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Isolde Karle: Praktische Theologie (Leseprobe)

Das Lehrbuch bietet eine Gesamtdarstellung des Faches Praktische Theologie. Historische Perspektiven kommen dabei ebenso zur Geltung wie die Vielfalt aktueller Diskurse. Das Lehrwerk ist interdisziplinär angelegt. Fragen zu Religion, Identität, Lebensführung, Biographie, Kirche, Kommunikation und Gesellschaft werden sozialwissenschaftlich analysiert, bevor sie in einem theologischen Horizont gedeutet werden. Das Lehrwerk besteht aus zehn Kapiteln. Es beginnt mit einer Reflexion zum Selbstverständnis des Faches (1) und geht sodann der Funktion von Religion (2), Kirche (3) und Pfarrberuf (4) in der Moderne nach. Den Hauptteil bilden die großen Subdisziplinen der Praktischen Theologie: Homiletik (5), Liturgik (6), Poimenik (7) sowie die Theorie der Kasualien (8). Abgeschlossen wird das Lehrwerk durch Ausführungen zur Diakonie (9) und zur religiösen Medienkommunikation (10).

Das Lehrbuch bietet eine Gesamtdarstellung des Faches Praktische Theologie. Historische Perspektiven kommen dabei ebenso zur Geltung wie die Vielfalt aktueller Diskurse. Das Lehrwerk ist interdisziplinär angelegt. Fragen zu Religion, Identität, Lebensführung, Biographie, Kirche, Kommunikation und Gesellschaft werden sozialwissenschaftlich analysiert, bevor sie in einem theologischen Horizont gedeutet werden. Das Lehrwerk besteht aus zehn Kapiteln. Es beginnt mit einer Reflexion zum Selbstverständnis des Faches (1) und geht sodann der Funktion von Religion (2), Kirche (3) und Pfarrberuf (4) in der Moderne nach. Den Hauptteil bilden die großen Subdisziplinen der Praktischen Theologie: Homiletik (5), Liturgik (6), Poimenik (7) sowie die Theorie der Kasualien (8). Abgeschlossen wird das Lehrwerk durch Ausführungen zur Diakonie (9) und zur religiösen Medienkommunikation (10).

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Lehrwerk<br />

Evangelische<br />

<strong>Theologie</strong><br />

7<br />

<strong>Isolde</strong> <strong>Karle</strong><br />

<strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>


Zum Lehrwerk<br />

Das Lehrwerk Evangelische <strong>Theologie</strong> (LETh) bietet einen Überblick<br />

über alle Fächer der Evangelischen <strong>Theologie</strong> nebst einer Einführung<br />

für Theologinnen und Theologen in die Religionswissenschaft. Auf dem<br />

aktuellen Stand der Forschung vermittelt es das Grundwissen für Studium<br />

und Examen. Zielgruppe sind Studierende der Evangelischen<br />

<strong>Theologie</strong> im Hauptfach sowie im Diplom- oder Magisterstudium<br />

Evangelische <strong>Theologie</strong>. In besonderer Weise dürfen sich Studierende<br />

mit dem Berufsziel Pfarramt und Lehramt – hier vor allem, aber nicht<br />

ausschließlich am Gymnasium – angesprochen fühlen. Das Lehrwerk<br />

lässt sich aber auch unabhängig von modularisierten Studiengängen<br />

benutzen. Das Bemühen um einen klaren Aufbau der Bände und eine<br />

griffige Sprache, bei der Fachterminologie und gutes Deutsch zu sam -<br />

menfinden, zielt auf eine Leserschaft, die Freude an theo logischer Bildung<br />

hat.<br />

Die Bände des Lehrwerks wollen keine historisierende Darstellung<br />

der einzelnen theologischen Fächer und Teildisziplinen geben, sondern<br />

gegenwartsbezogenes theologisches Grundwissen vermitteln. Dabei<br />

bemühen sich die Autoren, den Gesichtspunkt der fachwissenschaftlichen<br />

Relevanz von <strong>Theologie</strong> mit der praxisorientierten Ausrichtung<br />

auf das künftige Berufsfeld der Studierenden zu verbinden. Die Leitfrage<br />

bei der Stoffauswahl lautet: Welches Grundwissen ist für den Erwerb der<br />

im Pfarramt oder im Lehramt geforderten theologischen Kompetenz<br />

entscheidend?<br />

Für jeden Band ist selbstverständlich sein Autor oder seine Autorin<br />

verantwortlich. Zugleich aber wurde jeder Einzelband vor dem Erscheinen<br />

im Herausgeberkreis im Hinblick auf inhaltliche Grundentscheidungen<br />

und Aufbau gründlich diskutiert. Auf diese Weise werden Querverbindungen<br />

hergestellt und Überschneidungen vermieden, um dem<br />

Ge samtwerk bei aller theologischen Pluralität die nötige Geschlossenheit<br />

zu verleihen. Den Leserinnen und Lesern sollen auf diese Weise die<br />

innere Einheit der <strong>Theologie</strong> und die bestehenden Zusam menhänge


VI<br />

Zum Lehrwerk<br />

zwischen ihren Einzeldisziplinen, ihren Fragestellungen und Methoden<br />

deutlich werden (enzyklopädischer Aspekt).<br />

Der Umfang der Bände und ihr Aufbau richten sich nach den Erfordernissen<br />

des für Studierende im Rahmen von Prüfungsvorbereitungen<br />

rezipierbaren Stoffes. Die Hardcovereinbände sind strapazierfähig, die<br />

Ladenpreise bezahlbar.<br />

Bis 2022 erscheint das Lehrwerk Evangelische <strong>Theologie</strong> in zehn<br />

Bänden (zwei Bände pro Jahr):<br />

2018: Band 5: Dogmatik (Ulrich H. J. Körtner)<br />

Band 9: Ökumenische Kirchenkunde (Ulrich H. J. Körtner)<br />

2019: Band 6: Ethik (Rochus Leonhardt)<br />

Band 8: Religionspädagogik (Michael Domsgen)<br />

2020: Band 7: <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> (<strong>Isolde</strong> <strong>Karle</strong>)<br />

Band 10: Religionswissenschaft und Interkulturelle <strong>Theologie</strong><br />

(Henning Wrogemann)<br />

2021: Band 1: Altes Testament (Beate Ego)<br />

Band 4: Kirchengeschichte II: Vom Spätmittelalter bis zur<br />

Gegenwart (Wolf-Friedrich Schäufele)<br />

2022: Band 2: Neues Testament (Christof Landmesser)<br />

Band 3: Kirchengeschichte I: Von der Alten Kirche bis zum<br />

Hochmittelalter (Katharina Greschat)<br />

Allen Bänden sind ein Literaturverzeichnis sowie Register – je nach Notwendigkeit<br />

zu Personen, Sachen und Bibelstellen – beigegeben. Die verwendeten<br />

Literaturabkürzungen richten sich nach der jeweils ak tuell s -<br />

ten Ausgabe des Internationalen Abkürzungsverzeichnisses für <strong>Theologie</strong><br />

und Grenzgebiete (IATG), die Abkürzungen der Bibelstellen nach den<br />

Loccumer Richtlinien.<br />

Leipzig, im September 2017<br />

Verlag und Autorenschaft


Inhalt<br />

Vorwort zum Band .....................................................................................<br />

XV<br />

1. Was ist <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>?<br />

1.1 Reformatorische Impulse ................................................................. 1<br />

1.2 Schleiermachers Grundlegung der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> .... 5<br />

1.3 <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> der Gegenwart .......................................... 14<br />

1.3.1 Ausdifferenzierung, Spezialisierung, Empirieorientierung<br />

und die Frage nach einem Leitbegriff für<br />

die <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> ..................................................... 14<br />

1.3.2 Zur Theologizität und Interdisziplinarität<br />

<strong>Praktische</strong>r <strong>Theologie</strong> .......................................................... 21<br />

1.3.3 Der Professionsbezug der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> ......... 27<br />

1.4 Weiterführende Literatur .............................................................. 31<br />

2. Religion in der Moderne<br />

2.1 Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und<br />

die Religion ....................................................................................... 32<br />

2.2 Paradoxien moderner Individualität ........................................... 37<br />

2.3 Fundamentalistische Formen der Religion ............................... 43<br />

2.4 Religion als Kommunikation........................................................ 46<br />

2.5 Religion als Sinn und Geschmack fürs Unendliche ................ 53<br />

2.6 Glaube und Kontingenzsensibilität ............................................ 57<br />

2.7 Funktion der Religion .................................................................... 61<br />

2.8 Säkularisierung oder Religionsboom? ........................................ 66<br />

2.9 Religiöse Homogenisierung, ökumenische Identität und<br />

interreligiöser Dialog ..................................................................... 72<br />

2.10 Spiritualität ....................................................................................... 79<br />

2.11 Weiterführende Literatur .............................................................. 87<br />

3. Kirche und Moderne<br />

3.1 Biblisches Erbe und reformatorische Einsichten ..................... 88<br />

3.1.1 Die neue Sozialstruktur der »Ekklesia« ............................ 88


VIII<br />

Inhalt<br />

3.1.2 Kirchliche Sozialformen und reformatorisches<br />

Kirchenverständnis .............................................................. 90<br />

3.2 Kirche als Organisation .................................................................. 95<br />

3.2.1 Die Kirche als Melange von Institution und<br />

Organisation ......................................................................... 95<br />

3.2.2 Kirchenleitung und Kirchenrecht ................................... 103<br />

3.3 Kirchenkrise und Kirchenreform ................................................. 108<br />

3.3.1 Organisationsreformen ...................................................... 110<br />

3.3.2 Management und Non-Profit-Organisationen ............ 114<br />

3.4 Kirche als Gemeinde ....................................................................... 117<br />

3.4.1 Communio Sanctorum ....................................................... 117<br />

3.4.2 Face-to-Face-Kommunikation .......................................... 122<br />

3.5 Kirche als paradoxer Impulsgeber religiöser<br />

Kommunikation .............................................................................. 126<br />

3.6 Weiterführende Literatur .............................................................. 131<br />

4. Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

4.1 Historische Perspektiven ............................................................... 132<br />

4.1.1 Biblische Wurzeln ................................................................ 132<br />

4.1.2 Von der Alten Kirche bis zur Reformation ..................... 133<br />

4.1.3 Das Geschlechterarrangement im Pfarramt und<br />

die Ordination von Frauen ................................................ 138<br />

4.2 Der Pfarrberuf als Profession ........................................................ 141<br />

4.3 Tendenzen der Deprofessionalisierung ..................................... 148<br />

4.4 Individualisierung und Professionsethos .................................. 152<br />

4.5 Die Pluralität der Ämter ................................................................ 156<br />

4.5.1 Funktionspfarrämter .......................................................... 156<br />

4.5.2 Die Vielfalt der Ämter ......................................................... 158<br />

4.5.3 Das Pfarramt und die Kirchenleitung ............................. 161<br />

4.6 Weiterführende Literatur .............................................................. 163<br />

5. Homiletik<br />

5.1 Historische Perspektiven mit Impulsen für die<br />

aktuelle Diskussion ........................................................................ 164<br />

5.1.1 Die rhetorische Kunst der Predigt:<br />

Aurelius Augustin (334–430) ............................................... 166<br />

5.1.2 Predigt als Inkarnation Christi:<br />

Martin Luther (1483–1546) ................................................. 171<br />

5.1.3 Die Predigt als religiöse Zirkulation:<br />

Friedrich Schleiermacher (1768–1834) .............................. 177


Inhalt<br />

IX<br />

5.1.4 Predigt für den modernen Menschen ............................. 186<br />

a) Otto Baumgartens (1858–1934) Predigtkritik ............ 188<br />

b) Friedrich Niebergalls (1866–1932) Modernisierung<br />

der Predigt ........................................................................ 190<br />

5.1.5 Die Predigt als Wort Gottes: Karl Barth<br />

(1886-1968) .............................................................................. 194<br />

5.1.6 Weiterführende Literatur ................................................... 201<br />

5.2 Homiletische Diskurse der Gegenwart ...................................... 202<br />

5.2.1 Die Predigt als Gespräch mit dem Hörer über sein<br />

Leben: Ernst Lange (1927–1974) ......................................... 202<br />

5.2.2 Rezeptionsästhetische Homiletik ..................................... 208<br />

a) Gerhard Marcel Martin: Die Predigt als<br />

offenes Kunstwerk .......................................................... 208<br />

b) Wilfried Engemanns Plädoyer für einen<br />

kreativen Zeichengebrauch .......................................... 211<br />

c) Weiterführende Überlegungen .................................... 217<br />

5.2.3 Nordamerikanische Homiletik und die Wiederentdeckung<br />

der Rhetorik .......................................................... 220<br />

a) Die homiletische Rhetorik David Buttricks .............. 220<br />

b) Die Rezeption der New Homiletic bei Martin Nicol<br />

und Alexander Deeg ....................................................... 225<br />

c) Impulse aus der nordamerikanischen Homiletik .... 229<br />

5.2.4 Die Predigerin und der Prediger ....................................... 231<br />

a) Zur Person des Predigers und der Predigerin ........... 231<br />

b) Das Ich auf der Kanzel .................................................... 232<br />

c) Glaubwürdigkeit ............................................................. 233<br />

d) Gendersensibilität ........................................................... 234<br />

5.2.5 Aktuelle Herausforderungen der Predigttheologie ...... 236<br />

a) Sünde und Rechtfertigung ............................................ 237<br />

b) Politische Predigt ............................................................ 242<br />

5.2.6 Weiterführende Literatur ................................................... 247<br />

6. Liturgik<br />

6.1 Historische Perspektiven mit Impulsen für die aktuelle<br />

Diskussion ........................................................................................ 250<br />

6.1.1 Biblische Gottesdienstvielfalt ........................................... 250<br />

a) Jüdische Wurzeln und die Praxis Jesu ........................ 250<br />

b) Urchristliche Gottesdienste .......................................... 253<br />

6.1.2 Die Gottesdienstentwicklung in der Alten Kirche ....... 257<br />

6.1.3 Der orthodoxe Gottesdienst ............................................... 260


X<br />

Inhalt<br />

6.1.4 Die römisch-katholische Messe ........................................ 262<br />

a) Die Entwicklung bis zur Reformation ........................ 262<br />

b) Die zentrale Bedeutung der Eucharistie .................... 265<br />

c) Ökumenische Herausforderungen ............................. 268<br />

6.1.5 Martin Luthers Gottesdienstreform ................................ 271<br />

a) Martin Luthers Gottesdienstverständnis .................. 271<br />

b) Die zentrale Funktion von Musik und Gesang ........ 274<br />

c) Der Gottesdienst als öffentliche Reizung<br />

zum Glauben ................................................................... 277<br />

6.1.6 Zur Feier und Deutung des Abendmahls ....................... 280<br />

6.1.7 Der reformierte Gottesdienst ............................................ 288<br />

a) Die historische Entwicklung in Zürich und Genf ... 288<br />

b) Der Predigtgottesdienst in der Gegenwart ............... 292<br />

6.1.8 Der Gottesdienst als Darstellung christlichen Lebens<br />

(Friedrich Schleiermacher) ................................................. 296<br />

a) Der Gottesdienst als Regenerationszentrum<br />

christlichen Lebens ......................................................... 296<br />

b) Der Gottesdienst als Gesamtkunstwerk .................... 298<br />

c) Der Agendenstreit ........................................................... 300<br />

d) Der Gottesdienst als Fest und Feier ............................ 301<br />

6.1.9 Weiterführende Literatur ................................................... 303<br />

6.2 Aktuelle Diskurse und Fragestellungen .................................... 304<br />

6.2.1 Der Gottesdienst als kulturelles Gedächtnis ................... 304<br />

6.2.2 Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft ................... 308<br />

a) Empirische Erkenntnisse ............................................... 308<br />

b) Der Gottesdienst aus milieutheoretischer Sicht ...... 311<br />

6.2.3 Die rituelle Dimension des Gottesdienstes .................... 317<br />

6.2.4 Das gottesdienstliche Gebet............................................... 322<br />

6.2.5 Die gottesdienstliche Musik .............................................. 326<br />

6.2.6 Die Zeit des Gottesdienstes ................................................ 328<br />

a) Der Sonntag ...................................................................... 328<br />

b) Das Kirchenjahr und jahreszyklisch besonders<br />

relevante Gottesdienste .................................................. 330<br />

6.2.7 Der Raum des Gottesdienstes ............................................ 334<br />

6.2.8 Zielgruppenorientierte Gottesdienste ............................. 336<br />

a) Kindergottesdienste ........................................................ 337<br />

b) Jugendgottesdienste ....................................................... 339<br />

c) Salbungsgottesdienste ................................................... 341<br />

6.2.9 Weiterführende Literatur ................................................... 343


Inhalt<br />

XI<br />

7. Poimenik<br />

7.1 Historische Perspektiven mit Impulsen für die<br />

aktuelle Diskussion ........................................................................ 348<br />

7.1.1 Seelsorge als Trost: Martin Luther ................................... 348<br />

a) Seelsorgerliche <strong>Theologie</strong> .............................................. 348<br />

b) Kennzeichen und Methoden von Luthers Seelsorge<br />

im Licht moderner Denk- und Therapiemodelle .... 350<br />

c) Impulse für die aktuelle poimenische Diskussion:<br />

Die Wiederdentdeckung des Trostes .......................... 355<br />

7.1.2 Seelsorge als Zuwendung zum einzelnen Menschen:<br />

Philipp Jakob Spener und der Pietismus ........................ 357<br />

7.1.3 Seelsorge im 19. Jahrhundert:<br />

Herausforderungen der Moderne .................................... 360<br />

a) Seelsorge als Förderung von Freiheit:<br />

Friedrich Schleiermacher ............................................... 360<br />

b) Die diagnostische und therapeutische Befähigung<br />

des Seelsorgers: Carl Immanuel Nitzsch .................... 366<br />

c) Poimenische Leitfragen der Moderne ......................... 369<br />

7.1.4 Seelsorge im Horizont der Hoffnung:<br />

Eduard Thurneysen ............................................................. 372<br />

7.1.5 Klinische Seelsorgeausbildung und beratende<br />

Seesorge: Dietrich Stollberg ............................................... 378<br />

a) Impulse der Seelsorgebewegung ................................. 378<br />

b) Klinische Seelsorgeausbildung ..................................... 381<br />

c) Die humanistische Psychologie von<br />

Carl Rogers ....................................................................... 383<br />

d) Würdigung und Kritik ................................................... 384<br />

7.1.6 Seelsorge als Pastoralpsychologie:<br />

Joachim Scharfenberg ......................................................... 387<br />

a) Lebenshilfe im Umgang mit Konflikten ................... 387<br />

b) Das seelsorgerliche Potential religiöser<br />

Kommunikation .............................................................. 391<br />

7.1.7 Weiterführende Literatur ................................................... 393<br />

7.2 Aktuelle Diskurse und Fragestellungen .................................... 394<br />

7.2.1 Zur Deutung von Lebensgeschichte –<br />

soziologische Perspektiven ................................................ 394<br />

7.2.2 Systemisches Denken und die Sorge um die Seele ........ 401<br />

7.2.3 Das seelsorgerliche Kurzgespräch und kognitionspsychologische<br />

Perspektiven ............................................. 409<br />

7.2.4 <strong>Theologie</strong> in der Seelsorge ................................................. 413<br />

a) Die Warum-Frage in der Seelsorge .............................. 413


XII<br />

Inhalt<br />

b) Interreligiöse Seelsorge ................................................... 420<br />

7.2.5 Gender und Körperlichkeit in der Seelsorge .................. 422<br />

7.2.6 Weiterführende Literatur ................................................... 428<br />

7.3 Orte und Kontexte der Seelsorge .................................................. 429<br />

7.3.1 Seelsorge in der Gemeinde ................................................. 429<br />

a) Kennzeichen gemeindlicher Seelsorge ........................ 429<br />

b) Der Geburtstagsbesuch: Seelsorge an<br />

alten Menschen ................................................................ 433<br />

7.3.2 Krankenhausseelsorge und Spiritual Care ...................... 437<br />

a) Historische Wurzeln ....................................................... 437<br />

b) Strukturelle Rahmenbedingungen ............................. 438<br />

c) Gendergesichtspunkte ................................................... 441<br />

d) Spiritual Care .................................................................... 442<br />

7.3.3 Seelsorge im hoheitlichen Bereich ................................... 450<br />

a) Polizei- und Militärseelsorge ........................................ 450<br />

b) Gefängnisseelsorge .......................................................... 455<br />

7.3.4 Telefonseelsorge ................................................................... 459<br />

7.3.5 Weiterführende Literatur ................................................... 463<br />

8. Theorie der Kasualien<br />

8.1 Kasualien im Kontext der modernen Gesellschaft ................... 466<br />

8.1.1 Kasualien in der Volkskirche ............................................. 466<br />

8.1.2 Religion und Biographie..................................................... 469<br />

8.1.3 Kasualien als Übergangsriten ........................................... 474<br />

a) Rites de passage ................................................................ 474<br />

b) Lebenszyklische Verschiebungen ................................. 476<br />

c) Die rituelle Handlung als Kern der Kasualien .......... 478<br />

d) Kasualien als Segenshandlungen ................................. 481<br />

8.1.4 Kasualien als pastorale Kernaufgabe................................ 483<br />

a) Integrale Amtshandlungspraxis................................... 483<br />

b) Die professionelle Typik der Kasualien ....................... 484<br />

8.1.5 Weiterführende Literatur ................................................... 486<br />

8.2 Die Taufe ........................................................................................... 486<br />

8.2.1 Historische Entwicklung und empirische Aspekte ...... 487<br />

a) Historische Entwicklung ............................................... 487<br />

b) Empirische Aspekte ......................................................... 490<br />

c) Kinder in der Risikogesellschaft:<br />

Überlegungen zum Taufgespräch ............................... 492<br />

8.2.2 Theologische Deutungen ................................................... 495<br />

a) Die identitätsstiftende Kraft der Taufe oder:<br />

Die Taufe als Sakrament ................................................ 495


Inhalt<br />

XIII<br />

b) Schöpfungstheologische Aspekte: Dank und Bitte<br />

um Bewahrung und Segen ........................................... 497<br />

8.2.3 Die gottesdienstliche Gestaltung der Taufe .................. 499<br />

8.2.4 Herausforderungen gegenwärtiger Taufpraxis ............ 501<br />

a) Taufalter ............................................................................ 501<br />

b) Patenamt ........................................................................... 502<br />

c) Familiensituation ............................................................ 503<br />

d) Nottaufe ............................................................................ 504<br />

e) Tauferinnerungsgottesdienste ..................................... 505<br />

f) Kindersegnung ................................................................ 506<br />

g) Taufe und Kirchenmitgliedschaft ............................... 506<br />

8.2.5 Weiterführende Literatur ................................................... 508<br />

8.3 Die Konfirmation ............................................................................ 509<br />

8.3.1 Historische Entwicklung und empirische Aspekte ..... 509<br />

a) Historische Entwicklung .............................................. 509<br />

b) Empirische Aspekte ........................................................ 510<br />

c) Herausforderung Identität ........................................... 512<br />

8.3.2 Die Konfirmation als Jugendkasualie ............................. 513<br />

a) Motive und Vielschichtigkeit der Konfirmation ..... 513<br />

b) Jugendweihe und Jugendfeiern als funktionale<br />

Äquivalente ...................................................................... 516<br />

8.3.3 Der Konfirmandenunterricht ........................................... 518<br />

8.3.4 Gottesdienste in der Konfirmandenzeit ......................... 522<br />

a) Gottesdienste auf dem Weg .......................................... 522<br />

b) Die Konfirmation ............................................................ 525<br />

8.3.5 Weiterführende Literatur ................................................... 529<br />

8.4 Die kirchliche Trauung ................................................................. 530<br />

8.4.1 Historische Entwicklung ................................................... 530<br />

a) Biblische Perspektiven ................................................... 530<br />

b) Die weitere historische Entwicklung ......................... 534<br />

c) Die Ehe »für alle«:<br />

Trauung gleichgeschlechtlicher Paare ....................... 538<br />

8.4.2 Soziologische Gesichtspunkte für das Traugespräch ... 543<br />

8.4.3 Die kirchliche Trauung als rite de confirmation ........... 547<br />

8.4.4 Ehejubiläen ........................................................................... 552<br />

8.4.5 Weiterführende Literatur ................................................... 553<br />

8.5 Die Bestattung ................................................................................. 554<br />

8.5.1 Historische Perspektiven.................................................... 554<br />

8.5.2 Die Bestattungskultur in der Gegenwart ....................... 559<br />

8.5.3 Todesverdrängung oder neue Sichtbarkeit des Todes? 563<br />

8.5.4 Herausforderung Eschatologie ......................................... 568


XIV<br />

Inhalt<br />

a) Ewiges Leben .................................................................... 568<br />

b) Todesverständnis ............................................................. 570<br />

c) Himmel .............................................................................. 573<br />

8.5.5 Trauergespräch und Trauerseelsorge .............................. 575<br />

a) Das Trauergespräch ......................................................... 575<br />

b) Die Trauerseelsorge ......................................................... 576<br />

8.5.6 Die Trauerfeier ...................................................................... 578<br />

8.5.7 Weiterführende Literatur ................................................... 581<br />

9. Diakonie<br />

9.1 Biblische Wurzeln, frühes Christentum und Reformation ... 584<br />

9.2 Die Institutionalisierung der Diakonie im 19. Jahrhundert 589<br />

9.3 Aktuelle Herausforderungen der »Anstaltsdiakonie« ............. 595<br />

9.4 Diakonie als zivilgesellschaftliche Akteurin und als<br />

Gemeindediakonie .......................................................................... 602<br />

9.5 Weiterführende Literatur .............................................................. 607<br />

10. Medienkommunikation<br />

10.1 Das Christentum und die Medien .............................................. 610<br />

10.2 Dynamiken der Medienkommunikation .................................. 616<br />

10.3 Medienreligion................................................................................. 622<br />

10.4 Weiterführende Literatur .............................................................. 626<br />

Anhang<br />

Literatur ........................................................................................................ 627<br />

Register ......................................................................................................... 692<br />

Namen ............................................................................................... 692<br />

Sachen ................................................................................................ 702<br />

Bibelstellen ....................................................................................... 717


Vorwort<br />

Das vorliegende Lehrwerk ist für Studentinnen und Studenten der<br />

Evangelischen <strong>Theologie</strong> konzipiert. Es ist bestrebt, einen Überblick<br />

über das Fach <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> zu geben und das Interesse an der<br />

Komplexität und Vieldimensionalität der praktisch-theologischen Disziplin<br />

zu wecken.<br />

Das Werk ist zugleich eine Gesamtdarstellung der <strong>Praktische</strong>n<br />

Theo logie. Das Fach wird sowohl mit Blick auf seine historische Genese<br />

als auch seine gegenwärtigen Diskurse reflektiert. Die Religionspädagogik<br />

wird dabei separat in Band 8 dieser Reihe von Michael Domsgen<br />

bearbeitet.<br />

Ein Lehrbuch versucht, möglichst objektiv die Pluralität praktischtheologischer<br />

Konzeptionen und Diskurse zu beschreiben. Zugleich ist<br />

eine Gesamtdarstellung immer auch von den Forschungsinteressen und<br />

-schwerpunkten des Autors oder der Autorin geprägt. Es hat eine spezifische<br />

Signatur und ein eigenes Profil. Das vorliegende Lehrwerk ist<br />

durch zwei grundlegende Perspektiven gekennzeichnet: Es ist (1) interdisziplinär<br />

ausgerichtet und führt einen intensiven Diskurs mit den<br />

Sozialwissenschaften. Es fragt (2) nach der Relevanz der Evangeliumskommunikation<br />

für die Gegenwart und rezipiert dazu Forschungsergebnisse<br />

aus den anderen theologischen Disziplinen.<br />

(1) Ohne eine differenzierte gesellschaftliche Analyse ist es für die<br />

<strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> nicht möglich, die Ambivalenzen modernen Le -<br />

bens realistisch zu erfassen. Dabei ist die emanzipatorische und freiheitliche<br />

Seite der Moderne zu würdigen. Zugleich sind die psychisch belastenden<br />

Folgewirkungen überindividueller Dynamiken für die moderne<br />

Lebensführung in den Blick zu nehmen. Dieser sozialwissenschaftliche<br />

Blick – mit vielfältigen Bezugnahmen auf die Biographie-, Identitäts-,<br />

Gender- und Körperlichkeitsdiskurse – durchzieht das ganze Lehrbuch:<br />

Es gilt, die gegenwärtige soziale Lage tiefenscharf wahrzunehmen und<br />

die Herausforderungen, die sich für Religion und Kirche ergeben, möglichst<br />

präzise zu beschreiben. Erst vor diesem Hintergrund ist es mög-


XVI<br />

Vorwort<br />

lich, die Fragen nach religiöser Sinn- und Lebensdeutung, nach den<br />

Gestaltungsmöglichkeiten religiöser Kommunikation und nicht zuletzt<br />

nach den Chancen und Grenzen kirchlich verantworteter Praxis zu analysieren<br />

und zu reflektieren.<br />

(2) Für die hier vorgelegte praktisch-theologische Gesamtdarstellung<br />

ist der <strong>Theologie</strong>bezug der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> konstitutiv. Es<br />

werden biblische, kirchen- und dogmengeschichtliche Traditionen und<br />

Impulse aufgenommen und nach der gegenwärtigen Relevanz von zentralen<br />

Theologumena evangelischer <strong>Theologie</strong> für die religiöse Praxis<br />

gefragt. Dabei wird auch den ethischen und politischen Implikationen<br />

der Evangeliumskommunikation Rechnung getragen.<br />

Das Buch beginnt mit einer Reflexion zum Selbstverständnis der<br />

<strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>. Daran schließen sich religions- und kirchensoziologische<br />

Überlegungen zur Funktion von Religion, Kirche und Pfarrberuf<br />

an. Es folgen die Hauptteile der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> – Homiletik,<br />

Liturgik, Poimenik und die Theorie der Kasualien. Historische<br />

Perspektiven und aktuelle Diskurse kommen dabei gleichermaßen zu<br />

ihrem Recht. Nur so ist es möglich, ein differenziertes Bild der jeweiligen<br />

Subdisziplin, ihrer Leitbegriffe und Leitfragestellungen zu gewinnen.<br />

Abgeschlossen wird das Lehrwerk mit zwei kleineren Kapiteln zu<br />

den Themen Diakonie und Medienkommunikation. Die praktisch-theologische<br />

Reflexion erfolgt dabei nicht nur deskriptiv, sondern auch<br />

handlungsorientiert. Sie zielt im Sinne Schleiermachers auf die Verbesserung<br />

der religiösen und kirchlichen Selbstwahrnehmung und Praxis.<br />

Dieses Lehrwerk geht auf Vorlesungen zurück, die ich an der Ruhr-<br />

Universität Bochum gehalten und mit vielen Studentinnen und Studenten<br />

diskutiert habe. Ihnen danke ich für alle Anregungen und kritischen<br />

Rückfragen. Ich danke der Ruhr-Universität, die es mir durch die großzügige<br />

Gewährung zweier Forschungssemester ermöglichte, dieses<br />

Werk zu verfassen. Herzlich danke ich Annette Weidhas von der Evangelischen<br />

Verlagsanstalt, die mich zur Mitarbeit an der Lehrwerksreihe<br />

eingeladen hat. Sie hat den Entstehungsprozess des Buches wohlwollend<br />

begleitet und das Herausgeberteam immer wieder mit großer<br />

Energie und Verbindlichkeit zu konstruktiven Debatten angeregt.<br />

Dieses Lehrwerk wäre nicht entstanden, wenn nicht viele Menschen<br />

bereit gewesen wären, es durch ihre kritische Lektüre, ihr wohlwollendes<br />

Feedback und ihre hilfreichen Anregungen zu begleiten. Viele<br />

Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt aus dem Herausgeberteam,


Vorwort<br />

XVII<br />

waren bereit, den einen oder anderen Abschnitt zu lesen und mir weiterführende<br />

Hinweise zu geben – dafür danke ich herzlich. Besonderen<br />

Dank schulde ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhlteams,<br />

die die Entstehung des Lehrwerks intensiv begleitet haben.<br />

Allen voran zu nennen sind Elis Eichener, der die leitende Verantwortung<br />

im Hinblick auf alle formalen Fragen innehatte, Jonas vom Stein,<br />

der sich um Register und vieles mehr bemühte, Antonia Rumpf, die mit<br />

germanistischem Sachverstand die Manuskripte durchsah und Vorschläge<br />

für die Merksätze entwickelte. Heike Falkenroth danke ich für<br />

alle Übersicht und die reibungslose Organisation im Lehrstuhlbüro.<br />

Darüber hinaus haben Hanna Miethner, Kornelius Geier, Florian<br />

Namyslo und Hanna Odlozinski mit viel Geduld und Fleiß immer wieder<br />

Literatur recherchiert, Manuskripte redigiert und Zitate überprüft.<br />

Meinen wissenschaftlichen Assistentinnen und Assistenten Jula Well,<br />

Katja Dubiski, Inga Kreusch und Niklas Peuckmann sage ich von Herzen<br />

Dank dafür, dass sie das Lehrwerk mit vielen ermutigenden sowie in -<br />

haltlich weiterführenden Beobachtungen bereichert haben.<br />

Ganz besonders herzlich danke ich meinem Mann, Christoph Dinkel,<br />

der mich in gewohnt offener und liebevoller Weise auf Probleme<br />

hinwies, mit mir die Grundkonzeption diskutierte, mich immer wieder<br />

ermutigte und mir in vielen Gesprächen half, meine Gedanken zu ordnen<br />

oder auch auf neue zu kommen. Meinen Söhnen danke ich sehr für<br />

alle Geduld sowie für wertvolle Hinweise im Hinblick auf ästhetische<br />

Fragen.<br />

Dieses Lehrwerk knüpft an viele Gespräche mit Studentinnen und<br />

Studenten sowie Kolleginnen und Kollegen an. Ich verstehe es als Im -<br />

puls für die Fortsetzung dieser Gespräche und freue mich darauf!<br />

Erntedank 2019 <strong>Isolde</strong> <strong>Karle</strong>


1.<br />

Was ist <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>?<br />

1.1 Reformatorische Impulse<br />

Die <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> ist eine junge theologische Disziplin, sie kann<br />

nicht ohne Weiteres auf vormoderne Traditionen zurückgeführt werden.<br />

Zugleich setzte die reformatorische <strong>Theologie</strong> wesentliche Impulse<br />

für die Entstehung der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>.<br />

➣<strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> ist insofern »praktisch«, als sie religiöse und<br />

kirchliche Praxis reflektiert und zugleich nach den Rahmenbedingungen<br />

und Kriterien fragt, um diese konstruktiv gestalten zu<br />

können.<br />

Klassisch sind damit Fragen der Kirchenleitung und des Amtsverständnisses<br />

angesprochen. Mit diesen Fragen haben sich die Reformatoren in<br />

Abgrenzung zur römischen Kirche ihrer Zeit und angesichts der Herausforderung,<br />

eine neue »evangelische«, im Sinne von evangeliumsgemäße<br />

Kirche zu entwickeln, ausführlich befasst. »Die Ausbildung der<br />

<strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> ist [deshalb] eine notwendige und sachgemäße<br />

Folge des reformatorischen Kirchenbegriffs.« 1<br />

Entscheidende Voraussetzung für das geistliche Amt war für die<br />

Reformatoren nicht mehr die Priesterweihe, die den Priester durch<br />

einen rituellen Akt qualifizierte und ihn in einen geistlichen Stand über<br />

anderen Getaufte versetzte, sondern die Kompetenz, mit der Kirche<br />

geleitet und gestaltet wird. Ist diese Kompetenz – und damit eine ausreichende<br />

wissenschaftliche Bildung – festgestellt, kann eine Ordination<br />

erfolgen, aber diese fügt der Qualifikation für das geistliche Amt<br />

nichts Wesentliches hinzu. Nach reformatorischem Verständnis sind<br />

Amt und Kompetenz keine konkurrierenden Begriffe, sie legen sich vielmehr<br />

wechselseitig aus.<br />

1 Rössler, Der Kirchenbegriff der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 465.


2<br />

1. Was ist <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>?<br />

Ohne die ganze Breite wissenschaftlicher Fertigkeiten ist es aus<br />

reformatorischer Sicht nicht möglich, den Dienst am Wort zu versehen<br />

und die Wahrheit des Wortes Gottes gegenüber konkurrierenden Lehren<br />

überzeugend zu vertreten und zu verteidigen. Sowohl Phillip Melanchthon<br />

(1497–1560) als auch Martin Luther (1483–1546) haben dieses<br />

funktionale, an Bildung und Kompetenz orientierte Amtsverständnis<br />

mit Nachdruck vertreten und sich für eine bessere Bildung von<br />

Theologen eingesetzt. 2<br />

Luthers Lehre vom Allgemeinen Priestertum kommt in diesem<br />

funktionalen Amtsverständnis prägnant zum Ausdruck. Die Lehre vom<br />

Allgemeinen Priestertum besagt: Die Unterschiede, die es in der Kirche<br />

gibt, sind lediglich auf unterschiedliche Funktionen und Berufsrollen<br />

zurückzuführen. Sie haben nichts mit einer ständischen Oben-Unten-<br />

Differenzierung oder besonderen religiösen Qualitäten zu tun. Alle<br />

Christinnen und Christen sind durch die Taufe gleichgestellt, es gibt<br />

keinen geistlichen Stand, der in irgendeiner Weise für sich beanspruchen<br />

könnte, von Gott höhergestellt oder Gott näher zu sein. Damit<br />

wendet sich Luther gegen das sakramentale Amtsverständnis, das auf<br />

einer besonderen Weihe und damit einer Übertragung eines unauflöslichen<br />

Prägemals, eines character indelebilis, beruht.<br />

Luther entwickelte im Kontext seiner Zeit seine eigene »<strong>Praktische</strong><br />

<strong>Theologie</strong>«. Durch die Umbrüche der Reformationszeit stellten sich<br />

viele Fragen im Hinblick auf die Neugestaltung kirchlicher Praxis.<br />

Luther wurde deshalb von vielen Seiten um Rat gefragt bezüglich der<br />

praktischen Ausgestaltung von Gottesdienst und Abendmahl, aber auch<br />

bei Fragen bezüglich Taufe, Ehe, Scheidung und Tod, die für die Entstehung<br />

der neuen Kirche von grundlegender Bedeutung waren. Diese<br />

Bemühungen können als Vorform praktisch-theologischer Theoriebildung<br />

gelten. Leitend war für die Reformatoren dabei, dass die Praxis<br />

der Kirche eine Funktion ihrer Botschaft und demgemäß zu gestalten<br />

ist. 3 Besonders anschaulich wird das strategisch-reflektierte Bemühen<br />

um eine Verbesserung der Qualität kirchlicher Praxis in der Schrift »Der<br />

Unterricht der Visitatoren«, die 1528 veröffentlicht wurde. Martin<br />

2 Vgl. <strong>Karle</strong>, Kompetenz statt Weihe. Siehe auch: M. Luther, Unterricht der Visitatoren;<br />

Ders., An die Ratsherren; Melanchthon, Rede über das unentbehrliche Band.<br />

3 Vgl. Rössler, Der Kirchenbegriff der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 468.


1.1 Reformatorische Impulse 3<br />

Luther schrieb für die Visitationsschrift die Vorrede, er hat auch in den<br />

Text selbst eingegriffen, insgesamt haben an dieser Schrift aber auch<br />

andere Reformatoren, vor allem Philipp Melanchthon, Johannes<br />

Bugenhagen und Georg Spalatin, mitgewirkt. Der Text war ein<br />

Wittenberger Konsenstext, den sowohl Theologen wie Juristen verfassten<br />

und der in dieser interdisziplinären Kooperation schon zeigt, dass<br />

es ihm um die Reflexion der konkreten Gestalt der Kirche ging. Die Visitationsschrift<br />

ist nicht nur eine Zusammenfassung evangelischer Lehre,<br />

sondern formuliert zugleich Standards für die kirchliche Praxis, die<br />

jedem Pfarrer als Richtschnur dienen sollten. Jeder Pfarrbezirk sollte<br />

anhand dieser Standards besucht und überprüft werden. 4 Ausgangspunkt<br />

der Visitationsschrift waren der beklagenswerte Zustand der<br />

Gemeinden und die defizitäre Bildung der Pfarrer. Sowohl Luther als<br />

auch Melanchthon kritisierten mit deutlichen Worten den erschreckend<br />

desolaten Zustand der Pfarrerschaft zu ihrer Zeit. 5 Für die Reformatoren<br />

war die mangelnde Bildung der Pfarrer inakzeptabel, fußte die<br />

neue Lehre doch darauf, dass der Glaube individuell angeeignet und<br />

damit auch verstanden werden konnte. Dies setzte wiederum Pfarrer<br />

voraus, die selbst in der Lehre kundig waren und sie verständlich und<br />

überzeugend in den Gemeinden vermitteln konnten.<br />

Die Reformatoren versuchten, mit dem »Unterricht der Visitatoren«<br />

durch eine knapp zusammengefasste verständliche Lehre und die Einführung<br />

von kirchenleitenden Visitationen die Qualität pastoraler und<br />

gemeindlicher Praxis in der neu entstehenden evangelischen Kirche zu<br />

verbessern. Das Bischofsamt wird dabei in Bezugnahme sowohl auf die<br />

Schrift als auch auf die Alte Kirche als Besuchs- und Visitationsamt verstanden,<br />

das »sine vi humana, sed verbo« 6 , mit dem Wort, nicht mit<br />

Gewalt, auszuüben war. Luther setzt das Bischofsamt mit dem Pfarramt<br />

damit prinzipiell gleich. Sowohl das Bischofs- als auch das Pfarramt werden<br />

funktional und nicht durch eine besondere Jurisdiktionsgewalt<br />

oder eine besondere Weihe bestimmt. Es gibt demzufolge keine grundsätzliche<br />

Höherstellung eines Bischofs über andere Pfarrer oder des Pfarrers<br />

über die Gemeinde. Beide, Pfarr- und Bischofsamt, sind Dienst an<br />

4 Vgl. Michel, Der »Unterricht der Visitatoren«, 153 ff.<br />

5 Vgl. M. Luther, Der große Katechismus, 546 f.; Melanchthon, Rede über das unentbehrliche<br />

Band, 403.<br />

6 Die Augsburgische Konfession, Artikel XXVIII, 124.


4<br />

1. Was ist <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>?<br />

der Gemeinde Jesu Christi. Jeder Pfarrer hat über das Evangelium und<br />

den christlichen Glauben zu wachen, Pfarrer und Bischof haben dasselbe<br />

Wächteramt inne. 7<br />

Das bischöfliche Wächteramt hat aber nicht nur prüfenden Charakter,<br />

sondern auch die Funktion des seelsorgerlichen Besuchsamtes. 8 Diese<br />

seelsorgerliche Dimension sollte nicht unterschätzt werden. Das Wächteramt<br />

hat die Aufgabe, den Ortspfarrer zu unterstützen, ihm zuzuhören,<br />

Konfliktlinien nachzuspüren und zu einer Lösung bei Problemen<br />

zu verhelfen. Luther spricht dabei explizit von Trost. 9 Im modernen<br />

Sinn würde man heute davon sprechen, dass eine Visitation mit einem<br />

Coaching einhergehen sollte, mit einer Supervision, die dem Pfarrer<br />

bzw. der Pfarrerin hilft, sich in der Komplexität der Aufgabenfülle zu<br />

orientieren und die persönlichen Probleme, die sich dabei ergeben können,<br />

umsichtig zu reflektieren.<br />

Eine Visitation gilt immer der ganzen Gemeinde, nicht nur dem<br />

Ortspfarrer. So kann die Visitation bei innergemeindlichen Konflikten<br />

eine wichtige ausgleichende und beratende Rolle übernehmen. Kirchenleitendes<br />

Handeln sollte nach reformatorischer Auffassung insofern<br />

nicht nur prüfenden, sondern auch seelsorgerlichen Charakter haben<br />

und vor allem Pfarrerinnen und Pfarrer im Hinblick auf ihre anspruchsvollen<br />

Tätigkeiten begleiten und unterstützen. Insgesamt liegt der re -<br />

formatorische Akzent des kirchenleitenden Amtes darauf, den Menschen<br />

zu dienen und Pfarrer wie Gemeindeglieder dazu zu ermutigen,<br />

ihre jeweiligen Berufe möglichst kompetent zum Nutzen der Welt und<br />

des Nächsten auszuüben.<br />

➣ Die Reformatoren entwickelten keine <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> in<br />

einem wissenschaftlichen Sinn, aber sie gaben wichtige Impulse für<br />

die wissenschaftliche Reflexion kirchenleitender Praxis, insofern<br />

sie an Qualität und theologischer Kompetenz ein großes Interesse<br />

hatten. Auf diese Weise führte die Reformation dazu, dass sich der<br />

Klerus grundlegend wandelte, sich zu einem modernen Beruf entwickelte<br />

und sich das Universitätsstudium als Norm durchsetzte.<br />

7 Vgl. Spehr, Luthers Vorstellungen vom Bischofsamt, 117.<br />

8 Vgl. a. a. O., 122.<br />

9 Vgl. M. Luther, Unterricht der Visitatoren, WA 26, 196.


1.2 Schleiermachers Grundlegung der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> 5<br />

Friedrich Schleiermacher greift diese reformatorischen Impulse bei<br />

der Etablierung der wissenschaftlichen <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong> fast 300<br />

Jahre später auf und entwickelt sie in einem modernen Gesprächskontext<br />

weiter.<br />

1.2 Schleiermachers Grundlegung der<br />

<strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong><br />

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) gilt als<br />

Begründer des Faches <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>. Mit ihm werden kirchliche<br />

Handlungsfelder wie Seelsorge, Gottesdienst, Predigt, kirchlicher Un -<br />

terricht, Kirchenstruktur und Kirchenrecht zum ersten Mal explizit<br />

Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion. 10 Die Aufklärung, die Auflösung<br />

der Ständegesellschaft, die gesellschaftliche Industrialisierung<br />

und Modernisierung riefen Wandlungsprozesse hervor, die <strong>Theologie</strong><br />

und Kirche tiefgreifend in Frage stellten. Schleiermacher nimmt diese<br />

Herausforderungen wahr und antwortet darauf mit einer neuen Konzeption<br />

von <strong>Theologie</strong>, die er 1811 in seiner Programmschrift »Kurze<br />

Darstellung des theologischen Studiums. Zum Behuf einleitender Vorlesungen«<br />

vorlegt. Die »Kurze Darstellung« zeigt, dass die <strong>Theologie</strong> für<br />

Schleiermacher nicht ein zeitlos gegebener Gegenstand ist, er begründet<br />

die <strong>Theologie</strong> vielmehr als »positive Wissenschaft«.<br />

➣Eine positive Wissenschaft bezieht sich auf eine vorgängige berufliche<br />

Praxis, für die sie Professionelle auszubilden hat, die in der<br />

Lage sein sollten, den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden<br />

und ihre beruflichen Erfahrungen auf angemessenem Niveau<br />

zu reflektieren und zu verarbeiten.<br />

10 Volker Drehsen hat die neuzeitlichen Konstitutionsbedingungen der <strong>Praktische</strong>n<br />

<strong>Theologie</strong>, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet haben, ausführlich<br />

reflektiert. Neben Schleiermacher hebt Drehsen die Bedeutung von Carl Immanuel<br />

Nitzsch hervor, dem die <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> eine umsichtige und anspruchsvolle<br />

Konsolidierung verdankt. Vgl. Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen<br />

der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>.


2.<br />

Religion in der Moderne<br />

2.1 Die funktionale Differenzierung der<br />

Gesellschaft und die Religion<br />

Das Christentum ist seit Beginn der Moderne tiefgreifenden Transformationsprozessen<br />

ausgesetzt. Diese resultieren aus der funktionalen<br />

Differenzierung der Gesellschaft und den mit ihr verbundenen Individualisierungsprozessen.<br />

Das spätmittelalterlich-frühmoderne Europa<br />

war bis ins 18. Jahrhundert hinein primär nach Schichten differenziert.<br />

Entscheidend für die soziale Rangposition war in der stratifizierten<br />

Gesellschaftsstruktur, aus welcher Familie man kommt, nicht die Leistung<br />

einer Person. Anders als heute wirkte Schichtzugehörigkeit dabei<br />

multifunktional. Das heißt, adlige Herkunft brachte Vorteile in so gut<br />

wie allen Funktionsbereichen der Gesellschaft mit sich. Sowohl die wirtschaftliche<br />

als auch die politische und geistliche Macht lag in den Händen<br />

des Adels. Umgekehrt konzentrierten sich die Benachteiligungen in<br />

der nicht-adligen Bevölkerungsschicht – selbst im Hinblick auf Heiratschancen.<br />

So gab es in der vormodernen Gesellschaft eine ganze Reihe<br />

von Heiratshindernissen bis hin zum gesetzlich verankerten Heiratsverbot<br />

für Besitzlose. 82<br />

Seit der Renaissance entwickeln sich quer zur stratifikatorischen<br />

Differenzierungsform zunehmend funktionale Differenzierungsformen.<br />

Die Reformation hatte einen nicht unwesentlichen Anteil an der<br />

Umstellung der Gesellschaftsstruktur. So verstand sich die Städtereformation<br />

in Oberdeutschland und der Schweiz primär als bürgerliche,<br />

nicht als vom Adel getragene Bewegung. Martin Luther (1483–1546)<br />

unterstützte mit seiner Lehre vom Allgemeinen Priestertum und der<br />

funktionalen Interpretation des geistlichen Amtes den Wandel der Differenzierungsform,<br />

auch wenn er dem mittelalterlichen Ständedenken<br />

82 Zur Theorie der funktionalen Differenzierung vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der<br />

Gesellschaft.


2.1 Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft 33<br />

in vieler Hinsicht verhaftet blieb. Luther lehnte nicht nur die Überordnung<br />

eines geistlichen über einen weltlichen Stand ab. Er kritisierte die<br />

ständische Differenzierung auch prinzipiell und betonte, dass sich Bauern,<br />

Priester, Fürsten, Bischöfe lediglich durch ihr Amt und Werk unterscheiden,<br />

also durch ihre Funktion, nicht aber hinsichtlich ihres Standes.<br />

Denn vor Gott sind alle Getauften gleich. 83<br />

Vor diesem Hintergrund ist auch Luthers Zwei-Regimenten-Lehre<br />

zu verstehen, die die funktionale Differenzierung von Politik und Recht<br />

auf der einen und Religion auf der anderen Seite zu fördern sucht. Weder<br />

soll Religion die politische Sphäre dominieren noch umgekehrt die Politik<br />

sich in religiöse Fragen einmischen bzw. diese reglementieren. Während<br />

das Recht notfalls mit Gewaltmitteln auf seine Durchsetzung<br />

pochen kann und muss, ist im Religionssystem kein Zwang möglich.<br />

Die Kirche beschädigt sich selbst, wenn sie meint, sich politische oder<br />

rechtliche Macht anmaßen zu können. Ihre Botschaft kann nur freiwillig<br />

– durch das Wort – angeeignet und geglaubt werden. Umgekehrt ist<br />

das weltliche Regiment nur dann in der Lage, seine Funktion zu erfüllen,<br />

wenn die Kirche seine politische Rationalität respektiert. Weder soll<br />

die Welt verkirchlicht noch die Kirche verweltlicht werden. Luther hat<br />

mit dieser Differenzierung der verschiedenen Logiken und Sozialsphären<br />

die funktionale Differenzierung der Gesellschaft vorangetrieben<br />

und begrüßt, nicht etwa beklagt.<br />

Die sich in der Moderne herausbildenden Funktionssysteme operieren<br />

zunehmend autonom. Wirtschaft und Politik werden unabhängig<br />

von religiösen Normen und kirchlichen Ansprüchen, das Recht<br />

emanzipiert sich von politischen Vorgaben. Selbst Ehe und Familie versuchen,<br />

sich von den Schranken des Standes zu befreien und sich mit<br />

Hilfe eines romantischen Liebescodes auf sich selbst zu konzentrieren.<br />

➣ Die Differenzierung nach Funktionssystemen bedeutet, dass eine<br />

und nur eine Funktion für das Gesamtsystem in einem eigens dafür<br />

ausdifferenzierten Teilsystem erfüllt wird.<br />

In der funktional differenzierten Gesellschaft ist nur das Medizinsystem<br />

und nicht auch noch das Religionssystem für das Problem der Krankheit<br />

zuständig. Zugleich ist das Medizinsystem auf diese eine Funktion<br />

83 Vgl. M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, 408.


34<br />

2. Religion in der Moderne<br />

beschränkt, es kann nicht auch noch religiöse Problemlösungen übernehmen<br />

und zum Beispiel Gebete oder Rituale für die Therapie verschreiben.<br />

Wir empfänden dies zu Recht als übergriffig. Deshalb sind<br />

Seelsorge und Krankenbehandlung im Krankenhaus zwar aufeinander<br />

bezogen, orientieren sich aber zugleich an unterschiedlichen Funktionssystemen<br />

und Rationalitäten – die Seelsorge an der religiösen, die<br />

therapeutische Behandlung an der medizinischen Rationalität.<br />

Die funktionale Differenzierung kombiniert in neuartiger Weise<br />

Universalismus und Spezifikation. 84 Jedes Funktionssystem hat zwar<br />

nur eine spezifische Funktionsperspektive auf die Welt. Gleichzeitig ist<br />

es im Hinblick auf diese eine Perspektive bzw. dieses eine Bezugsproblem<br />

universal und gesellschaftsweit zuständig und durch kein anderes<br />

Funktionssystem zu ersetzen. Das System monopolisiert die eigene<br />

Funktion und rechnet mit einer Umwelt, die in dieser Hinsicht unzuständig<br />

bzw. inkompetent ist.<br />

Das heißt zugleich, dass kein Funktionssystem einem anderen Vorschriften<br />

machen oder, wie in der Ständegesellschaft, hierarchisch einen<br />

Vorrang vor anderen Systemen behaupten kann. Es mag zwar unterschiedliche<br />

Gewichtungen geben im Hinblick auf die Bedeutung eines<br />

Funktionssystems. So hat in der Gegenwart das Wirtschaftssystem größeren<br />

Einfluss als das Religionssystem. Gleichwohl kann das Wirtschaftssystem<br />

dem Religionssystem keine Vorgaben machen. Es er -<br />

scheint unsinnig, sich mit Geld das Seelenheil erwerben zu wollen. Zu<br />

solchen Kopplungen kam es noch in der Reformationszeit. So wurde<br />

dem Ablassprediger Johann Tetzel die Parole nachgesagt: »Wenn das<br />

Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.« 85 Nicht<br />

zufällig wurde diese problematische Verquickung von Geld und Seelenheil<br />

zu einem der Auslöser der Reformation.<br />

Mit der Vielfalt der Funktionssysteme und ihrer spezifischen Weltwahrnehmung<br />

unter je einem Problemgesichtspunkt werden viele<br />

differente, nicht aufeinander abbildbare Beobachtungsverhältnisse ge -<br />

schaffen. Jedes Teilsystem beobachtet seine gesellschaftsinterne Umwelt<br />

dabei systemrelativ. Das heißt, das jeweilige Funktionssystem kann nur<br />

sehen, was auf dem Schirm seiner funktionsspezifischen Perspektive<br />

84 Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 709.<br />

85 Vgl. Schorn-Schütte, Die Reformation, 32.


2.1 Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft 35<br />

auftaucht, alles andere bleibt ausgeblendet. Deshalb kann kein Funktionssystem<br />

eine für alle verbindliche Beschreibung mehr liefern – auch<br />

nicht das Religionssystem, das in der mittelalterlich-vormodernen<br />

Gesellschaft noch genau diese gesamtgesellschaftliche Grundsymbolik<br />

und Sinnsicherheit vermittelte. Es gibt kein méta-recit (Jean-Francois<br />

Lyotard), keine metaphysische Gesamterzählung mehr.<br />

Es liegt deshalb auch in der funktionalen Differenzierungsform<br />

begründet, dass wir die moderne Gesellschaft als pluralistisch bezeichnen.<br />

Aufgrund der Pluralität systemspezifischer Beobachtungen existieren<br />

konkurrierende Beschreibungen der Welt.<br />

➣ Die moderne Gesellschaft ist multizentrisch geworden: Sie kennt<br />

kein einheitliches Sinnzentrum mehr, es gibt keinen privilegierten<br />

Ort mehr für eine alle Perspektiven bindende Deutung der Welt.<br />

Dass diese Umstellung der Differenzierungsform erhebliche Konsequenzen<br />

für das Religionssystem hat, liegt auf der Hand. Das Religionssystem<br />

steht nicht mehr an der Spitze der Gesellschaft, es wird nun vielmehr zu<br />

einem System neben anderen. Überdies muss es die Funktionsverluste<br />

auf den Feldern der Erziehung, des Rechts, der Politik und der Wissenschaft<br />

verkraften. Niklas Luhmann (1927–1998) begreift die Probleme<br />

der christlichen Kirchen dementsprechend auch vor allem als Anpassungsprobleme<br />

an die polykontexturale Beobachtung der Welt und die<br />

damit verbundene Relativierung der christlichen Seinsauslegung. Seit<br />

der Aufklärung arbeitet sich die <strong>Theologie</strong> an den damit gegebenen Herausforderungen<br />

der religiösen und weltanschaulichen Pluralisierung<br />

und Individualisierung der Weltsichten ab.<br />

Noch ein weiterer Gesichtspunkt »schwächt« das Religionssystem<br />

in der Moderne. So muss ein Individuum in der funktionsdifferenzierten<br />

Gesellschaft zwar mehr oder weniger zwangsläufig an Bildung und<br />

Wirtschaft teilnehmen, aber nicht mehr zwingend an Religion. Das<br />

heißt, das vormals so (über-)mächtige Religionssystem wird zu einem<br />

Sozialsystem, an dem die Teilnahme freiwillig ist und je länger je deutlicher<br />

nicht mehr über Konvention oder anderweitige gesellschaftliche<br />

Erwartungen wahrscheinlich gemacht werden kann. Von jedem Kind<br />

wird eine gewisse Schulbildung erwartet. Bei Religion hingegen besteht<br />

die Möglichkeit, sich aus eigenem Antrieb für oder gegen die Teilnahme<br />

an religiöser Kommunikation zu entscheiden. So bringt ein Kirchenaus-


36<br />

2. Religion in der Moderne<br />

tritt in aller Regel keine negativen Folgen mehr für andere soziale Bereiche<br />

mit sich.<br />

Es ist in der funktional differenzierten Gesellschaft dementsprechend<br />

viel leichter geworden, religiöse Kommunikationsofferten abzulehnen,<br />

als in der stratifizierten Gesellschaft. <strong>Theologie</strong> und Kirche<br />

versuchen deshalb seit langem, sich an ihre kulturelle, säkularisierte<br />

soziale Umwelt anzupassen und die Teilnahmeschwellen an religiöser<br />

Kommunikation zu senken. So ist eine »schrittweise Preisgabe der ›Ne -<br />

gativa‹« 86 zu beobachten:<br />

»Die ›Abschaffung des Teufels‹, die Verabschiedung der Hölle, des ›Zornes Gottes‹<br />

und des Gerichts, zunehmend auch der Sünde […]; all das erscheint dem<br />

Publikum immer weniger ›zumutbar‹, wird bis zur Kulturfremdheit unplausibel<br />

und verliert die Resonanzfähigkeit; aus der kirchlichen Kommunikation<br />

scheidet es mehr und mehr aus.« 87<br />

Darüber hinaus gibt es immer weniger nicht-religiöse Gründe dafür,<br />

sich an religiöser Kommunikation zu beteiligen. Sekundäre Gründe für<br />

eine Kirchenmitgliedschaft entfallen weitgehend. Die Menschen nutzen<br />

ihre Wahlfreiheit, wenn sie nicht mehr überzeugt davon sind, dass die<br />

Kirche ihnen etwas zu bieten hat, und treten aus. Das muss allerdings<br />

nicht nur einen Verlust bedeuten. Es impliziert auch, dass der Entscheidungscharakter<br />

im Hinblick auf die Kirchenmitgliedschaft zunimmt<br />

und man, jedenfalls bei der Mehrheit der Kirchenmitglieder, ein mindestens<br />

vages Interesse an dieser Mitgliedschaft unterstellen kann. Die<br />

meisten werden zwar noch in ihre Konfession »hineingeboren«, aber die<br />

Option zum Austritt ist heute sehr präsent und ein Bleiben dementsprechend<br />

als implizite Entscheidung zu lesen. 88<br />

Dass in der Moderne die verschiedenen Funktionssysteme von Religion<br />

unabhängig werden, ist insofern nicht nur eine Verlustgeschichte.<br />

Die Kirche kann jetzt die Funktion von Religion glaubwürdiger erfüllen<br />

und wird nicht mehr für systemfremde Zwecke oder Interessen instrumentalisiert.<br />

Luhmann weist explizit auf die Chancen hin, die sich daraus<br />

ergeben: »Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, daß unter der<br />

Bedingung eines Rückzugs aus vielen anderen Funktionsbereichen,<br />

86 Tyrell, Religionssoziologie, 450.<br />

87 A. a. O., 450.<br />

88 Vgl. Hermelink/Weyel, Vernetzte Vielfalt, 18 f.


2.2 Paradoxien moderner Individualität 37<br />

eines Verzichts auf ›social control‹ und Legitimierung politischer Macht,<br />

die Chancen für Religion steigen.« 89 Die klerikale Bevormundung nimmt<br />

ab, die Freiwilligkeit von Religion zu. In diesem Sinn hat schon Friedrich<br />

Schleiermacher (1768–1834) die von ihm ersehnte Unabhängigkeit<br />

von Staat und Kirche und die Eigenständigkeit der Religion<br />

gegenüber anderen Formen der Weltbeobachtung als Gewinn betrachtet<br />

und verteidigt. 90<br />

➣In der funktional differenzierten Gesellschaft wird das Religionssystem<br />

zu einem System unter vielen. Die Teilnahme an Religion<br />

wird freiwillig und bildet keine Voraussetzung mehr für die Teilnahme<br />

an anderen Funktionssystemen. Die funktionale Differenzierung<br />

geht für das Religionssystem mit Verlusten, aber auch mit<br />

neuen Chancen einher.<br />

2.2 Paradoxien moderner Individualität<br />

In der mittelalterlichen Welt musste man nicht erklären, wer man ist.<br />

Die Identität war durch die soziale Position konkretisiert. Erst seit dem<br />

späten 18. Jahrhundert identifiziert sich der Mensch primär durch seine<br />

Individualität.<br />

»Erst in einer Gesellschaft, in der der Mensch nicht mehr durch Geburt, Stand,<br />

Geschlecht etc. als Einzelner ausreichend erfasst wird, sondern in der er sich<br />

selbst verwirklichen kann und muss, entsteht der Bedarf nach passenden<br />

Identitätsvehikeln, nach kopierbaren Selbstdeutungsmustern, nach Medien<br />

der Selbstdarstellung, kurz: nach kulturell vorproduzierten Modellen für Individualität.«<br />

91<br />

Das ist die Paradoxie moderner Individualität : Das selbstbestimmte, aus<br />

sich selbst schöpfende Ich führt einen Schatten bzw. eine Zwillingsfigur<br />

mit sich – den homme copie. Das Individuum behauptet seine Einzigartigkeit<br />

und Unvergleichbarkeit und greift dabei zugleich auf gesellschaftliche<br />

Schablonen, auf Mode, auf von der Werbeindustrie empfoh-<br />

89 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 145.<br />

90 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 206 ff.<br />

91 Donko, »L’homme copie«, 20 f.


3.<br />

Kirche und Moderne<br />

3.1 Biblisches Erbe und<br />

reformatorische Einsichten<br />

3.1.1 Die neue Sozialstruktur der »Ekklesia«<br />

Dem Christentum ging es von Anfang an nicht nur um eine Glaubensüberzeugung,<br />

sondern auch um eine bestimmte soziale Praxis, um eine<br />

neue Form des Zusammenlebens. Jesus hat mit seiner Botschaft vom<br />

Reich Gottes vorgelebt, wie kulturelle Grenzen überschritten und Ex -<br />

kludierte inkludiert werden können. Kranke, Sünder, Prostituierte,<br />

»Verlorene«, Mühselige und Beladene, Vertreter anderer Ethnien – sie<br />

alle sollten dazugehören und nicht länger marginalisiert und verachtet<br />

werden. Jesus sprengte menschenverachtende Konventionen, er wandte<br />

sich mit der Botschaft vom Reich Gottes dieser Welt zu und war zugleich<br />

nicht von dieser Welt. Er wurde und wird von der christlichen Gemeinde<br />

als Mensch aus Fleisch und Blut und zugleich als Sohn Gottes verehrt.<br />

Die Kirche schwankte in ihrer Geschichte dementsprechend immer wieder<br />

zwischen einer Identifikation mit der Welt und einer Distanzierung<br />

von der Welt.<br />

Paulus greift die Botschaft Jesu auf und entwickelt sie weiter. In<br />

Gal 3,28 kommt die grenzüberschreitende Perspektive des christlichen<br />

Glaubens besonders markant zum Ausdruck. Es heißt dort: »Hier ist<br />

nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht<br />

Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.« Wer auf<br />

Christus getauft ist, hat Christus angezogen (Gal 3,27), ihm wird eine<br />

neue Identität verliehen, er wird in eine neue Gemeinschaft jenseits kultureller<br />

Zuschreibungen und Normen integriert. In bemerkenswerter<br />

Radikalität werden damit eingespielte gesellschaftliche Unterschiede<br />

außer Kraft gesetzt. Denn in der Ekklesia, in den Hausgemeinden und<br />

Versammlungen der frühen Christenheit, »gelten bereits die Strukturen<br />

der ›neuen Schöpfung‹« 249 . Dass in Christus die Unterscheidung von


3.1 Biblisches Erbe und reformatorische Einsichten 89<br />

Jude und Grieche nicht mehr gilt, deutet die universale Weite des Christentums<br />

an: Ethnische Differenzen verlieren ihren diskriminierenden<br />

Charakter. Auch der soziale Rang entscheidet nicht mehr über den Wert<br />

einer Person, die Statusunterschiede zwischen freien Bürgern und Sklaven<br />

werden nivelliert. Selbst das Gefälle im Verhältnis von Männern und<br />

Frauen wird tiefgreifend in Frage gestellt. Ein neues Miteinander von<br />

Männern und Frauen ist im Entstehen begriffen. Frauen sind wie Männer<br />

dazu herausgefordert, Christus nachzufolgen und die frühchristliche<br />

Bewegung zu leiten und mitzugestalten.<br />

➣Die Kirche wird frühchristlich als eine Gemeinschaft begriffen, in<br />

der gesellschaftliche Diskriminierungen und Exklusionen transzendiert<br />

werden.<br />

Dass diese Praxis in den urchristlichen Gemeinden nicht nur eine Utopie<br />

war, sondern real praktiziert wurde, davon gehen die meisten Neutestamentlerinnen<br />

und Neutestamentler inzwischen aus. 250 Die von<br />

Paulus namentlich erwähnten Verkündigerinnen eigenen Rechts wie<br />

die Gemeindeleiterin Phoebe, die theologische Lehrerin Prisca und die<br />

Apostelin Junia weisen ebenso darauf hin wie die neue Sozialstruktur<br />

bei der Feier des Herrenmahls, die die gesellschaftlich geltende Stratifikation<br />

aufhob: Herren saßen bzw. lagen neben Sklaven, alle sollten dasselbe<br />

essen. 251 Diese revolutionäre Neuordnung rief Konflikte nicht nur<br />

mit der kulturellen Umwelt, sondern auch innerhalb der Gemeinden<br />

hervor (vgl. 1Kor 11, Apg 15,1–29 und Gal 2). Zugleich war es genau diese<br />

Sozialordnung, die die neuen Jesusgruppen auszeichnete und die zu -<br />

sammen mit den niedrigschwelligen Zugangsbedingungen – keine Be -<br />

schneidung und keine Befolgung von Speisegeboten – die enorme At -<br />

traktivität der Ekklesia ausmachten. Martin Ebner resümiert:<br />

»Die eigentliche Werbung für das Urchristentum nach außen bestand in der<br />

Praxis der durchkreuzten gesellschaftlichen Stratifikation […]. Das hat andere<br />

249 Ebner, Allgemeine Zugehörigkeit, 257 f.<br />

250 Vgl. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, 94 f.; Eisen, Amtsträgerinnen im<br />

frühen Christentum; Schüssler-Fiorenza, Gleichheit und Differenz, 227 ff.; Betz,<br />

Der Galaterbrief, 344 ff.; insgesamt: <strong>Karle</strong>, Da ist nicht mehr Mann noch Frau,<br />

227 ff. u. v. a. m.<br />

251 Vgl. Ebner, Allgemeine Zugehörigkeit, 258.


90<br />

3. Kirche und Moderne<br />

angezogen: zunächst die ›Kleinen‹ – aber offensichtlich auch Leute aus den reicheren<br />

Schichten, die sensibel und selbstkritisch nach religiös motivierten,<br />

gesellschaftlichen Aufbrüchen gesucht haben.« 252<br />

Die skizzierte Spannung zwischen Anpassung und Kritik spiegelt sich in<br />

den unterschiedlichen kirchlichen Sozialformen, die sich teilweise ab -<br />

lösten, teilweise in produktiver Spannung gleichzeitig nebeneinander<br />

existierten und noch existieren.<br />

3.1.2 Kirchliche Sozialformen<br />

und reformatorisches Kirchenverständnis<br />

Die älteste Sozialform ist diejenige der interaktiven Gemeinschaft unter<br />

körperlich anwesenden Menschen. In Mt 18,20 lässt Matthäus Jesus<br />

sagen: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin<br />

ich mitten unter ihnen«. Damit ist die Mindestform von Sozialität<br />

bezeichnet: Zwei oder drei Menschen reichen aus, um eine Gemeinschaft<br />

im Namen Jesu zu bilden. Das ist die Urform der Kirche. Dabei<br />

zählt die einzelne Person. Nicht zufällig werden uns die Jünger Jesu deshalb<br />

auch als Menschen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen<br />

geschildert. Die urchristliche Kirche ist zunächst eine Kirche der Begegnung<br />

und der Bewegung. Auf den charismatischen Bewegungscharakter<br />

weist vor allem das »Pfingstwunder« hin, das zur Gründung der ersten<br />

Ekklesia führt (Apg 2,37 ff.), aber auch das Ideal der Gütergemeinschaft<br />

der ersten Christen (Apg 4,32 ff.) und die frühchristlichen Gottesdienste<br />

(1Kor 14 u. ö.), in denen es noch keine feste liturgische Ordnung gab und<br />

in denen es dementsprechend charismatisch-chaotisch zuging.<br />

Soll eine Bewegung andauern, kommt es automatisch zu institutionellen<br />

Strukturen, die den Bewegungscharakter einschränken, dafür<br />

aber Dauerhaftigkeit und Erwartungssicherheit über Ämter, heilige<br />

Zeiten und Orte herstellen. Dabei wird Tradition fixiert, es wird über die<br />

rechte Lehre entschieden und es werden Rituale, Ämter und Hierarchien<br />

ausgebildet. Schon im Neuen Testament ist diese Entwicklung beobachtbar:<br />

So bezeugen die Briefe des Paulus eine große charismatische<br />

Vielfalt, während wir bei den späteren Pastoralbriefen bereits eine deutliche<br />

Hierarchisierung und eine beginnende Institutionalisierung<br />

252 A. a. O., 268.


3.1 Biblisches Erbe und reformatorische Einsichten 91<br />

erkennen können. Im Lauf des 4. Jahrhunderts wurde das Christentum<br />

unter Theodosius I schließlich zur Staatsreligion, nachdem es zuvor<br />

schon von Kaiser Konstantin massiv gefördert und von ihm zu einer<br />

anerkannten Religion gemacht worden war. Auf diese Weise wurde aus<br />

der verfolgten und weithin illegalen Kirche innerhalb weniger Jahrhunderte<br />

eine rechtlich privilegierte Institution und Reichskirche. 253<br />

Die Reformatoren haben sich mit dem Institutionencharakter der<br />

römischen Kirche ihrer Zeit kritisch auseinandergesetzt. Entscheidend<br />

ist für Martin Luther (1483–1546), dass das Wort im Schwange geht<br />

und die viva vox evangelii erklingt – nicht Ämter und Strukturen.<br />

Zugleich wissen die Reformatoren, dass Kirche nicht auf Institutionalisierung<br />

verzichten kann. Sie entwickeln deshalb einen Kirchenbegriff,<br />

der die Kirche als Institution bejaht, zugleich aber auch begrenzt. Die<br />

Kirche ist für Luther creatura verbi, ein Geschöpf des Wortes Gottes. Un -<br />

sichtbare und empirische Kirche berühren sich dort, wo dieses Wort<br />

kommuniziert wird und sich Christinnen und Christen unter diesem<br />

Wort versammeln. Entsteht die Kirche aus dem Wort und wird sie durch<br />

das Wort erhalten, dann hat die Kommunikation des Evangeliums Priorität,<br />

ob diese Kommunikation nun organisiert wird oder spontan er -<br />

folgt. Deshalb steht das Wort »in ganz unvergleichlicher Weise über der<br />

Kirche, in welchem sie nichts aufzustellen, anzuordnen oder zu tun hat.<br />

Sondern sie muss sich darin aufstellen, anordnen und machen lassen als<br />

ein Geschöpf.« 254 An die Stelle der Macht und des Rechts der Institution<br />

Kirche tritt bei Luther die Macht des göttlichen Wortes. Über dieses<br />

Wort kann und darf die Kirche nicht verfügen. Dietrich Rössler formuliert:<br />

»Die Praxis der Kirche empfängt ihren Sinn und ihre Legitimation<br />

aus dem, was sie zur Sprache bringt. Der Praxis selbst kommt demgegenüber<br />

keine eigene Bedeutung zu.« 255<br />

In den Schmalkaldischen Artikeln bringt Luther sein Kirchenverständnis<br />

noch einmal mit anderen Worten zum Ausdruck: »[E]s weiß<br />

gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen<br />

Gläubigen und ›die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‹ [Joh<br />

10,3].« 256 Nicht die komplizierten und nicht selten repressiven Satzun-<br />

253 Vgl. ausführlich zur historischen Entwicklung: Grethlein, Kirchentheorie, 51 ff.<br />

254 M. Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, 343 (WA 6, 560 f.).<br />

255 Rössler, Der Kirchenbegriff der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 468.<br />

256 M. Luther, Schmalkaldische Artikel, Von der Kirchen, 459.


92<br />

3. Kirche und Moderne<br />

gen der römischen Kirche seiner Zeit machen nach Luther die Kirche<br />

aus, Kirche lässt sich vielmehr ganz elementar so verstehen: Überall<br />

dort, wo Christi Stimme zu hören ist und sich Gläubige versammeln, ist<br />

Kirche. Mehr ist im Grundsatz nicht erforderlich.<br />

»Umgekehrt heißt das: Die Grundaufgabe […] der Kirche ist, die Stimme des<br />

Hirten zu Gehör kommen zu lassen, zu Gehör zu bringen und die zu sammeln,<br />

bei denen sie Gehör gefunden hat. Alle kirchlichen Vollzüge müssen<br />

sich diesem Grundvollzug zuordnen lassen, müssen als Konkretionen dieses<br />

Grundvollzugs lesbar sein.« 257<br />

Luther denkt Kirche damit grundlegend prozess- und ereignishaft.<br />

Überall, wo auf Gottes Wort gehört wird, ereignet sich Kirche.<br />

➣Kirche ist nach reformatorischer Auffassung primär Evangeliumskommunikation,<br />

soziale Praxis und Gemeinschaft und erst sekundär<br />

Institution.<br />

Für die Kommunikation des Wortes Gottes werden zwar in der Regel die<br />

dafür etablierten Strukturen kirchlicher Ämter in Anspruch genommen,<br />

sie ereignet sich vielfach aber auch jenseits davon. Überall, wo<br />

Menschen über ihren Glauben reden, zusammen beten oder Kinder<br />

christlich erziehen, findet Kirche statt – nicht nur innerhalb der Kirchenmauern.<br />

»Kirche ist dort, wo geschieht, was Kirche zur Kirche<br />

macht. Die Frage nach den Strukturen der Kirche […] ist keineswegs<br />

unwichtig. Aber sie ist der Frage nach den konstitutiven Handlungen<br />

nachgeordnet. Strukturen der Kirche […] sind nicht die Kirche.« 258 Die<br />

Kirche kann als historische Größe auf eine rechtliche und organisatorische<br />

Regulierung ihrer Existenzbedingungen nicht verzichten, aber:<br />

»Das Recht gehört nicht konstitutiv, sondern konsekutiv bzw. regulativ<br />

zur Wirklichkeit der Kirche.« 259<br />

Kirchliches Recht und kirchliche Hierarchie haben demnach keine<br />

Würde in sich selbst. Sie sind lediglich menschliche Ordnungen, die der<br />

Kommunikation des Evangeliums dienen sollen. Im siebten Artikel der<br />

Confessio Augustana kommt dieses Kirchenverständnis pointiert zum<br />

Ausdruck:<br />

257 Oberdorfer, Kinderwissen, 27.<br />

258 Lüpke, Was macht die Kirche zur Kirche?, 44.<br />

259 Reuter, Botschaft und Ordnung, 19.


3.1 Biblisches Erbe und reformatorische Einsichten 93<br />

»Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein<br />

und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das<br />

Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament lauts des Evangelii gereicht<br />

werden. Dann dies ist gnug zu wahrer Einigkeit der christlichen Kirchen,<br />

daß da einträchtiglich nach reinem Verstand das Evangelium gepredigt<br />

und die Sakramente dem gottlichen Wort gemäß gereicht werden. Und ist<br />

nicht not zur wahren Einigkeit der christlichen Kirche, daß allenthalben<br />

gleichformige Ceremonien, von den Menschen eingesetzt, gehalten werden,<br />

wie Paulus spricht zun Ephesern am 4.: ›Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen<br />

seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs, ein Herr, ein Glaub, ein Tauf.‹« 260<br />

Allein dass sich in der Kirche die Gläubigen um Wort und Sakrament<br />

herum versammeln, erschien den Reformatoren für die Einheit der Kirche<br />

zwingend geboten, ansonsten sahen sie einen großen Spielraum im<br />

Hinblick auf die Gestaltung kirchlicher Ordnungen und Strukturen.<br />

Dietrich Rössler spricht von einer Konzentration auf eine elementare<br />

Basisformel, die immer wieder neu dazu herausfordere, nach sachgemäßen<br />

Ordnungen zu suchen, ohne der Anarchie das Wort zu re -<br />

den. 261<br />

Diese Interpretation der Institution setzt ein hohes Maß an Pragmatik<br />

voraus: Das, was sich in den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

für die Evangeliumskommunikation als am besten<br />

erweist, soll der Maßstab für die kirchliche Ordnung sein, die entsprechend<br />

dazu herausgefordert ist, die Lebensdienlichkeit ihrer Strukturen<br />

immer wieder zu hinterfragen und gegebenenfalls zu korrigieren. Die<br />

reformierte Tradition hat den Spielraum im Hinblick auf die konkrete<br />

Gestalt der Kirche etwas enger gesehen, stimmt aber in den Grundzügen<br />

mit der lutherischen Tradition überein. So betonen Reformierte stärker<br />

als Lutheraner, dass die Sozialgestalt der Kirche zwar nicht sakrosankt,<br />

aber auch nicht gleichgültig ist. In der Barmer Theologischen Erklärung<br />

heißt es in der dritten These: Die Kirche hat »mit ihrer Botschaft wie mit<br />

ihrer Ordnung […] zu bezeugen, daß sie allein sein [Jesu Christi] Eigentum<br />

ist« 262 . Auch mit ihrer Ordnung und Gestalt, nicht nur mit ihrer<br />

Verkündigung, soll die Kirche das Evangelium bezeugen.<br />

260 Die Augsburgische Konfession, Artikel VII, 61.<br />

261 Vgl. Rössler, Der Kirchenbegriff der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 467.<br />

262 Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen<br />

Kirche, 3. These, 39. Die Barmer Theologische Erklärung ist zwar ein Kompromiss -<br />

dokument, das 1934 von Lutheranern, Unierten und Reformierten in Abgrenzung


94<br />

3. Kirche und Moderne<br />

Die reformatorische Vorstellung von der »Institution Kirche«, die<br />

den Zugriff der Kirche begrenzt, schützt und fördert die Freiheit des und<br />

der Einzelnen. Eberhard Hauschildt formuliert:<br />

Die reformatorische »Kirche erlaubt Freiheit auch zur Distanzierung von ihr<br />

selbst, denn die Begegnung mit Gott lässt sich nicht herbeiordnen. Diese Kirche<br />

beschränkt sich auf Rahmenregelungen in Sachen Aufsicht zur Verhinderung<br />

von Auswüchsen und sieht für dogmatische Positionen und ethische<br />

Urteile bewusst keine Durchgriffsmöglichkeiten der geistlichen Hierarchie<br />

vor. Wahrheit wird nicht durchs Kirchenrecht bestimmt; sie kommt zutage in<br />

der Interpretation der Schrift und dem freien Diskurs darüber.« 263<br />

Damit wird nun doch ein unhintergehbares Strukturmerkmal der protestantischen<br />

Kirche erkennbar: In ihr gilt die Lehre vom Allgemeinen<br />

Priestertum. Alle Getauften haben das Recht, sich an der Leitung der Kirche<br />

und am Diskurs über die Wahrheit des Evangeliums zu beteiligen.<br />

Es gibt keine grundsätzliche Vorordnung eines »geistlichen Standes«,<br />

alle Getauften haben dieselbe Würde. Die Kirche hat, so formuliert es<br />

Friedrich Schleiermacher (1768–1834), eine »demokratische Tendenz«<br />

264 . Eine hierarchische und zentralistische Leitung der Kirche ist<br />

nicht sachgemäß, auch wenn es faktisch sehr lange dauerte, bis sich<br />

diese Erkenntnis in der evangelischen Kirche strukturell durchsetzen<br />

konnte. Deshalb gibt es in der evangelischen Kirche der Gegenwart Synoden,<br />

in denen zentrale Entscheidungen der Kirche gefällt werden, und<br />

Presbyterien, Kirchengemeinderäte oder -vorstände, die zusammen mit<br />

dem Pfarrer bzw. der Pfarrerin die Gemeinde leiten.<br />

➣Die Grundüberzeugung von der elementaren Statusgleichheit aller<br />

Christinnen und Christen führt in der evangelischen Kirche zu<br />

einer synodal-presbyterialen Kirchenstruktur.<br />

Die evangelische Kirche ist keine Klerikerkirche, in ihr arbeiten unterschiedliche<br />

Professionen und Christinnen und Christen mit unter-<br />

von der nationalsozialistischen Herrschaft unterzeichnet wurde, aber stark von<br />

der Handschrift des reformierten Karl Barth und der reformierten Tradition<br />

geprägt.<br />

263 Hauschildt, Organisation der Freiheit, 218.<br />

264 Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen<br />

Kirche, Beilage A, § 77, 25. Vgl. auch: Dinkel, Kirche gestalten, 95 ff.


3.2 Kirche als Organisation 95<br />

schiedlichen Kompetenzen zusammen. Das Bischofsamt hat deshalb<br />

primär repräsentativen Charakter, ihm eignet keine Richtlinienkompetenz.<br />

Ein Durchgriff von oben nach unten ist nicht vorgesehen. Manche<br />

Landeskirchen verzichten auf den Bischofstitel und haben eine Präses<br />

oder einen Kirchenpräsidenten an ihrer Spitze, um den repräsentativen<br />

Charakter des leitenden geistlichen Amtes zu unterstreichen. In der<br />

evangelischen Kirche ringen viele unterschiedliche Christinnen und<br />

Christen in vielen unterschiedlichen Funktionen gemeinsam um die<br />

Frage, wie Kirche geleitet und gestaltet werden soll. Die Kirche ist deshalb<br />

in ihren Ausdrucksformen plural – nur so kann sie Kirche des Wortes<br />

sein, das unterschiedliche Auslegungen erfährt. Deshalb gibt es auch<br />

kein autoritatives Lehramt in der evangelischen Kirche. Die Pluralität<br />

der Auslegungen ist bisweilen zwar anstrengend, macht aber zugleich<br />

den Reichtum der evangelischen Kirche aus. »Ihre Gefahr ist nicht die<br />

geschichtliche und theologische Vielfalt. Gefährlich für sie wäre vielmehr<br />

das erstarrte Festhalten an der vermeintlichen Einheit von gestern<br />

oder aber das Abgleiten in sektiererische Eindeutigkeit.« 265<br />

Mit diesem Bekenntnis zur Vielfalt grenzt sich das reformatorische<br />

Kirchenverständnis vom hierarchischen Selbstverständnis der römischkatholischen<br />

Kirche ab. Es versucht eine Balance zwischen der Freiheit<br />

des und der Einzelnen, der Autonomie der Gemeinden und den übergeordneten<br />

kirchlichen Leitungsstrukturen zu finden und pluralen Ausdrucksformen<br />

von Kirche Rechnung zu tragen. 266 Welche konkreten<br />

Herausforderungen sich dabei in der Gegenwart stellen, wird im Folgenden<br />

zu reflektieren sein.<br />

3.2 Kirche als Organisation<br />

3.2.1 Die Kirche als Melange von Institution<br />

und Organisation<br />

In der Gegenwart ist nicht eindeutig, inwiefern die Kirche noch als »alte<br />

Institution« oder bereits als »moderne Organisation« zu begreifen ist.<br />

Diese Frage ist zunächst zu klären, bevor andere kirchliche Sozialformen<br />

265 Rössler, Der Kirchenbegriff der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 469 f.<br />

266 Vgl. dazu auch: Körtner, Dogmatik, 586 ff.


4.<br />

Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

4.1 Historische Perspektiven<br />

4.1.1 Biblische Wurzeln<br />

Der Pfarrberuf lässt sich nicht unmittelbar auf die Bibel zurückführen.<br />

Im Alten Testament ist von Priestern die Rede, die den Zugang zum Heiligen<br />

regelten. Im nachexilischen Judentum gewannen die Rabbinen,<br />

die für die Schriftauslegung Verantwortung trugen, an Bedeutung.<br />

Michael Klessmann sieht in beiden Rollen, der kultischen des Priesters<br />

und der lehrenden aus dem Rabbinat, eine »Wurzel des protestantischen<br />

Pfarramtes« 370 , wobei die Reformation vor allem die Funktion<br />

des Lehrens akzentuierte.<br />

Für die frühchristliche Bewegung sind viele unterschiedliche Dienste<br />

und Ämter bezeugt. Dabei wurde die Charismenlehre des Paulus<br />

lange als Antithese zur Entwicklung leitender Ämter verstanden. Doch<br />

sind die Charismen, die Paulus in 1Kor 12 und Röm 12 nennt, nach<br />

Ansicht der jüngeren Forschung nicht als Gegensatz zu fest etablierten<br />

Ämtern zu betrachten. Ein Charisma ist für Paulus jedwede Tätigkeit im<br />

Dienst der Gemeinde, die durchaus auf Dauer angelegt sein kann und<br />

einer Institutionalisierung nicht widerspricht. 371 Explizit nennt Paulus<br />

in 1Kor 12,28 nicht nur die spontanen und »freien« Charismen, sondern<br />

auch Apostelinnen und Apostel, Prophetinnen und Propheten und Lehrerinnen<br />

und Lehrer. »Paulus rechnet aufgrund der vom Geist gewirkten<br />

Befähigungen […] mit diesen besonderen Diensten, die man im Blick auf<br />

die weitere Entwicklung als Grundformen kirchlicher Ämter bezeichnen<br />

kann.« 372 Alle genannten Ämter stehen im Dienst der Verkündigung.<br />

Ein Amt liegt dann vor, »wenn eine für Bestand und Aufbau der<br />

370 Klessmann, Das Pfarramt, 28.<br />

371 Vgl. Wagner, Die Anfänge des Amtes in der Kirche, 110.<br />

372 Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, 139.


4.1 Historische Perspektiven 133<br />

Kirche erforderliche Funktion durch einen festen Personenkreis mit<br />

einer gewissen Konstanz ausgeübt wird.« 373 Im Philipperbrief (Phil 1,1)<br />

erwähnt Paulus darüber hinaus Episkope und Diakone. Die Episkopen<br />

übernahmen in Philippi sehr wahrscheinlich leitende Funktionen in<br />

den dortigen Hausgemeinden. 374<br />

Während im Hinblick auf die paulinischen Briefe noch keine einheitliche<br />

Leitungsstruktur erkennbar ist und die paulinischen Gemeinden<br />

durch eine Vielfalt verschiedener Funktionen und Leitungsrollen<br />

gekennzeichnet sind, ist die Institutionalisierung der Kirche und die<br />

Ausdifferenzierung der kirchlichen Ämter in den Pastoralbriefen bereits<br />

fortgeschritten. »Episkopen- und Diakonenamt werden in nüchterner<br />

Sachlichkeit als Berufe dargestellt. Man kann sie anstreben (1Tim 3,1),<br />

sofern man bestimmten Qualifikationsmerkmalen entspricht«. 375 Eine<br />

scharfe Unterscheidung zwischen Gemeinde und Amtsträgern ist je -<br />

doch noch nicht erkennbar. Insgesamt ging mit der zunehmenden<br />

Institutionalisierung der frühen Kirche und ihrer Ämter auch eine<br />

Patriarchalisierung in Anpassung an die zeitgenössische Gesellschaft<br />

einher, so dass Frauen, die ursprünglich leitende Verantwortung in der<br />

frühchristlichen Bewegung übernahmen, aus leitenden Positionen nach<br />

und nach wieder verdrängt wurden. Dass Frauen im ersten Jahrtausend<br />

trotzdem eine Vielzahl von Ämtern ausübten, zeigt eine Studie von Ute<br />

E. Eisen. 376<br />

➣In der Bibel gibt es nicht das Pfarramt im heutigen Sinn, aber eine<br />

Vielzahl von Diensten und Ämtern in den Gemeinden. Mit der<br />

zunehmenden Institutionalisierung der Kirche ging eine Hierarchisierung<br />

und Patriarchalisierung der Ämterstruktur einher.<br />

4.1.2 Von der Alten Kirche bis zur Reformation<br />

In der Alten Kirche bildete die Ausbildung einer Ämterstruktur eine<br />

wesentliche Säule der Entwicklung der Kirche hin zu einer Institution.<br />

373 Ebd.<br />

374 Vgl. a. a. O., 142.<br />

375 A. a. O., 263.<br />

376 Vgl. Eisen, Amtsträgerinnen im frühen Christentum; vgl. auch: Hauschild/<br />

Drecoll, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte I, 177.


134<br />

4. Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

Amtsträger übernahmen sowohl liturgische als auch organisatorische<br />

Aufgaben. Während der 1. Clemensbrief für die Zeit um 100 n. Chr. noch<br />

kollektive Leitungsstrukturen erkennen lässt, setzten sich seit dem dritten<br />

Jahrhundert allmählich der Monepiskopat und die Vorstellung der<br />

apostolischen Sukzession durch. Das Bischofsamt erhielt dadurch eine<br />

hohe Würde; neben ihm gab es das Amt des Presbyters und des Diakons<br />

sowie regional verschiedene weitere Ämter wie z. B. Lektoren. 377 Winrich<br />

Löhr macht darauf aufmerksam, dass die Entwicklung der Ämter<br />

insgesamt sehr vielfältig war und nicht zielgerichtet verlief. 378<br />

Mit der Ausbreitung des Christentums wurden zunehmend Parochialpfarrer<br />

bzw. Priester, die den Bischof in entlegenen Gemeinden vor<br />

Ort vertraten, eingesetzt. Die Bezeichnung als Priester war sowohl ein<br />

Rückgriff auf das Alte Testament als auch eine Annäherung an die spätantike<br />

Umwelt: Christliche Amtsträger wurden nun mit denen anderer<br />

Religionen vergleichbar. Im vierten Jahrhundert wuchsen mit dem<br />

Besitz der Kirchengemeinden auch die weltlichen Aufgaben der Bischöfe,<br />

die in den Städten oft zu wichtigen Entscheidungsträgern wurden<br />

und die Zivilgerichtsbarkeit ausübten. Zu hoher politischer Bedeutung<br />

gelangten Bischöfe auch im Zuge der Erosion der Strukturen des römischen<br />

Reichs. Ihre genuin religiösen Rechte umfassten die Taufe, die<br />

Weihe anderer Bischöfe, die Leitung der Eucharistie, Predigt sowie die<br />

Ausbildung des Kirchenrechts. 379<br />

Das Mittelalter war durch eine große Vielfalt geprägt. »Vielfarbigkeit<br />

und starke Gegensätze charakterisieren den mittelalterlichen Klerus:<br />

tiefe Frömmigkeit neben unmoralischer Weltlichkeit, hohe klösterliche<br />

Bildung neben finsterem Aberglauben, bittere Armut neben üppigem<br />

Reichtum.« 380 Zur Zeit der Reformation befand sich der niedrige<br />

Klerus in einem schlechten Zustand. Paul Drews (1858-1912) konstatiert,<br />

»daß kein Stand am Ausgang des Mittelalters so korrumpiert war<br />

als der geistliche« 381 . Deshalb setzten sich die Reformatoren dafür ein,<br />

die Qualität des Pfarramtes durch Visitationen, Bildung und wirtschaftliche<br />

Absicherung zu verbessern. 382 Eine allgemeine akademische Bil-<br />

377 Vgl. Hauschild/Drecoll, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte I, 170 f.<br />

378 Vgl. Löhr, Das antike Christentum im zweiten Jahrhundert, 247 ff.<br />

379 Vgl. Hauschild/Drecoll, Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte I, 175 f.<br />

380 Dahm, Art. Pfarrer/Pfarrerin, 1198.<br />

381 P. Drews, Der evangelische Geistliche in der deutschen Vergangenheit, 13.<br />

382 Siehe ausführlich: Kap. 1.1.


4.1 Historische Perspektiven 135<br />

dung für den Pfarrberuf setzte sich erst im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts<br />

durch. 383<br />

Die Reformation bedeutet einen tiefen Einschnitt in der pastoralen<br />

Berufsgeschichte und prägt die Signatur des evangelischen Pfarrberufs<br />

bis heute. Die Bezeichnungen Pfarrer und Priester sind dabei zu unterscheiden.<br />

Martin Luther (1483-1546) wendet den Begriff Priester auf<br />

alle getauften Christenmenschen an und lehnt damit jeden Wesensunterschied<br />

zwischen Amtsträgerinnen und Amtsträgern und sogenannten<br />

»Laien« ab. Prägnant formuliert Luther: »Dan was ausz der tauff<br />

krochen ist, das mag sich rumen, das es schon [zum] priester, Bischoff<br />

und Bapst geweyhet sey.« 384 Das heißt, nicht ein besonderes Amt, sondern<br />

bereits der Glaube befähigt zum priesterlichen Zeugnis, jeder<br />

Christenmensch kann das Wort Gottes weitergeben und für andere<br />

beten. Während dem Priester in der römisch-katholischen Kirche durch<br />

das Weihesakrament ein character indelebilis, ein besonderes Prägemerkmal,<br />

das ihn Christus ähnlicher macht, verliehen wird, betont<br />

Luther, dass alle Getauften gleichen geistlichen Standes sind. Es gibt<br />

demnach nicht wie in der katholischen Kirche ein allgemeines und ein<br />

besonderes Priestertum, das hierarchisch über dem allgemeinen stünde,<br />

sondern lediglich ein allgemeines Priestertum. Prinzipiell sind Gott alle<br />

gleich nahe und haben alle dieselbe Würde. Es gibt keinen Vorrang der<br />

Pfarrer vor anderen Christen, vor Bürgermeistern, Lehrern oder Bauern,<br />

die ihren jeweiligen Berufen und Tätigkeiten nachgehen.<br />

➣ Eine geistliche Tätigkeit ist einer weltlichen nach reformatorischem<br />

Verständnis nicht überlegen. Pfarrerinnen und Pfarrer haben<br />

keinen Primat vor nicht ordinierten Christinnen und Christen.<br />

Nun sind zwar »alle Christen […] priester, Aber nicht alle Pfarrer« 385 . Es<br />

teilen alle denselben geistlichen Stand, aber nicht denselben Beruf. Das<br />

Pfarramt ist notwendig, damit der Auftrag, den alle Christinnen und<br />

Christen haben, nämlich das Predigtamt auszuüben 386 bzw. das Evan-<br />

383 Vgl. Rössler, Amt und Beruf des Pfarrers, 15.<br />

384 M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, 408. Vgl. dazu auch:<br />

Oberdorfer, Aus der Klausur ins »normale Leben«.<br />

385 M. Luther, Der 82. Psalm ausgelegt, WA 31/I, 211.<br />

386 Vgl. Die Augsburgische Konfession, Artikel V, 58 f.


136<br />

4. Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

gelium zu kommunizieren, auch und nicht zuletzt in der kirchlichen<br />

Öffentlichkeit erfolgt und zwar mit der Regelmäßigkeit, Erwartungssicherheit<br />

und Kompetenz, die durch eine ausdifferenzierte Berufsrolle<br />

und eine dementsprechende Bildung gewährleistet werden.<br />

Das Pfarramt wird deshalb in der Confessio Augustana als Spezialfall<br />

des Predigtamtes betrachtet und entsprechend nachgeordnet in CA<br />

XIV eigens behandelt und reflektiert: »Vom Kirchenregiment wird<br />

gelehrt, daß niemand in der Kirchen offentlich lehren oder predigen<br />

oder Sakrament reichen soll ohn ordentlichen Beruf.« 387 Das Pfarramt<br />

ist ein »ordentlicher Beruf«, dessen Aufgabe es ist, öffentlich zu lehren<br />

und die Sakramente zu verwalten. Die Vokation dazu erteilt die Kirche.<br />

Damit wird zugleich festgestellt, dass das Pfarramt ein eigenständiges<br />

Amt ist und der Pfarrer bzw. die Pfarrerin nicht nur den Bischof vertritt,<br />

wie dies vorher der Fall war. Auch das Bischofsamt wird damit rein<br />

funktional bestimmt und ist den Pfarrerinnen und Pfarrern nicht mehr<br />

grundsätzlich vorgeordnet. Die Ordination wiederum ist kein Sakrament<br />

wie die Priesterweihe, sondern Ausdruck der Berufung durch die<br />

Kirche und kirchenrechtliche Konkretion der Vokation: »Denn ordinirn<br />

sol heissen und sein beruffen und befelhen das Pfarrampt.« 388 Die<br />

Handauflegung ist als Segensbitte für das Pfarramt zu verstehen und<br />

vermittelt keinerlei zusätzliche Charismen. Vokation und Ordination<br />

treten »an die Stelle der Priesterweihe: nicht zur Vermittlung neuer persönlicher<br />

Qualitäten, sondern als Einsetzung in Rechte und Pflichten<br />

des Amtes.« 389 Luther sah zwischen dem Allgemeinen Priestertum und<br />

dem ordinierten Amt keinen Widerspruch. Beide sind notwendig aufeinander<br />

bezogen und ohne einander nicht denkbar. 390<br />

➣Das Pfarramt ist die professionelle Konkretion des einen Predigtamtes<br />

und des einen Priestertums, das alle Christinnen und Christen<br />

miteinander teilen.<br />

387 A. a. O., Artikel XIV, 69. Auf Lateinisch: »De ordine ecclesiastico docent, quod nemo<br />

debeat in ecclesia publice docere aut sacramenta administrare nisi rite vocatus.«<br />

Ebd.<br />

388 M. Luther, Von der Winkelmesse und Pfaffenweihe, WA 38, 238.<br />

389 Rössler, Grundriß der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 320.<br />

390 Vgl. Härle, Allgemeines Priestertum und Kirchenleitung nach evangelischem Verständnis,<br />

67.


4.1 Historische Perspektiven 137<br />

Von der Kirche berufen, übernimmt der Pfarrer stellvertretend für<br />

alle im sonntäglichen Gottesdienst das Predigtamt, tauft und teilt das<br />

Abendmahl aus, tröstet die Kleinmütigen und ist darin Diener der ganzen<br />

Gemeinde – ein minister verbi divini. Pfarrer sind »diener, knecht,<br />

schaffner« 391 Christi, so Luther.<br />

Durch diese sachliche und funktionale Perspektive wird der Blick<br />

frei für Eignungskriterien ganz anderer Art. Nicht mehr die Zugehörigkeit<br />

zu einem bestimmten Stand ist für das geistliche Amt nunmehr<br />

entscheidend, die ständischen Kriterien werden vielmehr abgelöst<br />

durch funktionale Kriterien. Der persönliche Glaube und die »lust und<br />

lieb« 392 zum Amt sind dabei ebenso zu nennen wie die fachliche Qualifikation<br />

und die wissenschaftliche Ausbildung, wobei die Reformatoren<br />

vor allem auf das Sprach- und Bibelstudium, aber auch auf eine umfassende<br />

Allgemeinbildung und die ganze Breite wissenschaftlicher Fertigkeiten<br />

Wert legten. 393 Der Historiker Oliver Janz sieht die prägende<br />

Kraft des evangelischen Pfarrberufs deshalb nicht zuletzt darin, dass in<br />

ihm Amt und Profession eine besondere Verbindung eingingen:<br />

»Mit der reformatorischen Lehre vom ›allgemeinen Priestertum‹ muß sich der<br />

Geistliche in erster Linie durch seine höhere allgemeine und theologische Bildung,<br />

vor allem durch die Fähigkeit, die Bibeltexte in den Ursprachen lesen zu<br />

können, vor den Laien auszeichnen. Dies ist die Grundlage für die im deutschen<br />

Protestantismus besonders enge Verbindung von Pfarrerstand und Bildung<br />

und zusammen mit der Aufhebung des Zölibats Voraussetzung seiner<br />

Integration in das spätere Bildungsbürgertum.« 394<br />

Das reformatorische Amts- und Berufsverständnis erweist sich mit seinem<br />

funktionalen Denken als eminent modern. Die Reformation hat<br />

damit den Umbau von einer nach Ständen zu einer nach Funktionen<br />

differenzierten Gesellschaft vorangetrieben und als Katalysator einer<br />

sozialen Evolution gewirkt. Der geistliche und weltliche Beruf wird jetzt<br />

zu einem Ort der Verantwortung, an dem Gott und der Gemeinschaft in<br />

391 M. Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7, 28. Zum Trost der<br />

Kleinmütigen siehe: Luther, Galaterbrief, 27 (WA 40/1, 51). »Wenn ich ein Diener<br />

des Wortes bin, dann predige ich, tröste die Kleinmütigen und spende die Sakramente«.<br />

392 M. Luther, Epistel Sanct Petri gepredigt und ausgelegt, WA 12, 390.<br />

393 Vgl. Melanchthon, Rede über das unentbehrliche Band, sowie: <strong>Karle</strong>, Kompetenz<br />

statt Weihe, 469 ff.<br />

394 Janz, Zwischen Amt und Profession, 175 f.


138<br />

4. Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

aller Freiheit zu dienen ist. Das neue Verständnis des Pfarrberufs hatte<br />

dabei weitreichende Folgen, nicht nur für die evangelische Kirche. Der<br />

Historiker Benjamin Ziemann formuliert:<br />

»Pfarrer aller christlichen Konfessionen machten seit der Reformation wichtige<br />

Schritte hin zu einem modernen Berufsverständnis als professioneller pastoraler<br />

Helfer und Pastor Bonus […] der ihnen zugewiesenen Gemeinde. Die<br />

Zurückdrängung des Konkubinats bei den katholischen Geistlichen, die<br />

Durchsetzung des Universitätsstudiums als Norm und die Fokussierung auf<br />

pastorale Kompetenz und moralische Integrität waren wichtige Faktoren dieses<br />

Wandels.« 395<br />

4.1.3 Das Geschlechterarrangement im Pfarramt<br />

und die Ordination von Frauen<br />

Ein Punkt, an dem sich katholisches und evangelisches Pfarramt bis in<br />

die Gegenwart deutlich wahrnehmbar unterscheiden, ist die Aufhebung<br />

des Zölibats für Geistliche durch die Reformation. Es gehört zu den<br />

reformatorischen Grundüberzeugungen, dass sexuelle Askese nur freiwillig<br />

gewählt werden kann und nicht von einer Kirchenhierarchie verordnet<br />

werden darf. So wenig wie der Papst Menschen verbieten kann<br />

zu essen und zu trinken, so wenig kann er, so Luther, über die Ehelosigkeit<br />

von Priestern bzw. Pfarrern entscheiden. 396 Die Aufwertung der<br />

Intimkommunikation durch die Reformation 397 führte zu einer neuen<br />

Wertschätzung von Ehe und Familie und schuf zugleich die Institution<br />

des evangelischen Pfarrhauses, in dem der Pfarrer mit seiner ganzen<br />

Familie vorbildhaft christliches Leben praktizieren sollte. 398<br />

Das Pfarrhaus gewann vor allem im 18. und 19. Jahrhundert kulturtragende<br />

Bedeutung. Es wurde zu einem exemplarischen Ort des Bildungsbürgertums.<br />

Nicht nur wurde im Pfarrhaus der theologische<br />

Nachwuchs rekrutiert, aus dem Pfarrhaus gingen auch viele bedeutende<br />

Künstler, Wissenschaftler und Schriftsteller hervor. Die Bildung der<br />

Pfarrer und die Sozialisation im Pfarrhaus gewannen eine hohe Bedeu-<br />

395 Ziemann, Sozialgeschichte der Religion, 100. Zur Geschichte des Pfarrberufs vgl.<br />

ausführlich: Klessmann, Das Pfarramt, 26 ff.<br />

396 Vgl. M. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, WA 6, 442.<br />

397 Vgl. Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit?, 328.<br />

398 Zum Pfarrhaus vgl. Greiffenhagen (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus; Aschenbrenner,<br />

Das evangelische Pfarrhaus; <strong>Karle</strong>, Ideal und Wirklichkeit.


4.1 Historische Perspektiven 139<br />

tung für die deutsche Kultur- und Geistesgeschichte. »Bis in das frühe<br />

19. Jahrhundert hinein hatten zeitweise 40 bis 50 % der deutschen Akademiker<br />

evangelische <strong>Theologie</strong> studiert.« 399 Das Pfarrhaus stellt mit<br />

seiner gelebten Frömmigkeit, seiner protestantischen Ethik, seiner<br />

Gastfreundschaft und nicht zuletzt seiner Bildung historisch betrachtet<br />

eine kaum zu überschätzende kulturelle Errungenschaft dar. 400<br />

In der Gegenwart verliert das Pfarrhaus an Bedeutung. Das liegt<br />

nicht zuletzt an dem traditionellen Geschlechterarrangement, das im<br />

Pfarrhaus mit der Pfarrfrau, die den männlichen Pfarrer unterstützt<br />

und die Kinder erzieht, lange Zeit gepflegt wurde. Dieses Geschlechterarrangement<br />

hat in der Gegenwart weithin an Plausibilität verloren.<br />

Zugleich spielt das Pfarrhaus in modernisierter Form bis heute eine<br />

Rolle – sowohl für das Selbstverständnis des evangelischen Pfarrers und<br />

der evangelischen Pfarrerin als auch in der Wahrnehmung der Gemeinden.<br />

Das Pfarrhaus symbolisiert, dass auch der Pfarrer oder die Pfarrerin<br />

um die Probleme, Belastungen und Freuden familiären Zusammenlebens<br />

weiß, dass er oder sie nicht weltenthoben ist, sondern das »normale«<br />

Leben mit anderen Menschen teilt, dass er oder sie auch ein Privatleben<br />

hat und nicht nur Geistlicher bzw. Geistliche ist. Eine späte, aber<br />

tiefgreifende Veränderung des evangelischen Pfarrberufs vollzog sich<br />

durch die Frauenordination, die sich seit den 1960er Jahren in den Gliedkirchen<br />

der EKD und in vielen protestantischen Kirchen weltweit<br />

durchsetzte. 401<br />

➣ Das Pfarrhaus spielte eine wichtige Rolle in der deutschen Geistesgeschichte.<br />

In der Gegenwart nimmt seine Bedeutung durch ein<br />

verändertes Geschlechterarrangement ab. Die Einführung der<br />

Frauenordination hat das Pfarrerbild darüber hinaus verändert<br />

und pluralisiert.<br />

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Frauen in Deutschland allgemein<br />

zum Universitätsstudium zugelassen, ab 1919/20 war es für<br />

evangelische Theologinnen möglich, ihr Studium mit einem Fakultäts-<br />

399 Dahm, Art. Pfarrer/Pfarrerin, 1198.<br />

400 Vgl. Seidel/Spehr (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus.<br />

401 Zur Frauenordination vgl. <strong>Karle</strong>, Die Debatte um die Zulassung von Frauen ins<br />

geistliche Amt.


140<br />

4. Der Pfarrberuf in der Moderne<br />

examen abzuschließen. Der Zugang zum Pfarramt dauerte dann nochmals<br />

mehrere Jahrzehnte. Die Argumente, die gegen die Frauenordination<br />

ins Feld geführt wurden, waren vorrangig kultureller und sozialer<br />

Natur. Es widerspräche der Sitte und dem Wesen der Frau, sie zum<br />

Pfarramt zuzulassen. Die schöpfungsgemäße Aufgabe der Frau wurde<br />

vor allem in ihrer Funktion als Erzieherin und Mutter gesehen. Es<br />

waren deshalb auch nicht vorwiegend theologische Begründungen, die<br />

den Weg für die Frauenordination ebneten, sondern die »nachholende<br />

Individualisierung von Frauen« 402 in den 1960er und 1970er Jahren, die<br />

Druck auf die evangelische Kirche ausübte und zu einem Umdenken<br />

führte. Inzwischen wird der Pfarrberuf in der EKD zu etwa 37 % von<br />

Theologinnen ausgeübt. 403<br />

Auch nach der Zulassung von Frauen zum Pfarramt wurde in <strong>Theologie</strong><br />

und Kirche gefragt, ob Pfarrerinnen nicht wesenhaft anders seien<br />

als Pfarrer – gefühlsbetonter, empathischer, seelsorgerlicher, weniger<br />

intellektuell und weniger an Macht und Leitung orientiert – und dies in<br />

der Ämteraufteilung zu berücksichtigen sei. Während der Differenzfeminismus<br />

diese Zuschreibungen als weiblichen Vorteil zu nutzen<br />

gedachte, war und ist diese Form der Stereotypisierung für die Karriere<br />

von Theologinnen faktisch ein Problem. Bis heute ist der Anteil von Theologinnen<br />

an leitenden geistlichen Ämtern signifikant geringer als der<br />

von Theologen. Auch übernehmen Pfarrerinnen seltener die Geschäftsführung<br />

als Pfarrer. Insbesondere bei stellenteilenden Ehepaaren ist zu<br />

beobachten, wie Geschlechterstereotype nicht selten auf höherem Ni -<br />

veau wieder reproduziert werden. 404 Zugleich ist evident, dass sich<br />

Unterschiede unter Pfarrerinnen und Pfarrern im Hinblick auf die Auffassung<br />

und Praxis des geistlichen Amtes nicht mehr entlang der Ge -<br />

schlechterunterscheidung vornehmen lassen. Wenn Frauen die Tätigkeiten<br />

von Männern und Männer die Tätigkeiten von Frauen übernehmen,<br />

verlieren die geschlechtsdifferenzierenden Bedeutungen von Tä -<br />

402 Vgl. zu diesem Begriff und zur Sache: Beck-Gernsheim, Vom »Dasein für andere«<br />

zum Anspruch auf ein Stück »eigenes Leben«.<br />

403 Zurzeit sind 7.612 Theologinnen und 13.061 Theologen im aktiven Dienst, vgl. die<br />

entsprechende Graphik in: EKD, Gezählt 2018, 20.<br />

404 Vgl. EKD, Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen<br />

Kirche in Deutschland; <strong>Karle</strong>, Pfarrerinnen im Pfarrberuf; Offenberger, Stellenteilende<br />

Ehepaare im Pfarrberuf. Vgl. zum Thema ferner: Mantei/Sommer/Wagner-<br />

Rau (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel.


4.2 Der Pfarrberuf als Profession 141<br />

tigkeiten, Berufen, Eigenschaften oder Fähigkeiten ihren Sinn. Prinzipiell<br />

geht es im evangelischen Pfarrberuf um genderneutrale Kompetenzen.<br />

Dadurch schleift sich der Geschlechtergegensatz ab und werden<br />

Geschlechterrollen und -identitäten als solche sichtbar – nicht als Na -<br />

tur, sondern als Kultur, die sich tief in die Identität eingraben können,<br />

letztlich aber kontingent und damit veränderbar sind. 405<br />

4.2 Der Pfarrberuf als Profession 406<br />

Durch die vielfältigen Verunsicherungen und Infragestellungen des<br />

Pfarrberufs in den letzten Jahrzehnten, die sich einer zunehmenden<br />

Individualisierung und Entkirchlichung der Gesellschaft verdanken,<br />

ist der Pfarrberuf in die Krise geraten. Gleichzeitig erfuhr die »Pastoraltheologie«,<br />

die sich mit dem Pfarrberuf in Sonderheit befasst, einen<br />

bemerkenswerten Aufschwung. Die ausgiebige Selbstthematisierung des<br />

Pfarrberufs deutet darauf hin, dass er sich nicht mehr von selbst versteht.<br />

Das Amtsverständnis wird in Frage gestellt, weil nicht mehr das Amt die<br />

Person trage, sondern die Person umgekehrt das Amt tragen müsse. Es ist<br />

die Expression eigener Subjektivität, die Authentizität und Ganzheitlichkeit<br />

der Amtsperson, die die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion<br />

sichern soll: »Nicht was der Pfarrer tut, sondern was er ist, scheint nunmehr<br />

[…] von Bedeutung zu sein. […] Er ist nichts anderes als eine lebendige<br />

Repräsentanz der individuell verwirklichten Religion. Seine Tätigkeit<br />

besteht dann in der Expression seiner selbst.« 407 Dietrich Rössler<br />

stellt mit einem gewissen Unbehagen fest, dass pastoraltheologisch<br />

dementsprechend nicht mehr primär die Aufgaben des Berufs reflektiert<br />

würden, sondern die Person des Pfarrers: »In der neuen Pastoraltheologie<br />

formuliert sich das Interesse des Pfarrers an sich selbst.« 408<br />

Die Person und Individualität eines Pfarrers und einer Pfarrerin<br />

spielen fraglos eine zentrale Rolle für den pastoralen Beruf. Der Pfarrberuf<br />

lebt davon, dass Menschen, die ihn ausüben, selbst Christinnen und<br />

Christen sind, dass sie mit den Spannungen zwischen Glauben und Ver-<br />

405 Vgl. <strong>Karle</strong>, Da ist nicht mehr Mann noch Frau.<br />

406 Vgl. <strong>Karle</strong>, Der Pfarrberuf als Profession.<br />

407 Steck, Die Privatisierung der Religion und die Professionalisierung des Pfarrberufs,<br />

316.<br />

408 Rössler, Grundriß der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 141.


5.<br />

Homiletik<br />

5.1 Historische Perspektiven mit Impulsen<br />

für die aktuelle Diskussion<br />

Homiletik ist die wissenschaftliche Theorie der Predigt. Das Wort »Predigt«<br />

leitet sich aus dem lateinischen praedicare ab: »öffentlich bekannt<br />

machen«. Die christliche Religion legt öffentlich Rechenschaft ab über<br />

ihre Botschaft. Sie reflektiert darüber, wie sie die Welt und das Leben<br />

interpretiert und das Verhältnis von Gott und Mensch bestimmt. Für<br />

den Protestantismus ist die Predigt von besonders hoher Bedeutung. Die<br />

Erwartungen an die Predigt im Gottesdienst sind groß. 460<br />

Das christliche Verständnis der Predigt ist durch das Neue Testament<br />

geprägt. 461 Von Jesus wird erzählt, dass er mit Vollmacht zu predigen<br />

wusste, die Bergpredigt und seine Verkündigung des Reiches Gottes<br />

in Gleichnissen und Parabeln geben anschaulich Zeugnis davon. Nach<br />

seinem Tod wurde Jesus als gekreuzigter und auferstandener Christus<br />

vom Verkündiger zum Verkündigten. 462 Bei Paulus wird dieser Wechsel<br />

besonders deutlich: Paulus interessiert sich nicht für das Leben Jesu,<br />

sondern predigt das Wort vom Kreuz (1Kor 1,17 f.). Grundlegend für das<br />

paulinische Predigtverständnis ist Röm 10,17: »So kommt der Glaube aus<br />

der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.« Die Predigt wird<br />

zur Voraussetzung des Glaubens.<br />

Im lukanischen Doppelwerk wird die Gottesdienst- und Predigtpraxis<br />

immer wieder thematisiert und auf ihre Wirkungen hin befragt.<br />

So wird die Predigt des Paulus auf dem Areopag (Apg 17,16–34) vom Evan-<br />

460 Vgl. dazu die empirischen Studien von Lüdtke/Pohl-Patalong, Eine Predigt ist<br />

keine Fastfood-Veranstaltung, sowie: Schwier, Inhalte, Formen, Hörerinnen und<br />

Hörer.<br />

461 Zu den vielen Begriffen, die im Neuen Testament für das Predigen verwandt werden,<br />

vgl. Engemann, Einführung in die Homiletik (2011), 435.<br />

462 Vgl. Bultmann, Die Bedeutung des geschichtlichen Jesus für die <strong>Theologie</strong> des<br />

Paulus, 202 ff.


5.1 Historische Perspektiven 165<br />

gelisten Lukas als gelungenes Beispiel für den Prozess der Globalisierung<br />

und Inkulturation des Christentums dargestellt. Paulus knüpft in dieser<br />

Rede, die Athener und ihre Kultur sensibel wahrnehmend, an den unbekannten<br />

Gott an, um ihn mit Verweis auf Christus zu vereindeutigen.<br />

Für Albrecht Grözinger ist Lukas »der erste profilierte Homiletiker<br />

der Christenheit« 463 . Schon bei Lukas wird deutlich, dass sich die Predigt<br />

auf einen Text der Heiligen Schrift bezieht, dass eine Predigt in der kulturellen<br />

Gegenwart verankert sein muss und die Wirksamkeit der Predigt<br />

wesentlich mit ihrem Inhalt zu tun hat. Grözinger bezeichnet die<br />

lukanische Vorgehensweise als theologisch-reflektierten Synkretismus,<br />

eine Aufgabe, der sich die Homiletik bis heute zu stellen hat. 464<br />

Das Wort Gottes bedarf der menschlichen Worte, um Glauben zu<br />

wecken und zu stärken. Augustin (334–430) betont, dass Gott auch an -<br />

dere Möglichkeiten gehabt hätte. Es ist für ihn eine Frage der menschlichen<br />

Würde, dass sich Gott dem Menschen durch Menschen mitteilt:<br />

»Dies alles hätte bestimmt durch einen Engel geschehen können, aber<br />

dadurch wäre die menschliche Würde zunichte gemacht worden, wenn<br />

es den Anschein hätte, als ob Gott sein Wort nicht durch Menschen den<br />

Menschen darreichen wolle.« 465<br />

Als eigene wissenschaftliche Disziplin entsteht die Homiletik erst<br />

im 19. Jahrhundert. Friedrich Schleiermachers (1768–1834) »<strong>Praktische</strong><br />

<strong>Theologie</strong>« war und ist für die Homiletik bis heute maßgeblich.<br />

Alexander Schweizer (1808–1888) hat die Predigtlehre systematisiert<br />

und nach ihrem Wesen – der prinzipiellen Homiletik –, nach ihrem<br />

Inhalt – der materialen Homiletik – und nach ihrer Gestaltung – der formalen<br />

Homiletik – unterschieden. 466 Grundlegend für die Homiletik<br />

sind die Fragen: Warum predigen wir? Was predigen wir? Wie predigen<br />

wir? Eberhard Winkler fügt noch folgende Fragen hinzu: Wer predigt?<br />

Wem wird gepredigt? Wo wird gepredigt? 467 Die Homiletik geht<br />

463 Grözinger, Homiletik, 48.<br />

464 Vgl. Grözinger, Homiletik, 49.<br />

465 Augustinus, Die christliche Bildung, 11 (Original: Prolog, 6).<br />

466 Vgl. ausführlich zu Alexander Schweizer: Wintzer, Die Homiletik seit Schleiermacher<br />

bis in die Anfänge der »dialektischen <strong>Theologie</strong>« in Grundzügen, 22 ff. Die<br />

Monographie von Wintzer ist aufschlussreich im Hinblick auf eine detaillierte<br />

Darstellung der Homiletik seit Schleiermacher, so auch zu C. I. Nitzsch, T. Harnack<br />

u. v. a. m.<br />

467 Vgl. E. Winkler, <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong> elementar, 75 ff.


166<br />

5. Homiletik<br />

unter Einbeziehung ihrer Geschichte und im interdisziplinären Ge -<br />

spräch mit Rhetorik, Rezeptionsästhetik und Kommunikationstheorie<br />

diesen Fragen nach. Ziel, Inhalt und Form der Predigt werden dabei je<br />

nach historischer Situation und theologischer Position unterschiedlich<br />

bestimmt und aufeinander bezogen.<br />

5.1.1 Die rhetorische Kunst der Predigt:<br />

Aurelius Augustin (354–430)<br />

Bereits in der Alten Kirche finden wir grundlegende Überlegungen zu<br />

Sinn, Gehalt und Gestalt christlicher Predigt. 468 Aurelius Augustin<br />

ist dabei besonders hervorzuheben. Er hat die Predigtpraxis als erster<br />

einer theoretischen Betrachtung unterzogen und sorgte für eine Neubelebung<br />

der antiken Rhetorik, die er reflektiert und differenziert auf die<br />

Predigtlehre anwandte. Augustin wurde im heutigen Algerien geboren<br />

und starb 430 als Bischof von Hippo. Augustin war Rhetoriklehrer und<br />

Redenschreiber am römischen Kaiserhof, bevor er sich im Jahr 386 zum<br />

Christentum bekehrte. Er verfasste viele Schriften, die die abendländische<br />

Geistes- und Kirchengeschichte prägten. Für den homiletischen<br />

Kontext ist insbesondere das vierte Buch von »De doctrina Christiana«<br />

(»Über die christliche Lehre«) von Bedeutung. In den ersten drei Bänden<br />

befasste sich Augustin mit Fragen der biblischen Hermeneutik. Erst 30<br />

Jahre später schrieb er den vierten Band, der der homiletischen Rhetorik<br />

gewidmet ist und den Grundstein für die Predigtlehre legte.<br />

Augustin war zunächst skeptisch, was die Rhetorik im Dienst der<br />

Verkündigung betraf. Er kritisierte die Rhetorik in seinen Bekenntnissen<br />

als Freude an der menschlichen Eitelkeit und als sophistische Ge -<br />

schwätzigkeit. In seinen späteren Jahren knüpfte er wieder an die Rhetorik,<br />

insbesondere an Cicero (106–43 v. Chr.), an und machte die klassische<br />

Rhetorik für das Christentum fruchtbar. »Augustin erkannte<br />

nicht nur die naheliegende Bedeutung der Rhetorik für die Predigt, sondern<br />

sah in den rhetorischen Reflexionen über Sprache eine Voraussetzung<br />

zur Bewältigung der Probleme, die sich mit dem Bibelwort überhaupt<br />

verbanden.« 469 Es ging ihm um ein Verstehen der Bibel, nicht nur<br />

um eine möglichst gute Gestaltung und Darbietung der Predigt. Seine<br />

468 Vgl. ausführlich zur Alten Kirche: H.-M. Müller, Homiletik, 19 ff.<br />

469 Göttert, Einführung in die Rhetorik, 120.


5.1 Historische Perspektiven 167<br />

Rhetorik ist deshalb eine Theorie der Auslegung und Verkündigung<br />

der Heiligen Schrift. Augustin hat »mit einer großartigen Verbindung<br />

von gelehrter Tradition, kunstvoller Exegese und theologisch-lehrhaften<br />

wie ethisch-praktischen Zielsetzungen einen lebendigen Glauben<br />

und eine tätige Frömmigkeit durch die Predigt zu begründen versucht«<br />

470 .<br />

➣ Augustin greift auf die antike Rhetorik zurück, um sie in den<br />

Dienst von Auslegung und Predigtkommunikation zu stellen.<br />

Von Augustin sind mehr als tausend Predigten erhalten. Er konnte sich<br />

auf den Horizont der Hörerinnen und Hörer einstellen und sprach nicht<br />

»als Intellektueller zu Intellektuellen, sondern als Bischof von Hippo zu<br />

seinen murrenden Mitbürgern« 471 . Wichtig war Augustin, dass sich der<br />

Prediger nicht selbst überschätzt, sondern lernt, wie man eine Rede so<br />

hält, dass Menschen ihr gerne zuhören. Da bei einer Predigt Rückfragen<br />

nicht möglich sind, bedarf es – im Gegensatz zum Ge spräch – größter<br />

Anstrengungen, um verstanden zu werden. 472 »Der aber ist der beste<br />

Redner, der erreichen kann, daß sein Zuhörer Wahres hört und das, was<br />

er hört, versteht.« 473 Allein mit Feuereifer kann man das Wort Gottes<br />

nicht verkünden. Für Augustin ist es deshalb elementar, die Kenntnisse<br />

der »Heiden« in Sachen Dialektik und Rhetorik zu nutzen, um das Wort<br />

Gottes möglichst anmutig und verständlich zu verkünden.<br />

Dass Rhetorik missbraucht werden kann, wird für Augustin zu<br />

einem Argument, sie für die richtige Sache klug zu gebrauchen:<br />

»Die Rhetorik sieht ihre Kunst darin, jemandem eine feste Überzeugung nicht<br />

bloß vom Wahren, sondern sogar auch vom Falschen beizubringen: Wer wagte<br />

demnach die Behauptung, die Wahrheit müsse in ihren Verteidigern gegen die<br />

Lüge unbewaffnet sein? […] Jene sollen das Falsche kurz, klar und wahrscheinlich<br />

erzählen, diese aber das Wahre bloß so darlegen dürfen, dass das Anhören<br />

Ekel verursacht, das Verständnis erschwert und zuletzt Abneigung gegen das<br />

Glauben bewirkt wird! Jene sollen durch trügerische Beweisgründe die Wahrheit<br />

be kämpfen und der Lüge Geltung verschaffen dürfen, diese aber sollen<br />

470 Rössler, Grundriß der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 350 f.<br />

471 Göttert, Mythos Redemacht, 232.<br />

472 Vgl. Augustinus, Die christliche Bildung, 170 (Original: 4,10,25).<br />

473 A. a. O., 171 (Original: 4,10,25).


168<br />

5. Homiletik<br />

weder die Wahrheit zu verteidigen, noch die Lüge zu widerlegen vermögen!<br />

Jene sollen bei dem Versuch, ihre Zuhörer um jeden Preis in den Irrtum zu<br />

treiben, deren Gemüt […] feurig ermahnen dürfen; die Verteidiger der Wahrheit<br />

aber sollen eine kalte und matte Rede voll Schläfrigkeit halten müssen!<br />

Wer ist so töricht, eine solche Forderung zu ersinnen?« 474<br />

Die Wahrheit darf nicht unbewaffnet sein, eine Predigt darf nicht kalt,<br />

matt und langweilig sein, so dass sie ohne Wirkung bleibt. So wie die<br />

Redekunst (Beredsamkeit) auf die Weisheit angewiesen ist und ohne sie<br />

inhaltsleer wird und verkommt, so ist die Weisheit ohne Redekunst verloren.<br />

Augustin führt anschaulich vor Augen, dass die Bibel voll von Verfassern<br />

ist, die die Redekunst als »eine unzertrennliche Dienerin« 475 der<br />

Weisheit in Anspruch nahmen und auf Kunst keineswegs verzichteten.<br />

Vor allem Paulus wird von Augustin als Beispiel angeführt. Paulus führt<br />

seine Gedankengänge rhetorisch geschickt aus – mit Ironie und einer<br />

klugen Beweis- und Argumentationsführung.<br />

Augustin lässt zugleich keinen Zweifel daran, dass der Fokus einer<br />

homiletischen Rhetorik nicht auf stilistischer Eleganz liegen darf: Die<br />

sapientia soll die eloquentia regieren. »Darum ist ihr Hauptbestreben<br />

die Klarheit, nicht der Redeschmuck. Allerdings braucht sie die Anmut<br />

der Rede nicht zu verachten.« 476 Die Redekunst ist in den Dienst der<br />

Weisheit zu stellen. 477<br />

➣Rhetorik ist nach Augustin elementar für die Predigtlehre. Sie darf<br />

nicht Selbstzweck sein, sondern hat eine dienende Funktion. Weisheit<br />

und Redekunst sollten eine Einheit bilden.<br />

Eine Predigt kann so wenig auf Rhetorik verzichten wie ein Essen auf<br />

Gewürze. Ohne Gewürze ist ein Essen nicht nur fad, sondern viele empfinden<br />

sogar Ekel davor. 478 Erzählungen und das gezielte Ansprechen<br />

der Affekte, aber auch ein intensiv reflektiertes Verständnis des Inhalts<br />

sind zentrale Elemente, um eine Predigt anschaulich, lehrreich, unter-<br />

474 Augustinus, De doctrina Christiana, 4,2,3 zit. n. der Übersetzung von Göttert, Einführung<br />

in die Rhetorik, 125.<br />

475 Göttert, Einführung in die Rhetorik, 125.<br />

476 H.-M. Müller, Homiletik, 33.<br />

477 Vgl. Augustinus, Die christliche Bildung, 167 (Original: 4,7,21).<br />

478 Vgl. a. a. O., 172 (Original: 4,11,26).


5.1 Historische Perspektiven 169<br />

haltsam und bewegend zu gestalten. 479 Augustin übernimmt dabei die<br />

Aufgaben des Redners nach Cicero und wendet sie auf die Predigt an: Es<br />

geht in jeder Predigt um docere, delectare und movere. Das docere bezieht<br />

sich auf das Lehren, die theologische Argumentation und Reflexion, den<br />

inhaltlichen Fokus der Verkündigung. Hier liegt das Hauptgewicht der<br />

Predigt. Mit delectare ist gemeint, dass es in jeder Predigt Passagen<br />

geben sollte, die die Zuhörenden erfreuen und unterhalten. Das können<br />

Erzählungen sein, das kann Humor und Witz sein, die die Menschen<br />

zum Lachen bringen, es kann der ästhetische Stil sein, der das Gefallen<br />

der Zuhörerinnen und Zuhörern findet. Dem movere geht es schließlich<br />

um das Bewegen und Erschüttern. Das movere spricht Menschen direkt<br />

an, fordert emotional heraus oder tröstet und bewegt das Herz. Für<br />

Augustin liegt hier der Kulminationspunkt der Predigt. Erst durch das<br />

movere wird die erhoffte Erkenntnis hervorgerufen bzw. werden die<br />

Zuhörenden zu einem existentiellen Nachdenken oder einer Änderung<br />

ihres Verhaltens provoziert. Allerdings ist beim movere Vorsicht geboten<br />

– Augustin möchte keine manipulative Einflussnahme und grenzt<br />

sich in dieser Hinsicht von der klassischen antiken Rhetorik ab. Das<br />

movere hat vor allem am Ende der Predigt seinen Ort.<br />

In jeder Predigt sollte es demnach Momente der Argumentation,<br />

der Unterhaltung und der Rührung geben. Mit einem Zitat von Cicero,<br />

der namentlich nicht genannt wird, formuliert Augustin, »daß der Redner<br />

so sprechen muß, ›daß er belehrt, erfreut und erschüttert‹« 480 . Nur<br />

dann kommt die Predigt an ihr Ziel und gelingt es ihr, Impulse für<br />

bestimmte Handlungs- und Sichtweisen zu setzen.<br />

Wichtig ist, dass die drei Aufgaben des Redners mit den drei Stilebenen,<br />

den genera dicendi – dem genus humile, genus medium und genus<br />

grande – kunstvoll verbunden werden. Alle drei Stile sollten berücksichtigt<br />

werden, zugleich sollte keine Stilgattung dominieren. So ist es für<br />

Hörerinnen und Hörer schwer erträglich, wenn ständig im genus grande<br />

– im erhabenen Stil – gesprochen wird. Dieser Stil, der in der Predigt mit<br />

Pathos verbunden ist, wird häufig beim movere verwendet, das auch<br />

deshalb nur dosiert einzusetzen ist. Der verhaltene und gemäßigte Stil<br />

kann für längere Zeit viel leichter gehört werden. Augustin rät deshalb<br />

zum schlichten Stil (genus humile) und warnt vor Übertreibungen.<br />

479 Vgl. a. a. O., 154 (Original: 4,4,6).<br />

480 A. a. O., 172 (Original: 4,12,27).


170<br />

5. Homiletik<br />

➣Ziel der Predigt ist es, die Wahrheit so zu präsentieren, dass sie nicht<br />

nur klar verständlich ist, sondern auch gefällt, die Aufmerksamkeit<br />

der Hörenden gewinnt, sie anspricht und damit wirksam wird.<br />

Das Bemühen um eine homiletische Rhetorik sieht Augustin nicht in<br />

Konkurrenz zum Wirken des Geistes Gottes. Wer sich um eine überzeugende<br />

Rede bemüht, »der soll beten und darauf hinarbeiten, daß er […]<br />

mit Verständnis, Bereitwilligkeit und Gehorsam angehört wird. Wenn<br />

er dies angemessen und zutreffend macht, kann er zu Recht beredsam<br />

genannt werden, auch wenn er die Zustimmung des Hörers nicht er -<br />

reicht.« 481 Es bleibt voraussetzungsreich, dass eine Predigt verstanden<br />

wird und Folgen zeitigt, selbst wenn sie beredsam und damit rhetorisch<br />

kunstvoll gestaltet ist.<br />

Augustin führt vor Augen, dass sich biblischer Sinn nicht von selbst<br />

versteht, sondern einer sorgfältig reflektierten Hermeneutik und Auslegung<br />

bedarf. Predigerinnen und Prediger sollten sich deshalb fragen:<br />

Wie formuliere ich das, was ich auf der Kanzel zu sagen beabsichtige?<br />

Wie komme ich mit dem Hörer/der Hörerin ins Gespräch und nehme<br />

seine bzw. ihre Einwände argumentierend auf? 482 Wie gestalte ich die<br />

Predigt so, dass mir andere aufmerksam zuhören, dass sie dabei im<br />

besten Sinn unterhalten werden und zugleich nicht die Gefälligkeit,<br />

sondern die Erkenntnis das entscheidende Movens ist? Rhetorik ist für<br />

Augustin nicht unabhängig vom Inhalt zu betrachten, sie ist nicht nur<br />

die Form, die den Inhalt verpackt, beide sind vielmehr eng miteinander<br />

verflochten. Dieser Grundsatz galt nicht nur für Augustin, auch Hieronymus<br />

(347–420) formuliert:<br />

»Das Wort des Priesters soll die Würze der Schrift offenbaren. Du sollst kein<br />

Deklamator sein, auch kein ge schwätziger Zungendrescher, hinter dessen<br />

Worten nichts steckt. Vielmehr soll sich heilige Wissenschaft und Vertrautheit<br />

mit den Geheimnissen Deines Gottes in Deiner Predigt kundtun.« 483<br />

➣ Augustins Überlegungen zur rhetorischen Gestaltung der Predigt<br />

haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. In jeder Predigt<br />

sind delectare, movere und docere zu berücksichtigen.<br />

481 A. a. O., 180 (Original: 4,17,34).<br />

482 Vgl. a. a. O., 185 f. (Original: 4,20,39).<br />

483 Hieronymus, An den Priester Nepotian, Ep. 52,8,137 (BKV).


5.1 Historische Perspektiven 171<br />

In der deutschen Predigtpraxis dominiert nicht selten das docere. Es<br />

würde es deutlich leichter machen, Predigten zuzuhören, sich auf ihren<br />

Inhalt einzulassen und sich an ihnen und ihrer Schönheit zu erfreuen,<br />

wenn darüber hinaus auch das delectare und movere Beachtung fänden.<br />

5.1.2 Predigt als Inkarnation Christi:<br />

Martin Luther (1483–1546)<br />

Nach Augustin ist die Predigttätigkeit deutlich zurückgegangen. Der<br />

Gottesdienst war Sakramentsgottesdienst und auf eine Predigt nicht<br />

angewiesen. Die Predigt war vor allem Mittel der öffentlichen Volkserziehung<br />

und Aufruf zur Buße. Sie gehörte zwar zum kirchlichen Leben,<br />

wurde aber inhaltlich entleert. »Ursache dafür war einerseits der Mangel<br />

an geeigneten und befähigten Predigern, andererseits aber die bloß beiläufige<br />

und beschränkte Funktion der Predigt für das religiöse Leben<br />

selbst.« 484 Doch gab es auch im Mittelalter begnadete Prediger wie<br />

Bonifatius (673–754) mit seiner Missionspredigt, Bernhard Von<br />

Clairvaux (1090–1153) mit seiner Kreuzzugspredigt und insbesondere<br />

Meister Eckhart (1260–1328) mit seinen mystischen Predigten. Auch<br />

die Waldenserbewegung, die sich seit dem 12. Jahrhundert in ganz Europa<br />

ausbreitete, sorgte für eine Belebung der Predigt, indem sie die Laienpredigt<br />

in den Fokus stellte, das persönliche Bibelstudium betonte und<br />

Heiligenverehrung, Ablass und Fegefeuer ablehnte. Die Parallelen zu<br />

den Anliegen der Reformation liegen dabei auf der Hand, 1532 schlossen<br />

sich die Waldenser deshalb auch der Reformation an. Am Vorabend der<br />

Reformation kam es vor allem in den Städten zu einer Erneuerung der<br />

Predigtkultur durch die Prädikaturen, die eine regelmäßige Predigttätigkeit<br />

gewährleisteten und vielfach zum Ausgangspunkt für die Reformation<br />

wurden.<br />

Die Predigt verschwand insofern nicht aus dem kirchlichen Leben,<br />

aber erst die Reformation rückte sie wieder in den Mittelpunkt des Gottesdienstes.<br />

➣Mit der Reformation verändert sich nicht nur die Stellung der Predigt,<br />

sondern auch das Amt, das nun vor allem als Predigtamt, als<br />

ministerium verbi divini, zu verstehen ist.<br />

484 Rössler, Grundriß der <strong>Praktische</strong>n <strong>Theologie</strong>, 350.


<strong>Isolde</strong> <strong>Karle</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1963,<br />

studierte Evangelische <strong>Theologie</strong> in Tü -<br />

bingen, Cambridge (USA) und Münster.<br />

Sie wurde in Kiel promoviert und habilitierte<br />

sich in Bonn. Seit 2001 ist sie Professorin<br />

für <strong>Praktische</strong> <strong>Theologie</strong>, insbesondere<br />

Homiletik, Liturgik und Poimenik,<br />

an der Ruhr-Universität Bochum und seit<br />

2015 Direktorin des Instituts für Religion<br />

und Gesellschaft.<br />

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