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Miriam Haar | Dagmar Heller | Burkhard Neumann | Simone Sinn (Hrsg.): Wenn Ethik zur Zerreißprobe für Kirchen wird (Leseprobe)

Differenzen in moralisch-ethischen Fragen belasten zunehmend die Einheit innerhalb und zwischen den Kirchen. Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 2021 mit dem Dokument „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“ eine neue Herangehensweise erarbeitet, die den Kirchen helfen soll, die Prozesse der Urteilsbildung in ethischen Fragen besser zu verstehen. Es geht darum zu erkennen, wie und warum unterschiedliche Auffassungen entstehen, obwohl alle danach streben, dem Willen Gottes gerecht zu werden. Damit wird ein Weg für einen konstruktiven Umgang mit Differenzen aufgezeigt. Der vorliegende Band enthält die Beiträge einer Tagung, organisiert vom Konfessionskundlichen Institut Bensheim und dem Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn, bei der das Dokument von Fachleuten aus verschiedenen Konfessionen vorgestellt, erläutert und diskutiert wurde.

Differenzen in moralisch-ethischen Fragen belasten zunehmend die Einheit innerhalb und zwischen den Kirchen. Die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen hat 2021 mit dem Dokument „Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“ eine neue Herangehensweise erarbeitet, die den Kirchen helfen soll, die Prozesse der Urteilsbildung in ethischen Fragen besser zu verstehen. Es geht darum zu erkennen, wie und warum unterschiedliche Auffassungen entstehen, obwohl alle danach streben, dem Willen Gottes gerecht zu werden. Damit wird ein Weg für einen konstruktiven Umgang mit Differenzen aufgezeigt.
Der vorliegende Band enthält die Beiträge einer Tagung, organisiert vom Konfessionskundlichen Institut Bensheim und dem Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn, bei der das Dokument von Fachleuten aus verschiedenen Konfessionen vorgestellt, erläutert und diskutiert wurde.

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Beihefte<br />

<strong>zur</strong> Ökumenischen Rundschau<br />

137<br />

<strong>Miriam</strong> <strong>Haar</strong> | <strong>Dagmar</strong> <strong>Heller</strong> |<br />

<strong>Burkhard</strong> <strong>Neumann</strong> | <strong>Simone</strong> <strong>Sinn</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Wenn</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Zerreißprobe</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Kirchen</strong> <strong>wird</strong><br />

Dokumentation und Diskussion der Studie der<br />

Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung<br />

„Dialog fördern, um Koinonia zu stärken“


Geleitwort<br />

Bischöfin Petra Bosse-Huber<br />

Die Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung des Ökumenischen<br />

Rates der <strong>Kirchen</strong> (ÖRK) hat im Jahr 2021 ein wichtiges Studiendokument<br />

vorgelegt: »<strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung. Dialog fördern,<br />

um Koinonia zu stärken«. Die Mitglieder der Kommission kommen aus<br />

verschiedenen <strong>Kirchen</strong> weltweit, das Ergebnis ihres Studienprozesses ist<br />

ein beachtenswerter Text interkonfessioneller und interkultureller Verständigung.<br />

Die Kernfrage dieser Studie treibt auch uns hier in Deutschland<br />

um: Wie können wir mit moralisch-ethischen Differenzen in und<br />

zwischen <strong>Kirchen</strong> konstruktiv umgehen? Es ist wegweisend, dass diese<br />

Studie nicht in erster Linie moralische Positionen miteinander vergleicht,<br />

sondern genauer untersucht, wie verschiedene <strong>Kirchen</strong> moralisch-ethische<br />

Urteilsbildungsprozesse gestalten. Selbst wenn wir nicht dieselben ethischen<br />

Positionen vertreten, macht es <strong>für</strong> das ökumenische Miteinander<br />

einen großen Unterschied, die Urteilsbildungprozesse anderer <strong>Kirchen</strong> zu<br />

kennen und trotz aller Differenz auch die Integrität solcher Prozesse wahrzunehmen.<br />

Ich freue mich, dass das Konfessionskundliche Institut in Bensheim<br />

und das Johann-Adam-Möhler Institut in Paderborn, gemeinsam mit dem<br />

Büro der Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung zu einem Studientag<br />

zu diesem Studiendokument eingeladen haben. Die Vorträge dieses<br />

Studientags und der damit verbundene multilaterale ökumenische Austausch<br />

sind ein wichtiger Beitrag <strong>zur</strong> Rezeption des Studiendokuments in<br />

Deutschland.<br />

Dieser Band zeigt, dass bei der Suche nach Antworten auf die ethischen<br />

Herausforderungen unserer Zeit die ökumenische Verständigung<br />

eine wichtige Bedeutung hat. Sie wirkt Polarisierung und Polemik ent -<br />

gegen. Gerade weil die Konfliktlinien in ethischen Fragen oft kaum mehr<br />

entlang Konfessionsgrenzen verlaufen, kann das ökumenische Gespräch<br />

5


nicht nur <strong>für</strong> die zwischenkirchlichen Diskussionen ein großer Gewinn<br />

sein, sondern auch <strong>für</strong> die innerkirchlichen Debatten eine wichtige Rolle<br />

spielen. Wer sich darauf einlässt, komplizierte und heikle Themen mitein -<br />

ander im Geist der Verständigung zu besprechen, und einander zuhört,<br />

der trägt <strong>zur</strong> Versachlichung und zum Verstehen bei. Beides ist in moralisch-ethischen<br />

Urteilsbildungsprozessen hilfreich.<br />

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!<br />

6


Vorwort<br />

Die Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung des Ökumenischen<br />

Rates der <strong>Kirchen</strong> bearbeitet seit ihrer Entstehung als Bewegung <strong>für</strong> Glauben<br />

und <strong>Kirchen</strong>verfassung (GuK) vor bald 100 Jahren lehrmäßige Fragen,<br />

die die <strong>Kirchen</strong> trennen. Auf breiter Ebene bekannt geworden ist dabei<br />

das sogenannte Lima-Dokument zu Taufe, Eucharistie und Amt (1982).<br />

Seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist aber immer deutlicher<br />

geworden, dass nicht nur dogmatische, sondern auch ethische Fragen als<br />

trennend wahrgenommen werden. Solche haben in den letzten Jahrzehnten<br />

verstärkt auch innerhalb von <strong>Kirchen</strong> bzw. <strong>Kirchen</strong>familien zu heftigen<br />

Auseinandersetzungen oder gar neuen Spaltungen geführt. Auffallend ist<br />

dabei die Emotionalität und Unnachgiebigkeit, mit der die Debatten geführt<br />

werden, so dass Konvergenzen, wie die Kommission <strong>für</strong> GuK sie bisher<br />

in den genannten Fragen gesucht hat, hier unmöglich erscheinen.<br />

Die Erkenntnis, dass Ekklesiologie und <strong>Ethik</strong> nicht isoliert voneinander<br />

betrachtet werden können, hat die Kommission spätestens Ende der<br />

1980er Jahre in verschiedenen Einzelstudien umgesetzt. Da bald auch<br />

deutlich wurde, dass die Differenzen im Umgang mit der Frage nach der<br />

menschlichen Sexualität, aber auch verschiedene andere Fragen der<br />

Bioethik mit der bisher üblichen Konvergenzmethode nicht zielführend<br />

zu bearbeiten sind, wurde 2006 beschlossen, »eine Untersuchung der Art<br />

und Weise, wie die <strong>Kirchen</strong> Lehren und Anleitungen in Bezug auf mora -<br />

lische und ethische Fragen formulieren und anbieten – insbesondere solche,<br />

die kirchenspaltend sind oder werden können, z. B. menschliche<br />

Sexua lität« 1 , durchzuführen. Damit wurden nicht die konkret anstehenden<br />

1<br />

Minutes of the Standing Commission on Faith and Order, Faverges, Haute Savoie,<br />

France 2006, F&O Paper Nr. 202, Genf 2006, 107 (Übersetzung von <strong>Dagmar</strong> <strong>Heller</strong>).<br />

7


Themen aufgenommen, sondern man begab sich auf eine Art Meta-Ebene,<br />

von der aus die Mechanismen und Prozesse untersucht werden sollten,<br />

die bei der Urteilsbildung über solche Fragen angewandt werden bzw. ablaufen.<br />

Die Kommission erhoffte sich dadurch ein besseres Verständnis<br />

dieser Vorgänge, welches zu mehr Toleranz <strong>für</strong> Andersdenkende verhelfen<br />

und damit dazu beitragen könnte, die Emotionalität aus den Debatten her -<br />

auszunehmen.<br />

In einer ersten Studie wurden die verschiedenen Faktoren analysiert,<br />

die bei moralisch-ethischen Urteilsbildungsprozessen eine Rolle spielen.<br />

In einem zweiten Studienprozess wurden dann in einer ersten Phase<br />

Selbstbeschreibungen dieser Prozesse aus den verschiedenen kirchlichen<br />

Traditionen untersucht. Hinzu kam in einer zweiten Phase die Untersuchung<br />

historischer Beispiele, bei denen eine Kirche in einer konkreten<br />

ethischen Frage ihre bisherige Position verändert hat. Dabei zeigte sich<br />

insgesamt, auf welche Weise unterschiedliche Faktoren in den verschiedenen<br />

konfessionellen Traditionen zum einen miteinander verzahnt sind,<br />

andererseits unter verschiedenen Voraussetzungen unterschiedlich stark<br />

<strong>zur</strong> Geltung kommen.<br />

Aus diesen Studien wurde schließlich ein Dokument zusammengestellt<br />

unter dem Titel »<strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung: Dialog<br />

fördern, um Koinonia zu stärken«, das im Januar 2021 von der Kommission<br />

<strong>für</strong> GuK verabschiedet und dann veröffentlicht wurde.<br />

Um die deutsche Übersetzung dieses Textes bekannt zu machen,<br />

haben das Konfessionskundliche Institut des Evangelischen Bundes in<br />

Bensheim und das Johann-Adam-Möhler-Institut <strong>für</strong> Ökumenik in Paderborn<br />

auf Bitten und unter Mitarbeit des Sekretariats der Kommission <strong>für</strong> Glauben<br />

und <strong>Kirchen</strong>verfassung in Genf am 5. Juli 2022 einen Online-Studientag<br />

unter dem Titel »<strong>Wenn</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Zerreißprobe</strong> <strong>für</strong> <strong>Kirchen</strong> <strong>wird</strong> ...«<br />

durchgeführt. Dabei wurde die neue Studie von GuK vorgestellt und aus<br />

der Perspektive von Fachleuten aus verschiedenen Konfessionen diskutiert.<br />

In dem vorliegenden Band <strong>wird</strong> das Studiendokument, zusammen mit<br />

einer Einführung von Myriam Wijlens und <strong>Dagmar</strong> <strong>Heller</strong> einem weiteren<br />

Publikum <strong>zur</strong> Verfügung gestellt. Begleitend dazu veröffentlichen wir hier<br />

außerdem die verschiedenen konfessionellen Sichtweisen auf den Text<br />

von Vasilios N. Makrides (orthodox), Sigrid Müller (katholisch), Alexander<br />

S. Jensen (anglikanisch), <strong>Miriam</strong> Rose (evangelisch-landeskirchlich), Stephan<br />

von Twardowski (evangelisch-methodistisch), Markus Iff (frei evangelisch).<br />

Insgesamt <strong>wird</strong> hier ein neuer Ansatz in der Arbeit von GuK deutlich:<br />

Es geht hier nicht darum, Konvergenzen in ethischen Fragen zu finden,<br />

sondern Wege zu suchen, um verschiedene Positionen nebeneinander ste-<br />

8


hen lassen zu können und ins Gespräch miteinander zu bringen. Es geht<br />

letztlich darum, eine Hermeneutik des Vertrauens umzusetzen, die auf<br />

der Erkenntnis basiert, dass die zu einem anderen Urteil gelangende Seite<br />

ebenso ernsthaft versucht, den Willen Gottes zu erkennen, wie es die<br />

eigene Position in Anspruch nimmt.<br />

Dies scheint ein vielversprechender Ansatz <strong>für</strong> die Zukunft des ökumenischen<br />

Dialogs.<br />

Dezember 2022<br />

Die Herausgeber und Herausgeberinnen<br />

9


Inhaltsverzeichnis<br />

Einführung zum Dokument »Dialog fördern, um Koinonia<br />

zu stärken« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

<strong>Dagmar</strong> <strong>Heller</strong> und Myriam Wijlens<br />

<strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung.<br />

Dialog fördern, um Koinonia zu stärken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Studie der Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung Nr. 235<br />

Das Dokument »Dialog fördern, um Koinonia zu stärken«<br />

aus orthodox-christlicher Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

Vasilios N. Makrides<br />

»Dialog eröffnen, um Gemeinschaft zu bilden« –<br />

ein ökumenisches Analyseinstrument <strong>für</strong> kirchliche<br />

Normfindung aus katholisch-theologischer Perspektive. . . . . . . . . . . 161<br />

Sigrid Müller<br />

<strong>Wenn</strong> <strong>Ethik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Zerreißprobe</strong> <strong>für</strong> <strong>Kirchen</strong> <strong>wird</strong> …<br />

Eine anglikanische Fallstudie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />

Alexander S. Jensen<br />

Ethische Sachlichkeit. Eine evangelische Lektüre<br />

des Dokuments »Dialog fördern, um Koinonia zu stärken«. . . . . . . . 183<br />

<strong>Miriam</strong> Rose<br />

Dialog fördern, gemeinsame Wege stärken. Prozesse ethischer<br />

Urteilsbildung in der Evangelisch-methodistischen Kirche . . . . . . . . 195<br />

Stephan von Twardowski<br />

11


»Dialog fördern, um Koinonia zu stärken.«<br />

Stellungnahme aus der Perspektive des Bundes Freier<br />

evangelischer Gemeinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209<br />

Markus Iff<br />

Beiträgerverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />

12


Einführung zum Dokument »Dialog fördern,<br />

um Koinonia zu stärken«<br />

<strong>Dagmar</strong> <strong>Heller</strong> und Myriam Wijlens<br />

Im Januar 2021 verabschiedete die Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung<br />

des Ökumenischen Rates der <strong>Kirchen</strong> ein neues Studien do -<br />

kument mit dem Titel »<strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung:<br />

Dialog fördern, um Koinonia zu stärken«. 1 Dieser Text ist das Ergebnis eines<br />

Prozesses, der bereits vor etwa 40 Jahren begann 2 und in dessen Verlauf<br />

als direkter Vorläufer 2013 die Publikation »Moral Discernment in<br />

the Churches: A Study Document« (= MDC) erschien. 3 Der gesamte Studienprozess<br />

basiert auf der Erkenntnis, dass moralische und ethische Fragen<br />

sich in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker als kirchenspaltend<br />

erwiesen haben, sowohl zwischen als auch innerhalb von <strong>Kirchen</strong><br />

und <strong>Kirchen</strong>familien. Während MDC darauf zielte, verschiedene Quellen<br />

und Faktoren zu ermitteln, die im Prozess der ethischen Urteilsbildung<br />

1<br />

<strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung: Bd. 3 Dialog fördern, um Koinonia<br />

zu stärken, Studie der Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung Nr. 235,<br />

Genf 2021. Im Folgenden zitiert als FD, gefolgt von der Nummer des zitierten Absatzes<br />

im Dokument.<br />

2<br />

Näheres in: MYRIAM WIJLENS, Facilitating Dialogue to build Koinonia: A Study Document<br />

on Churches and Moral Discernment by the Faith and Order Commission,<br />

in: Centro Pro Unione – Bulletin Spring 99 (2021), 12–26 (online: https://www.<br />

prounione.it/bulletin/web-n99-spring2021/), auch in Materialdienst des Konfessionskundlichen<br />

Instituts 72 (2021), 75–86. (https://www.degruyter.com/ document/doi/10.1515/mdki-2021-0014/html).<br />

3<br />

Faith and Order Paper No. 215, Genf 2013, verfügbar unter: https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/moral-discernment-in-the-churches.<br />

Der englische<br />

Text wurde auch veröffentlicht als Anhang 1 in MYRIAM WIJLENS /VLADIMIR<br />

SHMALIY (<strong>Hrsg</strong>.), Churches and Moral Discernment, Vol. 1 Learning from Traditions,<br />

Faith and Order Paper No. 228, Genf 2021, 146–189. Die letztgenannte Veröffentlichung<br />

ist verfügbar unter: https://www.oikoumene.org/news/wcc-faith-and-order-commission-publishes-two-volumes-on-moral-discernment<br />

(Stand: 17. 12. 2022).<br />

13


eine Rolle spielen und herauszufinden, wie sie sich auf das Ergebnis eines<br />

moralischen Urteilsbildungsprozesses auswirken können, beschloss die<br />

Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung 2015, nun zu untersuchen,<br />

was eigentlich geschieht und wie diese Faktoren zusammenspielen,<br />

wenn eine Kirche einen moralischen Urteilsbildungsprozess durchführt.<br />

Die Hoffnung war und ist, dass ein besseres Verständnis dieses Prozesses<br />

es ermöglicht, einander zuzuhören und voneinander zu lernen und so den<br />

Weg <strong>für</strong> einen konstruktiven Dialog zwischen und innerhalb der <strong>Kirchen</strong><br />

zu einer bestimmten moralischen Frage zu ebnen.<br />

Zu diesem Zweck wurden zwei Projekte durchgeführt: a) die faktische<br />

Beschreibung des Urteilsbildungsprozesses in den verschiedenen konfessionellen<br />

Traditionen (publiziert nur auf Englisch unter dem Titel »Learning<br />

from Traditions« 4) , b) die Untersuchung konkreter historischer Prozesse,<br />

in denen eine Kirche eine Änderung ihrer Haltung bzgl. einer<br />

ethisch-moralischen Frage vornahm (publiziert nur auf Englisch unter dem<br />

Titel »Learning from History« 5 ).<br />

Man hoffte, dass das Verständnis, wie und warum der moralische Entscheidungsprozess<br />

einer Kirche im Laufe der Zeit zu unterschiedlichen<br />

Ergebnissen führt (diachrone Unterschiede), es erleichtern könnte, synchrone<br />

Unterschiede zu studieren und zu würdigen, d. h. wie und warum<br />

<strong>Kirchen</strong> heute unterschiedliche moralische Positionen zu einem aktuellen<br />

Thema vertreten können. Dabei sollten auch Kriterien <strong>für</strong> die Unterscheidung<br />

zwischen akzeptablen und vielleicht sogar notwendigen Veränderungen<br />

und solchen, die nicht dem Evangelium entsprechen, aufgezeigt werden.<br />

Dazu wurden Studien zu verschiedenen moralischen Fragen aus<br />

sieben Themenbereichen eingeholt: a) das Verbot des Wuchers aus orthodoxer,<br />

calvinistischer und römisch-katholischer Sicht, b) Sklaverei in verschiedenen<br />

amerikanischen <strong>Kirchen</strong>, c) das Zusammenspiel von Kirche,<br />

Staat und Gesellschaft im katholischen und im lutherischen Bereich,<br />

d) unterschiedliche christliche Ansätze zu Krieg und Gewaltlosigkeit,<br />

e) das Schweigegebot <strong>für</strong> Frauen in der Kirche, f) moralische Fragen im<br />

Zusammenhang mit der Ehe, insbesondere die Lehre der Lambeth-Kon -<br />

ferenz <strong>zur</strong> Empfängnisverhütung, eine afrikanische Perspektive <strong>zur</strong> Polygamie<br />

und der Umgang mit interreligiösen Ehen durch Methodisten in<br />

4<br />

Vgl. Anm. 3.<br />

5<br />

MYRIAM WIJLENS /VLADIMIR SHMALIY /SIMONE SINN (<strong>Hrsg</strong>.), Churches and Moral Discernment,<br />

Vol. 2 Learning from History, Faith and Order Paper No. 229, Genf 2021.<br />

https://www.oikoumene.org/sites/default/files/2021-02/Churches_Moral _Discernment_Vol2_Web.pdf.<br />

14


Malaysia, g) die christliche moralische Beurteilung von Selbstmord und<br />

den Auswirkungen <strong>für</strong> eine kirchliche Trauerfeier bzw. Beerdigung aus<br />

der Sicht der römisch-katholischen und der koptischen Kirche.<br />

Aus der Analyse dieser Untersuchungen entstand das Studiendokument<br />

»<strong>Kirchen</strong> und moralische Urteilsbildung: Dialog fördern, um Koinonia<br />

zu stärken«, das in diesem Band der deutschsprachigen Leserschaft<br />

vorgestellt werden soll.<br />

Dieser Text hat den Status eines »Studiendokuments«. Daher ist es<br />

wichtig, das Dokument im Lichte des Ursprungs und des beabsichtigten<br />

Zwecks zu lesen und somit die Relevanz des Textes weder zu über- noch<br />

zu unterschätzen. Die Studie führt selbst keinen Prozess der moralischen<br />

Urteilsbildung durch. Sie stellt auch keine bestimmte Art und Weise vor,<br />

wie ein solcher Prozess durchgeführt werden kann. Sie sagt nicht, ob das,<br />

was in einem moralischen Urteilsbildungsprozess getan <strong>wird</strong>, richtig oder<br />

falsch ist. Wie alle ökumenischen Dokumente gibt auch dieses Studiendokument<br />

nicht die Sichtweise oder gar die Terminologie einer bestimmten<br />

Tradition wieder. Das Verständnis der unterschiedlichen Terminologie, die<br />

die Traditionen verwenden, war und ist Teil der Herausforderung bei der<br />

Aufnahme eines Dialogs.<br />

Anders als bei bisherigen Studien der Kommission <strong>für</strong> Glauben und<br />

<strong>Kirchen</strong>verfassung geht es in diesem Dokument nicht um das Herausfiltern<br />

von Konvergenzen, sondern darum, über einen Prozess zu reflektieren,<br />

und damit bewegt sich die Reflektion hier auf einer Meta-Ebene. Es ist<br />

also auch <strong>für</strong> Leserinnen und Leser erforderlich, gewissermaßen aus der<br />

Vogelperspektive zu beurteilen, was tatsächlich geschieht, wenn man sich<br />

mit einer moralischen Frage befasst. Das erfordert Disziplin, denn man ist<br />

versucht, sich auf den Inhalt des Themas zu konzentrieren, während man<br />

der Methode und dem Urteilsbildungsprozess als solchem nicht genügend<br />

Aufmerksamkeit schenkt.<br />

Eine weitere Vorbemerkung soll unterstreichen, dass das Dokument<br />

nicht eine theologische Lehrmeinung darstellt, sondern letztlich nur ein<br />

Hilfsmittel ist, das denjenigen, die sich auf einen Prozess der moralischen<br />

Urteilsbildung einlassen, helfen kann, besser zu verstehen, was eigentlich<br />

in einem solchen Prozess geschieht und welche Faktoren dabei auf welche<br />

Weise eine Rolle spielen.<br />

Einige Kernpunkte des Dokuments möchten wir hier hervorheben:<br />

15


Aufrichtigkeit<br />

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass alle <strong>Kirchen</strong> in ihrer ethischen Urteilsbildung<br />

dem Evangelium treu bleiben wollen. Dies bedeutet, dass ein<br />

Dialog mit der Annahme beginnen kann, dass der Dialogpartner sich aufrichtig<br />

auf den Prozess der Urteilsbildung eingelassen hat, ohne das Ergebnis<br />

des Entscheidungsprozesses des Partners notwendigerweise oder<br />

automatisch zu akzeptieren.<br />

Das Gewissen der Kirche<br />

Ein zweiter Punkt betrifft die Einführung des Begriffes »Gewissen der<br />

Kirche« in diesem Dokument. Die <strong>Kirchen</strong> reagieren auf neue moralische<br />

Herausforderungen in einem bestimmten Kontext. Der moralische Entscheidungsprozess<br />

einer Kirche <strong>wird</strong> jedoch von ihrem je eigenen Verständnis<br />

dessen geprägt, was man als »Gewissen der Kirche« bezeichnen<br />

kann. Es ist erkennbar, dass es in den <strong>Kirchen</strong> als Gemeinschaften ein<br />

kollektives Bestreben gibt, in einer bestimmten Angelegenheit Gottes<br />

Willen zu folgen. Das kollektive Wissen und die Weisheit, aus denen die<br />

Tradition schöpft, umfassen »nicht nur die Anleitung durch den Heiligen<br />

Geist, die Heilige Schrift und die Tradition, sondern auch die Lehren und<br />

die Leitungsstrukturen <strong>für</strong> die Entscheidungsfindung, die Spiritualität und<br />

die <strong>Kirchen</strong>kultur.« (FD 26) Von Bedeutung ist auch die »gelebte Erfahrung<br />

von Einzelpersonen und Gruppen, die unmittelbar in spezielle moralischethische<br />

Fragen verwickelt sind« (FD 26). Darüber hinaus umfasst das<br />

Gewissen der Kirche auch »alle jene Prozesse der moralisch-ethischen<br />

Urteilsbildung, die eine Kirche <strong>für</strong> sich selbst in Anbetracht ihrer Re -<br />

zeption dieser Quellen des christlichen Glaubens als gültig anerkennt. In<br />

dieser Studie bezeichnet der Begriff ›das Gewissen der Kirche‹, wie all<br />

diese Quellen im dynamischen Wirken des Leibes Christi tätig sind, im<br />

Glauben daran, dass dieses Handeln vom Heiligen Geist geleitet <strong>wird</strong>.<br />

Anders ausgedrückt, das Gewissen einer Kirche stellt all das im Leben einer<br />

Kirche dar, was bei der Aufgabe der moralisch-ethischen Urteilsbildung<br />

durch und <strong>für</strong> das Volk Gottes zum Tragen kommen kann und kommt.«<br />

(FD 26) 6 Es ist also ein Begriff, der »das gemeinschaftliche Bemühen jeder<br />

6<br />

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die römisch-katholische Kirche begonnen,<br />

die Begriffe sensus fidei und sensus fidelium zu verwenden. Es wäre lohnenswert,<br />

eine Studie darüber durchzuführen, wie sich diese Begriffe zum »Ge-<br />

16


Kirche bezeichnet, eine <strong>Ethik</strong> der Koinonia umzusetzen, indem ein Urteilsbildungsprozess<br />

über das Gute und Richtige inmitten der konkreten<br />

Gegebenheiten durch die Auslegung ihres christlichen Vermächtnisses<br />

vollzogen <strong>wird</strong>.« (FD 26)<br />

Die Beschreibungen der Urteilsbildungsprozesse in den verschiedenen<br />

Traditionen und die Untersuchung historischer Beispiele <strong>für</strong> moralische<br />

Urteilsbildung haben gezeigt, dass die Interaktion von Themen, die die<br />

Kirche herausfordern, mit dem Gewissen der Kirche auf die eine oder andere<br />

Weise etwas ist, das alle <strong>Kirchen</strong> in ihrem Engagement <strong>für</strong> Gottes<br />

Mission in und mit der Welt teilen. Es treten ständig neue Umstände auf,<br />

die die Position einer bestimmten Kirche zu diesem Zeitpunkt in Frage<br />

stellen und die eine Neuorientierung nötig machen, in der es darum geht,<br />

dass die Kirche einerseits sichtbares Zeichen des Reiches Gottes bleibt<br />

und gleichzeitig »der Erlösung der Gläubigen und der Welt dienen kann«<br />

(FD 36). Die Untersuchung der historischen Beispiele zeigt auch, dass die<br />

<strong>Kirchen</strong> auf die neuen Herausforderungen unterschiedlich reagiert und<br />

geantwortet haben. Manchmal bekräftigen sie die Position, die sie bereits<br />

vertraten, ein anderes Mal ändern sie die Bedeutung und Geltung einer<br />

bestehenden Position nicht, ermöglichen aber gleichzeitig eine Anpassung<br />

an eine bestimmte Situation auf pastoraler Ebene. Einige Reaktionen umfassen<br />

»Entwicklungen beim Verstehen einer bestehenden Haltung, die<br />

ihre Anwendung beeinflussen, ohne ihr Vorhandensein zu ändern. Einige<br />

dieser Reaktionen können sogar dazu führen, dass das Handeln und die<br />

Morallehre verändert oder abgewandelt werden bzw. dass die frühere Haltung<br />

aufgegeben und sogar verurteilt <strong>wird</strong>« (FD 39).<br />

Die Terminologie des »Wandels«<br />

Einige <strong>Kirchen</strong> würden das Ergebnis des Prozesses der moralischen Urteilsbildung<br />

als Veränderung einer moralischen Position bezeichnen. Andere<br />

würden sich einer solchen Beschreibung widersetzen, weil sie sagen, »die<br />

Anwendung des unveränderlichen Gewissens der Kirche auf eine neue<br />

Situation – und damit die Erarbeitung einer ›neuen‹ konkreten Lösung <strong>für</strong><br />

das anstehende Problem – [stellt] keine moralisch-ethische Veränderung<br />

dar […].« (FD 46). Dies zeigt, wie unterschiedlich selbst der Begriff der<br />

wissen der Kirche« verhalten, um zu sehen, wie letzteres das Verständnis der römisch-katholischen<br />

Terminologie bereichern kann.<br />

17


Das Dokument »Dialog fördern, um Koinonia<br />

zu stärken« aus orthodox-christlicher Sicht<br />

Vasilios N.Makrides<br />

Hinführung<br />

Es sollte von Anfang an betont werden, dass es sich beim Dokument »Dialog<br />

fördern, um Koinonia zu stärken« im Rahmen des Projektes »<strong>Kirchen</strong><br />

und moralisch-ethische Urteilsfindung« der Kommission <strong>für</strong> Glauben und<br />

<strong>Kirchen</strong>verfassung des Ökumenischen Rates der <strong>Kirchen</strong> 1 um einen in<br />

vielerlei Hinsicht beeindruckenden theologischen Text handelt, der ohne<br />

Einschränkung zu begrüßen ist. Dieses Dokument versucht, eine christ -<br />

liche gemeinsame Verständigungsbasis zu finden, und zwar in einem sehr<br />

umstrittenen und komplexen Terrain, wie dasjenige der christlichen Morallehre<br />

und -praxis, das nicht nur historisch, sondern auch gegenwärtig<br />

teilweise sogar <strong>für</strong> heftige Diskussionen und Dissonanzen unter den <strong>Kirchen</strong><br />

(und auch säkularen Institutionen) sorgt. Ohnehin waren und sind<br />

heute noch Meinungsverschiedenheiten in solchen Fragen die Regel. Jedoch<br />

zeigt ein genauerer analytischer Blick, dass es sowohl verbindende<br />

als auch trennende Faktoren in diesem Bereich zwischen den christlichen<br />

<strong>Kirchen</strong> gibt, die je nach Situation entweder überbetont oder unterbewertet<br />

wurden. Die Autorität von bestimmten Akteuren oder Institutionen<br />

bei der Festlegung der jeweiligen Richtung darf auch nicht vernachlässigt<br />

werden. Trotzdem versuchte die Kommission mit dem vorliegenden Dokument,<br />

solche Polarisierungen einschließlich falscher Wahrnehmungen<br />

und Darstellungen zu überwinden, um einen echten ökumenischen Dialog<br />

über diese zentrale Thematik zu initiieren.<br />

1<br />

Dialog fördern, um Koinonia zu stärken. <strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung.<br />

Band 3. Studie der Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung,<br />

Nr. 235, Genf 2021.<br />

147


Hinter diesem Dokument liegt eine ganze Menge Arbeit und eine seriöse<br />

sowie engagierte Beschäftigung mit dem Thema über mehrere Jahre,<br />

die zuerst mit der Analyse der Urteilsbildungsprozesse in den diversen<br />

christlichen Traditionen begann 2 und die sich anschließend mit konkreten<br />

Beispielen aus der Geschichte befasste, 3 um zu eruieren, wie <strong>Kirchen</strong> mit<br />

moralischen Herausforderungen konfrontiert wurden und wie sie entsprechend<br />

<strong>zur</strong> moralisch-ethischen Urteilsbildung gelangten. Dieses Dokument<br />

ist insofern das Endergebnis einer systematischen historischen, analytischen<br />

und synthetischen Arbeit und ist von einer multilateralen ökumenischen<br />

Pluralität gekennzeichnet, mit der Hoffnung, die christliche gegenseitige<br />

Verständigung und sichtbare kirchliche Einheit sowie Gemeinschaft<br />

zu fördern und zwar durch konkrete Schritte auf der Basis des untersuchten<br />

Materials. Beteiligt waren daran Vertreter und Vertreterinnen von insgesamt<br />

14 <strong>Kirchen</strong>familien und Glaubenstraditionen (östlich-orthodox und<br />

orientalisch-orthodox, römisch-katholisch, anglikanisch und altkatholisch<br />

sowie verschiedener protestantischer <strong>Kirchen</strong> und Pfingstkirchen). Dieses<br />

ambitionierte Ziel wurde aber vorsichtig formuliert – man war sich sicherlich<br />

der zahlreichen Schwierigkeiten dieses sehr empfindlichen und<br />

oft debattierten Themas bewusst, auch wenn die christliche <strong>Ethik</strong> auf ein<br />

gemeinsames Erbe <strong>zur</strong>ückblickt. Das größte Problem dabei ist, die bereits<br />

etablierte Tradition der kirchlichen Praxis mit den stets geschichtlich auftretenden<br />

neuen Herausforderungen in Einklang zu bringen; mit anderen<br />

Worten, das immer wieder währende Spannungsfeld zwischen Kontinuität<br />

und Wandel in der Kirche auf eine kreative, zugleich aber der Tradition<br />

gegenüber angemessene Weise zu handhaben. Aus der <strong>Kirchen</strong>geschichte<br />

<strong>wird</strong> zudem deutlich, dass gewisse Veränderungen in bestimmten Angelegenheiten<br />

moralisch-ethischer Urteilsbildung kontinuierlich stattgefunden<br />

haben. Zu diesem Zweck erarbeitete die Kommission ein detailliertes und<br />

durchdachtes »Analyseinstrument«, um die Uneinigkeit in moralisch-ethischen<br />

Fragestellungen besser verstehen und den Dialog darüber produktiver<br />

führen zu können. Mit Hilfe von Leitfragen, Abbildungen, Zusammenfassungen<br />

und Tabellen sollte dieses »Analyseinstrument« möglichst<br />

operationalisiert werden. Ohne es als Allheilmittel oder als Garantie <strong>für</strong><br />

eine eventuelle Einheit zu betrachten, ist sein Ziel, einen gegenseitigen<br />

interkirchlichen Lernprozess in Gang zu setzen. Dies beinhaltet unter an-<br />

2<br />

MYRIAM WIJLENS /VLADIMIR SHMALIY (<strong>Hrsg</strong>.), Churches and Moral Discernment:<br />

Vol. 1. Learning from Traditions, Geneva 2021.<br />

3<br />

MYRIAM WIJLENS /VLADIMIR SHMALIY /SIMONE SINN (<strong>Hrsg</strong>.), Churches and Moral Discernment:<br />

Vol. 2. Learning from History, Geneva 2021.<br />

148


derem, semantische Äquivalente als gemeinsame Merkmale in den jeweiligen<br />

<strong>Kirchen</strong> zu identifizieren; darüber hinaus, Unterschiede und Differenzen<br />

in der Moralpraxis zwischen mehreren <strong>Kirchen</strong> oder innerhalb einer<br />

bestimmten Kirche sowie auch zwischen universaler christlicher<br />

Glaubenslehre und lokaler Praxis zu lokalisieren und angemessen zu deuten.<br />

Anhand ausgewählter Fallbeispiele wurde diese Strategie historisch<br />

und theologisch untermauert, was dem Dokument eine nützliche praktische<br />

Dimension und Bedeutung verleiht. Auf der anderen Seite zeichnet<br />

sich das Dokument durch Bescheidenheit aus, denn man weiß, dass solche<br />

Modelle und Schemata unvollkommene Darstellungen des untersuchten<br />

Phänomens sind, und dass sie nur als eine gemeinsame Basis <strong>für</strong> weitere<br />

Diskussionen und Entwicklungen dienen<br />

Das Dokument in orthodox-christlicher Perspektive<br />

Wie steht es aber um das Verhältnis dieses Dokumentes zum orthodoxen<br />

Christentum? Zuerst sollte die ökumenische Inklusivität des Dokumentes<br />

erwähnt werden, die auch die orthodoxe Seite miteinbezieht. Dies ist<br />

vielleicht kein Zufall, wenn man die orthodoxen Empfindlichkeiten im<br />

Bereich der moralisch-ethischen Urteilsbildung generell berücksichtigt<br />

oder darüber hinaus die Tatsache, dass einige Orthodoxe <strong>Kirchen</strong> in den<br />

letzten Dekaden ihren Unmut über gewisse Entwicklungen am Ökumenischen<br />

Rat der <strong>Kirchen</strong> kundgetan haben und ihre Teilnahme daran in<br />

Frage stellten oder sogar kündigten. Obwohl solche Probleme den Beitrag<br />

des orthodoxen Christentums <strong>zur</strong> ökumenischen Bewegung – historisch<br />

wie auch zeitgenössisch – keineswegs schmälern sollten, 4 offenbaren sie<br />

trotzdem die orthodoxen Sensibilitäten, die auch im vorliegenden Thema<br />

der christlichen <strong>Ethik</strong> zum Vorschein kommen.<br />

Aus diesem Grund verwundert es kaum, wenn man im Dokument<br />

verschiedene Bezüge <strong>zur</strong> orthodox-christlichen Tradition und ihren Akzentuierungen<br />

im Spezifischen findet, wie zum Beispiel: zu theologischen<br />

Konzepten wie der Theosis (S. 1), zum liturgischen Leben, <strong>zur</strong> Eucharistie<br />

und der entsprechenden Erfahrung und gelebten Praxis der Kirche (S. 2,<br />

4, 17, 18), zum neuesten orthodoxen Sozialdokument »For the Life of the<br />

World: Toward a Social Ethos of the Orthodox Church« von 2020 unter<br />

der Ägide des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel (S. 4,<br />

4<br />

PANTELIS KALAITZIDIS ET AL. (<strong>Hrsg</strong>.), Orthodox Handbook on Ecumenism: Resources<br />

for Theological Education, Volos, Greece 2014.<br />

149


Anm. 7), zum Prinzip der kirchlichen »Oikonomia«, das <strong>für</strong> die moralischethische<br />

Urteilsbildung sehr relevant ist und mit diversen Beispielen unterlegt<br />

<strong>wird</strong> (S. 18–19), <strong>zur</strong> eschatologischen Dimension der Kirche, ihrer<br />

Deutung und ihrer Auswirkung auf moralisch-ethische Urteilsbildungsprozesse<br />

(S. 72), zu konkreten Beispielen aus der Geschichte des östlichen<br />

Christentums, wie zum Beispiel zu Ephräm dem Syrer und der Rolle der<br />

Frauen in der Liturgie (S. 75–76), <strong>zur</strong> Moral des Wuchers in Byzanz<br />

(S. 84–86) sowie zum unterschiedlichen Umgang von <strong>Kirchen</strong>vätern mit<br />

der Moralität des Tötens im Krieg (S. 87–88). Das Dokument endet ohnehin<br />

mit einem Gebet eines griechischen <strong>Kirchen</strong>vaters, des Heiligen Basilius<br />

des Großen (S. 93–94). Darüber hinaus gibt es einige Verweise auf relevante<br />

orthodoxe Literatur (S. 7, Anm. 12; S. 13, Anm. 6). Schließlich<br />

weist der Titel des gesamten Projekts (deutlicher noch im englischen Original)<br />

auf ein zentrales Prinzip moralisch-ethischer Urteilsfindung und Methodik<br />

in der Orthodoxie hin, nämlich die Tugend der »Diakrisis«<br />

(διάκρισις), der spirituellen Unterscheidung, die in der asketischen Tradition<br />

der Ostkirche besonders angewandt und gelobt wurde. Es erübrigt<br />

sich auch zu erwähnen, dass bestimmte orthodoxe kirchenleitende Akteure<br />

massiv an der Arbeit dieser Kommission teilgenommen und an der<br />

Verfassung dieses Dokumentes mitgewirkt haben, so dass orthodoxe Positionen<br />

unmissverständlich darin präsent sind bzw. berücksichtigt werden<br />

konnten.<br />

Davon abgesehen stellt sich aber zwangsläufig die Frage, inwieweit<br />

dieses Dokument auf breitere orthodoxe Resonanz stoßen kann und inwieweit<br />

es von den lokalen Orthodoxen <strong>Kirchen</strong> mit der Absicht verwendet<br />

werden kann, eine ökumenische Annäherung in puncto moralischethischer<br />

Urteilsbildung zu erreichen. Die Absicht des Dokumentes ist<br />

zwar durchaus klar, und seine Argumentation wirkt zudem weitestgehend<br />

überzeugend, insbesondere mit Blick auf die konkreten Beispiele aus diversen<br />

christlichen <strong>Kirchen</strong>. Das Problem ist aber dabei, inwieweit die<br />

vielen historisch artikulierten theologischen und kulturellen Besonderheiten<br />

der jeweiligen <strong>Kirchen</strong> ausreichend in Betracht gezogen werden und<br />

wie sich diese auf die besprochene Thematik auswirken können. Zwar<br />

versucht das Dokument, eine differenzierte Perspektive auf die jeweiligen<br />

<strong>Kirchen</strong> bei gleichzeitiger Suche nach einem gemeinsamen Boden zu ermöglichen,<br />

jedoch werden die teilweise grundlegenden Unterschiede zwischen<br />

diesen <strong>Kirchen</strong> nicht weiter reflektiert und behandelt – all dies verständlicherweise,<br />

weil dies keineswegs das Ziel dieses Dokumentes war.<br />

Aber gerade dieser Aspekt des Themas betrifft insbesondere das orthodoxe<br />

Christentum als eine sehr wichtige christliche <strong>Kirchen</strong>familie mit einer<br />

150


eeindruckenden historischen Tiefe, das seine eigenen Eigentümlichkeiten<br />

aufweist, die <strong>für</strong> unsere Thematik auch von Bedeutung sind. Hier sollen<br />

nur einige Facetten dieses komplexen Themas punktuell angesprochen<br />

werden:<br />

Erstens: Die Argumentation des Dokumentes ist zwar weitgehend historisch<br />

fundiert, was ihm ohne Zweifel eine notwendige Legitimation und<br />

Glaubwürdigkeit verleiht. Jedoch liegt hier ein grundlegendes Problem<br />

bei den Orthodoxen, was den Umgang mit der <strong>Kirchen</strong>geschichte anbelangt.<br />

Die kritische Historisierung der eigenen Vergangenheit ist nämlich<br />

bei den Orthodoxen weniger ausgeprägt als bei den <strong>Kirchen</strong> des Westens<br />

(insbes. bei den Protestanten). 5 Zwar ist die orthodoxe akademische Theologie<br />

offen gegenüber der modernen Historisierung, doch ist dies nicht<br />

die gängige Praxis der Kirche oder generell die Art und Weise, gemäß denen<br />

sie reflektiert und operiert. All dies ist mit diversen verwandten Phänomenen<br />

aufs Engste gekoppelt, wie zum Beispiel mit dem berühmt-berüchtigten<br />

orthodoxen Traditionalismus, der Vergangenheitsmystik, der<br />

ausbleibenden Selbstreflexion und dem fehlenden kritischen Umgang mit<br />

der eigenen Geschichte. Die Rede ist natürlich hier von den noch dominanten<br />

Haupttendenzen und nicht von interessanten Ausnahmen, die es<br />

zweifellos gibt, die aber indirekt wieder die Regel bestätigen. Die Normativität<br />

der Vergangenheit <strong>wird</strong> nämlich von den Orthodoxen bis heute<br />

stärker betont als die Gegenwart oder die Zukunft. 6 Neuerdings konnte<br />

dies bei etlichen Orthodoxen <strong>Kirchen</strong> im Rahmen der Covid-19-Pandemie<br />

beobachtet werden, denn sie waren nicht in der Lage, die etablierte Kommunionpraxis<br />

der Austeilung aus einem gemeinsamen Kelch und Löffel<br />

zu historisieren und diese entsprechend den heutigen Bedürfnissen anzupassen.<br />

7 Diese Ausgangsposition führt nicht selten zu einer Reformverdächtigung<br />

und -verweigerung, denn jeder Wandel oder jede Anpassung<br />

erscheint in der Regel als Verrat oder Abweichung von der Orthodoxie<br />

(Rechtgläubigkeit). Die drohende Gefahr von internen Schismata mit weit-<br />

5<br />

IVANA NOBLE, History Tied Down by the Normativity of Tradition? Inversion of Perspective<br />

in Orthodox Theology: Challenges and Problems, in: COLBY DICKINSON<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), The Shaping of Tradition: Context and Normativity, Leuven 2013, 283–<br />

296.<br />

6<br />

VASILIOS N. MAKRIDES, Orthodox Christianity, Change, Innovation: Contradictions<br />

in Terms?, in: TRINE STAUNING WILLERT /LINA MOLOKOTOS-LIEDERMAN (<strong>Hrsg</strong>.), Innovation<br />

in the Orthodox Christian Tradition? The Question of Change in Greek Orthodox<br />

Thought and Practice, Farnham 2012, 19–50.<br />

7<br />

IOANNIS KAMINIS, Eastern Orthodox Church and Covid-19: A Threat or an Opportunity?,<br />

in: ThR 86 (2021), 416–429.<br />

151


eichenden negativen Konsequenzen aufgrund solcher Änderungen ist<br />

nicht zu unterschätzen – die Beispiele der russischen Altgläubigen im<br />

17. Jahrhundert und der griechischen Altkalendarier im 20. Jahrhundert<br />

bezeugen dies eindrucksvoll. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Begriffe<br />

»Innovation« (καινοτομία) und »Neuerung« (νεωτερισμός) in der griechischen<br />

Patristik sowie in späteren Epochen ausnahmslos negativ konnotiert<br />

wurden. Die Orthodoxen sprechen stattdessen von »Erneuerung«,<br />

die grundsätzlich als akzeptabel erscheint, die jedoch immerhin von einer<br />

normativen Bindung <strong>zur</strong> überbewerteten Vergangenheit lebt. Generell<br />

fehlt es nicht an Beispielen, in denen Orthodoxe aus der Vergangenheit<br />

lernten und dieses Wissen <strong>für</strong> die Überwindung oder sogar Lösung von<br />

laufenden Problemen einsetzten. So versuchte der griechische Erzbischof<br />

Nikephoros Theotokis (1731–1800) das Schisma der Altgläubigen in Russland<br />

mit seiner Einheit-im-Glauben-Strategie (Edinoverie) zu umgehen,<br />

was in etlichen Fällen erfolgreich war und später zum Teil die offizielle<br />

Politik der Russischen Orthodoxen Kirche beim Umgang mit den Altgläubigen<br />

wurde. 8 Insbesondere in den letzten drei Dekaden merkt man zudem<br />

das Aufkommen einer neuen und international ausgerichteten orthodoxen<br />

theologischen Generation, die in vielen Bereichen Neuland betreten will,<br />

darunter auch im Bereich der Überwindung des orthodoxen Traditionalismus<br />

und der starken Vergangenheitsbindung. Das bereits erwähnte neue<br />

Sozialdokument »For the Life of the World« von 2020 ist das Ergebnis einer<br />

solchen laufenden hoffnungsvollen Umorientierung. 9 All dies ist zwar<br />

zu begrüßen, doch es bedeutet keineswegs das Ende der traditionalistischen<br />

Orientierung bei den Orthodoxen und bietet keine Immunität ihr<br />

gegenüber, denn diese Einstellung bleibt immerhin stark, dominant und<br />

einflussreich, sowohl auf offizieller als auch auf inoffizieller Ebene.<br />

Zweitens: Damit verbunden ist weiterhin das Problem um die kirch -<br />

liche Autorität, das in dem Dokument auch thematisiert <strong>wird</strong>. Hier geht<br />

es aber um das genauere Verständnis solcher Autorität und wie diese in<br />

der Orthodoxie artikuliert und legitimiert <strong>wird</strong>. Es geht um Dimensionen,<br />

die dieses Dokument (darunter auch das vorgeschlagene »Analyseinstrument«)<br />

weder näher bestimmt noch berücksichtigt. Beispielsweise sind<br />

8<br />

VASILIOS N. MAKRIDES, Nicéphore Théotokès, in: CARMELO GIUSEPPE CONTICELLO /<br />

VASSA CONTICELLO (<strong>Hrsg</strong>.), La théologie byzantine et sa tradition, Vol. II (XIIIe–<br />

XIXe. s.), Turnhout 2002, 849–903.<br />

9<br />

VASILIOS N. MAKRIDES, Le nouveau document social de l’Église orthodoxe. Son<br />

orientation, son élaboration, son contexte et son importance, in: Ist. 65 (2020),<br />

387–413; DIETMAR SCHON, Berufen <strong>zur</strong> Verwandlung der Welt. Die Orthodoxe Kirche<br />

in sozialer und ethischer Verantwortung, Regensburg 2021.<br />

152


die synodalen Beschlüsse nicht unbedingt eine Autorität mittlerer Ordnung<br />

in der Orthodoxie (wie das »Analysedokument« suggeriert, S. 52, 53), geschweige<br />

denn die Beschlüsse der sogenannten »Ökumenischen Reichskonzile«.<br />

Da sie aus einer normativen Vergangenheit stammen, bekommen<br />

solche Beschlüsse eine ungeheure Geltungsmacht in zeitgenössischen<br />

orthodoxen Kreisen und gelten oftmals als unantastbar. Die Frage ist freilich<br />

hier, wer sich über moralisch-ethische Fragen mit Autorität äußern<br />

und entscheiden darf. Dieses Recht behält sich natürlich in erster Linie<br />

die jeweilige orthodoxe <strong>Kirchen</strong>hierarchie <strong>für</strong> sich selbst vor. Darüber<br />

hinaus gibt es aber in der Orthodoxie andere »Anwärter« einer solchen<br />

Autorität, die sich vor einer Kritik gegenüber dieser Hierarchie nicht<br />

scheuen, weil sie meinen, sie vertreten eine authentischere und echtere<br />

Orthodoxie, die keinen gefährlichen Kompromissen oder Verunreinigungen<br />

unterworfen werden sollte. Dies betrifft in erster Linie die mönchischcharismatische<br />

Autorität, die oftmals einen eigenen Weg geht und dies<br />

nicht selten in Auseinandersetzung mit der <strong>Kirchen</strong>hierarchie. Ein orthodoxer<br />

und ehrwürdiger Altvater (Starez) genießt normalerweise eine höhere<br />

Autorität unter vielen Gläubigen als die <strong>Kirchen</strong>hierarchie oder die<br />

akademische Theologie. Der Altvater gilt als Prototyp einer genuinen<br />

Erfahrungstheologie, die aus dem asketischen Leben und der Spiritualität<br />

der Orthodoxie hervorgeht und die einer intellektualistischen Theologie<br />

weit überlegen ist. 10 Andererseits werden solche Richtungen oftmals durch<br />

das mannigfaltige und verbreitete Phänomen des orthodoxen Rigorismus/<br />

Fundamentalismus unterstützt, was immer wieder <strong>für</strong> diverse Spannungen<br />

unterschiedlicher Intensität im breiteren orthodoxen Kontext sorgt. 11 Die<br />

Konsequenzen aus solchen Entwicklungen sind nicht zu vernachlässigen,<br />

denn sie bereiten der offiziellen <strong>Kirchen</strong>hierarchie genügend Sorgen.<br />

Charakteristischerweise hatte der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel,<br />

Bartholomäus I., bei seinem Besuch auf dem Heiligen Berg Athos<br />

im Mai 2022 die negativen Auswirkungen dieser mönchischen Autorität,<br />

die sich über die Kirche stellt und die Gläubigen polarisiert, scharf kriti-<br />

10<br />

STRATIS PSALTOU, The Elders of Mount Athos and the Discourse of Charisma in Modern<br />

Greece, in: Critical Research on Religion 6 (2018), 85–100; EFSTATHIOS KES-<br />

SAREAS, Geistliche Väter und ihre Idolisierung im orthodoxen Christentum, in: Religion<br />

& Gesellschaft in Ost und West 50/11 (2022), 3–5.<br />

11<br />

VASILIOS N. MAKRIDES, Orthodox Christian Rigorism: Attempting to Delineate a Multifaceted<br />

Phenomenon, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation<br />

in Contemporary Society 2/2 (2016), 216–252; DAVOR DŽALTO /GEORGE E. DEMA-<br />

COPOULOS (<strong>Hrsg</strong>.), Orthodoxy and Fundamentalism: Contemporary Perspectives,<br />

Lanham, MD 2022.<br />

153


siert. 12 Hierbei geht es aber um Aspekte von orthodoxer Autorität, die <strong>für</strong><br />

das o. g. »Analyseinstrument« keine Rolle spielen, doch sie stellen seine<br />

Logik und Methodik grundsätzlich in Frage.<br />

Drittens: Verständlicherweise nimmt das Thema der Kontinuität im<br />

Wandel eine zentrale Stellung im Dokument ein, denn die <strong>Kirchen</strong> sind<br />

einerseits <strong>zur</strong> Wahrung der Kontinuität verpflichtet, andererseits müssen<br />

sie immer wieder auf neue Herausforderungen reagieren, die sich in der<br />

Geschichte ergeben, was letztendlich zu neuen Verhaltensnormen führen<br />

kann, die sich von früheren Normen unterscheiden. Das Gleichgewicht<br />

zwischen Unveränderlichkeit und beständigem Reformieren zu wahren,<br />

gehört zu den spannungsvollen Momenten durch die ganze <strong>Kirchen</strong>geschichte<br />

hindurch. Anhand unterschiedlicher Beispiele macht das Dokument<br />

insbesondere die Arten von Differenzierungen deutlich, die hinsichtlich<br />

moralisch-ethischer Urteilsbildung getroffen werden können.<br />

Veränderungen sind dabei nicht als Gefahr zu verstehen, denn sie gehen<br />

in verschiedene Richtungen und nicht unbedingt immer in Richtung einer<br />

»Liberalisierung« oder »Relativierung« einer bestehenden moralischen<br />

Norm. Im Gegensatz dazu können sie durchaus zu einer Bestärkung oder<br />

Verengung einer bestehenden Norm führen. Das Dokument kommt zu<br />

dem Fazit, Veränderung sei sehr komplex, aber Kontinuität sei immer vorhanden<br />

(S. 43–44). All dies <strong>wird</strong> systematisch und analytisch unter Beweis<br />

gestellt, jedoch geht es beim Sachverhalt Kontinuität und Wandel immer<br />

um eine Interpretationsfrage, mit der die Orthodoxen generell ernsthafte<br />

Probleme hätten. Aufgrund ihres bereits erwähnten Traditionalismus neigen<br />

sie nämlich in vielen Fällen dazu, hauptsächlich den potenziellen<br />

Bruch mit der Tradition und nicht eine angeblich offene oder verkappte<br />

Kontinuität zu betonen. Es wirkt wie ein Versöhnungsversuch, wenn das<br />

Dokument die Pluralität von alten und neuen Normen nicht als ein widersprüchliches<br />

Phänomen zu betrachten vorschlägt, sondern als eine kontinuierliche<br />

Anpassung an verschiedene Situationen im Rahmen der geschichtlichen<br />

Entwicklung der Kirche. Die Kirche <strong>wird</strong> also als semper<br />

reformanda bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Kontinuität verstanden, was<br />

jedoch die Orthodoxen nicht unbedingt zufriedenstellt und zwar wegen<br />

ihrer generellen Vorbehalte gegenüber Reformen. 13 Man würde meinen,<br />

12<br />

Ecumenical Patriarch: There are Voices from the Monastic World, Questioning the<br />

Structure of the Church, in: Orthodox Times, 29. Mai. 2022, URL: https://orthodoxtimes.com/ecumenical-patriarch-voices-are-also-heard-from-the-monastic-worldquestioning-the-structure-of-the-church/<br />

(Stand: 19. 10. 2022).<br />

13<br />

VASILIOS N. MAKRIDES, Ohne Luther. Einige Überlegungen zum Fehlen eines Refor-<br />

154


eine solche Perspektive öffne im Prinzip Tür und Tor <strong>für</strong> eine Relativierung<br />

von moralisch-ethischen Kriterien und <strong>für</strong> eine Situation in der Kirche, in<br />

der im Prinzip alles möglich, erlaubt und toleriert wäre. Da das orthodoxe<br />

Glaubenssystem größtenteils gemäß den Kriterien der Absolutheit, Verbindlichkeit<br />

und Normativität strukturiert ist, versteht es sich von selbst,<br />

dass ein offener und flexibler Umgang mit Werten und Normen die Orthodoxen<br />

generell allergisch macht. Dies umso mehr in der heutigen Epoche<br />

der Globalisierung, in der sich aus orthodoxer Sicht ein radikaler<br />

Wechsel auf mehreren Ebenen vollzieht, der das moralisch-ethische Gebäude<br />

der Kirche umzustürzen droht, insbesondere im Gefolge der sexuellen<br />

Diversifizierung und der Gender-Revolution und deren weitreichenden<br />

Konsequenzen <strong>für</strong> die christliche Moral und Familienwerte. Es ist<br />

daher kein Zufall, dass die Griechische Orthodoxe Kirche sich neuerdings<br />

offiziell gegen die Abtreibung äußerte, 14 während sich die Russische Orthodoxe<br />

Kirche in postkommunistischer Zeit mit ihrer internationalen<br />

Kampagne <strong>für</strong> die Verteidigung von »traditionellen Werten« einen Namen<br />

gemacht hat. 15 Die Akzeptanz der Homosexualität in der Kirche würde<br />

beispielsweise aus dieser Perspektive mehrheitlich als Bruch mit der Tradition<br />

ohne jegliche Elemente einer Kontinuität begriffen. Das Dokument<br />

thematisiert solche brandaktuellen Themen nicht, über die sich die christlichen<br />

Geister noch scheiden. Darüber hinaus könnte seinen Interpretationen<br />

von Prozessen in den nicht-orthodoxen christlichen <strong>Kirchen</strong> aus<br />

verschiedenen Blinkwinkeln widersprochen werden. Beispielsweise spiegelt<br />

seine Sicht der Bejahung des Rechtes auf Religionsfreiheit seitens der<br />

Römisch-katholischen Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965<br />

nur die eine Seite der Debatte wider (S. 63–65), die nämlich seit mehreren<br />

Dekaden zwischen den Vertretern des »Bruches« und denjenigen der<br />

»Kontinuität« in Bezug auf das obengenannte Konzil läuft. 16<br />

mators im Orthodoxen Christentum, in: HANS MEDICK /PEER SCHMIDT (<strong>Hrsg</strong>.), Luther<br />

zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004,<br />

318–336.<br />

14<br />

ROBERT STADLER, Die orthodoxe Kirche predigt gegen Abtreibungen, in: Griechenland<br />

Zeitung, 3. September 2022, URL: https://www.griechenland.net/nachrichten/politik/31856-die-orthodoxe-kirche-predigt-gegen-abtreibungen<br />

(Stand: 19.<br />

10. 2022).<br />

15<br />

KRISTINA STOECKL, The Russian Orthodox Church as Moral Norm Entrepreneur, in:<br />

Religion, State & Society 44 (2016), 132–151.<br />

16<br />

GÜNTHER WASSILOWSKY, Das II. Vatikanum – Kontinuität oder Diskontinuität? Zu einigen<br />

Werken der neuesten Konzilsliteratur, in: IKaZ 34 (2005), 630–640.<br />

155


»Dialog eröffnen, um Gemeinschaft zu bilden« –<br />

ein ökumenisches Analyseinstrument <strong>für</strong><br />

kirchliche Normfindung aus<br />

katholisch-theologischer Perspektive<br />

Sigrid Müller<br />

Den Abschluss der Publikationsreihe über <strong>Kirchen</strong> und moralische Entscheidungsfindung<br />

bildet ein kleines, aber wichtiges Bändchen, das im<br />

Anschluss an die Selbstreflexionen der <strong>Kirchen</strong> über ihre Weisen, zu moralischen<br />

Entscheidungen zu gelangen (Band 1), und über das, was in der<br />

eigenen Tradition zu Veränderungen geführt hat (Band 2), fragt, was diese<br />

Einsichten nun <strong>für</strong> das Gespräch der <strong>Kirchen</strong> miteinander bedeuten<br />

können (Band 3, Kapitel 2 und 3). Dieser dritte Band bietet in Kapitel 4<br />

ein »Tool« an, d. h. ein Analyseinstrument, das zum Verständnis von Meinungsverschiedenheiten<br />

in Sachen der Moral in unterschiedlichen kirchlichen<br />

Gemeinschaften beitragen möchte. Auf diese Weise soll es den Prozess,<br />

Gemeinschaft (Koinonia) aufzubauen, stützen. 1<br />

1. Kirchliche Selbsterkenntnis als Ausgangspunkt <strong>für</strong> den Dialog<br />

Diese Gemeinschaft ist deshalb möglich, weil alle <strong>Kirchen</strong> einen gemeinsamen<br />

Bezugspunkt haben, nämlich die biblische Botschaft, zu der sie<br />

trotz aller Verschiedenheit eine Kontinuität auch im eigenen moralischen<br />

Urteilen wahren wollen. 2 Trotz des gemeinsamen Bezugspunkts kann es<br />

1<br />

Vgl. Churches on Moral Discernment 1. Learning from Traditions, hrsg. v. MYRIAM<br />

WIJLENS /VLADIMIR SHMALIY (Faith and Order Paper No. 228), Genf 2021; Churches<br />

on Moral Discernment 2. Learning from History, hrsg. v. MYRIAM WIJLENS /VLADIMIR<br />

SHMALIY /SIMONE SINN (Faith and Order Paper No. 229), Genf 2021; Dialog fördern,<br />

um Koinonia zu stärken. <strong>Kirchen</strong> und moralisch-ethische Urteilsbildung, Band 3.<br />

Studie der Kommission <strong>für</strong> Glauben und <strong>Kirchen</strong>verfassung Nr. 235, Genf 2021.<br />

2<br />

Dialog fördern (s. Anm. 1), Nr. 68: »Diese Kernverpflichtung <strong>zur</strong> Kontinuität mit<br />

dem Evangelium bedeutet, dass es immer Möglichkeiten <strong>für</strong> einen fruchtbaren<br />

Dialog in Richtung Koinonia gibt.«<br />

161


zu Veränderungen oder drastischen Änderungen im Laufe der kirchlichen<br />

Meinungsbildung kommen. Es handelt sich dann um einen komplexen<br />

Prozess, wenn bestehenden Lehren und Praktiken mit veränderten Einsichten<br />

in Einklang gebracht werden müssen, um die Kontinuität zum Ursprung<br />

der christlichen Botschaft wieder neu bekräftigen zu können. 3 Das<br />

Analyseinstrument hat demnach die Aufgabe, einerseits diese Komplexität<br />

verstehen zu helfen, andererseits auch die Gründe erkennen zu können,<br />

warum es – um der Kontinuität der Botschaft des Glaubens willen – bereits<br />

in der Vergangenheit zu konkreten Änderungen in der kirchlichen Lehre<br />

in Sachen Moral in der eigenen Tradition kam. 4 Mit Hilfe dieser Selbsterkenntnis<br />

ist dann, so der Wunsch des Dokuments, der Dialog mit anderen<br />

<strong>Kirchen</strong> über moralische Fragen leichter möglich. Das Analyseinstrument<br />

soll daher nicht eine Methode zum Auffinden moralischer Normen darstellen,<br />

noch dazu, wie man in moralischen Fragen im Dialog der <strong>Kirchen</strong><br />

zu Einheit gelangt. 5 Vielmehr geht es darum, die Mechanismen bzw. Einflussfaktoren<br />

besser zu verstehen, welche den Prozess der Meinungsbildung<br />

in Sachen Moral in den unterschiedlichen <strong>Kirchen</strong> prägen.<br />

2. Theologisch-ekklesiologische Einflussfaktoren<br />

Welcher Art nun ist die Analyse, zu der das Instrument unterstützend beitragen<br />

möchte? Es werden vier Bereiche genannt, die das Bewusstsein<br />

der Kirche prägen: einerseits das Verständnis moralischer Normen selbst,<br />

andererseits das theologische und insbesondere ekklesiologische Grundverständnis.<br />

Diese wirken sich formal durch die Art und Weise des Zustandekommens<br />

der moralischen Norm oder durch unterschiedliche Re -<br />

ferenzpunkte in der Theologie (Bibel, Tradition, philosophische Quellen<br />

etc.) auf die Meinungsbildung in der Kirche aus. Die Analyse kann nun einerseits<br />

– wenn sie ehrlich erfolgt – auch zu schmerzhaften Erkenntnissen<br />

führen, wenn beispielsweise kirchenpolitische oder wirtschaftliche Verstrickungen<br />

ausschlaggebend <strong>für</strong> die Festlegung einer Norm sind und nicht<br />

3<br />

Ebd.: »Die offensichtliche Vielschichtigkeit der Prozesse rund um solche Veränderungen<br />

und ihre Wechselbeziehung mit der fortgesetzten Verpflichtung zu bestehender<br />

Lehre und Handeln im Gewissen der Kirche besagen, dass es praktisch<br />

wäre, ein Analyseinstrument zu haben, das uns hilft, diese Komplexität zu ver -<br />

stehen.«<br />

4<br />

Vgl. ebd.<br />

5<br />

A. a. O., Nr. 69.<br />

162


die dem eigenen Selbstbild entsprechende Maßnahme am Evangelium.<br />

Sie kann aber auch zu einer systematischen Anstrengung führen, innerhalb<br />

der eigenen Glaubensgemeinschaft oder im Dialog mit einer anderen festzulegen,<br />

welche Elemente unverzichtbar sind <strong>für</strong> ein moralisches Urteil,<br />

das dem eigenen Selbstverständnis entspricht. Dennoch erhebt das Dokument<br />

das bescheidenere Ziel, nämlich dazu einzuladen, wechselseitiges<br />

Verständnis <strong>für</strong>einander und <strong>für</strong> den Reichtum, den jede Tradition birgt,<br />

zu entwickeln. 6<br />

Dieses Ziel ist wichtig und stellt ein zentrales Anliegen im ökumenischen<br />

Dialog dar. So hat anlässlich einer Audienz der Internationalen Anglikanisch-Römisch-katholischen<br />

Kommission (ARCIC III), die den Auftrag<br />

hat zu untersuchen, wie die Kirche auf lokaler, regionaler und universaler<br />

Ebene zu rechten moralischen Entscheidungen gelangt, Papst Franziskus<br />

am 13. 5. 2022 dazu folgendermaßen ermutigt:<br />

»Wir denken, dass dies als Grundvoraussetzungen Demut und Wahrheit erfordert.<br />

Es beginnt damit, dass man demütig und ehrlich die eigenen Mühen<br />

einräumt. Das ist der erste Schritt: nicht darauf achten, vor dem Bruder schön<br />

und selbstsicher erscheinen zu wollen, indem wir uns ihm so präsentieren,<br />

wie wir es uns erträumen, sondern ihm mit offenem Herzen zeigen, wie wir<br />

wirklich sind, und auch unsere Grenzen zu zeigen.« 7<br />

Nicht nur aus kirchlicher Sicht, sondern auch aus der Perspektive katholisch-theologischer<br />

<strong>Ethik</strong> ist eine Analyse, wie sie das Instrument ermöglicht,<br />

sehr willkommen. Entsprechende Analysen theologischer Rechtfertigung<br />

moralischer Normen gehören zum Alltag kritischer Reflexion über<br />

Glaubenstexte und kirchliche Lehrmeinungen im Bereich der Moral. Es<br />

geht dann darum nachzuvollziehen, welche theologischen Voraussetzungen<br />

in kirchlichen Verlautbarungen mit ihren unterschiedlichen Verbindlichkeitsgraden<br />

ebenso wie in theologisch-ethischen Texten gemacht werden<br />

und bis zu welchem Grad diese vor dem Forum der praktischen<br />

Vernunft bestehen können. Es zeigt sich hier bereits als Eigentümlichkeit<br />

theologisch-ethischer Zugangsweisen, dass die Botschaft des Glaubens und<br />

die Erfahrung der Tradition immer neu in die aktuelle Zeit vermittelt wer-<br />

6<br />

Vgl. a. a. O. Nr. 70.<br />

7<br />

PAPST FRANZISKUS, Ansprache an die Mitglieder der Internationalen Anglikanisch-<br />

Römisch-katholischen Kommission (ARCIC), Freitag, 13. Mai 2022, URL: https://<br />

www.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2022/may/documents/202205<br />

13-arcic.html (Stand: 27. 12. 2022).<br />

163


den müssen und daher auch die praktische Urteilsfähigkeit des Menschen<br />

in Anspruch nehmen, die in seiner Vernunft begründet liegt. Es geht dar -<br />

um, dass der Glaube sittliches Erkennen und Handeln ermöglicht und unterstützt,<br />

aber nicht ersetzt, weil persönliche moralische Verantwortung<br />

im sittlichen Urteil des Menschen über das Gute gründet und nicht unmittelbar<br />

aus einer Offenbarung abgeleitet werden kann. Insofern ist zwischen<br />

eigentlicher moralischer Begründung und theologisch-ekklesiologischen<br />

Bezugspunkten dieser Begründung zu unterscheiden.<br />

Aus dieser Perspektive erscheinen die entfalteten Analyseebenen des<br />

Analyseinstruments aus katholisch-theologischer Sicht nicht als etwas prinzipiell<br />

Neues. Neu ist jedoch die prinzipielle Offenheit da<strong>für</strong>, dass viele<br />

verschiedene Traditionen sich darin wiederfinden können, dass also implizit<br />

eine größere Vielfalt an theologischer Ausgestaltung von Anfang an<br />

mitgedacht <strong>wird</strong>, damit das Analyseinstrument einen guten Ausgangspunkt<br />

<strong>für</strong> einen vergleichenden ökumenischen ethischen Dialog bieten kann.<br />

Dies ist sehr hilfreich und sicher auch im Rahmen der theologischen <strong>Ethik</strong><br />

<strong>für</strong> die Darstellung interkonfessioneller Aspekte ein inspirierender Ausgangspunkt.<br />

3. Das »Bewusstsein bzw. Gewissen der Kirche«<br />

Das Analyseinstrument geht davon aus, dass jede Kirche eine Art »Bewusstsein«<br />

(im englischen Originaltext steht »conscience«) hat, welches<br />

das Wissen und die Praxis der Kirche zusammenfasst. Der englische Begriff<br />

»conscience« hat jedoch eine doppelte Bedeutung und steht nicht nur <strong>für</strong><br />

Bewusstsein, sondern auch <strong>für</strong> Gewissen. <strong>Wenn</strong> der Text vom Bewusstsein<br />

oder Gewissen der Kirche spricht, geht es letztlich um all das, was die<br />

Identität der Kirche ausmacht, letztlich das gegenwärtige Wissen um ihre<br />

Geschichte und die Bemühungen, dieser in der Gegenwart gerecht zu<br />

werden. Die damit angesprochene Identität <strong>wird</strong> dabei nicht als eine soziologische<br />

Konstruktion verstanden, sondern beruht einerseits auf der<br />

Verheißung, dass der Heilige Geist die gesamte Kirche leitet, 8 und dem<br />

Bewusstsein, dass sich die Kirche immer nur in einem unvollendeten Status<br />

befinden <strong>wird</strong>, bis sie zu ihrer Vollendung durch Gott findet (eschatologische<br />

Dimension). 9 Das »Gewissen der Kirche« ist gemäß dem Analyseinstrument<br />

eine Richtschnur mit Autoritätscharakter <strong>für</strong> die Gläubigen,<br />

8<br />

Vgl. LG 4.<br />

9<br />

Dialog fördern (s. Anm. 1), Nr. 86.<br />

164


weil es um die Erlösung geht. Mit der orthodoxen Unterscheidung zwischen<br />

strenger (akriveia) und pastoraler Anwendung der Richtlinien<br />

(oikonomia) <strong>wird</strong> zugleich auf den Spielraum verwiesen, mit dem dieses<br />

Wissen der Kirche <strong>zur</strong> Anwendung kommen kann. 10<br />

Vier Elemente werden im Rahmen des Analyseinstruments als besonders<br />

relevant <strong>für</strong> das kirchliche Bewusstsein bzw. Gewissen und damit <strong>für</strong><br />

die kirchliche Entscheidungsfindung in Sachen Moral hervorgehoben und<br />

erläutert: (1) das Verständnis moralischer Normen, (2) die kirchliche Auffassung<br />

von Autorität mit den entsprechenden Konsequenzen <strong>für</strong> ethische<br />

Reflexion und Entscheidungen in der Kirche, (3) das Verständnis der Heilsgeschichte<br />

und (4) die Bestimmung der Identität der Kirche im Verhältnis<br />

zum Umgang mit Veränderungen. Diese Aspekte sollen im Folgenden kurz<br />

und skizzenhaft auf dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Katholischen<br />

Kirche illustriert werden.<br />

4. Element 1: Normverständnis<br />

Das Analyseinstrument macht zunächst auf die unterschiedlichen Komponenten<br />

und Ausprägungen dessen aufmerksam, was gängig unter mora -<br />

lischen Normen subsumiert <strong>wird</strong>. Dazu gehören fundamentale und all -<br />

gemeine Prinzipien wie Gerechtigkeit oder Gottes- und Nächstenliebe,<br />

die in der Regel unumstritten sind. Es werden aber auch Normen mittlerer<br />

Ebene (z. B. »Du sollst nicht stehlen«) und konkrete, ausformulierte Normen<br />

unter diesem Begriff genannt, z. B. das Verbot von Plagiat, weil es als<br />

Diebstahl geistigen Eigentums gewertet <strong>wird</strong>. Diese Breite des Normbegriffs<br />

mit der Möglichkeit, zwischen unveränderlichen Prinzipien und stärker<br />

bedingten sehr konkreten Normen zu unterscheiden, wurde in der<br />

Katholischen Kirche der vergangenen Jahrzehnte vor allem im Bereich<br />

der Sexuallehre diskutiert.<br />

In der Katholischen Kirche wurden im 20. Jahrhundert rigorose Normvorstellungen<br />

und entsprechende Festlegungen im Sexualbereich und in<br />

der Bioethik vorgelegt, insbesondere in den Enzykliken »Humanae Vitae«<br />

von Paul VI. (1968) und »Veritatis Splendor« (1993) sowie »Evangelium<br />

vitae« (1995) von Johannes Paul II., welche die Unveränderlichkeit kirchlicher<br />

Lehre hervorhoben. Die unter der Leitung von Kardinal Ratzinger<br />

von der Kongregation <strong>für</strong> die Glaubenslehre 1987 publizierte Instruktion<br />

10<br />

A. a. O. Nr. 37.<br />

165


»Donum Vitae« vermittelte vorsichtige Differenzierungen. Papst Franziskus<br />

hat nun in seinem Postsynodalen Schreiben »Amoris laetitia« (2016) auf<br />

die Bedeutung der situationsgerechten Anwendung von Normen aufmerksam<br />

gemacht und vor allem den Fokus auf das pastorale Ziel der Eingliederung<br />

aller Gläubigen in die Gemeinschaft und auf das zentrale Kriterium<br />

der Barmherzigkeit Gottes gelegt.<br />

Dieser Anstoß durch »Amoris laetitia« wurde mittlerweile mehrfach<br />

aufgegriffen und hat im Umfeld der kirchlichen Dikasterien zu dem Versuch<br />

geführt, neue Zugänge <strong>zur</strong> Vermittlung und Praxis sittlicher Normen<br />

<strong>zur</strong> Sprache zu bringen, welche gegenüber einem (blinden) Normen -<br />

gehorsam das Paradigma verantwortlichen Handelns stark machen. Dies<br />

zeigen in jüngerer Zeit beispielsweise eine Tagung zu »Amoris laetitia« an<br />

der Päpstlichen Universität Gregoriana 11 sowie ein publizierter Workshop<br />

der Päpstlichen Akademie <strong>für</strong> das Leben. 12 Hier zeigt sich, dass die Vorstellung,<br />

man könne von Seiten der Kirche das Leben der Gläubigen durch<br />

Normen bis in Detailfragen regeln, nicht mehr hält. Ganz offensichtlich<br />

wurde die Möglichkeit, dass es in der Morallehre der Katholischen Kirche<br />

zu Änderungen kommen kann, als Papst Franziskus im Jahr 2018 die Möglichkeit<br />

der Todesstrafe, die bis dahin unter bestimmten Ausnahmebedingungen<br />

als legitim argumentiert wurde, aus dem Katechismus streichen<br />

ließ. Hier zeigt sich ein Wandel in der Deutung des Gebots des Lebensschutzes,<br />

insofern die spezielle Ausnahme strafrechtlich schuldiger Menschen<br />

aus der allgemeinen Norm des Lebensschutzes aufgehoben wurde<br />

und damit das allgemeine Prinzip eine Ausweitung auf der konkreten normativen<br />

Ebene erfuhr.<br />

5. Element 2: Das kirchliche Selbstverständnis<br />

Auf der Ebene des kirchlichen Selbstverständnisses hat der vom Papst ausgerufene<br />

Synodale Weg neue Bewegung erzeugt. Einerseits <strong>wird</strong> durchaus<br />

argumentiert, dass der Prozess, in dem der Papst alle Gläubigen in Vorbereitung<br />

einer Bischofssynode weltweit befragt, nichts an der hierarchischen<br />

Struktur der Kirche ändert, in der den Bischöfen die Entschei-<br />

11<br />

Vgl. BENJAMIN LEVEN, Die »Amoris laetitia«-Strategie, in: HerKorr 76 (6/2022),<br />

9–10.<br />

12<br />

VINCENCO PAGLIA (<strong>Hrsg</strong>.), Etica teologica della vita. Scrittura, tradizioni, sfide pratiche.<br />

Atti del seminario di studio promosso dalla Pontificia Accademia per la Vita,<br />

Città del Vaticano 2022.<br />

166


dungsbefugnis vorbehalten bleibt. Andererseits hat der Prozess der Synodalität<br />

aber auch den Zweck, dass die Entscheidungsträger vorher den Betroffenen,<br />

nämlich allen Gläubigen, zuhören und ihre Schlussfolgerungen<br />

daher nicht als Privatperson, sondern in engem Kontakt mit und im Wissen<br />

um die Probleme und Anliegen der Menschen ziehen und so kirchliche<br />

Entscheidungsträger den Glaubenssinn aller Gläubigen (sensus fidei fidelium)<br />

in den Prozess geistlicher Unterscheidung einbeziehen. Insofern<br />

werden Bischöfe stärker als Teil des Gottesvolkes gesehen und die Hierarchie<br />

<strong>wird</strong>, so der Wunsch von Papst Franziskus, umgekehrt, insofern die<br />

Hirten dem Volk zuhören und mit ihm unterwegs sein sollen. 13 Dieses<br />

Verständnis von Kirche als Gemeinschaft, die miteinander auf dem Weg<br />

ist, richtet vermehrt das Augenmerk auf die Befähigung aller Gläubigen<br />

durch die Taufe und fördert daher die Aktivität und Mitverantwortung<br />

aller. Auch hier ist daher eine Entwicklung in der Katholischen Kirche zu<br />

erkennen, die zwar keine Auflösung der hierarchischen Strukturen zeigt,<br />

aber eine Neubesinnung auf deren Verortung in der ständigen Kommunikation<br />

mit dem gesamten Volk Gottes, das Mitverantwortung <strong>für</strong> die Kirche<br />

trägt. 14 Durch die Aktivierung dieser Kommunikation innerhalb aller Katholikinnen<br />

und Katholiken <strong>wird</strong> die Erfahrungsdimension ethischer Erkenntnis<br />

wahrgenommen und in den kirchlichen Normfindungsprozess<br />

einbezogen. Dadurch <strong>wird</strong> einer Abstraktion von den Lebensverhältnissen<br />

der Menschen in der kirchlichen Lehre vorgebeugt.<br />

6. Element 3: Das Verständnis von Heilsgeschichte<br />

Auch im Verständnis der Heilsgeschichte lassen sich in der Katholischen<br />

Kirche unterschiedliche Positionen und Zugänge wahrnehmen. Während<br />

Benedikt XVI. stärker das Unterscheidende zwischen Kirche und Welt herauskristallisiert<br />

hat und es ihm darum ging, das Heil in der und durch die<br />

Kirche durch klarere Konturen und damit Grenzziehungen in den Mittelpunkt<br />

zu stellen, hebt Papst Franziskus um die Sendung der Kirche <strong>für</strong> die<br />

13<br />

Vgl. RAFAEL LUCIANI, Unterwegs zu einer synodalen Kirche. Impulse aus Lateinamerika,<br />

Luzern 2022.<br />

14<br />

Vgl. MYRIAM WIJLENS, »Die Kirche Gottes ist zu einer Synode einberufen«. Theologische<br />

und kirchenrechtliche Herausforderungen <strong>zur</strong> Synode 2021–2023, in: PAUL<br />

M. ZULEHNER /PETER NEUNER /ANNA HENNERSPERGER (<strong>Hrsg</strong>.), Synodalisierung. Eine<br />

<strong>Zerreißprobe</strong> <strong>für</strong> die katholische Weltkirche? Expertinnen und Experten aus aller<br />

Welt beziehen Stellung, Ostfildern 2022, 433–461, 440–443.<br />

167


ganze Welt hervor. Heil soll nicht nur innerhalb der Kirche, sondern gerade<br />

überall erfahrbar werden. Diese unterschiedliche Blickrichtung lässt sich<br />

insbesondere an den öffentlichen Zeichenhandlungen ablesen, <strong>für</strong> die<br />

Papst Franziskus bekannt ist: Besuche bei Migrantinnen und Migranten,<br />

die Einrichtung von Servicestellen <strong>für</strong> Obdachlose am Petersplatz etc.,<br />

und sie findet Ausdruck in den Enzykliken, die sich der weltweiten Geschwisterlichkeit<br />

(»Fratelli tutti«, 3. 10. 2022) und der Sorge <strong>für</strong> die Umwelt<br />

(»Laudato si‘«, 24. 5. 2015) widmen. Hier bestätigt sich, dass ein bestimmtes<br />

Verständnis von Heilsgeschichte sich auf die Auswahl und den<br />

Zugang zu ethischen Themenfeldern auswirkt.<br />

7. Element 4: Identität und Veränderung<br />

Auch auf der vierten Ebene, in der Spannung zwischen der Wahrung kirchlicher<br />

Identität und der Notwendigkeit von Veränderung kann man in der<br />

Katholischen Kirche ein Ringen beobachten. Während manche Gruppen<br />

Identität durch Festhalten an gewissen Traditionen erzeugen und aufrechterhalten<br />

wollen, sind andere, darunter auch Papst Franziskus, davon überzeugt,<br />

dass ein Stehenbleiben und eine Verweigerung von Veränderung<br />

nicht dem Glauben entspricht. In der Ansprache an die Theologinnen und<br />

Theologen, die am Fachkongress zu »Amoris laetitia« in Rom 2022 teil -<br />

genommen haben, sagte er: »Wir müssen zu den Wurzeln <strong>zur</strong>ückkehren.<br />

Wir gewinnen von den Wurzeln her unsere Inspiration, aber um weiterzugehen.<br />

Rückwärts zu gehen ist nicht christlich. Bitte achtet auf das Rückwärtsgewandte,<br />

das in der Gegenwart eine Versuchung ist, auch <strong>für</strong> Euch<br />

Theologinnen und Theologen aus dem Bereich der Moraltheologie«. 15 Das<br />

bedeutet <strong>für</strong> das Verhältnis von Identität und Veränderung, dass nur durch<br />

einen ständigen Veränderungsprozess die Identität des Christseins bewahrt<br />

werden kann, weil das, was im <strong>Sinn</strong>e Christi getan werden muss, nur in<br />

der Begegnung mit dem konkreten, gegenwärtigen Menschen wahrgenommen<br />

werden kann.<br />

15<br />

In dieser Form auf dem Buchrücken von »Etica teolgoica della vita« abgedrückt.<br />

Die ausführliche Fassung findet sich in: PAPST FRANZISKUS, Ansprache an die Teilnehmer<br />

am Internationalen Kongress <strong>für</strong> Moraltheologie, den die Päpstliche Universität<br />

Gregoriana und das Päpstliche Institut Johannes Paul II. organisiert haben,<br />

Clementina-Saal, 13. 5. 2022, URL: https://www.vatican.va/content/francesco/<br />

de/speeches/2022/may/documents/20220513-convegno-teologia-morale.html<br />

(Stand: 13. 12. 2022).<br />

168


8. Die Grenzen der Analyse: Moralische Entwicklung und<br />

kirchliche Normfindung<br />

Das vom Ökumenischen Rat der <strong>Kirchen</strong> vorgelegte Analyseinstrument<br />

erlaubt es also, nicht nur zwischen den <strong>Kirchen</strong> und Konfessionen, sondern<br />

auch innerhalb der eigenen Kirche Bewegung und Veränderung zu<br />

beobachten und unterschiedliche Haltungen zu Veränderungen in mora -<br />

lischen Fragen auf dem Hintergrund unterschiedlicher theologischer Zugangsweisen<br />

zu deuten und zu verstehen. Freilich gelingt dies noch viel<br />

besser im Gespräch mit einer Kirche oder Konfession, die sich unterscheidet,<br />

weil die eigenen Eigentümlichkeiten und Bezugspunkte im Gespräch<br />

noch besser bewusst werden. Selbstanalyse im Dialog mit dem Anderen<br />

ist auch Teil der Methode, die in der derzeitigen Internationalen Anglikanisch-Römisch-katholischen<br />

Kommission ARCIC III angewendet <strong>wird</strong>.<br />

Diese verwendet die Methode des »receptive ecumenism«, der von Paul<br />

Murray (Durham) entwickelt wurde und die sich im Dialog zwischen den<br />

kirchlichen Gemeinschaften bewährt hat. Es geht darum, im Austausch<br />

zu erkennen, was die eigene Tradition vom Gesprächspartner lernen<br />

kann. 16 Dieses Voneinander-Lernen führt zeitweise auch zu schmerzhafter<br />

Selbsterkenntnis, doch eröffnet es auch neue Perspektiven, die beim Überwinden<br />

der eigenen Schwierigkeiten hilfreich sein können, und es vertieft<br />

das geschwisterliche Miteinander der Konfessionen und <strong>Kirchen</strong> als Begleiterinnen<br />

auf dem gemeinsamen Weg.<br />

Gerade in seiner Weite und Flexibilität, die mit seiner analytischen<br />

Zielsetzung zusammenhängt, markiert das Analyseinstrument auch seine<br />

Grenze. Diese liegt genau darin, dass das Instrument selbst keinen normativen<br />

ethischen Ansatz bietet und auch kein Prozedere darstellt, wie<br />

angesichts der möglichen Vielfalt eine kirchliche Normfindung erfolgen<br />

soll. Es sagt also genau nicht, wie eine Kirche oder Konfession zu ihren<br />

moralischen Normen gelangen soll. Stattdessen macht es auf die Einflussfaktoren<br />

aufmerksam, die im Rahmen der kirchlichen Entscheidungsfindung<br />

zum Tragen kommen können. Die Wahl bestimmter Ansätze in der<br />

<strong>Ethik</strong> und in theologischen Bereichen wie der Ekklesiologie kann aber<br />

16<br />

Vgl. Zusammen auf dem Weg gehen: Lernen, die Kirche zu sein – lokal, regional,<br />

universal. Gemeinsame Erklärung der dritten Anglikanisch / Römisch-katholischen<br />

Internationalen Kommission (ARCIC III), Erfurt 2017, in: Dokumente wachsender<br />

Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche<br />

auf Weltebene. Bd. 5. 2011–2019. <strong>Hrsg</strong>. und eingel. von J. OELDEMANN<br />

ET.AL., Paderborn/Leipzig 2021, 296–383, Nr. 18.<br />

169


entscheidend da<strong>für</strong> sein, auf welche Weise und bis zu welchem Grad die<br />

Kirche anpassungsfähig ist und ihre Lehre weiterentwickeln oder verändern<br />

kann.<br />

Zugleich ist sich der Text dieser Spannung zwischen den Faktoren<br />

kirchlicher Normfindung und einer genuin ethischen Argumentation bewusst.<br />

Dieses kommt in einem weiteren Abschnitt <strong>zur</strong> Sprache, der mit<br />

der Wechselwirkung zwischen spezifisch ethischer Argumentation und<br />

kirchlicher Normfindung beschäftigt. 17 Hier <strong>wird</strong> von einer Wechselwirkung<br />

ausgegangen, weil kirchliche Normfindung meist in Reaktion auf<br />

Veränderungen in der Gesellschaft erfolgt. Dabei ergeben sich einerseits<br />

Ungleichzeitigkeiten, weil Umstände historischer und geographischer Art<br />

solche Veränderungen verursachen, erleichtern oder behindern können.<br />

Andererseits befindet sich die Kirche bezüglich der unterschiedlichen Gesellschaften<br />

in mehreren, ethisch unterschiedlichen Einflusssphären, da<br />

in unterschiedlichen kulturellen Umfeldern auch unterschiedliche ethische<br />

Ansätze gängig sind und besonders plausibel wirken, z. B. utilitaristische<br />

Argumentationsformen im angelsächsischen Umfeld, kommunitaristische<br />

Argumente in der afrikanischen Kultur oder deontologische in der deutschsprachigen<br />

Tradition.<br />

Es stellt sich also die Frage, woran sich kirchliche Normfindung<br />

orientiert, welche Formen ethischer Argumentation eigene traditionelle<br />

Bezugspunkte sind und wie es gelingt, diese <strong>für</strong> veränderte moralische<br />

Einsichten zu öffnen bzw. wie neue Ansichten in die eigene ethische und<br />

theologische Tradition übersetzt und dort integriert werden können.<br />

Dies ist besonders deshalb wichtig, weil moralische Veränderung aufgrund<br />

gesellschaftlicher, technischer und wissenschaftlicher Entwicklungen<br />

eintreten kann und kirchlich relevant <strong>wird</strong>, sofern sie von den damit<br />

befassten Gläubigen mitvollzogen und im Glauben als richtig erfahren<br />

<strong>wird</strong>. In diesem Fall ist es unerlässlich, dass innerkirchlich der Versuch<br />

stattfindet, diese teilweise auf ortskirchlicher Ebene stattfindenden Veränderungen<br />

in die gesamtkirchliche Gemeinschaft zu integrieren und auf<br />

diese Weise mit anderen Elementen der eigenen Tradition in Einklang zu<br />

bringen. Traditionsbildung findet somit nicht top down, sondern bottom<br />

up statt: »Tradition geschieht durch alle Gläubigen«. 18<br />

17<br />

Vgl. Dialog fördern (s. Anm. 1), Nr. 117–122: »4.3.7 Formen moralisch-ethischer<br />

Argumentation in der Interaktion mit dem Gewissen der Kirche«.<br />

18<br />

Vgl. zu diesen Prozessen auf synodaler Ebene WIJLENS, »Die Kirche Gottes ist zu<br />

einer Synode einberufen« (s. Anm. 14), 441.<br />

170


Die Grenze des Analyseinstruments liegt also einerseits darin, dass<br />

die normative Frage, wie moralische Fragen konkret begründet werden<br />

sollen, d. h. wie das, was gut ist, im Rahmen einer ethischen Theorie und<br />

Argumentation bestimmt <strong>wird</strong>, nicht Teil des Analyseinstruments sein<br />

kann, weil es sich dann festlegen würde und nicht mehr universal anwendbar<br />

wäre. Es geht in diesem Instrument nicht um ethische Argumentation<br />

an sich.<br />

Andererseits liegt auch eine klare Grenze darin, dass auch das kirchliche<br />

Prozedere, wie nämlich Entwicklungen im Bereich der Moral kirchlich<br />

so eingebettet werden können, dass sie möglicherweise richtungsweisend<br />

<strong>für</strong> die ganze kirchliche Gemeinschaft werden können, nicht Teil<br />

des Instruments ist. Solche Prozesse sind derzeit wohl in allen kirchlichen<br />

Gemeinschaften, ganz deutlich auch in der Katholischen Kirche im Gange.<br />

Im Rahmen des Synodalen Prozesses <strong>zur</strong> Vorbereitung der Bischofssynode<br />

2023 zeigen die Rückmeldungen der Ortskirchen auf kontinentaler Ebene<br />

weltweit das Ringen um aktuelle Fragen wie die bessere Integration von<br />

LGBTQ+-Menschen in der Kirche oder die gleichberechtigte Rolle von<br />

Frauen in der Kirche, die sehr widersprüchliche Reaktionen hervorrufen. 19<br />

Es <strong>wird</strong> abzuwarten sein, ob es der Kirche gelingt, die damit einhergehenden<br />

Appelle <strong>zur</strong> Anpassung oder Veränderung der kirchlichen Lehre aufzugreifen<br />

und den damit verbundenen Anliegen im Gesamt kirchlicher<br />

Normfindung den rechten Ort zuzuweisen. Welche Schritte dazu nötig<br />

sind, liegt jenseits der Aufgabe dieses Analyseinstruments, doch <strong>zur</strong> Vorbereitung<br />

und Aufarbeitung der einschlägigen Einflussfaktoren kann es<br />

eine große Hilfe sein.<br />

19<br />

Vgl. Generalsekretariat der Synode, »Mach den Raum deines Zeltes weit« (Jes<br />

54,2). Arbeitsdokument <strong>für</strong> die kontinentale Etappe. Synode 2021–2024, Vatikanstadt<br />

24. 10. 2022, Nr. 51, URL: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/<br />

diverse_downloads/presse_2022/2022-172a_Mach-den-Raum-deines-Zeltes-weit-<br />

Synode_2021–2024_Arbeitsdokument-kontinentale-Etappe.pdf (Stand: 27. 12.<br />

2022).<br />

171


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