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ihm sei es jedoch wichtig zu betonen,<br />
dass das Phänomen keine Diagnose ist<br />
und es dafür keinen alleinstehenden<br />
Auslöser gäbe. „Erklären kann man sich<br />
das mittels des bio-psycho-sozialen Systems<br />
des Menschen“, so Lioznov. „Bio“<br />
steht für die Genetik. Wenn die Eltern in<br />
ihrem Leben starkem Stress ausgesetzt<br />
waren oder eventuell traumatisiert sind,<br />
geben sie das an ihre Kinder genetisch<br />
weiter. Der Punkt „psycho“ betrifft die<br />
individuelle psychische Verfassung. Hier<br />
spielen die eigenen Traumata, Stresssituationen<br />
und der Druck der Eltern eine<br />
wesentliche Rolle. Der dritte Aspekt,<br />
„sozial“, wird oft übersehen, obwohl er<br />
entscheidend ist. Die soziale Umwelt,<br />
beispielsweise in Form von Rassismus,<br />
kann einen erheblichen Einfluss auf das<br />
Imposter-Phänomen haben. Es handelt<br />
sich demnach um ein komplexes Zusammenspiel<br />
aus mehreren Faktoren, die in<br />
den Menschen Komplexe auslösen.<br />
„SOLL ICH WIRKLICH<br />
WEITERSTUDIEREN?“<br />
„Sie wissen, dass ihre Tochter nicht die<br />
Matura machen muss, oder?“, mit diesen<br />
Worten versuchte Tatjanas Mathematikprofessorin<br />
ihrer Mutter in einem<br />
persönlichen Gespräch zu erklären, dass<br />
nicht alle Kinder für höhere Schulen<br />
gemacht sind. Die heute 20-Jährige, die<br />
serbische Wurzeln hat, befand sich zu<br />
der Zeit in der Oberstufe eines Gymnasiums.<br />
Eigentlich war sie eine recht gute<br />
Schülerin, doch durch die Worte ihrer<br />
Mathematikprofessorin fing sie, an sich<br />
fehl am Platz zu fühlen – alle ihre guten<br />
Leistungen waren plötzlich egal. Dieses<br />
Gefühl des „Nicht-gut-genug-Seins“ lässt<br />
sie bis heute auf der Fachhochschule<br />
nicht los. Sie studiert Content Produktion<br />
und spürt das ständige Bedürfnis, sich<br />
beweisen zu müssen. Tatjana ist eine<br />
der wenigen Studierenden mit Migrationshintergrund<br />
in ihrer Studienrichtung<br />
und besonders darin sieht sie die Wurzel<br />
ihrer Unsicherheiten. „Ich wünsche mir<br />
so ein bisschen, dass ich die gleichen<br />
Möglichkeiten hätte wie meine autochthonen<br />
Kommilitonen an der FH. Sie<br />
können einfach verreisen, unbezahlte<br />
Praktika absolvieren und haben Eltern,<br />
die sie im Studium finanziell unterstützen<br />
können. Da fühle ich mich so, als hätte<br />
ich da keinen Platz und würde nicht<br />
dahin gehören“, erklärt sie bedrückt. Sie<br />
versteht nicht, warum sie diesen Platz<br />
auf der Fachhochschule bekommen hat,<br />
da sie ihn ihrer Meinung nach gar nicht<br />
verdient hätte. Sätze wie „Sollte ich nicht<br />
vielleicht abbrechen?“ oder „Soll ich<br />
wirklich weiterstudieren?“ machen sich<br />
in ihrem Kopf breit. Sie hat konstante<br />
Selbstzweifel und vergleicht sich mit<br />
ihren Mitstudierenden. Alle ihre Qualifikationen<br />
und Fähigkeiten sind nichts<br />
wert oder zumindest nicht so viel wie die<br />
der anderen. „Mir ist sehr wohl bewusst,<br />
dass Studieren etwas für jeden ist,<br />
aber vielleicht bin ich doch nicht dafür<br />
geschaffen, eine höhere Schule abzuschließen.<br />
Vielleicht sollte man das doch<br />
den Österreicher:innen überlassen“,<br />
erzählt Tatjana.<br />
„ICH BLAMIERE MICH<br />
DOCH NUR“<br />
„Ich bin einfach ein sehr lieber, kommunikativer<br />
und offener Mensch und ich<br />
glaube, dass das vielen gefällt und sie<br />
deswegen gar nicht merken, dass ich<br />
eigentlich nichts draufhabe.“ Mit diesen<br />
Worten versucht Ana ihr Gefühl, sie<br />
würde Vorgesetzte hinters Licht führen,<br />
zu erklären. Dabei besitzt die 27-Jährige<br />
mit bosnisch-kroatischen Wurzeln mehr<br />
als nur Charme. Ihr Lebenslauf ist gefüllt<br />
mit erstklassigen Arbeitserfahrungen<br />
und auch ihr Masterstudium hat sie<br />
erfolgreich abgeschlossen. Nichtsdestotrotz<br />
plagen sie ihre Unsicherheiten.<br />
Als sich Ana letztes Jahr für einen Job<br />
als Kundenberaterin in einer großen<br />
Consulting-Firma bewarb, musste sie<br />
sich durch einen harten Bewerbungsprozess<br />
boxen. Einen Monat und vier<br />
Runden später hatte sie zwar die Stelle,<br />
doch vor allem in den ersten Monaten<br />
verfolgten sie Gedanken wie: „Oh mein<br />
Gott, wieso haben die mich genommen?“<br />
oder „Irgendwann merken sie,<br />
dass sie einen Fehler gemacht haben.“<br />
Die Frage, was die anderen über sie<br />
denken könnten, verfolgt sie auf Schritt<br />
und Tritt. Diese Denkweise hat sie schon<br />
früh von ihren Eltern vererbt bekommen.<br />
Ihnen war es wichtig, als Migrant:innen<br />
einen guten Eindruck zu machen und<br />
nicht schlechter als Österreicher:innen<br />
gesehen zu werden – das war die größte<br />
Angst der Eltern und immer mit unglaublich<br />
großer Scham verbunden. Doch<br />
diese Angst, etwas Falsches zu sagen<br />
oder zu machen, schränkt Ana nun ein,<br />
ihr wahres Potenzial zu zeigen. „Häufig in<br />
Gruppen-Settings traue ich mich nichts<br />
zu sagen, weil sich in mir solche Gedanken<br />
aufdrängen: `Die anderen werden<br />
es doch eh besser wissen und ich<br />
blamier mich jetzt nur, ich bin doch eh<br />
nicht kompetent genug, warum bin ich<br />
überhaupt hier?´ Ich unterschätze mich<br />
selbst enorm“, erzählt sie bedrückt. Eine<br />
endgültige Lösung für diese Gedanken<br />
hat die 27-Jährige noch nicht gefunden,<br />
allerdings findet sie Lob hilfreich. „Wenn<br />
Kolleg:innen mir sagen, dass ich etwas<br />
gut gemacht habe, hilft das“, erklärt<br />
sie. Sie warnt jedoch davor, von positivem<br />
Feedback abhängig zu werden und<br />
ermutigt dazu, auch ohne Bestätigung<br />
von anderen selbstbewusst und selbstständig<br />
zu handeln.<br />
SPRECHT ÜBER EURE<br />
NEGATIVEN GEDANKEN.<br />
Obwohl es zu einfach klingen mag,<br />
ist Kommunikation der Schlüssel zur<br />
mentalen Entlastung. „Die Fähigkeit,<br />
seine Schwächen zu offenbaren, ist ein<br />
Zeichen von Stärke“, betont Lioznov und<br />
ermutigt dazu, ehrlich über negative<br />
Gedanken zu sprechen. In den passenden<br />
Umgebungen und mit den richtigen<br />
Menschen kann dies eine äußerst heilsame<br />
Erfahrung sein. Sprecht mit anderen,<br />
erzählt von euch und fragt, ob sie das<br />
Gefühl kennen, ob es ihnen ähnlich geht.<br />
Irgendwer muss ja den Anfang machen.<br />
Dennoch beschäftigt mich, auch nachdem<br />
dieser Text von der Redaktion als<br />
gut befunden und abgedruckt wurde, die<br />
Frage: War das jetzt gut genug? ●<br />
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8. BIS 11. NOV. 20<strong>23</strong><br />
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Theresianumgasse 16-18, <strong>10</strong>40 Wien<br />
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