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Schulfenster Nr. 56, Juli 2023

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Schule Hellwies<br />

Dem Holocaust ein Gesicht geben<br />

In der 3. Sek behandelten die Klassen im «Hellwies» einen Themenblock über «Diskriminierung –<br />

Vertreibung –Völkermord». Dazu gehörte auch ein Besuch von Studentin Naomi Wyler. Sie erzählte<br />

die Geschichte ihres Grossvaters Otto Schmelzer, der als Jude in Ungarn den Holocaust überlebte.<br />

In der RZG-Projektwoche (Räume, Zeiten, Gesellschaften) der<br />

3. Sekundarstufe wurden im letzten Dezember in der Schule<br />

Hellwies die Themen «Diskriminierung, Vertreibung und Völkermord»<br />

behandelt. Thematisiert wurde im Unterricht auch die<br />

Schoah, respektive der Holocaust, bei welchem zwischen 1933<br />

und 1945 circa sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische<br />

Regime systematisch ermordet wurden. Ein<br />

wichtiges und grosses Thema, dem sich auch das Oral-History-<br />

Projekt der Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET) annimmt. Die<br />

Stiftung bietet mit Nacherzählenden, also Menschen der zweiten<br />

und dritten Generation, deren Eltern oder Grosseltern die Schoah<br />

überlebt haben, im Schulzimmer eine Alternative zum Lernen<br />

am Bildschirm an. Nachkommen von Holocaust-Überlebenden<br />

erzählen die Erlebnisse ihrer Eltern oder Grosseltern. Die Schoah<br />

wird so aus der Perspektive der Nachkommen beleuchtet.<br />

Naomi Wyler, die in Zürich Medizin studiert, ist eine der<br />

Erzählerinnen, die für die Stiftung Klassen der Sekundarstufe,<br />

Berufsschule oder Gymnasien besucht. So auch im «Hellwies»,<br />

wo sie die Geschichte ihres Grossvaters Otto Schmelzer den<br />

Schülerinnen und Schülern erzählte.<br />

Otto Schmelzer wurde 1937 in Ungarn geboren. Als ein Jahr später in<br />

Ungarn sogenannte Judengesetze eingeführt wurden, betraf dies auch<br />

die Familie von Naomi Wylers Grossvater. Als Juden durften sie gewisse<br />

Orte nicht mehr besuchen; die Urgrosseltern mussten ihre Weinfabrik<br />

aufgeben, da gewisse Berufszweige nur noch beschränkt für Juden zugelassen<br />

waren. Der Vater von Otto Schmelzer wurde 1939 in den Militärdienst<br />

eingezogen (Zwangsarbeit für Juden), die Mutter musste mit<br />

ihren beiden Buben in ein Ghetto in der Nähe von Szeged ziehen. Die<br />

Menschen wurden dort regelrecht auf engstem Raum eingepfercht. An<br />

einem Samstag wurden alle aufgefordert, sich am Bahnhof von Szeged<br />

zu versammeln. Was die Leute nicht wussten: Das Ziel war das Konzentrationslager<br />

Auschwitz, wo der grösste Teil der Juden durch Vergasung<br />

getötet wurde.<br />

Die Mutter von Otto Schmelzer entschied sich am Bahnhof Szeged,<br />

nicht mit Kolleginnen in einen Zugwaggon zu steigen, sondern in<br />

ein Zugabteil mit Verwandten von ihrem Mann. Das sollte die kleine<br />

Familie vor dem Tod bewahren, da ein Teil der Zugwaggons irrtümlicherweise<br />

in ein Arbeitslager nach Strasshof in Österreich umgeleitet<br />

wurden. In einem dieser umgeleiteten Zugwaggons war Familie<br />

Schmelzer. Im Arbeitslager überlebte die Mutter mit ihren zwei Buben<br />

zwar, doch der Hunger war ein ständiger Begleiter. Die Kinder sangen<br />

und bettelten am Strassenrand um ein altes Stück Brot, die Mutter<br />

musste in einer Fabrik arbeiten.<br />

Naomi Wyler erzählt die Geschichte ihre Grossvaters Otto Schmelzer,<br />

der den Holocaust überlebte.<br />

Im April 1945 stürmte die russische Rote Armee das Lager Strasshof<br />

und der damals achtjährige Otto Schmelzer konnte mit dem drei Jahre<br />

älteren Bruder und seiner Mutter das Lager verlassen. Auch der Vater<br />

überlebte die Zwangsarbeit im Militärdienst. Nach Ende des 2. Weltkrieges<br />

lebte die Familie zunächst in Budapest. Otto Schmelzer besuchte<br />

ein jüdisches Gymnasium und wurde aus diesem Grund, und da er<br />

nicht aus einer Arbeiterfamilie stammte, nicht zum Medizinstudium<br />

zugelassen. Nach Abschluss einer Elektrolehre entschloss er sich nach<br />

dem Ungarn-Aufstand im Jahr 19<strong>56</strong> als 19-Jährigen zusammen mit<br />

dem Bruder in die Schweiz auszuwandern. An der Uni Zürich konnte er<br />

dann endlich seinen Wunsch vom Medizinstudium erfüllen.<br />

1971 eröffnete Otto Schmelzer seine eigene Kinderarztpraxis in<br />

Zürich. Die Familie ist dem heute 85-Jährigen sehr wichtig; er hat drei<br />

Kinder und zwölf Enkelkinder. Der Bruder lebte in den USA, ist aber<br />

im Dezember 2022 leider verstorben.<br />

Otto Schmelzer besuchte seit seiner Flucht 19<strong>56</strong> Ungarn ein paar<br />

Mal; dort zu leben käme für ihn aber nicht in Frage – zu viele schreckliche<br />

Dinge hat er dort als Junge und als junger Mann mit seiner<br />

Familie durch den Holocaust erleben müssen. Auch wäre es als praktizierender<br />

Jude dort nicht das Umfeld, welches er für sich und seine<br />

Familie vorfinden möchte.<br />

14 <strong>Schulfenster</strong> <strong>56</strong> | <strong>2023</strong>

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