Leseprobe_Callas

Helge Klausener
EINE
CHRONIKMaria
Callas
Tag für Tag – Jahr für Jahr
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting

Maria Callas
Tag für Tag – Jahr für Jahr

Helge Klausener
Maria Callas
Tag für Tag – Jahr für Jahr
Eine Chronik
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting

Helge Klausener: Maria Callas. Tag für Tag – Jahr für Jahr. Eine Chronik.
Mit einem Geleitwort von Jürgen Kesting. Hollitzer Verlag, Wien 2023
Coverabbildung:
Maria Callas, Ankunft in Berlin Tempelhof, Berlin, 1955. Foto von Harry Croner.
(Inv.-Nr.: SM 2013-3094, © Stiftung Stadtmuseum Berlin)
Cover und Satz: Nikola Stevanović
Hergestellt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
www.hollitzer.at
ISBN 978-3-99094-065-5

Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit – Jürgen Kesting 7
Vorwort 9
1923–1937 Kindheit und Jugend in New York 13
1937–1945 Die Zeit in Athen 19
1945–1947 Rückkehr nach New York 39
1947–1948 Karrierestart in Italien 45
Das Jahr 1949 55
Das Jahr 1950 67
Das Jahr 1951 79
Das Jahr 1952 89
Das Jahr 1953 101
Das Jahr 1954 115
Das Jahr 1955 129
Das Jahr 1956 145
Das Jahr 1957 161
Das Jahr 1958 183
Das Jahr 1959 209
Das Jahr 1960 227
Das Jahr 1961 237
Das Jahr 1962 243
Das Jahr 1963 249
Das Jahr 1964 257
Das Jahr 1965 265
Das Jahr 1966 277
Das Jahr 1967 279
Das Jahr 1968 281
Das Jahr 1969 285

Das Jahr 1970 293
Das Jahr 1971 301
Das Jahr 1972 305
Das Jahr 1973 307
Das Jahr 1974 315
Das Jahr 1975 327
Das Jahr 1976 331
Das Jahr 1977 bis zu Maria Callas’ Tod 333
16.9.1977 bis heute: Erinnerungen, Würdigungen, Portraits 337
Nachwort 395
Anmerkungen 397
Quellenverzeichnis 449
Personenregister 459

xxxxx
ZUM GELEIT
Größe heißt: Richtung-geben. Kein Strom ist durch sich selber groß und
reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das
macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Größen des Geistes. Nur darauf
kommt es an, dass Einer die Richtung angibt, welcher dann so viele Zuflüsse
folgen müssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist.
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches
Denn Menschenruhm und Schmach wächst mit dem Stande.
William Shakespeare: Lucrezia
Wie kam es, dass Maria Callas zur größten Sängerin wurde, zur Primadonna assoluta,
zur Divina? Dass sie als elektrisierend und großartig und herzbewegend
und brillant und atemberaubend und kapriziös und streitsüchtig berühmt und
berüchtigt war? Ihr Rang als künstlerische Epochenfigur steht im Mittelpunkt
einiger Biographien und Monographien. Die meisten Versuche, „the woman
behind the legend“ zu finden, sind nicht über eine Kehrichtsammlung von
Fakten und Fakes hinausgekommen. Für die Bewunderer finden sich jene von
Verdi geforderten „erfundenen Wahrheiten“, die man nach dem Motto aus dem
Film „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ hinnimmt: „Print the legend.“
Kann es wirklich noch etwas Neues geben über „die größte Künstlerin der
Welt“? Dem Faszinosum der Sängerin, die Lanfranco Rasponi in seinen Gesprächen
mit „The Last Prima Donnas“ als „The One and the Only“ führt – diesem
mythisierten Wesen spürt Helge Klausener auf den 440 Seiten einer Akte nach,
die sich an eine Maxime des „Spiegel“-Gründers Rudolf Augstein hält: „Sagen,
was ist.“ Es ist das Ergebnis einer gründlichen Recherche: eine minuziös protokollierte
Sammlung von biographischen Daten, von Erinnerungen, von Dokumenten
über ihre Ausbildung, über ihre ersten Aufführungen und Konzerte,
über den Beginn ihrer Karriere, über den Aufstieg zur Primadonna, über den
Seiltanz auf dem Hochseil des Ruhms, über den Absturz in die Berühmtheit.
Diese Sammlung von Fakten wird kontrastiert oder auch konterkariert durch
Berichte oder Kritiken, durch die sich ihr künstlerischer Weg erschließt. Es finden
sich lange (und nicht geschönt zitierte) Passagen aus Kritiken nach wichtigen
Premieren und Gastspielen, aus denen nicht zuletzt die Parameter abzulesen
sind, nach denen sie beurteilt wurde. Hier wird offenbar, wie sich die Maßstäbe
der Einschätzung im Verlauf der Jahre änderten. Weiter finden sich Auszüge
aus den wichtigsten Essays und Würdigungen bedeutender Connaisseurs, aus
Erinnerungen von Dirigenten und fellow artists, endlich aus der wirklich legendären
„Callas Debate“ von Fedele D’Amico, Rodolfo Celletti, Eugenio Gara,
7

Zum Geleit
Luchino Visconti und Gianandrea Gavazzeni. Vieles davon mag wohlbekannt
sein, aber es ist überraschend, oft verblüffend, wie sich aus Kontrasten der hier
auch chronologisch geordneten Fakten die Konturen des Bildes, eines womöglich
imaginären Bildes, ändern.
Eine Feststellung, die in den Büchern über Maria Callas leitmotivisch wiederkehrt,
sagt, dass sie zu den drei Sängerinnen und Sängern des 20. Jahrhunderts
gehört, deren Kunst richtungweisend gewesen ist. Wie war das möglich bei
einer Sängerin, die, von Puccinis Turandot abgesehen, nur Musik gesungen
hat, die vor ihrer Geburt geschrieben worden war? Die beiden anderen, Enrico
Caruso und sein Jahrgangsgenosse Fjodor Schaljapin, haben in einer Zeit des
musikalischen Wandels gesungen und haben ihn befördert. Der Italiener hat, den
Belcanto vollendend, der Musik seiner Epoche, der von veristischen Komponisten
wie Leoncavallo, Mascagni und Puccini, Geltung und Wirkung verschafft;
der Russe hat, insbesondere in der Titelpartie von Modest Mussorgskys Boris
Godunow, dem Sänger-Darsteller zum Durchbruch verholfen. Beide gehörten
zu den Pionieren der Schallplatte, und beide entsprachen einem spezifischen
Gesetz des neuen Mediums: der Forderung, dem Chronos der Realzeit zu
gehorchen. Hingegen hatte der alte Belcanto das tempo rubato erlaubt, das Stehlen
der Zeit für Verzierungen und Dehnungen. Ende der vierziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts hatte sich auf den italienischen Bühnen weitgehend
die maniera verista durchgesetzt. Und da das Formelwesen des Belcanto keine
Geltung mehr hatte, gab es nur noch wenige Sängerinnen für den canto fiorito.
Mit Maria Callas betrat eine Sängerin die Bühne, die den Weg in die Zukunft
in der Vergangenheit fand – in der Rückkehr zur klassischen und romantischen
italienischen Oper, aber durch die Verbindung einer Technik, mit der sie das gesamte
Repertoire beherrschte, mit singulärer Darstellungskunst. Wir erfahren
in Klauseners Protokoll, welche Irritationen ihr Singen auslöste, aber auch von
der Faszination, die sie auf Musiker wie Leonard Bernstein (leidenschaftlich:
„die größte Künstlerin der Welt“) ausübte wie auf einen Regisseur wie Luchino
Visconti, der sie als „das disziplinierteste und professionellste Material, mit
dem ich jemals arbeiten konnte“, bezeichnete – nur scheinbar kühl, aber voll
heißer Bewunderung. All die Formen der Bewunderung finden sich im zweiten
Teil. Er dokumentiert Zeitungs- und Magazin-Artikel, Rundfunksendungen,
Erinnerungen von Kolleginnen und Kollegen, die in den mehr als vier Jahrzehnten
nach dem Tod von Maria Callas entstanden sind. Eine eindringlichere
Würdigung als diese labour of love zum 100. Geburtstag der „One and Only“
kann es nicht geben.
Jürgen Kesting
Journalist, Musikkritiker und Autor
der Monographie Maria Callas (1990)
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Vorwort
VORWORT
Ich tat es für sie allein, nicht für mich. Ich tat es, um Callas zu dienen,
denn einer Callas muss man dienen.
Luchino Visconti, 1955
Ich bin nicht vom Fach. In meinem beruflichen Leben habe ich mit Gesang,
Oper, Musik nichts zu tun gehabt. Ich bin 1950 in der Nähe von Düsseldorf
geboren, habe dort Abitur gemacht und später Sprachen studiert; 1977 habe ich
das Übersetzer-Diplom für Spanisch und Italienisch an der Universität Mainz
erworben. Anschließend war ich zunächst als freier Übersetzer tätig. Von 1978
bis 2015 war ich Mitarbeiter der Bundesanstalt – heute Bundesagentur – für
Arbeit (BA) mit dem Schwerpunkt Beratung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber,
überwiegend in Hessen. Aus den hier gewonnenen Erfahrungen resultierte
2004 die Herausgabe des Buches Berufe für Philosophen bei der Wissenschaftlichen
Buchgesellschaft in Darmstadt, das Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer
zu Erfolg versprechenden Selbstvermarktungsstrategien ermutigen sollte.
In den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit lag mein Aufgabenschwerpunkt
in der Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern der BA und in der Beratung
des Vorstands der Regionaldirektion Hessen in der Zusammenarbeit mit der
Landespolitik.
Und jetzt, als Rentner, ein Buch über Maria Callas?
Dass meine Eltern eine Vorliebe für Theater und Oper hatten, signalisiert
schon mein Vorname. Meine Mutter bewunderte den dänischen Tenor Helge
Rosvaenge, den sie in Berlin oft erlebt hatte. Für mich kam die erste direkte
Berührung mit der Welt der Oper im Alter von 13 Jahren, als die Eltern, sie
hatten ein Jahresabonnement für die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf,
mich in die Operette Gasparone von Carl Millöcker mitnahmen, sicher ein dem
Alter angemessener Einstieg. Darauf folgte sehr bald Verdis Otello, damals noch
deutsch gesungen – Hans Kaart in der Titelrolle hat mich sehr beeindruckt.
Mein acht Jahre älterer Bruder spielte mir – er sah, dass ich auf die Musik ansprach
– regelmäßig seine – wenigen – Schallplatten vor; ich erinnere mich an
eine 25cm-Langspielplatte mit acht Tenören, die jeweils eine Arie sangen. So
kam ich erstmals mit Namen wie Enrico Caruso, Beniamino Gigli, Richard
Tucker, Jussi Bjoerling und anderen in Berührung, und noch im selben Jahr
kaufte ich mir meine erste Opern-Gesamtaufnahme: Turandot von Giacomo
Puccini mit Birgit Nilsson, Jussi Bjoerling und Renata Tebaldi. Die drei Schallplatten
kosteten beim alteingesessenen und in Düsseldorf führenden Musikgeschäft
Radio Sülz in der Altstadt 63 Mark, was für mich als Schüler damals viele
Monate des Sparens bedeutete. Die zweite Opern-Schallplatte, die ich erwarb,
9

Vorwort
war dann eine Aufnahme von Verdis Aida mit Mario Del Monaco und wiederum
Renata Tebaldi. Und ich bemerkte begeistert, dass der Dirigent dieser
Einspielung, Alberto Erede, in der Düsseldorfer Oper leibhaftig zu erleben war.
Ich hatte Blut geleckt, und so stand ich dann an den Sonntagen um 8 Uhr vor
der Kasse der Düsseldorfer Oper in der Schlange, um bei Kassenöffnung um 10
Uhr zu denen zu gehören, die die billigsten Karten im dritten Rang zu 2,30
Mark ergattern konnten. Ein- bis zweimal die Woche hörte und sah ich alles,
was das Opernhaus anbot.
Im Folgejahr passierte dann etwas Entscheidendes. Ich hörte – und kaufte –
die Aufnahme der Donizetti-Oper Lucia di Lammermoor mit Maria Callas. Ihre
Stimme jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken – das hat
sich bis heute nicht geändert. Ich hörte die Aufnahme fast täglich, und bei einer
Fahrradtour mit den Eltern die Mosel entlang hatte ich einen kleinen Kassettenrecorder
dabei, auf dem ich mir die Oper am Abend nochmal anhören konnte.
Die Stimme von Maria Callas begeisterte mich so sehr, dass ich beschloss, alle
Aufnahmen von ihr anzuhören, derer ich habhaft werden konnte. Es traf sich
gut, dass bei Radio Sülz mehrere schallgeschützte Kabinen zur Verfügung standen,
in denen ich Stunden verbrachte, um mir Maria Callas anzuhören – dank
der Nachsichtigkeit der Verkäuferinnen, die den jungen Fan gewähren ließen.
Ja, eine von ihnen – sie war eine glühende Mozart-Verehrerin, ungemein sachkundig
und einfühlsam, ich verließ mich fast blind auf ihre Ratschläge – gab
mir manchmal, wenn es bei Sülz zu voll war und man „meine“ Kabine benötigte,
die Platten leihweise mit nach Hause, am nächsten Tag musste ich sie dann
schweren Herzens wieder zurückbringen. Heute wäre das sicher unvorstellbar,
aber so bindet man Kunden.
Es war die Zeit, in der der gute alte deutsche Schlager von der aufkommenden
Welle wilder Musik aus England weggefegt wurde, Beatles und Rolling Stones
atomisierten die bisherigen Grenzen der Unterhaltungsmusik. Als „Opernliebhaber“
wurde ich in meiner Klasse einerseits als ewig Gestriger ein wenig
belächelt, andererseits hatten meine Klassenkameraden wohl das Gefühl, dass
etwas dran sein musste, wenn einer mit solcher Beharrlichkeit unbeirrt an
seinem Freizeitvergnügen festhielt. Durch meine Begeisterung kamen einige
Zweifler auf den Geschmack, und ich habe den einen oder anderen für die Oper,
vielleicht auch für die Klassische Musik überhaupt, gewinnen können. Da ich
aber in der Klasse der einzige war, der regelmäßig ins Theater ging, neben der
Oper auch in das damals hochgelobte Düsseldorfer Schauspielhaus, und der die
altgriechischen und lateinischen Gedichte, die wir lernen mussten, mit ihren
wechselnden Versmaßen mit traumwandlerischer Sicherheit rezitieren konnte
– Oper ist dafür eine unschätzbare Schulung –, ergab es sich ganz von selbst,
dass ich für die im Abiturvorjahr geplante Schüleraufführung von Molières Die
Schelmenstreiche des Scapin als Regisseur auserkoren wurde. So lernte ich langsam
die Rahmenbedingungen und Usancen des Theaterbetriebs kennen.
10

Vorwort
Im Studium konnte ich diese Kenntnisse und Fähigkeiten erweitern. Ein sehr
engagierter Professor im Fachbereich Hispanistik ließ in einem Gruppenseminar
Stücke moderner spanischer Autoren übersetzen, die dann in Studentenaufführungen
auf die Bühne gebracht wurden; mir fielen dabei einige Rollen und,
ebenso wichtig, die Verantwortung für Bühnenausstattung und Technik zu. Ich
bekam ein Gefühl dafür, welchem Stress Darsteller wie alle anderen Beteiligten
an einer Bühne ausgesetzt sind. Im Studium lernte ich auch meine Frau kennen,
noch im Examensjahr 1977 haben wir geheiratet. Dass ihre Sprachkombination
Englisch-Französisch uns gemeinsam in fast ganz Europa sprachfähig machen
würde, war mir damals schon bewusst. Dass aber ihre Sprachkompetenz Jahre
später eine Rückversicherung für meine Übersetzungen der von mir gesammelten
französisch- und englischsprachigen Callas-Literatur würde, konnte ich
damals nicht ahnen. Das Jahr 1977 war im Übrigen für alle Callas-Verehrer ein
sehr trauriges. Uns erreichte die Nachricht von ihrem Tod im Urlaub in Griechenland,
wir saßen in einem urigen Lokal am Strand, ich holte neuen Wein
an der Theke, als dort Bilder über den Fernseher liefen, die mich erschütterten:
Maria Callas war gestorben, „kaputt“ sagte der Wirt.
Wir reisten viel, die vier Wochen Urlaub, die damals üblich waren, verbrachten
wir nie zuhause. Wir waren viel in Städten unterwegs, London, Paris, Rom,
Venedig, und wo immer wir waren, nutzte ich die Gelegenheit und durchstöberte
die Schallplattenläden, Buchgeschäfte, Flohmärkte und Antiquariate, um
Platten von oder Literatur über Maria Callas zu ergattern. Je mehr Material zusammenkam,
desto mehr ärgerte mich, dass in vielen Publikationen über Maria
Callas die Künstlerin eher am Rande vorkam, die Jet-Set-Figur aber umso mehr
und nicht immer bewundert im Fokus stand. Ich fand diese Schieflage unangemessen
und ungerecht, und so entwickelte ich sehr früh die anfangs noch vage
Vorstellung, eines Tages ein Buch über Maria Callas zu schreiben, in dem ihre
Kunst, ihr Einfluss auf die Oper und ihre herausragende Stellung in der Musikgeschichte
nicht durch den manchmal wahren, oft aber schamlos reißerischen
Klatsch über ihre private Lebensführung übertüncht, ja verunglimpft wird.
Mir war klar, dass ein solches Projekt kaum parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit
umzusetzen war, und dass es vor allem weiterer umfangreicher Recherchen
bedurfte. So sammelte ich zur Vorbereitung hinfort alle Informationen,
die ich bekommen konnte, durchforstete Zeitungen und Musikzeitschriften,
schnitt Sendungen über Maria Callas in Rundfunk und Fernsehen mit, tauschte
Material mit anderen Sammlern. Lange hatte ich keinen konkreten Plan, wie
ein solches Buch gestaltet und strukturiert, geschweige denn am Markt platziert
werden könnte. Schließlich, bei der Sichtung der in meinem Archiv vorhandenen
Callas-Portraits, tauchte eine Sendereihe von Bernd Loebe auf, damals
Musikredakteur im Hessischen Rundfunk, heute und seit über 20 Jahren erfolgreicher
und vielfach ausgezeichneter Chef des Frankfurter Opernhauses. Er
brachte 1987/88 eine 15-teilige Dokumentation über Maria Callas, beginnend
11

Vorwort
mit ihren Anfängen und dann pro Sendung ein Jahr ihrer Karriere beschreibend.
Das schien mir die Lösung, eine vergleichbare Struktur wollte ich meinem
Buch auch geben. Den Grundstock sollte eine Chronik ihrer Lebensdaten mit
all ihren Aufführungen und Schallplatteneinspielungen in bislang nicht vorliegender
Ausführlichkeit und Präzision liefern; ihre Kolleginnen und Kollegen,
ihre Kritiker, ihre Freunde und Gegner sollten zu Wort kommen. So, stellte
ich mir vor, würde aus den Zeugnissen ihrer Zeit ein realitätsnahes und für
heutige Leser authentisches Bild der Künstlerin Maria Callas entstehen. Dabei
wird angesichts der Vielfalt der angeführten Quellen schnell deutlich werden,
dass es das Callas-Bild nicht geben kann: Dazu sind die Meinungen über sie zu
unterschiedlich, die Kritiken zu gegensätzlich, dazu ist ihr eigenes Selbstbild
zu widersprüchlich. So kann dieses Buch Orientierungshilfe sein für den Leser,
der tiefer einsteigen möchte, einen Überblick über die internationale Rezeption
von Maria Callas geben, und es kann, unterfüttert mit gesicherten Daten und
Fakten, auf meine persönliche Wertung als „Autor“ verzichten.
Dieses Buch liegt nun vor ihnen.
Helge Klausener, im Februar 2023
12

1923–1937 Kindheit und Jugend in New York
1923–1937 KINDHEIT UND JUGEND
IN NEW YORK
3.12.1923
New York, Flower Hospital
Maria Anna Sofia Cecilia Kalogeropoulou, griechisch Μαρία Καλογεροπούλου,
kommt im Flower Hospital zur Welt.
• Als Geburtsdatum steht in ihrem Pass der 2.12.1923, ihre Mutter beharrte
auf dem 4.12.1923. 1
• Der Callas-Biograf Friedrich Herzfeld weist darauf hin, dass nur ein Geburtsdatum
3.12.1923 ihrem Horoskop entspräche: „Nur wenn sie nämlich
am 3. Dezember geboren ist, ergibt sich eine Mars-Saturn-Konjunktion im
zwölften Haus und Ende Waage, die für unberechenbare und selbstherrliche
Laune sorgt. Weil nun ein von Pluto und Uranus geschlossenes Dreieck
den aufsteigenden Skorpion umschließt, ist sie die Primadonna assoluta, die
erste Sängerin der Welt, geworden.“ 2
• Der Vater, Georgios Kalogeropoulos, geboren 1886 in Meligala auf dem
Peloponnes, hatte an der Athener Universität Pharmazie studiert und dort
seine Ehefrau Evangelia Dimitriadis, geboren 1898, kennengelernt. Die
beiden heirateten 1916; 1917 wurde die erste Tochter Yacinthy (Jackie) geboren,
1920 der Sohn Vasily, der aber bereits 1923 an Typhus starb. Nach
Vasilys Tod wanderte die Familie in die Vereinigten Staaten aus, wo Georgios
mit seinen Ersparnissen ein kleines Haus auf Long Island kaufte; er
fand dort eine Anstellung in einer Apotheke. Wenig später wurde Maria
geboren. 1929 ließ Georgios Kalogeropoulos seinen Namen aus praktischen
Erwägungen in Callas ändern.
• 1929 konnte George Callas einen eigenen Drugstore eröffnen. In der Wirtschaftskrise
war der Laden nach einem Jahr pleite. 3
26.2.1926
New York, Manhattan
• Die Taufe findet – etwas verspätet – in der griechisch-orthodoxen Kathedrale
zur Heiligen Dreifaltigkeit durch den Priester Methodios Kourkoulis
statt. Der in das offizielle Geburtsregister der Stadt New York eingetragene
Geburtsname war Sophie Cecelia Kalos. Erst bei der Taufe setzte die Mutter
Evangelia vor den Geburtsnamen noch Maria Anna, die Basis für die später
verwendeten Vornamen Mariann, Mary und Maria. 4
13

1923–1937 Kindheit und Jugend in New York
Juli 1928
New York
• Maria wird auf der Straße von einem Auto angefahren und einige Meter
mitgeschleift. Die Vierjährige hatte sich von der Mutter losgerissen, weil
sie auf der anderen Straßenseite ihre Schwester gesehen hatte. Im Saint
Elizabeth’s Hospital wurde sie gesund gepflegt – gesundheitliche Folgen
hatte der Unfall offensichtlich nicht. 5
Sommer 1929
Florida
• Maria und Yacinthy verbringen den Sommer bei einer Cousine ihrer Mutter,
Hariklia Kritikou, in Tarpon Springs. Es war die erste große Reise von
Maria. 6
1931
New York
• Maria beginnt, Klavierunterricht zu nehmen. Ihre Lehrerin ist eine Italienerin,
Sandrina. 7
• Später wird Maria Callas in der Lage sein, ihre Rollen am Klavier ohne
Hilfe eines Korrepetitors einzustudieren. 8
1934
New York
• Maria nimmt an einer Radiosendung teil, rezitiert ein Gedicht und singt „La
Paloma“. Als Preis erhält sie vom Moderator Jack Benny eine Boulowa-Uhr. 9
7.4.1935
New York
Radiosendung Major Bowes Amateur Hour Broadcast
Giacomo Puccini, Madama Butterfly: „Un bel dì vedremo“ (gekürzt)
Nina Foresti alias Maria Callas
Audio
• Ob es sich bei „Nina Foresti“ tatsächlich um Maria Callas handelt, die immer
abgestritten hat, jemals unter anderem Namen aufgetreten zu sein, ist
umstritten. Ihre Mutter soll den Auftritt ohne Wissen des Vaters arrangiert
haben, da der angeblich nichts von ihrer angestrebten Gesangskarriere hielt.
Ihre Biografin Nadia Stancioff behauptete später, Callas habe ihr gegenüber
zugegeben, dass sie in der Sendung aufgetreten sei; John Ardoin wies darauf
hin, dass zwar die Sprechstimme in der kurzen Gesprächssequenz vor der
14

1923–1937 Kindheit und Jugend in New York
Arie der von Callas ähnelte, aus dem sehr dünnen gesanglichen Beitrag aber
kaum geschlossen werden könne, dass es sich um Callas gehandelt habe.
• Stancioff berichtete auch von einem Gespräch, dass sie mit Maria Callas’
Schwester geführt habe; Jackie habe heftig widersprochen, dass Marias Vater
gegen ihre Gesangsübungen und gegen Auftritte in der Öffentlichkeit gewesen
sei. Stancioff datiert die Major-Bowes-Sendung auf den 28.3.1935. 10
• Die Aufnahme tauchte zunächst in den 60er Jahren auf zwei Piratenpressungen
auf; man vermutete, dass es sich um Callas handeln könnte. EMI
übernahm dann 1997 die Aufnahme in das offizielle Programm (Maria Callas
Live in Concert) und trug so dazu bei, die Vermutung zu zementieren.
Gewissheit gibt es darüber allerdings bis heute nicht.
• Auch Norman Ross zweifelte an, dass es sich um eine Aufnahme von Maria
Callas handelt: „Im November 1966 wurde eine Schallplatte mit einer Aufnahme
aus der Major Bowes Stunde der Amateure vom 7. April 1935 veröffentlicht.
Darauf ist ein kurzes Interview von Bowes mit einer Sopranistin, die
sich Nina Foresti nennt. Sie singt dann eine gekürzte Fassung von ‚Un bel
dì‘. Es wird behauptet, dass dies Callas sei. Aber wir stimmen Ardoin zu,
der in seinem Buch The Callas Legacy auf Seite 2 darlegt, dass Forestis ‚Singstimme
schwach ist und keine Ähnlichkeit mit irgendeiner Aufnahme von
Callas hat‘. Eine Stimme ist so einmalig wie ein Fingerabdruck, sie mag sich
entwickeln, aber sie verändert ihren Grundcharakter genauso wenig wie ein
Leopard seine Punkte auf dem Fell.“ 11
• Robert Evans, einer der für das Londoner Magazin Opera schreibenden Kritiker,
behauptete, es sei nicht Callas. Er habe Maria Callas 1962 in London interviewt,
und sie habe diese Aufnahme nicht erwähnt. Er vermutet, dass diese
Aufnahme eher von einer 23-jährigen als einer 12-jährigen Sängerin stammt. 12
1935
New York
• Angeblich fand sich nach dem Tod von Maria Callas in ihrer Wohnung ein
weiteres Tondokument aus diesem Jahr, „O mio babbino caro“ aus Puccinis
Oper Gianni Schicchi. Vasso Devetzi und Bruno Tosi hielten dieses Dokument
für echt, Jackie Callas bestritt dies. 13
28.1.1937
New York
• Maria Callas schließt die Grundschule mit guten Noten ab. Bei der Abschlussfeier
trägt sie Stücke aus Gilbert & Sullivans HMS Pinafore vor und
erhält großen Applaus. 14
• Im Januar und Februar findet sie für einige Wochen eine Anstellung in einer
Musikalienhandlung. Der Besitzer des Ladens mokiert sich über ihre Ambi-
15

1923–1937 Kindheit und Jugend in New York
tionen, eine große Sängerin zu werden, was sie aber nicht stört. Sie genießt
es sehr, zum ersten Mal in ihrem Leben Opernlibretti lesen zu können, zu
denen sie jetzt Zugang hat. 15
15.2.1937
New York
• Das Staatsministerium stellt ihr einen amerikanischen Pass aus, er lautet
auf Sophia Cecelia Kalos, entsprechend ihrer Geburtsurkunde, wohnhaft
18. Straße, Nr. 520, Schülerin, Größe 1,70 m, braune Augen und Haare. 16
20.2.1937
New York
• Evangelia Callas verlässt mit ihrer Tochter Maria auf der Saturnia den Hafen
von New York. Maria kann während der Überfahrt die Gäste der ersten
Klasse gelegentlich mit Gesangsauftritten unterhalten. 17
16