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Leseprobe_Callas

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Zum Geleit<br />

Luchino Visconti und Gianandrea Gavazzeni. Vieles davon mag wohlbekannt<br />

sein, aber es ist überraschend, oft verblüffend, wie sich aus Kontrasten der hier<br />

auch chronologisch geordneten Fakten die Konturen des Bildes, eines womöglich<br />

imaginären Bildes, ändern.<br />

Eine Feststellung, die in den Büchern über Maria <strong>Callas</strong> leitmotivisch wiederkehrt,<br />

sagt, dass sie zu den drei Sängerinnen und Sängern des 20. Jahrhunderts<br />

gehört, deren Kunst richtungweisend gewesen ist. Wie war das möglich bei<br />

einer Sängerin, die, von Puccinis Turandot abgesehen, nur Musik gesungen<br />

hat, die vor ihrer Geburt geschrieben worden war? Die beiden anderen, Enrico<br />

Caruso und sein Jahrgangsgenosse Fjodor Schaljapin, haben in einer Zeit des<br />

musikalischen Wandels gesungen und haben ihn befördert. Der Italiener hat, den<br />

Belcanto vollendend, der Musik seiner Epoche, der von veristischen Komponisten<br />

wie Leoncavallo, Mascagni und Puccini, Geltung und Wirkung verschafft;<br />

der Russe hat, insbesondere in der Titelpartie von Modest Mussorgskys Boris<br />

Godunow, dem Sänger-Darsteller zum Durchbruch verholfen. Beide gehörten<br />

zu den Pionieren der Schallplatte, und beide entsprachen einem spezifischen<br />

Gesetz des neuen Mediums: der Forderung, dem Chronos der Realzeit zu<br />

gehorchen. Hingegen hatte der alte Belcanto das tempo rubato erlaubt, das Stehlen<br />

der Zeit für Verzierungen und Dehnungen. Ende der vierziger Jahre des<br />

vorigen Jahrhunderts hatte sich auf den italienischen Bühnen weitgehend<br />

die maniera verista durchgesetzt. Und da das Formelwesen des Belcanto keine<br />

Geltung mehr hatte, gab es nur noch wenige Sängerinnen für den canto fiorito.<br />

Mit Maria <strong>Callas</strong> betrat eine Sängerin die Bühne, die den Weg in die Zukunft<br />

in der Vergangenheit fand – in der Rückkehr zur klassischen und romantischen<br />

italienischen Oper, aber durch die Verbindung einer Technik, mit der sie das gesamte<br />

Repertoire beherrschte, mit singulärer Darstellungskunst. Wir erfahren<br />

in Klauseners Protokoll, welche Irritationen ihr Singen auslöste, aber auch von<br />

der Faszination, die sie auf Musiker wie Leonard Bernstein (leidenschaftlich:<br />

„die größte Künstlerin der Welt“) ausübte wie auf einen Regisseur wie Luchino<br />

Visconti, der sie als „das disziplinierteste und professionellste Material, mit<br />

dem ich jemals arbeiten konnte“, bezeichnete – nur scheinbar kühl, aber voll<br />

heißer Bewunderung. All die Formen der Bewunderung finden sich im zweiten<br />

Teil. Er dokumentiert Zeitungs- und Magazin-Artikel, Rundfunksendungen,<br />

Erinnerungen von Kolleginnen und Kollegen, die in den mehr als vier Jahrzehnten<br />

nach dem Tod von Maria <strong>Callas</strong> entstanden sind. Eine eindringlichere<br />

Würdigung als diese labour of love zum 100. Geburtstag der „One and Only“<br />

kann es nicht geben.<br />

Jürgen Kesting<br />

Journalist, Musikkritiker und Autor<br />

der Monographie Maria <strong>Callas</strong> (1990)<br />

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