156. Ausgabe Mai 2023
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Stadtleben<br />
je unangenehmer und bedrohlicher wir<br />
die Gegenwart empfinden. Studienergebnisse<br />
zeigen, dass wir unsere eigene<br />
Kindheit als positiver und glücklicher<br />
wahrnehmen, je bedrückender<br />
wir die aktuelle Realität wahrnehmen.<br />
Früher war alles besser?<br />
Retromanie, Nostalgie oder einfach Gegenwartsflucht<br />
könnte man das nennen.<br />
Denn was wir im Rückblick als positiv<br />
und bereichernd wahrnehmen,<br />
muss mit der tatsächlichen Vergangenheit<br />
gar nichts zu tun haben. Doch<br />
die Retromanie hat eine ganze Reihe<br />
von Vorteilen und hilft uns sogar dabei,<br />
die eigene Gegenwart besser auszuhalten…<br />
Wie Erinnerungen konkret entstehen,<br />
wird noch erforscht. Unstrittig ist dabei<br />
aber, dass wir unsere Erinnerungen<br />
selbst kreieren. Ebenso unzweifelhaft<br />
ist, dass wir dabei die wichtigen Punkte<br />
unserer Biographie abspeichern.<br />
Wie wir uns später an bestimmte Ereignisse<br />
erinnern, hängt mit unserer Stimmung<br />
zusammen, in der wir sie abspeichern.<br />
Aber auch das ist nicht in Fels<br />
gemeißelt. Wir können die Erinnerung<br />
an unser erstes Praktikum mit einem<br />
guten Gefühl in unserem Oberstübchen<br />
ablegen und uns später trotzdem über<br />
die fehlende Bezahlung oder das unbrauchbare<br />
Praktikumszeugnis ärgern.<br />
Je öfter wir mit einem schlechten Gefühl<br />
und Ärger daran zurückdenken, umso<br />
negativer färben wir die Erinnerung ein.<br />
Anders gesagt: Was heute noch eine<br />
schöne und positive Erinnerung ist,<br />
kann in einigen Jahren schon ganz anders<br />
aussehen. Es gibt also nicht die<br />
eine Erinnerung an die Vergangenheit,<br />
sondern jedes Mal, wenn wir an etwas<br />
Bestimmtes denken, verändern wir es<br />
ein Stückchen in eine andere Richtung.<br />
Einziger Trost: Das scheint sich mit<br />
den Jahren schrittweise zu ändern.<br />
Wenn wir älter werden, fallen uns zunehmend<br />
Momente aus der Vergangenheit<br />
ein, die mit angenehmen Gefühlen<br />
verknüpft sind. Das liegt vermutlich daran,<br />
dass das Gehirn negative Erfahrungen<br />
mit der Zeit anders verarbeitet.<br />
Man nimmt das Schlechte, das einem<br />
widerfährt – und auch das Schlechte,<br />
an das man sich erinnert –, nicht mehr<br />
so persönlich.<br />
Das entspricht auch unserer Alltagserfahrung:<br />
In der Kindheit können uns<br />
Schicksalsschläge im ersten Moment<br />
leichter umwerfen als mit 80 Jahren.<br />
Das Alter mag den Menschen morsche<br />
Gelenke bescheren – aber vermutlich<br />
auch ein dickeres Fell.<br />
14 05/<strong>2023</strong>