagogischen Maßnahmen dagegen ergriffen werden<br />

sollten (2.1.3). Den Schlussteil bilden eine Zusammenfassung sowie eine kritische<br />

Würdigung der benachteiligungssensiblen Pädagogik (2.1.4).<br />

2.1.1 Problemlage: soziale Ungleichheit, Benachteiligung <strong>und</strong><br />

Exklusion im Bildungsbereich<br />

In diesem einleitenden Teil soll die Problemlage sozialer Ungleichheit, Benachteiligung<br />

<strong>und</strong> Exklusion im Bildungsbereich dargestellt werden, die einen diskursiven<br />

Rahmen benachteiligungssensibler Pädagogik bildet.<br />

Die bestehende Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch auf unteilbare<br />

<strong>Inklusion</strong> <strong>und</strong> der faktischen Ungleichheit sowie Exklusion in der Gesellschaftbetrifftnicht<br />

zuletzt den Bildungsbereich. Dies spiegelt sich passgenau<br />

in einer tiefen Kluft zwischen Bildungsgewinnern <strong>und</strong> -verlierern bzw. Gebildeten<br />

<strong>und</strong> Ungebildeten wider. 394 Es scheinen sich zwar alle darin einig zu sein,<br />

gerechte Chancen zur Teilhabe an Bildungsangeboten <strong>und</strong> auf Bildungserfolg<br />

für alle zu garantieren. Konkret formuliert: Diese Chancen »sollten nicht von<br />

Merkmalen der sozialen Herkunft oder des ethnisch-kulturellen Hintergr<strong>und</strong>es<br />

abhängen«. 395 Die eklatante Disparitäten bei Bildungsergebnissen sowie die<br />

Reproduktion <strong>und</strong> Verschärfung sozialer Ungleichheit im Bildungswesen stellen<br />

aber diesen normativen Anspruch durchaus infrage, wie in den letzten Jahren<br />

durch PISA-Studien deutlich hervorgehoben wurde. Mit den Bef<strong>und</strong>en der PISA<br />

392<br />

393<br />

394<br />

395<br />

Trautmann/Wischer 2011, 47 f. (Hervorhebung im Original).<br />

Trautmann/Wischer 2011, 48.<br />

Solga/Powell 2006, 175.<br />

Prenzel et al. 2006, 225.


3Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere 139<br />

damit einhergehenden Faktoren zugänglich zu machen.Insbesondere zeigt sich<br />

in den religionssoziologischen Forschungen ein erfolgreiches Modell für die<br />

religionspädagogische Anwendung von allgemeinen Debatten. Trotzdem bleiben<br />

religionspädagogische Forschungen in den allgemeinpädagogischen Diskursen<br />

weithin unbemerkt. Dies bestätigt die Marginalisierung der Religionspädagogik<br />

in allgemeinen <strong>Inklusion</strong>sforschungen <strong>und</strong> -diskursen.<br />

3Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere:<br />

die machtkritische Diskurslinie<br />

»Die Anderen […] werden immer als Andere zur Geltung gebracht, die in Macht- <strong>und</strong><br />

Dominanzverhältnissen konstituiert sind.« (Paul Mecheril, Susanne Ahrens <strong>und</strong><br />

Reingard Spannring)<br />

»Was ist die ›eigene‹ Religion?Kann es in der postmodernen Gesellschaftüberhaupt noch<br />

so etwas wie eine halbwegs geschlossene ›religiöse Identität‹ geben?Muss Identität heute<br />

nicht immer als sehr fragil <strong>und</strong> fragmentarisch, unabgeschlossen <strong>und</strong> wandelbar verstanden<br />

werden?« (Rainer Möller)<br />

Im nachfolgenden Kapitel 3soll die dritte Diskurslinie einer genauen Untersuchung<br />

unterzogen werden, die anhand der übergreifenden Charakterzüge als<br />

machtkritische Diskurslinie zu bezeichnen ist. Wenn hier zur Kennzeichnung<br />

dieser Diskurslinie das Stichwort machtkritisch in den Mittelpunkt gestellt wird,<br />

wird somit auf ihre spezifischen Schwerpunktsetzungen verwiesen. Anders als<br />

bei den vorher angeführten beiden Diskurslinien geht es ihr weder um die Anerkennung<br />

von Vielfalt in der pädagogischen Praxis noch um die Skandalisierung<br />

der ungleichheitsverstärkenden Mechanismen im Bildungssystem. Vielmehr<br />

verfolgt sie eine »gr<strong>und</strong>legende Kategorienkritik«. 689 Sie stellt also die<br />

Differenzkategorien <strong>und</strong> die binäre Einteilungslogik 690 selbstinfrage, die immer<br />

wieder zwischen dem ›Eigenen‹ <strong>und</strong> dem ›Anderen‹ unterscheiden <strong>und</strong> damit<br />

eine symbolische Grenzziehung <strong>und</strong> Hierarchisierung einbringen. 691 Sofern die<br />

Mehrheitsgesellschaft eine Definitionsmacht über ›die Anderen‹ zur Verfügung<br />

689<br />

Riegel 2016, 28.<br />

690<br />

Helma Lutz <strong>und</strong> Norbert Wenning zählen folgende 13 bipolare hierarchische Differenzlinien<br />

auf: Geschlecht, Sexualität, »Rasse«, Ethnizität, Nation, Klasse, Kultur, Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Alter, Herkunft, Besitz, Nord-Süd/Ost-West <strong>und</strong> gesellschaftlicher Entwicklungsstand. Die<br />

eine Seite davon werde als Norm definiert, die andere aber als Abweichung. Insofern folgen<br />

sie »der Logik der Gr<strong>und</strong>dualismen«, die »komplementär scheinen, aber hierarchisch funktionieren«.<br />

Lutz/Wenning 2001, 20 (Hervorhebung im Original).<br />

691<br />

Mecheril/Plößer 2009, 203; vgl. Elverich/Reindlmeier 2009, 35; Riegel 2016, 23 f.;<br />

Dirim/Mecheril 2018, 161.


140 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

hat, wird unter solchen Ordnungen <strong>und</strong> Schemata das Eigene als ›Norm‹ anerkannt,<br />

das Andere hingegen als deren ›Abweichung‹ abgewertet; schließlich<br />

werden gesellschaftliche Ungleichheits- <strong>und</strong> Machtverhältnisse legitimiert sowie<br />

als solche verfestigt. 692 Als Referenztheorien werden diejenigen intellektuellen<br />

Traditionen aufgenommen, die sich mit den Differenzverhältnissen mit Bezug auf<br />

gesellschaftliche Macht- <strong>und</strong> Dominanzverhältnisseauseinandersetzten, wie z. B.<br />

Diskurstheorien, Postcolonial Studies, Gender Studies, Cultural Studies <strong>und</strong> Disability<br />

Studies. 693<br />

Die machtkritische Diskurslinie stellt gr<strong>und</strong>sätzlich einen Gegenpol zur<br />

»essenzialistische[n] Epistemologie« 694 dar, sie unternimmt nämlich eine »kritische<br />

Positionierung gegen solche Ansätze, die Differenz als natürlich, fixiert<br />

<strong>und</strong> klar voneinander abgrenzbar behandeln« 695 .Sie bemüht sich, unausgesprochene<br />

Vorstellungendes »Normalen«, »binäre[…]Differenzordnungen« sowie<br />

»Machtverhältnisse« kritisch zu hinterfragen <strong>und</strong> als solche sichtbar zu machen.<br />

696 Insoweit ist diese Diskurslinie, genauso wie ihre Kennzeichnung<br />

machtkritischer Diskurslinien – durch einen macht- <strong>und</strong> herrschaftskritischen<br />

Charakter gekennzeichnet <strong>und</strong> richtet sich auf die Emanzipation <strong>und</strong> Befreiung<br />

der bisher Marginalisierten aus. 697<br />

Mit solchen eigenen Erkenntnisinteressen weist die machtkritische Diskurslinie<br />

eigene bestimmte Vorstellungen zu <strong>Heterogenität</strong> auf, die sich von<br />

denjenigen in den anderen Diskurslinien unterscheiden: <strong>Heterogenität</strong> wird<br />

aus machtkritischer Perspektive nicht als neutral gegebene Verschiedenheit, zu<br />

wertschätzende Vielfalt oder ungleiche Ressourcenverteilung verstanden. Sie<br />

wird vielmehr als Differenzen betrachtet, die gesellschaftlich diskursiv konstruiert<br />

<strong>und</strong> hervorgebracht werden. Differenzen sind nämlich »nicht an sich<br />

gegeben, ›natürlicherweise‹ vorhanden«, sondern vielmehr »Ergebnisse sozialer<br />

Unterscheidungspraktiken«. 698 Sofern Differenzen in den sozial konstituierten<br />

Machtverhältnissen erzeugt <strong>und</strong> somit als »Hinweise für Hierarchie <strong>und</strong> Indikatoren<br />

der Macht« betrachtet werden 699 ,soll die pädagogische Umgangsweise<br />

mit Differenzenebenfalls auf »ihre Machtwirkungen«hin befragt werden. 700 In der<br />

692<br />

Elverich et al. 2009, 13. Vgl. auch Messerschmidt 2005, 218; Elverich/Reindlmeier<br />

2009, 35; Mecheril/Plößer 2009, 203; Mecheril et al. 2011, 10 f.; Turecek 2015, 54 f.;<br />

Riegel 2016, 30, 55; Brandstetter 2019, 184f.<br />

693<br />

Vgl. Mecheril/Plößer 2009, 195; Mecheril et al. 2011, 10 f.; Riegel 2016, 8f.<br />

694<br />

Fäcke 2001, 166.<br />

695<br />

Mecheril/Plößer 2009, 205.<br />

696<br />

Riegel 2016, 30; vgl. Mecheril/Plößer 2009, 203; Brandstetter/Reis 2020, 375.<br />

697<br />

Vgl. Yildiz 2009, 420; Lehner-Hartmann 2020, 155; Brandstetter 2020, 212.<br />

698<br />

Dirim/Mecheril 2018, 40 (eigene Hervorhebung); vgl. Riegel 2016, 30.<br />

699<br />

Riegel 2016, 28.<br />

700<br />

Mecheril/Plößer 2009, 196 (eigene Hervorhebung).


3Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere 141<br />

machtkritischen Diskurslinie wird folglich der Terminus der Differenz favorisiert<br />

– statt der Vielfalt, der Unterschiedlichkeit oder Ungleichheit, um ihr spezifisches<br />

Anliegen deutlich zu zeigen.<br />

Bis hierher ließen sich übergreifende Charakterzüge <strong>und</strong> Erkenntnisinteresse<br />

der machtkritischen Diskurslinie kurz, aber einschlägig darstellen. Vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> sollen im Folgenden der machtkritisch geprägte, erziehungswissenschaftliche<br />

Diskurs (3.1) <strong>und</strong> der religionspädagogische Diskurs<br />

(3.2) jeweils ausführlich behandelt werden, um am Schluss die beiden Diskurse<br />

mit einbeziehen zu können (3.3).<br />

3.1 Machtkritische P8dagogik<br />

Zunächst sollen verschiedene erziehungswissenschaftliche Ansätze, die gemeinsam<br />

der machtkritischen Diskurslinie unterzuordnen sind, betrachtet werden.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>merkmale <strong>und</strong> besonderen Foki lassen sie sich unter dem<br />

Vorzeichen machtkritischer Pädagogik zusammen bündeln.<br />

Im Folgenden wird versucht, die Ausgangspunkte, theoretischen Rahmen<br />

<strong>und</strong> pädagogischen Argumentationen machtkritischer Pädagogik gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

darzustellen. Exemplarität als methodisches Prinzip gilt hierbei gleichermaßen,<br />

sodass hauptsächlich die im Bildungsbereich verwendeten Kategorien von<br />

›kulturellen Differenzen‹ <strong>und</strong> ›Migrationshintergr<strong>und</strong>‹ fokussiert werden. Dazu<br />

ergänzend werden jedoch ggf. auch andere Perspektiven – wie z. B. aus Behinderungsbewegung<br />

<strong>und</strong> Disability Studies – betrachtet, die eine gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

strukturelle Ähnlichkeit zur Migrationsthematik aufweisen.<br />

Eine sinnvolle Strukturierung zur genaueren Untersuchung sieht so aus:<br />

Einleitend werden die Problemlage <strong>und</strong> die diskursiven Rahmen machtkritischer<br />

Pädagogik ineinem migrationsgesellschaftlichen Kontext dargestellt (3.1.1).<br />

Anschließend wird an deren zentralen theoretischen Ansatz <strong>und</strong> konkrete Bef<strong>und</strong>e<br />

im pädagogischen Bereich herangeführt (3.1.2): Zunächst kommt der Begriff<br />

Othering zur Untersuchung, der einen zentralen theoretischen Ansatz für<br />

die machtkritischePädagogik bildet (3.1.2.1), um danach konkreteBef<strong>und</strong>e zum<br />

Othering im Bildungsbereich exemplarisch aufzuzeigen (3.1.2.2). Es folgt eine<br />

Darlegung zu pädagogischen <strong>und</strong> professionellen Konsequenzen (3.1.3), die<br />

aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Otheringproblem abgeleitet<br />

sind. Der abschließendeTeil widmetsich einer kritischen Würdigung zu diesem<br />

Diskurs (3.1.4).<br />

3.1.1 Ausgangspunkts: Migration als Problemfall?<br />

Einleitend wird eineDarlegung der Problemlage sowie des diskursiven Rahmens<br />

machtkritischer Pädagogik vorgenommen, die insbesondere mit dem aktuellen<br />

Migrationsdiskurs zusammenhängen.


142 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

In der hiesigen Gesellschaft ist »die Vorstellung von innerer Homogenität«<br />

nach wie vor dominant, Migration wird hingegen »als Sonderfall« wahrgenommen,<br />

»die eine imaginäre gemeinschaftliche Übereinstimmung stört <strong>und</strong> deshalb<br />

in Grenzen gehalten werden muss«. 701 Diesedominante Vorstellung wird u. a. in<br />

der aktuellen Debatte um eine »deutsche Leitkultur« exemplarisch erkennbar,<br />

die durch Abgrenzung von den vermeintlichen ›Anderen‹ die eigene – reine <strong>und</strong><br />

homogene – Identität zu sichern versucht. 702 Wenn man einmal sowohl die<br />

komplexe <strong>und</strong> dynamische Realität von Deutschland als einer pluralen Gesellschaft<br />

als auch dessen Einwanderungsgeschichte in den Blick nimmt, wird bald<br />

klar, dass die Vorstellung von innerer Homogenität illusionär <strong>und</strong> nicht haltbar<br />

ist. In letzterer Hinsicht verweist Gisela Wolf darauf, dass Deutschland vom<br />

»Einwanderungsland« (seit 1945) über ein »Auswanderungsland« (seit 1995) <strong>und</strong><br />

schließlich zum »Transmigrationsland« geworden ist, <strong>und</strong> hält fest, dass Migration<br />

vielmehr eine »Normalität« als ein Störfall ist. 703 Das Beharren auf einer<br />

imaginären Homogenitätsvorstellung lässt sich jedoch auf eine politische <strong>und</strong><br />

diskursive Strategie zurückführen, die Einwanderungsgeschichte bewusst zu<br />

verdrängen <strong>und</strong> zugleich aktuelle Migrationsbewegungen als problematisch<br />

701<br />

Messerschmidt 2014, 109. Über diese Problematik herrscht aktuell eine gewisse<br />

Übereinstimmung unter vielen Soziolog*innen <strong>und</strong> Erziehungswissenschaftler*innen:<br />

Wenning findet die Annahme fragwürdig, dass die Aufnahmegesellschaft zuvor kulturell<br />

homogen gewesen sei, Migration hingegen ein neues Phänomen. Wenning 2001, 286. Hess<br />

bedenkt auch nach wie vor prägende Auffassung zur Gesellschaft: »Gesellschaft wird als<br />

essenziell <strong>und</strong> immer schon national <strong>und</strong> kulturell homogen vorgestellt. Alle internen<br />

Fragmentierungs- <strong>und</strong> Differenzierungsprozesse sowie nach außen reichende Ausfransungsprozesse<br />

gelten in diesem Blickregimen als Abweichung von der Norm <strong>und</strong> als Gefährdung<br />

des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Containergesellschaft wird somit als<br />

stabil <strong>und</strong> statisch imaginiert <strong>und</strong> dies als Gr<strong>und</strong>voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben<br />

mythologisiert.« Hess 2011, 46. Castro Varela bedenkt ebenso, dass »das hegemoniale<br />

Festhalten an dem Mythos ›reiner‹ <strong>und</strong> ›statischer‹ (National⌅)Kulturen« nach wie<br />

vor präsent ist. Castro Varela 2015, 657. Riegel bemerkt auch, immer noch sei die »mythische<br />

Norm« prägend, Gesellschaftals ein »homogenes Gebilde« anzunehmen. Riegel 2016,<br />

105. Geier stellt ebenfalls solche »imaginierte Homogenität« angesichts migrationsgesellschaftlicher<br />

Verhältnisse infrage. Geier 2019, 39. Eine solche dominante Vorstellung findet<br />

auch in Schulbüchern ihren Niederschlag. Auffallend ist die von der B<strong>und</strong>esregierung für<br />

Migration, Flüchtlinge <strong>und</strong> Integration im Jahr 2015 beauftragte Schulbuchstudie, die die<br />

Thematisierungsweise der Themen Migration <strong>und</strong> Integration für die Fächer Sozialk<strong>und</strong>e/<br />

Politik, Geschichte <strong>und</strong> Geografie analysierte. Die Untersuchung zeigt, dass in den analysierten<br />

Schulbüchern Migration <strong>und</strong> Integration überwiegend als Probleme <strong>und</strong> Herausforderung<br />

für eine als homogen vorgestellte Gesellschaft dargestellt werden. Beauftragte<br />

der B<strong>und</strong>esregierung für Migration, Flüchtlinge <strong>und</strong> Integration 2015, 67.<br />

702<br />

Kaschuba 2007, 7–13; vgl. auch Sarma 2012, 36.<br />

703<br />

Wolf 2015, 36–38.


3Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere 143<br />

hervorzuheben. 704 Gleichzeitig hat wissenschaftliche <strong>und</strong> außerakademische<br />

Wissensproduktion zu Migration auch durchschlagend dazu beigetragen, »die<br />

Migration quer durch die Disziplinen als problematisch, als auch jeden Fall erklärungsbedürftig<br />

vermessen <strong>und</strong> gedeutet hat«. 705 Gr<strong>und</strong>legend ist dabei eine<br />

»Blickrichtung«, die fast als selbstverständlich vorausgesetzt <strong>und</strong> kaum hinterfragt<br />

wird: »Man blickt aus der Mehrheitsgesellschaft heraus auf die als ›die<br />

Anderen‹, ›die Fremden‹ konstruierten.« 706<br />

So gesehen ist eine Fokusverschiebung dringlich geboten. In diesem migrationsgesellschaftlichen<br />

Kontext geht es nicht mehr darum, welche Probleme<br />

Migration <strong>und</strong> kulturelle Differenzen mit sich bringen. Vielmehr gilt es eine<br />

stärkere Aufmerksamkeit der Frage zu widmen, in welcher Art <strong>und</strong> Weise <strong>und</strong><br />

704<br />

Der Volksk<strong>und</strong>ler Kaschuba bedenkt u. a. diese diskursive Strategie. Seiner Ansicht<br />

nach wurde spätestens nach 1945 Deutschland endgültig »Einwanderungsland«. Seitdem<br />

sind »r<strong>und</strong> 40 Millionen Menschen« nach Deutschland zugewandert – »Heimatvertriebene,<br />

Remigranten, Displaced Persons, Kriegsheimkehrer, Gastarbeiter, DDR-Flüchtlinge, Asylsuchende,<br />

Arbeitsmigranten, Spätaussiedler aus Russland, jüdische ›Kontingentflüchtlinge‹«.<br />

Diese Wanderungsbewegung werde jedoch nicht als »Migration« bezeichnet, sondern als<br />

»Heimkehr«, »Rückwanderung« oder »Zuwanderung« umgeschrieben, um aktuelle Migrationsbewegungen<br />

zu dramatisieren. Kaschuba 2007, 6.Hess bemerkt auch eine »kollektive[…],<br />

weit reichende[…] Verdrängungskunst, die insbesondere das Nicht-Einwanderungsland<br />

Deutschland ausmacht«. Hess 2011, 38 f. Widersprüchlich findet sie zudem, dass in der<br />

Aufnahmegesellschaft Deutschland »selbst bei einigermaßen progressiven Konzepten als<br />

›deutsch‹ im Sinne ›deutscher Geschichte <strong>und</strong> Kultur‹ definiert wird, so als ob sich die sogenannte<br />

Aufnahmegesellschaft nach 50jähriger neuer Migrationsgeschichte nicht verändert<br />

hätte.« Hess 2011, 47. Castro Varela verweist ebenfalls auf »die aktive Vergessenspolitik<br />

vis-à-vis Migration«. Diese hat bestimmte Folgen: »Heute verfügen nur sehr wenige<br />

Bürger[*innen] ohne Migrationserfahrungen über ein f<strong>und</strong>iertes Wissen zur Migrationsgeschichte<br />

der BRD <strong>und</strong> DDR nach 1945. Gleichzeitig scheint die Mehrheit immer noch an der<br />

Vorstellung von ›Migration als Störfall‹ festzuhalten. Migration wird weiterhin nicht als<br />

Normalfall begriffen.« Castro Varela 2013, 33. Mit dem Begriff »postmigrantisch« macht<br />

Foroutan auf die gesellschaftlichen Aushandlungs- <strong>und</strong> Gestaltungsprozesse aufmerksam,<br />

in denen Menschen jenseits einer binären Unterscheidung von deutsch <strong>und</strong> nicht-deutsch<br />

gemeinsam nach einer neuen Selbstbeschreibung der Gesellschaft suchen. Es geht von der<br />

Wahrnehmung aus, Deutschland als eine Migrationsgesellschaftanzusehen. Foroutan 2016.<br />

705<br />

Hess 2011, 39. Messerschmidt bedenkt desgleichen die Tendenz, ›Andere‹ zu problematisieren.<br />

Dadurch, dass ›Andere‹ zum Problem erklärt werden, werde eine Grenzziehung<br />

zwischen dem Eigenen <strong>und</strong> dem ›Anderen‹ vorgenommen. Diese Grenzziehung werde auch<br />

»durch wissenschaftliche Untersuchung[en]« untermauert, »durch die sich das Fremde als<br />

empirisch anders <strong>und</strong> nichtvereinbar mit dem Eigenen erweisen soll«. Messerschmidt 2005,<br />

220. Schäfer weist auch zu Recht darauf hin, dass wissenschaftliche Konstruktion auf öffentliche<br />

Wahrnehmung einen großen Einfluss hat. Schäfer 2010, 98.<br />

706<br />

Hess 2011, 46.


144 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

mit welchen Wirkungen kulturelle Differenzen als eine Hauptquelle der gesellschaftlichen<br />

Konflikte wahrgenommen werden. ImFolgenden soll sich gerade<br />

damit auseinandergesetzt werden.<br />

Zunächst sei die gesellschaftlich vorherrschende Sichtweise zu Kultur<br />

bzw. kulturellenDifferenzenangemerkt. Entlang der vermeintlichen kulturellen<br />

Differenzen werden Migrant*innen als Andere definiert, hervorgehoben <strong>und</strong><br />

problematisiert. Nach Hamburger ist es heute sehr prägend, dass das soziale<br />

Problem zu schnell als ein »Kulturproblem«, d. h. als ein »Konflikt zwischen<br />

Wissenssystemen« bestimmt wird, während andere Dimensionen, wie die gesellschaftlichen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> politischen, meistens ausgeblendet bleiben.<br />

707 Es scheint überzeugend, wenn er von der »Pathologie der Wahrnehmung«<br />

spricht, weil Migrant*innen selektiv – u. a. im Fokus auf kulturelle Differenzen –<br />

wahrgenommenwerden <strong>und</strong> alle anderen Dimensionen »in [dieser] Selektivität«<br />

verschw<strong>und</strong>en sind. 708 Spielt die Kategorie kulturelle Differenzen bzw. »Migrationshintergr<strong>und</strong>«<br />

bei der »Problemerklärung« – nicht nur im gesellschaftlichen,<br />

sondern auch im pädagogischen Bereich – eine wichtige Rolle, wiederholt sich<br />

damit ein in der Migrationsgeschichte oft beobachtetes Schema: »Soziales wird<br />

in den Kategorien der kulturellen Differenz beschrieben.« 709 An dieser Stelle kommt<br />

707<br />

Hamburger 2018, 26.<br />

708<br />

Hamburger 2018, 59. ArneSchäfer stellt gleichermaßen fest, wie der populäre Begriff<br />

»Kampf der Kulturen« die Wahrnehmung gesellschaftlicher Phänomene »filtert« <strong>und</strong> »verzerrt«.<br />

Schäfer 2010, 100.<br />

709<br />

Hamburger 2018, 194 (eigene Hervorhebung). Bereits 1995 hat Kaschuba in seinem<br />

Artikel »Kulturalismus« »das Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs«<br />

kritisch angemerkt. Kaschuba 1995, 14; vgl. Sarma 2012, 34. An der Aktualität aus seiner<br />

Gegenwartsanalyse aus dem Jahr 1995 hat sich heute nicht viel geändert. Die beiden Menschenrechtsaktivistinnen<br />

in Österreich Eva MariaBachinger <strong>und</strong> Martin Schenk sprechen<br />

auch von der »Kulturalismus-Falle« <strong>und</strong> kritisieren somit verschleierte Machtverhältnisse:<br />

»Wir reden über Kultur, um über die Verhältnisse zu schweigen.« Bachinger/Schenk 2012,<br />

12f., zit. n. Gmainer-Pranzl 2018, 292. Es besteht auch ein Konsens über diese Problematik<br />

unter Erziehungswissenschaftler*innen. Exemplarisch dafür sind folgende Erziehungswissenschaftler*innen<br />

anzumerken: Höhne stellt z.B. einschlägig fest: Der Primat der Kulturkategorie<br />

trägt »zum Verschwinden des Sozialen« dadurch bei, dass »die Migrantengruppen<br />

nicht mehr im Zusammenhang mit ihrer politischen, rechtlichen, ökonomischen Situation<br />

[thematisiert], sondern sie als eigene, kulturell homogene Einheiten <strong>und</strong> ›Soziotope‹ [aufgefasst<br />

werden]«. Höhne 2001, 204. Zudem problematisiert Yildiz auch die Tendenz als<br />

hegemonial, »Migrant[*innen] als Fremde <strong>und</strong> als objektives soziales Faktum« diskursiv zu<br />

konstituieren. Häufig zu finden sind »die Reduzierung der sozialen Probleme auf Kultur«,<br />

»die Überhöhung der Kulturkonfliktthese« <strong>und</strong> »Resubstanzialisierung des national-kulturell<br />

gedachten Ethnischen«. Yildiz 2009, 22. Reindlmeier vertritt die gleiche Ansicht: »Auf der<br />

gesellschaftlichen Ebene führt der Fokus auf ›Kultur‹ dazu, dass soziale Konflikte als ›kulturelle<br />

Konflikte‹ gedeutet werden, deren Ursachen in ›kulturellen Differenzen‹ begründet zu


3Macht, Differenzen <strong>und</strong> der*die Andere 145<br />

»die Verschleierungsideologie« zum Zuge, also »die Verschiebung von Problemen,<br />

um Ursachen, die den eigenen Machtinteressen zuwiderlaufen, auszublenden<strong>und</strong><br />

an ihrer Stelle andere Ursachen in den Vordergr<strong>und</strong> zu stellen, die in<br />

der Regel auf essentielle Eigenschaften von Personen <strong>und</strong> Gruppen fokussieren«.<br />

710<br />

Es wird gängig von »interkulturelle[n] Konflikte[n]« oder Konflikten zwischen<br />

unterschiedlichen Kulturen gesprochen – im Sinne, dass »Menschen aus<br />

unterschiedlichen ›Kulturkreisen‹ aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher kulturell bedingter<br />

Wertvorstellungen miteinander in einen Konflikt geraten«. 711 Aber es gibt<br />

keine interkulturellen Konflikte per se. Sie werden vielmehr erst als solche<br />

hervorgehoben, wenn sie als durch kulturelle Differenzen ausgelöste Konflikte<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> ausgedeutet werden. 712 Das sozial dominante Wahrnehmungs-<br />

<strong>und</strong> Deutungsmuster, kulturelle Differenzen als Hauptquelle für gesellschaftliche<br />

Konflikte anzusehen, stellt deshalb nicht die Wirklichkeit im<br />

deskriptiven Sinne dar, sondern ist vielmehr eine »präformierende Vorgabe«. 713<br />

Die dadurchvollzogene »gr<strong>und</strong>legende Unterscheidung von innen/außen« erfüllt<br />

eine bestimmte ideologische Funktion – sie wirkt nämlich nach innen homogenisierend,<br />

nach außen abgrenzend. 714 In einer solchen einseitigen Sichtweise<br />

schlägt sich das gesellschaftliche Machtverhältnis nieder.<br />

Diese einseitige Fokussierung auf kulturelle Differenzen hängt zugleich mit<br />

der »Pädagogisierung«bzw. »Curricularisierung«sozialer Problemezusammen. 715<br />

liegen scheinen. Nicht in den Blick geraten hierbei soziale <strong>und</strong> ökonomische Ursachen von<br />

gesellschaftlichen Konflikten in der Einwanderungsgesellschaft«. Reindlmeier 2009, 236.<br />

Mecheril bemerkt auch: Migrationsgesellschaftliche Phänomene lassen sich nicht einseitig<br />

auf kulturelle Differenzen reduzieren, »da politische, ökonomische, rechtliche Linien ebenso<br />

zu beachten sind«. Mecheril 2010, 64. Dirim <strong>und</strong> Mecheril beachten auch die »kulturalistische[…]<br />

Reduktion des Sozialen« <strong>und</strong> fordern, dass nicht nur kulturelle, sondern auch politische,<br />

ökonomische <strong>und</strong> rechtliche Dimensionen mit zu beachten sind. Dirim/Mecheril<br />

2018, 167 (Hervorhebung im Original).<br />

710<br />

Heitmeyer 2008, 37.Wenning bemerkt auch: Die Ethnisierung oder Kulturalisierung von<br />

Konflikten kann nur dazu führen, »diese auf eine andere Ebene zu verschieben <strong>und</strong> von den<br />

eigentlichen Ursachen abzulenken«. Wenning 2001, 291. Dies unterstützen auch Elverich<br />

<strong>und</strong> Reindlmeier: Das Vorzeichen Kulturkonflikt dient zur »Verschleierung sozialer Probleme<br />

<strong>und</strong> ökonomischer Verteilungskämpfe«. Elverich/Reindlmeier 2009, 32. Wolfgang<br />

Nieke ordnet auch der einseitigen Betonung von kulturellen Differenzen eine ideologische<br />

Funktion zu, »mit der wahre Interessenkonflikte <strong>und</strong> Machtausübungen verschleiert werden<br />

sollen«. Nieke 2010, 117.<br />

711<br />

Coors/Neitzke 2018, 193.<br />

712<br />

Coors/Neitzke 2018, 193.<br />

713<br />

Hamburger 2018, 58; vgl. Höhne 2001, 203.<br />

714<br />

Höhne 2001, 208.<br />

715<br />

Diehm/Radtke 1999, 149 (Hervorhebung im Original).


4Ressourcen, Unterst6tzung <strong>und</strong> Erm?chtigung 217<br />

penbezogene Menschenfeindlichkeit sind große Herausforderungender heutigen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> bedeutsame Themen politische Bildung. Die Theologie <strong>und</strong><br />

Religionspädagogik können mit ihrer spezifischen hermeneutischen Auseinandersetzung<br />

dazu einen wichtigen Beitrag leisten.<br />

4Ressourcen, Unterst5tzung <strong>und</strong> Erm8chtigung:<br />

die fçrderungsorientierte Diskurslinie<br />

»Lehrkräfte im Rahmen des Unterrichts genügend Möglichkeiten schaffen <strong>und</strong> absichern<br />

sollen, um Schüler zur Entfaltung ihrer Stärken <strong>und</strong> Entwicklung von Kompetenzen,<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten, die für Empowerment nutzbar gemacht werden können,<br />

anzustiften <strong>und</strong> zu motivieren.« (Georg Theunissen)<br />

»Was können die Schätze der biblisch-christlichen Überlieferungen zum Stark-Werden der<br />

Kinder mit beitragen?Worauf gilt es in dieser Sicht besonders zu achten?Wogilt es hier<br />

die religionspädagogischen Akzente zu setzen?« (Frieder Harz)<br />

Im vorliegenden Kapitel 4handelt es sich um die vierte Diskurslinie. Versucht<br />

man verschiedene Ansätze in dieser Diskurslinie unter den gemeinsamen<br />

Nennern zu bündeln, so lässt sich zunächst festhalten, dass in allen Ansätzen<br />

mehr oder weniger ressourcenorientierte Ausrichtung prägend ist: »Die Kinder<br />

<strong>und</strong> die Jugendlichen sollen ihre vorhandenen Potenziale zeigen <strong>und</strong> entfalten<br />

können.« 1153 Davon ausgehend legt sie weiterhin ihren Fokus auf die Förderung<br />

der einzelnen Schüler*innen. Es geht also hauptsächlich darum, alle Schüler*innen<br />

in ihren Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozessen bestmöglich zu unterstützen<br />

<strong>und</strong> zu fördern. 1154 Angesichts dieser übergreifenden Merkmale liegt es<br />

nahe, sie als die förderungsorientierte Diskurslinie zu bezeichnen.<br />

Das pädagogische Ziel liegt in dieser Diskurslinie weniger in der Strukturveränderung<br />

als vielmehr in der Förderung der einzelnen Individuen. Mit<br />

Roland Reichenbach kann man diese Fokussetzung eindeutig merken: Pädagogisch<br />

Tätige konfrontierten in ihren pädagogischen Arbeiten häufig mit<br />

vielfältigen Widersprüchen – sei es systembedingt oder durch gesellschaftliche<br />

Ungleichheit bedingt –, die »teilweise ganz gegen jedes pädagogische Ethos gerichtet«,<br />

aber sie selbst »nicht gr<strong>und</strong>sätzlich verändern« können. 1155 Angesichts<br />

dessen liegt ihre zentrale Aufgabe darin,<br />

1153 Zaner et al. 2009, 19.<br />

1154 Carl/Roggatz 2014, 6.<br />

1155 Reichenbach 2010, 46.


218 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

»gerade unter den widrigen <strong>und</strong> unfairen Bedingungen <strong>und</strong> den potentiellen <strong>und</strong><br />

feststehenden Verlieren gegenüber so zu wirken das einzelne Kind <strong>und</strong> der einzelne<br />

Jugendliche so gut wie möglich gestärkt wird in seiner Person <strong>und</strong> seinen zukünftigen<br />

Möglichkeiten, ein gutes Leben zu führen.« 1156<br />

Eine pädagogische Maxime besteht demzufolge in der optimalen Förderung der<br />

einzelnen Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen, um ihnen zukünftig gesellschaftliche Teilhabe<br />

<strong>und</strong> ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.<br />

Im normativen <strong>Inklusion</strong>sdiskurs werden Begriffe wie »Leistung«, »Förderung«,<br />

»Kompetenzen« häufig an Rand geschoben. Sie vermitteln sogar den<br />

Eindruckeiner Unvereinbarkeit dieser Themen mit dem <strong>Inklusion</strong>sanspruch. 1157<br />

Demgegenüber hebt jene Diskurslinie die individuelle Förderung als einen Dreh<strong>und</strong><br />

Angelpunkt für die Umsetzung der <strong>Inklusion</strong> hervor. Zur Sprache kommen<br />

häufig Stichworte wie »neue Stärken entdecken«, »Ressourcen aktivieren« <strong>und</strong><br />

»personale <strong>und</strong> soziale Kompetenzen (weiter⌅)entwickeln«. 1158<br />

Diese Perspektive macht Ulrich Glöckler in seinem Konzept »SozialeArbeit<br />

der Ermöglichung« stark, wobei es darum geht,<br />

»vielfältige Möglichkeiten der Gestaltung von Lebensformen zu erkennen, <strong>und</strong> sie<br />

entsprechend der jeweiligen Persönlichkeit betreuter Akteur[*innen] einerseits <strong>und</strong><br />

den jeweils strukturell vorgegebenen Bedingungen andererseits je nach Lebenssituation<br />

möglichst optimal zu nutzen.« 1159<br />

Ferner sieht er die Förderung <strong>und</strong> Befähigung der einzelnen Schüler*innen als<br />

Eine elementare Schlüsselfunktion für die Umsetzung der <strong>Inklusion</strong>:<br />

»Denn die Ermöglichung selbstbestimmter Aneignungsprozesse <strong>und</strong> Handlungsmächtigkeit,<br />

damit auch die Arbeit an den Fähigkeiten, Verwirklichungschancen<br />

nutzen zu können <strong>und</strong> in diesem Zusammenhang soziale Teilhabe zu erweitern,<br />

eignen sich […] ausgesprochen gut zur Umsetzung inklusiver Prozesse.« 1160<br />

In seiner Beschäftigung mit <strong>Inklusion</strong> in der beruflichenBildung vertritt Eckart<br />

Diezemann eine ähnliche Perspektive. Seiner Ansicht nach besteht eine bedeutsame<br />

Aufgabe der Erziehungswissenschaft darin, Expertise im Hinblick<br />

auf die Möglichkeiten der Entwicklung <strong>und</strong> Entfaltung von Humanpotenzial zu<br />

1156 Reichenbach 2010, 46.<br />

1157 Veber/Fischer 2016, 103.<br />

1158 Herriger 2020a.<br />

1159 Glöckler 2011, 17.<br />

1160 Glöckler 2017, 57.


4Ressourcen, Unterst6tzung <strong>und</strong> Erm?chtigung 219<br />

generieren«. 1161 Hier wird die Perspektive aus der Berufs- <strong>und</strong> Wirtschaftspädagogik<br />

stark hervorgehoben. Er distanziert sich von einem normativen <strong>Inklusion</strong>sverständnis<br />

<strong>und</strong> plädiert vielmehr für eine »entwicklungs- <strong>und</strong> potenzialsensible<br />

<strong>Inklusion</strong>«. 1162 Dies erfordert »im Rahmen von (beruflichen)<br />

Bildungsprozessen gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>und</strong> obligatorisch das systematische <strong>und</strong> potenzialorientierte<br />

Einbeziehen von Entwicklungsspezifika der Jugendlichen«. 1163<br />

Diesem <strong>Inklusion</strong>s- <strong>und</strong> Bildungsverständnis liegt die Annahme zugr<strong>und</strong>e,<br />

»dass (Subjekt⌅)Bildungsprozesse im Modus der Kompetenzentwicklung mit dem Ziel<br />

mündiger, gesellschaftlicher Teilnahme nur unter Berücksichtigung entsprechender<br />

Erkenntnisse über (individuelle wie auch kollektive) Entwicklungsstände <strong>und</strong> Potenziale<br />

realisiert werden können«. 1164<br />

Der förderungsorientierten Diskurslinie liegt ein bestimmtes Bild der Schüler*innen<br />

zugr<strong>und</strong>e. Wenn auch sie ggf. unter ungünstigen Bedingungen auf die<br />

Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung angewiesen sind, sollten sie nicht als Opfer der gegebenen<br />

Situationen, sondern als aktive Handelnde, nämlich als Subjekte angesehen<br />

werden. 1165 Pädagogische Förderung sollte demgemäß immer »nicht im<br />

Modus fürsorglicher Kontrolle <strong>und</strong> […] Entmündigung«, sondern immer in<br />

der unterstützenden <strong>und</strong> ermutigenden Richtung vorgenommen werden, sowie<br />

Heinz-Elmar Tenorth es festhält. 1166 Michael Winkler hebt genauso das Subjektsein<br />

jedes*r Einzelnen hervor: Bei der pädagogischen Förderung sollte jede*r<br />

einzelne Schüler*in immer als ein »auf Autonomie angelegte[s] Subjekt« angesehen<br />

werden – selbst dort, »wo sie nichtunmittelbar in Evidenz zu erkennen ist<br />

<strong>und</strong> des Erwerbs spezifischer Handlungsmittel noch bedarf«. 1167<br />

Somit wurden die übergreifenden Kernmerkmale der förderungsorientierten<br />

Diskurslinie sowie ihre besondere Ausrichtung grob dargestellt, die im Folgenden<br />

noch genauer betrachtet werden sollen. Zunächst werden der erziehungswissenschaftliche<br />

(4.1) sowie der religionspädagogische Diskurs (4.2) jeweils<br />

ausgeführt, um am Ende die beiden disziplinären Diskursen miteinander einzubeziehen<br />

(4.3).<br />

1161 Diezemann 2016, 1(Hervorhebung im Original).<br />

1162 Diezemann 2016, 3(Hervorhebung im Original).<br />

1163 Diezemann 2016, 3.<br />

1164 Diezemann 2016, 3.<br />

1165 Tenorth 2009b, 40.<br />

1166 Tenorth 2009b, 40.<br />

1167 Winkler 2008, 173.


220 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

4.1 P8dagogik der Erm8chtigung<br />

Im Folgendenwird der Diskursstrang in der Erziehungswissenschaftbehandelt,<br />

der sich mit der Förderung, Unterstützung<strong>und</strong> Stärkung der einzelnen Personen<br />

beschäftigt. Anhand dieser Gr<strong>und</strong>ausrichtung lässt erals eine Pädagogik der<br />

Ermächtigung bezeichnen. Das Kapitel baut sich wie folgt auf: Als Hinführung<br />

wird der Frage nachgegangen, wie das Thema Förderung im Diskurs um <strong>Heterogenität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong> angemessen verortet werden kann (4.1.1). Im darauffolgenden<br />

Kapitelwerden relevante Theorien <strong>und</strong> Konzepte,wie das Konzept des<br />

Empowerments, der Salutogenese <strong>und</strong> der Resilienz, näher betrachtet (4.1.2).<br />

Anschließend werden im nächsten Kapitel spezifischere Annährungen zu pädagogischen<br />

<strong>und</strong> professionellen Konsequenzen behandelt (4.1.3). Den Schluss<br />

bilden eine Zusammenfassung <strong>und</strong> kritische Würdigung (4.1.4).<br />

4.1.1 Ausgangspunkt: Verortung des Themas ›Fçrderung‹ im<br />

<strong>Inklusion</strong>sdiskurs<br />

Förderung ist in der Pädagogik seit Langemein konstitutivesThema, das jedoch<br />

derzeit im normativen <strong>Inklusion</strong>sdiskurs ausgespart wird. Hierbei wird Förderung<br />

unberechtigterweise als »eine defizitorientierte Herangehensweise« vorgeworfen,<br />

ohne eine sachlich differenzierte Betrachtung vorzunehmen. 1168 Dies<br />

hat blinde Flecken <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Nebenwirkungen zur Folge, die Bedenken<br />

u. a. von den heil- <strong>und</strong> sonderpädagogischen Seiten auslösen. Demnach<br />

läuft das gängige Motto »Es ist normal verschieden zu sein« die Gefahr, Einschränkungen<br />

<strong>und</strong> Förderbedürfnisse von bestimmten Schüler*innen nicht<br />

ernst zu nehmen <strong>und</strong> sie eher zu banalisieren. 1169 Folglich kann ein formeller<br />

<strong>Inklusion</strong>sanspruch eher die exkludierenden Effekte begünstigen. 1170 In diesem<br />

Zusammenhang befindet sich auch die Debatte über die Diagnostik: »Während<br />

von den einen die Gefahr einer Stigmatisierung durch eine auf Defizite ausgerichtete<br />

Diagnostik betont wird, heben die anderen die Vorteile für die Unterrichtsgestaltung<br />

<strong>und</strong> die individuelle Förderung hervor.« 1171 Im normativen<br />

<strong>Inklusion</strong>sdiskurs wird die Gefahr der Defizitorientierung <strong>und</strong> Stigmatisierung<br />

vorrangig berücksichtigt <strong>und</strong> somit der Anspruch der Ent-Kategorisierung stark<br />

hervorgehoben. Dies hat wiederum zur Folge, dass der Förderungsanspruch<br />

geschwächt wird.<br />

Demgegenüber wird die andere Position vertreten, dass die Förderung eben<br />

im <strong>Inklusion</strong>sdiskurs ernstgenommen werden soll, statt sie dem normativen<br />

<strong>Inklusion</strong>sidee unterzuordnen. Beispielsweise bemerken Franziska Carl <strong>und</strong><br />

1168 Veber/Fischer 2016, 98; vgl. Speck 2019, 63.<br />

1169 Vgl. Speck 2011, 117; Ahrbeck 2014, 40f.<br />

1170 Ahrbeck 2014, 30.<br />

1171 Borsch 2018, 47.


4Ressourcen, Unterst6tzung <strong>und</strong> Erm?chtigung 221<br />

Christine Roggatz den Bedarf einer Thematisierung der individuellen Förderung<br />

im Kontext von <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong>. 1172 Als Beispiel verweisen sie<br />

auf die Einführung individueller Förderungsmaßnahmen in Hamburger Schulen,<br />

um das Sitzenbleiben zu verhindern. 1173 Eine unverzichtbare Bedeutung der<br />

Förderung hebt Winkler ebenso hervor: Angesichts differenter Lebensbedingungen<br />

ist ein gleicher Maßstabe als Voraussetzung schwer zu erwarten. 1174 Es<br />

gibt Kinder, die sich unzureichend auf den bestehenden Maßstab der Schulbildung<br />

vorbereiten. 1175 Deshalb ist eine Förderung unerlässlich, die »Normalisierung<br />

als Voraussetzung eines regulären Schulunterrichts« leistet. 1176 Diese<br />

Förderung enthält weiterhin die Aufgabe, »den Besonderheiten <strong>und</strong> unterschiedlichen<br />

Möglichkeiten gerecht werden, welche die unter heterogenen Bedingungen<br />

aufwachsenden jungen Menschen entwickeln«. 1177<br />

In diesem Zusammenhang gewinnt sozialpolitisch <strong>und</strong> zugleich bildungspolitisch<br />

das Motto »Fördern <strong>und</strong> Fordern« gestärkte Aufmerksamkeit. Die Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Lehrergewerkschaften sowie dieKultusministerkonferenz haben<br />

in ihrer gemeinsamen Erklärung im Jahr 2006 das Motto »Fördern <strong>und</strong> Fordern«<br />

als ein relevantes Prinzip für die Schulentwicklung sowie Unterrichtsgestaltung<br />

gestellt. 1178 Damit gemeint ist:<br />

»Die möglichst klare Beschreibung der angestrebten Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsziele<br />

einerseits <strong>und</strong> die individuelle Förderung aller Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler sowie das<br />

frühzeitige Erkennen ihrer Stärken <strong>und</strong> Schwächen andererseits sind dafür eine<br />

entscheidende Voraussetzung.« 1179<br />

Hier wird auch die Leistungssteigerung, die im normativen <strong>Inklusion</strong>sdiskurs<br />

öfters ausgespart wird, explizit erwähnt:<br />

»Unser gemeinsames Ziel ist es, den Anteil an erfolgreichen <strong>und</strong> höherwertigen<br />

Schul- <strong>und</strong> Ausbildungsabschlüssen – ohne Qualitätsverlust – zu steigern <strong>und</strong> den<br />

Anteil der im Bildungssystem Scheiternden deutlich zu senken.« 1180<br />

1172 Carl/Roggatz 2014, 7(unter Verweis auf Kunze 2016, 15 f.).<br />

1173 Carl/Roggatz 2014, 7.<br />

1174 Winkler 2008, 174.<br />

1175 Winkler 2008, 174.<br />

1176 Winkler 2008, 174.<br />

1177 Winkler 2008, 174.<br />

1178 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 1.<br />

1179 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 1.<br />

1180 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 2.


222 II Vier Diskurslinien um Heterogenit?t <strong>und</strong> <strong>Inklusion</strong><br />

Impliziert wird die Annahme, dass Bildung, genauer gesagt, höherwertige Bildungsabschlüsse<br />

individuelles <strong>und</strong> zugleich gesellschaftliches Gut sind. 1181 Dies<br />

fordert die Etablierung neuer Lehr- <strong>und</strong> Lernkulturen:<br />

»Sie geht von den Interessen <strong>und</strong> Stärken der Lernenden aus, analysiert aber auch<br />

deren Schwächen <strong>und</strong> entwickelt vor allem geeignete Fördermaßnahmen zur Leistungssteigerung<br />

mit Blick auf den jeweiligen individuellen Lernprozess.« 1182<br />

Für Lehrkräfte ist es bedeutend, individuelle Stärken <strong>und</strong> Schwächen frühzeitig<br />

zu erkennen <strong>und</strong> demgemäß Entwicklungsunterstützung zu leisten. 1183 Frank<br />

Müller betrachtet ebenfalls es als eine wichtige Aufgabe der Schulbildung, »die<br />

Gr<strong>und</strong>lage für eine stabile Persönlichkeit, die Gemeinschaftsfähigkeit sowie die<br />

Lern- <strong>und</strong>Leistungsbereitschafts« zu vermitteln. 1184 Um dieses Ziel zu erreichen,<br />

ist das Prinzip »Fördern <strong>und</strong> Fordern« gr<strong>und</strong>legend. Das Fordern beinhaltet,<br />

Schüler*innen möglichst häufig in die Lage zu versetzen, eigenverantwortlich<br />

zu handeln <strong>und</strong> selbst kleine Unterrichtsprozesse zu steuern» 1185 ,umsie weiterhin<br />

zur Selbsttätigkeit <strong>und</strong> Selbstständigkeit zu befähigen. Fördern bedeutet,<br />

methodisch vielfältige Übungen anzubieten <strong>und</strong> somit die Schüler*innen zu<br />

unterstützen. 1186<br />

Trotz dieser Kontroversen ist daraus ein minimaler Konsens zu ziehen, der<br />

Förderungsthematik im <strong>Inklusion</strong>sdiskurs einen eigenen Platz zuzurechnen.<br />

Diese Gr<strong>und</strong>annahme teilt eine Pädagogik der Ermächtigung.<br />

4.1.2 Theoretische Gr<strong>und</strong>lage: Empowerment, Salutogenese <strong>und</strong><br />

Resilienz<br />

Nachfolgend werden wichtige Konzepte betrachtet werden, die in der förderungsorientierten<br />

Diskurslinie eine theoretische Gr<strong>und</strong>lage bilden: das Konzept<br />

des Empowerments (4.1.2.1), der Salutogenese (4.1.2.2) <strong>und</strong> der Resilienz<br />

(4.1.2.3). Die drei Konzepte teilen die gemeinsame Basis mit Blick auf ihr optimistisches<br />

Menschenbild sowie ihre Ressourcenorientierung <strong>und</strong> sind auf unterschiedliche<br />

Weise in der Erziehungswissenschaft rezipiert worden.<br />

4.1.2.1 Empowerment: Unterst tzung zur Selbstbem chtigung<br />

Zunächst verdient das Konzept des Empowerments eine nähre Betrachtung. In<br />

weiten Zügen steht Empowerment für diejenige Theorie- <strong>und</strong> Praxisansätze, die<br />

1181 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 5.<br />

1182 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 2.<br />

1183 Bildungs- <strong>und</strong> Lehrergewerkschaften/Kultusministerkonferenz 2006, 3.<br />

1184 Müller 2016, 11.<br />

1185 Müller 2016, 11.<br />

1186 Müller 2016, 12.


III Metaperspektive zu Diskusfeldern<br />

Die bisherigen genaueren Ausführungen zu den vier Diskurslinien im Einzelnen<br />

regen dazu an, die daraus erworbenen Erkenntnisse in einen systematischen<br />

Zusammenhang einzuordnen. Diese Zuordnung soll wesentlich zur Entwicklung<br />

eines heuristischen Modells beitragen, um die Verhältnisse zwischen den vier<br />

Diskurslinien sachgemäß zu erfassen <strong>und</strong> somit weitergehend die komplexen<br />

Diskursfelder mit ihren Widersprüchen systematisch zu sichten.<br />

Bevor man auf dieses Vorgehen näher eingeht, kann doch schon vorher soviel<br />

gesagt werden, dass diese vier Diskurslinien mit ihren unterschiedlichen Argumentationen<br />

<strong>und</strong> Interessen kaum spannungslos miteinander vereinbar sind.<br />

Jede Diskurslinie hebt einen bestimmten Aspekt hervor <strong>und</strong> hat gerade deshalb<br />

nolens volens blinde Flecken. Keine davon ist allein in der Lage, den komplexen<br />

<strong>Heterogenität</strong>sdimensionen <strong>und</strong>dem damit einhergehenden <strong>Inklusion</strong>sanspruch<br />

gerecht zuwerden. Es ist deshalb geboten, die Stärken <strong>und</strong> zugleich die –<br />

manchmal unausgesprochen bleibenden – Schwächen der jeweiligen Diskurslinien<br />

zu verdeutlichen<strong>und</strong> sachgemäßins Verhältniszusetzen. Mit Blick auf das<br />

pädagogische Handeln bedeutet dies wiederum, nicht nurIntentionen <strong>und</strong> somit<br />

erwartete Wirkungen, sondern auch nicht intendierte, aber unterschwellig geschehende<br />

Wirkungen mitzuerwägen. Die vier Diskurslinien stellen keine Alternativen<br />

zueinander dar, sondern stehen vielmehr in einem komplementären<br />

Verhältnis, das insgesamt im pädagogischen Umgang mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> in<br />

der inklusiven Bildung resultieren sollen.<br />

Im folgenden Kapitel III wird versucht, die bisherigen Ergebnisse im Einzelnen<br />

aus einer Metaperspektive zu betrachten <strong>und</strong> zusammenzufügen. Demgemäß<br />

gestaltet sich die Untersuchung in den folgenden Schritten: Nachdem<br />

zunächst wichtige Schlussfolgerungen aus den jeweiligen Diskurslinien herausgestellt<br />

<strong>und</strong> in einem Überblick zusammengefasst werden (III.1), wird den<br />

Widersprüchen <strong>und</strong> Antinomien zwischen den vier Diskurslinien nachgegangen<br />

(III.2). Zum Schluss wird unter dem Stichwort Reflexivität auf die Frage eingegangen,<br />

wie man mit diesen Antinomienpädagogisch angemessen umgehen <strong>und</strong><br />

einen Spagat zwischen den beiden Polen leisten kann (III.3).


266 III Metaperspektive zu Diskusfeldern<br />

1Vier Prinzipien f5r den p8dagogischen Umgang<br />

mit Heterogenit8t <strong>und</strong> die Umsetzung inklusiver<br />

Bildung<br />

Bevor das komplexe Verhältnis zwischen den vier Diskurslinien genauer erläutert<br />

wird, erscheint es gr<strong>und</strong>legend, die wesentlichen Ergebnisse der jeweiligen<br />

Diskurslinie zusammenzufassen <strong>und</strong> einschlägig darzustellen. Aus den<br />

unterschiedlichen Argumentationen <strong>und</strong> Anforderungen für das pädagogische<br />

Handeln lassen sich folgende vier Prinzipien herauskristallisieren: Anerkennung,<br />

Kompensation, Dekonstruktion sowie Förderung. Sie umfassen jeweils wichtige<br />

Konsequenzen für den pädagogischen Umgang mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> die Umsetzung<br />

inklusiver Bildung. Bevor auf diese vier Prinzipien genauer eingegangen<br />

wird, wird zunächst anhand der folgenden Vier-Felder-Matrix ein Gesamtüberblick<br />

gegeben:<br />

a) Prinzip Anerkennung (AX) – Wertschätzung der Vielfalt: Das erste Prinzip<br />

lautet Anerkennung. <strong>Heterogenität</strong> versteht sich als Vielfalt bzw. Verschiedenheit,<br />

die als positiv <strong>und</strong> wünschenswert erachtet werden soll. Mit Blick<br />

auf inklusive Bildung ist eine Haltung wesentlich, diese Vielfalt jedes*r<br />

einzelnen Schüler*in wertschätzend zu akzeptieren, so wie sie sind. Es gilt<br />

auch als ein Hauptkennzeichnen des Anerkennungsprinzips, die Vielfalt<br />

der Schüler*innen als einen Ausgangspunkt pädagogischen Handelns aufzunehmen.Damitverb<strong>und</strong>en<br />

ist die Kritik am bestehenden Schulsystem, das<br />

durch die Segregation möglichst homogene Schüler*innengruppen zu<br />

schaffen versucht. Es gehört zu den bedeutsamen Aufgaben pädagogischer<br />

Professioneller, durch ihre Haltung, ihre Interaktionen sowie die gesamte<br />

Atmosphäre den Schüler*innen die gegenseitige Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung<br />

spürbar <strong>und</strong> erlebbar zu machen. Förderlich ist es auch, Räume zu<br />

gestalten, in denen die Schüler*innen frei ihre Vielfalt entfalten <strong>und</strong> artikulieren<br />

können. Das Prinzip der Anerkennung ist primär auf der Interaktions-<br />

<strong>und</strong> Beziehungsebene angesiedelt.<br />

b) Prinzip Kompensation (BY) – Ausgleich der Benachteiligung: Das zweite<br />

Prinzip der Kompensation hat eine kritische Analyse der Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Benachteiligung sowie deren Ausgleich als Anliegen. Unter den verschiedenen<br />

<strong>Heterogenität</strong>sdimensionen stehen soziale Ungleichheit <strong>und</strong> lebenslagebedingte<br />

Benachteiligung im Mittelpunkt des Interesses. Wenn <strong>Inklusion</strong><br />

thematisiert wird, wird sie von ihrer Rückseite, nämlich von den vorhandenen<br />

Exklusionsphänomenher gedacht (ex negativo). Es kommt wesentlich<br />

darauf an, Probleme sozialer Ungleichheit, Benachteiligung <strong>und</strong> Exklusion<br />

im Bildungsbereich zu identifizieren <strong>und</strong> dahinterliegende Mechanismen<br />

zu analysieren. Für die Umsetzung inklusiver Bildung ist gr<strong>und</strong>legend, Benachteiligung<br />

<strong>und</strong> Exklusion entgegenzuwirken <strong>und</strong> sie möglichst zu ver-


1Vier Prinzipien f6r den p?dagogischen Umgang mit Heterogenit?t 267<br />

<strong>Heterogenität</strong>sachse<br />

A<br />

Unterschiedlichkeit im horizontalen<br />

Sinne<br />

B<br />

Ungleichheit im vertikalen<br />

Sinne<br />

<strong>Inklusion</strong>sachse<br />

X<br />

Recht<br />

auf<br />

Sosein<br />

Prinzip Anerkennung (AX)<br />

Fokus: Verschiedenheit der<br />

einzelnen Personen erkennen<br />

<strong>und</strong> wertschätzend akzeptieren,<br />

so wie sie sind<br />

Pädagogisches Handeln:<br />

Anerkennung <strong>und</strong> Wertschätzung<br />

erlebbar machen,<br />

freie Räume für die Entfaltung<br />

<strong>und</strong> Artikulation der<br />

Vielfalt gestalten<br />

Ebene: Beziehungs- <strong>und</strong> Interaktionsebene<br />

Prinzip Dekonstruktion<br />

(BX)<br />

Fokus: Normalitätsvorstellungen<br />

sowie dahinterliegende<br />

Dominanzverhältnisse<br />

<strong>und</strong> Deutungsmacht kritisch<br />

hinterfragen<br />

Pädagogisches Handeln: eigene<br />

Normalitätsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> deren Einfluss auf<br />

das pädagogische Handeln<br />

reflektieren, mehrfache Zugehörigkeit<br />

<strong>und</strong> Identität ermöglichen<br />

Ebene: Einstellungsebene<br />

Y<br />

Anspruch<br />

auf<br />

Veränderung<br />

Prinzip Förderung (AY)<br />

Fokus: unterschiedliche Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Ressourcen<br />

von einzelnen Schüler*innen<br />

erkennen<br />

Pädagogisches Handeln:<br />

Entwicklungen fördern, Potenzial<br />

ausschöpfen, zu<br />

Kompetenz <strong>und</strong> Bereitschaft<br />

für die gesellschaftliche Beteiligung<br />

befähigen<br />

Ebene: individuelle Ebene<br />

Prinzip Kompensation (BY)<br />

Fokus: soziale Ungleichheit<br />

<strong>und</strong> dadurch bedingte Benachteiligung<br />

identifizieren<br />

Pädagogisches Handeln:<br />

Ungleichheit <strong>und</strong> Benachteiligung<br />

durch bildungspolitische<br />

Maßnahmen sowie pädagogische<br />

Prä- <strong>und</strong><br />

Intervention ausgleichen<br />

Ebene: strukturelle <strong>und</strong> institutionelle<br />

Ebene<br />

Abb. 2: Vier Prinzipien auf den pädagogischen Handlungsebenen<br />

ringern. Um ihnen entgegenzuwirken, werden in erster Linie bildungspolitische<br />

Kompensationsmaßnahmen benötigt. Daneben ist es für die konkrete<br />

pädagogische Handlungsebene erforderlich, rechtzeitig pädagogische Prä<strong>und</strong><br />

Intervention vorzunehmen. Das Prinzip der Kompensation legt seine<br />

besondere Aufmerksamkeit auf die strukturelle <strong>und</strong> institutionelle Ebene.<br />

c) Prinzip Dekonstruktion (BX) – kritische Auseinandersetzung mit Normalitätsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> Machtverhältnissen: Als ein drittes Prinzip wird die<br />

Dekonstruktion hervorgehoben. <strong>Heterogenität</strong> wird gr<strong>und</strong>sätzlich als ge-


268 III Metaperspektive zu Diskusfeldern<br />

sellschaftlich <strong>und</strong> diskursiv konstruierte Differenzen verstanden, wobei<br />

gesellschaftliche Dominanzverhältnisse <strong>und</strong> Deutungsmacht eine wichtige<br />

Rolle spielen. Dadurch wird das Eigene als Norm verselbstständigt, während<br />

das Andere als Abweichung problematisiert wird. Demgegenüber ist eine<br />

dekonstruktive Leseart gefordert, gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen<br />

sowie dahinterliegende Machtverhältnisse kritisch zu hinterfragen. Für<br />

die pädagogische Arbeit bedeutet dies konkret zu hintragen, wie gesellschaftliche<br />

Dominanz- <strong>und</strong> Machverhältnisse sich im Bildungsbereich niederschlagen.<br />

Zudem geht es um auch eine kritische (Selbst⌅)Reflexion über<br />

vorherrschende Einstellungen, Machverhältnisse <strong>und</strong> Vorurteile im Bildungsbereiche,<br />

die bestimmte Individuen bzw. Gruppen stigmatisieren <strong>und</strong><br />

benachteiligen. Wichtig ist es auch, einzelne Schüler*innen mit ihren<br />

mehrfachen Zugehörigkeiten, Identitäten <strong>und</strong> Selbstverständnissen wahrzunehmen,<br />

statt sie auf ein Merkmal – wie z. B. Migrationshintergr<strong>und</strong>,<br />

Behinderung, ein besonderen Unterstützungsbedarf – zu reduzieren. Der<br />

Fokus lieg hierbei primär auf der Einstellungsebene.<br />

d) Prinzip Förderung (AY) – optimale Förderung aller Einzelnen jenach ihren<br />

Potenzialen <strong>und</strong> Bedürfnissen: Letztendlich ist das Förderungsprinzip zu<br />

benennen. Dabei bezieht sich <strong>Heterogenität</strong> auf unterschiedliche Bedürfnisse,<br />

Potenziale <strong>und</strong> Ressourcen. Esgehört zu den elementaren Aufgaben<br />

der pädagogischen Arbeit, diese <strong>Heterogenität</strong> zu erkennen sowie die<br />

Schüler*innen optimal zu fördern, um Potenziale für alle ausschöpfen zu<br />

können. Jede*r einzelne Schüler*in sollte zur gesellschaftlichen Teilhabe<br />

befähigt werden. Dafür ist es wichtig, dass sie sich mit entsprechender<br />

Kompetenz <strong>und</strong> Bereitschaft darauf zu vorbereiten. Das Stichwort »Fördern<br />

<strong>und</strong> Fordern« zeigt diese Ausrichtung veranschaulichend auf. Das vierte<br />

Prinzip bezieht sich hauptsächlich auf die individuelle Ebene.<br />

Die vier Prinzipien für das pädagogischeHandeln – Anerkennung, Kompensation,<br />

Förderung <strong>und</strong> Dekonstruktion – enthalten essenzielle Erkenntnisse, die aus<br />

der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den vier Diskurslinien herausgearbeitet<br />

wurden. Eswurde deutlich, dass sie von jeweiligen unterschiedlichen<br />

Verständnissen zu <strong>Heterogenität</strong> ausgehend zu bestimmten pädagogischen<br />

Konsequenzen gelangen. Es stellt sich weiterhin die Frage nach den Verhältnissen<br />

zwischen den vier Prinzipien bei der pädagogischen Arbeit, die im<br />

nachfolgenden Kapitel behandelt werden soll.


2Antinomien beim p?dagogischen Handeln im inklusiven Kontext 269<br />

2Antinomien beim p8dagogischen Handeln im<br />

inklusiven Kontext<br />

Im vorherigen Kapitel wurden vier Prinzipien für den pädagogischen Umgang<br />

mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> die Umsetzung inklusiver Bildung einschlägig dargestellt,<br />

die jeweils andere Schwerpunktsetzungen haben. Zu erklären ist weiterhin<br />

das Verhältnis zwischen diesen vier Prinzipien, die möglicherweise mancherlei<br />

Spannungen <strong>und</strong> Widersprüche enthalten können. M. E. hat der Begriff Antinomie<br />

eine gewichtige Aussagekraft, um diese Widersprüche zu klären. Im<br />

Folgenden soll zunächst der Begriff der Antinomie bestimmt werden (2.1), um<br />

dann anhand dessenantinomische Verhältnisse zwischen den vier Prinzipien zu<br />

erläutern (2.2).<br />

2.1 Begriffskl8rung: Antinomie<br />

Hier geht es darum, sich dem Begriff der Antinomie gr<strong>und</strong>legend anzunähern.<br />

Antinomie hat in der philosophischen Logik ihre Wurzel <strong>und</strong> bedeutet »Widerspruch,<br />

ernsthafte logische Schwierigkeit, die darin besteht, dass zwei Sätze<br />

einander widersprechen, obwohl für jeden von ihnen gleich gute Gründe zu<br />

sprechen scheinen«. 1479 Dies wird auf die Erziehungswissenschaft übertragen,<br />

sodass mit dem Begriff der Antinomie widersprüchliche Ansprüche bei der<br />

pädagogischen Arbeit zum Thema gemacht werden.<br />

Für eine genauere Begriffsbestimmung der Antinomie bietet Jörg Schlömerkemper<br />

wichtige Hinweise. Er nimmt gr<strong>und</strong>sätzlich eine Abgrenzung in<br />

zweierlei Hinsicht vor: Einerseits grenzt sich Antinomie von der »Komplexität«<br />

ab, wobei lediglich verschiedene Ebenen <strong>und</strong> mehre Faktoren ineinander spielen.<br />

1480 Andererseits lässt sich Antinomie nicht mit »Antagonismus« gleichsetzen,<br />

der »wiederstreitende Intentionen <strong>und</strong> Funktionen« bedeutet. 1481 VonAntinomien<br />

»im eigentlichen Sinne« ist nur dann die Rede,<br />

»wenn in einer Situation verschiedene Perspektiven virulent sind, die von einer<br />

Person bzw. einer Gruppe als wichtig <strong>und</strong> tendenziell als gleichwertig bewertet<br />

werden, die aber nicht zugleich oder nicht in gleicher Intensität realisiert werden<br />

können«. 1482<br />

1479 Meyer/Pittioni 2008, 34.<br />

1480 Schlömerkemper 2006, 282.<br />

1481 Schlömerkemper 2006, 282 f.<br />

1482 Schlömerkemper 2006, 283.


270 III Metaperspektive zu Diskusfeldern<br />

In einer Antinomie beanspruchen unterschiedliche Deutungsmuster je für sich<br />

Gültigkeit, können aber wegen des Widerspruchs nicht gleichzeitig gültig<br />

sein. 1483 Daher können Antinomien nicht aufgelöst werden, sondern man kann<br />

nur versuchen, »eine Balance zu wahren <strong>und</strong> die Gewichtung zwischen dem<br />

einen <strong>und</strong> dem anderen zu variieren«. 1484 Die bewusste Einblick in Antinomie ist<br />

notwendig,<br />

»wenn man sich nicht ›einfach‹ für das eine oder das andere entscheiden mag oder<br />

darf, wird man nach ›höheren‹ oder ›tiefer‹ liegenden Gründen suchen, die gleichwohl<br />

erklären, dass die beiden ›Gesetzte‹ in einer systematischen, in der Sache liegenden<br />

Beziehung zueinander stehen <strong>und</strong> dass dies nicht ignoriert werden sollte, wenn man<br />

einen Sachverhalt besser verstehen möchte <strong>und</strong> Entscheidungen für ein Handeln<br />

finden will«. 1485<br />

Der Begriff Antinomie ist m. E. angemessen, um Widersprüche <strong>und</strong> Ambivalenzen<br />

beim Umgang mit <strong>Heterogenität</strong> <strong>und</strong> bei der Umsetzung inklusiver Bildung<br />

sichtbar zu machen. Wie allem pädagogischen Handeln greifen Antinomien tief<br />

in den inklusiven Bildungskontext ein – allerdings in einer verschärften <strong>und</strong><br />

zugespitzten Form.<br />

1483 Schlömerkemper 2006, 288; vgl. Schlömerkemper 2021, 22.<br />

1484 Schlömerkemper 2006, 283; vgl. Hainschink/Zahra-Ecker 2018, 183.<br />

1485 Schlömerkemper 2021, 23.


2Antinomien beim p?dagogischen Handeln im inklusiven Kontext 271<br />

2.2 Antinomien imp8dagogischen Kontext von Heterogenit8t <strong>und</strong><br />

<strong>Inklusion</strong><br />

1 ⌃ Bildungsfunktion vs. gesellschaftliche Funktion der Schule<br />

⌃ Interaktion vs. Institution<br />

2 ⌃ Sicherung vs. Relativierung<br />

⌃ Anpassungsfähigkeit vs. Emanzipation<br />

3 ⌃ Identifikation vs. Unbestimmtheit<br />

4 ⌃ Individuum vs. Struktur<br />

⌃ Individualisierung vs. Standarisierung<br />

5 ⌃ Gelassenheit vs. Anforderung<br />

6 ⌃ Dekonstruktion der Normalität vs. Ausgleich am Maß des Standards<br />

Abb. 3: Antinomien zwischen den vier Prinzipien<br />

Die vier Prinzipien haben jeweils bestimmte eine Fokussierung <strong>und</strong> Absicht, die<br />

wiederum bestimmte intendierte <strong>und</strong> unterschwellige Folgen <strong>und</strong> Wirkungen<br />

mitbringt. Deshalb entstehen Antinomien zwischen je vier Prinzipien. Wie die<br />

oben dargestellte Abbildung eindeutig zeigt, gibt es insgesamt sechs Antinomien.<br />

Dies dient als ein heuristisches Modell dazu, die Antinomien zwischen den vier<br />

Prinzipien <strong>und</strong> auf den verschiedenen Ebenen zu sichten.<br />

1) Antinomie zwischen Anerkennung (AX) <strong>und</strong> Kompensation (BY):<br />

Bildungsfunktion vs. gesellschaftliche Funktion der Schule sowie<br />

Interaktion vs. Organisation<br />

Die erste Antinomie besteht im Verhältnis zwischen dem Prinzip der Anerkennung<br />

<strong>und</strong> dem der Kompensation. Diese Antinomie erfolgt auf zwei Ebenen: die


272 III Metaperspektive zu Diskusfeldern<br />

Antinomie zwischen der Bildungsfunktion <strong>und</strong> gesellschaftlichen Funktion der<br />

Schule sowie diejenige zwischen Interaktion <strong>und</strong> Institution 1486 .<br />

Beim Prinzip der Anerkennung geht es darum, die Verschiedenheit der<br />

Schüler*innen positiv wertzuschätzen <strong>und</strong> deren Entfaltungzufördern. Da jede<br />

einzelne Person eigene Besonderheiten <strong>und</strong> eine Unverwechselbarkeit hat, soll<br />

sie wertgeschätzt <strong>und</strong> anerkannt werden,sowie sie ist. Nach diesem Prinzipist es<br />

eine essenzielle pädagogische Aufgabe, Schüler*innen dazu zu ermutigen, die<br />

eigene Vielfalt zu artikulieren <strong>und</strong> frei zu gestalten. Hierbei ist eine Nähe des<br />

Anerkennungsprinzips zur reformpädagogischen Tradition erkennbar, insofern<br />

die unverwechselbare Einzigartigkeit jedes*r Schüler*in ins Gewicht fällt. Allerdings<br />

ist die Kehrseite der Anerkennungslogik offenk<strong>und</strong>ig, nicht förderliche<br />

Lebensbedingungen <strong>und</strong>Benachteiligung auszublenden <strong>und</strong> letztendlich soziale<br />

Ungleichheit zu verstärken.Das Prinzip der Kompensation versuchthingegen, in<br />

soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Benachteiligung einzugreifen <strong>und</strong> sie auszugleichen.<br />

Die Kompensation wird als eine wichtige Funktion der Schulbildung angesehen.<br />

Dies kann jedoch zur verkürzten Auffassung führen, dass die Schule in erster<br />

Linie zur Lösung gesellschaftlich bedingter Probleme dient. Diese einseitige<br />

Funktionalisierung wird der Schule nicht gerecht, wenn man sie als Bildungsort<br />

ernst nimmt. Zudem bleibt dieFrage aus, was eigentlich pädagogisch umsetzbar<br />

ist <strong>und</strong> was nicht. Die Erwartung, soziale Probleme allein durch die Schulbildung<br />

zu lösen, führt letztendlich zur Enttäuschung.<br />

Es gibt noch eine Antinomie auf der anderen Ebene. Das Prinzip der Anerkennung<br />

bezieht sich auf die Haltung <strong>und</strong>das pädagogische Ethos der Lehrkräfte<br />

<strong>und</strong> erhält somit einen starken normativen Charakter. Nichts spricht dagegen,<br />

dass alle Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen in ihrer Vielfältigkeit anerkannt <strong>und</strong> wertgeschätztwerden<br />

sollen. Dabei gibt es allerdings institutionelle <strong>und</strong>strukturelle<br />

Rahmenbedingungen, die durch Haltung <strong>und</strong> Ethosvon einzelnen pädagogischen<br />

Fachkräften wenig beeinflussbar <strong>und</strong> veränderbar sind. Demgegenüber nimmt<br />

das Prinzip der Kompensation die strukturelle Ebene stark inden Blick. Umgekehrt<br />

wird der Umstand häufig übersehen, dass bildungspolitische Maßnahme<br />

allein nicht den Bildungserfolggarantieren. Die Mikro-Ebene, auf der tatsächlich<br />

Lernen <strong>und</strong>Bildung passiert,bleibt dabei unberücksichtigt. Während das Prinzip<br />

der Anerkennung die Frageausklammert, ob es strukturellmöglichist, bleibt es<br />

bei dem Prinzip der Kompensation unberührt, wie die bildungspolitische Maßnahme<br />

pädagogisch konkret umgesetzt werden soll.<br />

1486 Diese zweischichtigen Antinomien entsprechen auch, was Werner Helsper als die<br />

Antinomie zwischen »Organisation« <strong>und</strong> »Interkation« bezeichnet hat. Helsper 1996, 534.


<strong>Sungsoo</strong> <strong>Hong</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1979, studierte Christentum<br />

in Kultur, Geschichte <strong>und</strong> Bildung (M. A.) an der<br />

Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit 2020 arbeitet er in<br />

der Arbeitsstelle für Kultur- <strong>und</strong> Religionssensible Bildung<br />

(KuRs.B) des Forschungszentrums für Religion <strong>und</strong> Bildung<br />

(FZRB). Im Oktober 2021 wurde er mit der vorliegenden Arbeit<br />

promoviert.<br />

Die Publikation erfolgt dank der Förderung durch<br />

die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD),<br />

die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM),<br />

die Calwer Verlag-Stiftung (CVS) sowie<br />

die Macheon-Segyero evangelisch-presbyterianische Gemeinde (Seoul, Korea).<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig <strong>und</strong> strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung<br />

<strong>und</strong> Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck <strong>und</strong> Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07354-2 // eISBN (PDF) 978-3-374-07355-9<br />

www.eva-leipzig.de

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