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Daniel Rudolphi: Kirchengemeindefusion (Leseprobe)

Die vorliegende empirische Studie widmet sich dem bisher noch wenig erforschten Phänomen der Kirchengemeindefusionen. Hierfür wurden sieben ausgewählte Fusionsprozesse aus drei unterschiedlichen Landeskirchen analysiert. Daniel Rudolphi hat Gruppendiskussionen und Leitfadeninterviews mit den beteiligten Akteur:innen durchgeführt und interessiert sich besonders für die Deutung der Fusionsprozesse und die dahinterstehenden Kirchenbilder. Hierbei zeigt er auf, welchen Elementen eines Fusionsprozesses aus Sicht der handelnden Akteur:innen besondere Bedeutung zukommt. Das Thema Kirchengemeindefusion wird in den größeren Diskurs um die Kirchenreform eingeordnet und es wird die Frage erörtert, warum Kirchengemeindefusionen oft ein sehr emotionales Geschehen sind.

Die vorliegende empirische Studie widmet sich dem bisher noch wenig erforschten Phänomen der Kirchengemeindefusionen. Hierfür wurden sieben ausgewählte Fusionsprozesse aus drei unterschiedlichen Landeskirchen analysiert. Daniel Rudolphi hat Gruppendiskussionen und Leitfadeninterviews mit den beteiligten Akteur:innen durchgeführt und interessiert sich besonders für die Deutung der Fusionsprozesse und die dahinterstehenden Kirchenbilder. Hierbei zeigt er auf, welchen Elementen eines Fusionsprozesses aus Sicht der handelnden Akteur:innen besondere Bedeutung zukommt. Das Thema Kirchengemeindefusion wird in den größeren Diskurs um die Kirchenreform eingeordnet und es wird die Frage erörtert, warum Kirchengemeindefusionen oft ein sehr emotionales Geschehen sind.

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<strong>Daniel</strong> <strong>Rudolphi</strong><br />

<strong>Kirchengemeindefusion</strong><br />

Zwischen Zwang und<br />

Selbstbestimmung<br />

Arbeiten zur Praktischen Theologie


Vorwort<br />

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2022/2023 von der Theologischen<br />

Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen.<br />

Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet.<br />

Mein herzlicher Dank gilt zuerst einmal meinem Doktorvater Prof. Dr. Jan<br />

Hermelink, der die vorliegende Studie durch seine Anregungen und Fragen intensiv<br />

begleitet hat. Ohne sein Engagement wäre die Studie nicht zu einem guten<br />

Abschluss gekommen. Ebenfallsdanken möchte ich Prof. Dr. Alexander-Kenneth<br />

Nagel für dieanregenden Gespräche über den Neo-Institutionalismus undfür die<br />

Anfertigung des Zweitgutachtens. Pastor Dr. Benedikt Rogge gilt Dank für sein<br />

Mitdenken und den Austausch über die Qualitative Sozialforschung. Danken<br />

möchte ich auch Bischof Dr. Christian Stäblein für die guten Gespräche in Vorbereitung<br />

auf mein Dissertationsvorhaben und für den spannenden Austausch<br />

über kirchliche Transformationsprozesse in den Anfangsjahren meiner Studie.<br />

Auch den zahlreichen Mitgliedern der praktisch-theologischen Sozietät gilt mein<br />

Dank für die kritische und konstruktive Begleitung meines Dissertationsvorhabens<br />

und nicht zuvergessen sind die zahlreichen Hilfskräfte am Lehrstuhl, die<br />

mich beim Transkribieren unterstützt haben. Ein großer Dank gilt meiner Familie,<br />

die mich auch in den schwierigen Momenten der Dissertation unterstützt<br />

und getragen hat.<br />

Großzügig unterstützt wurde die Publikation von der Evangelisch-lutherischen<br />

Landeskirche Hannovers und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirche Deutschlands (VELKD). Auch die Bremische Evangelische Kirche (BEK)<br />

hat diese Arbeit unterstützt, indem sie für eine Vereinbarkeit von Forschung und<br />

Probedienst gesorgt hat. Den Herausgeber:innen der Arbeiten zur Praktischen<br />

Theologie ist zu danken für die Aufnahme des Buches in die Reihe und der<br />

Evangelischen Verlagsanstalt für die gute Zusammenarbeit.<br />

Abschließend möchte ich allen Kirchenvorsteher:innen und Pfarrer:innen<br />

danken, die an dieser Studie mitgewirkt haben. Mir ist bewusst, wie sensibel das<br />

Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong> sein kann. Ohne Euch und Sie wäre dieses Projekt<br />

nicht zustande gekommen.


Inhalt<br />

Einleitung ................................................ 13<br />

1 Fusionen und Kooperationen innerhalb der ev. Kirche<br />

(Forschungsstand) ....................................... 19<br />

1.1 Paradoxien von Fusionsprozessen (Jung und Armbruster 2013) 19<br />

1.1.1 Ertrag ....................................... 21<br />

1.2 Ortsgemeinden im Übergang (Lehwalder 2018) ............ 21<br />

1.2.1 Fusion als Raumgeschehen ....................... 22<br />

1.2.2 Fusion als prozesshaftes Geschehen ................ 23<br />

1.2.3 Fusion als Kasualie ............................. 25<br />

1.2.4 Ertrag ....................................... 27<br />

1.3 Changemanagement im Rahmen einer Verwaltungsfusion<br />

(Czychun 2018) .................................... 27<br />

1.3.1 Akteurzentrierter Institutionalismus ................ 28<br />

1.3.2 Erfolgsfaktoren ................................ 29<br />

1.3.3 Ergebnisvariationen ............................. 30<br />

1.3.4 Performanceeffekte ............................. 30<br />

1.3.5 Ertrag ....................................... 31<br />

1.4 Kooperation aus sozialpsychologischer Perspektive (Mulia<br />

2020) ............................................ 31<br />

1.4.1 Erkenntnisse aus der Sozialpsychologie .............. 32<br />

1.4.2 Kooperation als Herausforderung für Kirchenvorstände 33<br />

1.4.3 Ertrag ....................................... 34<br />

1.5 Wirkfaktoren für das Gelingen von Fusionen<br />

(Baumfeld/Riermeier 2020) ........................... 34<br />

1.5.1 Hypothesen ................................... 35<br />

1.5.2 Modelle ...................................... 36<br />

1.5.3 Methodische Umsetzung ......................... 41<br />

1.5.4 Wirkfaktoren .................................. 41<br />

1.5.5 Gesamtbetrachtung der Autor:innen ................ 44<br />

1.5.6 Ertrag ....................................... 45<br />

1.6 Gesamtertrag ...................................... 46<br />

2 Erkenntnisse der Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften .... 49<br />

2.1 Begriffsklärung ..................................... 49<br />

2.2 Fusionsmotive ..................................... 50<br />

2.3 Fusionsphasenmodell ................................ 52<br />

2.3.1 Pre Merger (Strategiephase) ...................... 52<br />

2.3.2 Merger (Verhandlungsphase) ...................... 53


8 Inhalt<br />

2.3.2.1 Cultural due Diligence ..................... 54<br />

2.3.3 Post Merger (Integrationsphase) ................... 55<br />

2.4 7-K-Modell (Jansen) ................................. 55<br />

2.5 Konfliktmodell (Glasl) ................................ 58<br />

2.6 Ertrag ............................................ 61<br />

3 Der Neo-Institutionalismus als Perspektiverweiterung ........... 63<br />

3.1 Organisationsstruktur ................................ 63<br />

3.2 Isomorphie-Mechanismen ............................. 65<br />

3.3 Akteursverständnis im Neo-Institutionalismus ............. 68<br />

3.4 Ertrag ............................................ 70<br />

4 Die Gemeinde im kirchentheoretischen Diskurs ................ 73<br />

4.1 Kirchliche Orte (Pohl-Patalong 2003) .................... 73<br />

4.2 Kirche der Freiheit (EKD 2006) ........................ 76<br />

4.3 Die Mehrdimensionalität des Gemeindebegriffes (Hermelink) .. 77<br />

4.3.1 Regionalisierung in theologischer Perspektive (2008) ... 77<br />

4.3.2 Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens<br />

(2011) ....................................... 81<br />

4.3.3 Die rechtliche Liquidierung der Gemeinde (2019) ...... 82<br />

4.4 Stärkung der Ortsgemeinde (Karle 2011) ................. 83<br />

4.5 Die Parochie als Organisationskern (Weyen 2016) .......... 86<br />

4.6 Regiolokale Kirchenentwicklung (Herbst 2018) ............ 87<br />

4.7 Ertrag ............................................ 88<br />

5 Forschungsfrage ........................................ 91<br />

5.1 Explorative Vorstudie zur Präzisierung der Forschungsfrage .. 91<br />

5.1.1 Verlauf ...................................... 91<br />

5.1.2 Akteur:innen .................................. 92<br />

5.1.3 Kulturen ..................................... 93<br />

5.1.4 Ziele ........................................ 94<br />

5.1.5 Ertrag ....................................... 94<br />

5.2 Herleitung der Forschungsfrage ........................ 94<br />

5.3 Präzisierung des Deutungsbegriffes ..................... 96<br />

6 Methodisches Vorgehen .................................. 99<br />

6.1 Gruppendiskussionsverfahren und halbstrukturiertes<br />

Leitfadeninterview .................................. 99<br />

6.2 Forschungsfeld ..................................... 102<br />

6.3 Stichprobe ........................................ 103<br />

6.3.1 Ev.-luth. Kirchengemeinde Birkstadt (Fall 1) .......... 103<br />

6.3.2 Ev.-luth. Kirchengemeinde Felddorf-Steintrupp (Fall 2) .. 104<br />

6.3.3 Ev. Kirchengemeinde Kesselthal (Fall 3) ............. 105<br />

6.3.4 Ev. Kirchengemeinde Grafstadt-Schönburg (Fall 4) ..... 106<br />

6.3.5 Ev.-luth. Kirchengemeinde Neubach (Fall 5) .......... 106<br />

6.3.6 Ev. Apostel Kirchengemeinde Kiefstein (Fall 6) ........ 106


Inhalt 9<br />

6.3.7 Ev. Kirchengemeinde Althausen (Fall 7) ............. 107<br />

6.4 Durchführung der Erhebung ........................... 107<br />

6.5 Auswertung der Daten nach der<br />

Grounded-Theory-Methodologie ........................ 110<br />

6.5.1 Theoretical Sampling ............................ 111<br />

6.5.2 Theorieorientiertes Kodieren ...................... 112<br />

6.6 Umgang mit Emotionen .............................. 115<br />

7 Fusion als Prozess ...................................... 117<br />

7.1 Krise als ursächliche Bedingung für die Fusion ............ 118<br />

7.1.1 Pfarrstellenreduzierungen und Vakanzen als Folgen der<br />

Krise ........................................ 119<br />

7.1.2 Kostendruck als Folge der Krise ................... 122<br />

7.1.2.1 Personal ............................... 122<br />

7.1.2.2 Gebäude ............................... 122<br />

7.1.3 Existenzangst als Folge der Krise .................. 123<br />

7.1.3.1 Schwachheit ............................ 124<br />

7.1.3.2 Unmittelbarkeit .......................... 124<br />

7.1.3.3 Ausweglosigkeit ......................... 124<br />

7.2 Regionalisierungsphase als Einstieg in die Fusion .......... 125<br />

7.2.1 Initiation ..................................... 126<br />

7.2.1.1 Initiation auf der Kirchenkreisebene .......... 127<br />

7.2.1.2 Initiation auf der Gemeindeebene ............ 129<br />

7.2.1.3 Der fremdbestimmte und der selbstbestimmte<br />

Beginn ................................. 131<br />

7.2.2 Kooperation als prozessfördernde Erfahrung für die<br />

Fusion ....................................... 133<br />

7.3 Verhandlungsphase als Konkretisierung der Fusion ......... 135<br />

7.3.1 Motive der handelnden Akteur:innen ............... 135<br />

7.3.1.1 Fusion als Bedingung für Entlastung .......... 135<br />

7.3.1.2 Fusion als Bedingung für Bewahrung ......... 136<br />

7.3.1.3 Fusion als Bedingung für Optimierung und<br />

Qualitätsentwicklung ...................... 137<br />

7.3.1.4 Fusion als Bedingung für Hilfe .............. 138<br />

7.3.2 Beauftragung einzelner Akteur:innen ............... 139<br />

7.3.3 Fusionsverhandlungen .......................... 142<br />

7.3.3.1 Verhandlungskontext ..................... 142<br />

7.3.3.2 Verhandlungsmodelle ..................... 143<br />

7.3.3.3 Verhandlungsinhalte ...................... 145<br />

7.3.3.4 Fusion und strukturelle Veränderungen ....... 149<br />

7.4 Widerstand als Reaktion auf die Fusion .................. 151<br />

7.4.1 Ursachen für Widerstand ......................... 152


10 Inhalt<br />

7.4.1.1 Der potentielle Verlust von institutioneller<br />

Sichtbarkeit ............................. 153<br />

7.4.1.1.1 Kirchengebäude als Ausdruck<br />

institutioneller Sichtbarkeit .......... 154<br />

7.4.1.1.2 Gottesdienst als Ausdruck<br />

institutioneller Sichtbarkeit .......... 155<br />

7.4.1.1.3 Pfarrhaus und Gemeindebüro als<br />

Ausdruck institutioneller Sichtbarkeit .. 156<br />

7.4.1.2 Der potentielle Verlust von Vertrautheit ....... 157<br />

7.4.1.2.1 Vertrautheit mit Orten .............. 158<br />

7.4.1.2.2 Vertrautheit mit Liturgien ........... 161<br />

7.4.1.3 Der potentielle Verlust von Gemeinschaft ...... 162<br />

7.4.1.4 Der potentielle Verlust von Einflussbereichen ... 163<br />

7.4.2 Formen des Widerstands ......................... 165<br />

7.4.2.1 Widerstand durch Protest im Namen der<br />

Gemeinde .............................. 165<br />

7.4.2.2 Widerstand durch kulturelle Grenzziehung ..... 166<br />

7.4.2.3 Widerstand durch Rückzug ................. 167<br />

7.4.2.4 Widerstand durch Ausstieg ................. 168<br />

7.4.3 Widerstand als selbstbestimmte Reaktion auf die Fusion 171<br />

7.5 Fusionsgottesdienst als symbolische Feier der rechtlichen<br />

Vereinigung ....................................... 172<br />

7.6 Veränderung als Konsequenz der Fusion ................. 176<br />

7.6.1 Pfarrstruktur .................................. 176<br />

7.6.1.1 Verlust von Selbstbestimmungsmöglichkeiten ... 176<br />

7.6.1.2 Verlust von Kontaktmöglichkeiten ............ 178<br />

7.6.2 Gottesdienststruktur ............................ 180<br />

7.6.2.1 Veränderung der Gottesdienstrhythmen und<br />

Gottesdienstzeiten ........................ 180<br />

7.6.2.2 Anpassung der Liturgie .................... 180<br />

7.6.3 Gebäudestruktur ............................... 182<br />

7.6.3.1 Veränderung der Gebäudestruktur ........... 182<br />

7.6.3.2 Veränderung der Räume ................... 184<br />

7.7 Ertrag ............................................ 185<br />

8 Fusions- und Gemeindebilder als Deutungen .................. 187<br />

8.1 Fusion als Bedrohung – Gemeinde als Schutzraum .......... 187<br />

8.1.1 Fusion als Kampf – Gemeinde als Schutzraum ........ 192<br />

8.1.2 Fusion als Zwangsehe – Gemeinde als Schutzraum ..... 193<br />

8.1.3 Fusion als Inklusion – Gemeinde als Schutzraum ...... 194<br />

8.1.4 Ertrag ....................................... 194<br />

8.2 Fusion als Konsolidierung – Gemeinde als solventes<br />

Unternehmen ...................................... 195


Inhalt 11<br />

8.3 Fusion als Bewahrung – Gemeinde als Kontinuität .......... 196<br />

8.4 Fusion als Fortschritt – Gemeinde als lernende Organisation .. 197<br />

8.5 Ertrag ............................................ 198<br />

9 Selbstbestimmung als Schlüssel zur Deutung von Fusionsprozessen<br />

(Fazit) ................................................ 201<br />

9.1 Selbstbestimmung als zentr. Thema der Interviews und<br />

Diskussionen ...................................... 201<br />

9.2 Selbstbestimmung und die Deutung des Fusionsverlaufes .... 204<br />

9.3 Selbstbestimmung und die Gemeindebilder ............... 205<br />

9.4 Selbstbestimmung und der Neo-Institutionalismus .......... 206<br />

9.5 Selbstbestimmung und die Theologie .................... 207<br />

10 Erträge für den kirchentheoretischen Diskurs (Diskussion) ........ 209<br />

10.1 Spezifika kirchengemeindlicher Fusionsprozesse ........... 209<br />

10.2 Erfolg oder Misserfolg als Kategorie für kirchliche Reformen .. 210<br />

10.3 <strong>Kirchengemeindefusion</strong>en und der Gemeindebegriff ......... 212<br />

10.4 Gesamtkirchengemeinden als Ermöglichung<br />

von Selbstbestimmung? .............................. 215<br />

10.5 Pastorale und gemeindliche Autonomie .................. 217<br />

10.6 Kirchliche Reformen zwischen Zwang und Selbstbestimmung . 218<br />

Literaturverzeichnis ......................................... 223


Einleitung<br />

Überall wird fusioniert! Die Fusion von Kirchengemeinden ist eines der Themen<br />

unserer Zeit. Im Jahr 2004 gab es innerhalb der EKD 16.356 Kirchengemeinden. 1<br />

Diese Zahl hat sich im Jahr 2020auf 13.198 Kirchengemeinden reduziert. 2 Allein<br />

diese Beobachtung zeigt schon, dass es in den 17 Jahren zu zahlreichen Gemeindezusammenschlüssen<br />

gekommen ist und das Thema Fusion eine Relevanz<br />

hat.<br />

In der Stichprobe der 2015 erschienenen Studie »Potenziale vor Ort« gaben<br />

von 790 teilnehmenden Gemeinden 9,2 %an, 3 dass sie bereits fusioniert sind,<br />

wobei weitere Fusionen zum Zeitpunkt der Erhebung feststanden, aber noch<br />

nicht abgeschlossen waren. 4 Kirchenvorsteher:innen und Pfarrer:innen 5 sehen<br />

in Gemeindefusionen sowohl eine Ursache für eine subjektiv wahrgenommene<br />

»Verschlechterung« 6 als auch für eine subjektiv wahrgenommene »Verbesserung«<br />

7 der eigenen Lage. Dies zeigt die Vielschichtigkeit des Phänomens der<br />

Gemeindefusion und die Auswirkung auf die Leitungstätigkeit der handelnden<br />

Akteur:innen.<br />

In den letzten Jahren hat das Thema Gemeindefusion auch das Interesse der<br />

Medien geweckt. So sendete der Deutschlandfunk eine Reportage über fusio-<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

Vgl. Hans Strub, Kooperation und Fusion von Gemeinden, in: Ralph Kunz/Thomas<br />

Schlag (Hrsg.), Handbuch für Kirchen- und Gemeindeentwicklung, Neukirchen-Vluyn<br />

2014, 288–299, 288.<br />

Vgl. EKD, Gezählt 2021. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben. URL: https://www.<br />

ekd.de/ekd_de/ds_doc/Gezaehlt_zahlen_und_fakten_2021.pdf (Stand: 22.07.2022), 8.<br />

Vgl. HilkeRebenstorf, Petra-Angela Ahrens u. GerhardWegner,Potenziale vor Ort.<br />

Erstes Kirchengemeindebarometer, Leipzig 2 2015, 58.<br />

Vgl. a. a. O., 48.<br />

Im Plural wird in dieser Studie grundsätzlich gendersensible Sprache genutzt.<br />

Vgl. Rebenstorf/Ahrens/Wegner, Potenziale vor Ort, 154.<br />

Vgl. a. a. O., 155.


14 Einleitung<br />

nierte Kirchengemeinden, 8 und der Streit um die drohende Zwangsfusion der<br />

berühmten Leipziger Innenstadtgemeinden St. Thomas und St. Nikolai durch die<br />

Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsen erhitzte überregional die Gemüter.<br />

9 Die Fusion von Kirchengemeinden ist ein hochemotionales Geschehen. Das<br />

habe ich selbst als Vikar innerhalb der Bremischen Evangelischen Kirche erfahren.<br />

Meine Vikariatsgemeinde befand sich auf den ersten Blick mit drei anderen<br />

Kirchengemeinden in einem Kooperationsprozess. Doch was dieser Prozess<br />

genau war, schien auf den zweiten Blick gar nichtmehr so eindeutig zu sein<br />

und hing stark von der Perspektive der unterschiedlichen Akteur:innen ab. Für<br />

die einen stand fest, dass die bestehende Kooperation auf jeden Fall in einer<br />

Fusion münden wird, da mindestens zwei der vier Gemeindenviel zu klein seien,<br />

um dauerhaft eigenständig weiter existieren zu können. Für die anderen war<br />

klar, dass man unbedingt an der Eigenständigkeit festhalten müsse und eine<br />

Kooperation auf bestimmten Arbeitsfeldern wie z. B. der Publikation eines gemeinsamen<br />

Gemeindebriefes das Maximum an vorstellbarer Zusammenarbeit<br />

sei.<br />

Als externer Beobachter fand ich die Multiperspektivität auf den laufenden<br />

Prozess und die Vielzahl der damit verbundenen Deutungen hoch spannend. Und<br />

so beschäftigte ich mich intensiv mit weiteren Kooperations- und Fusionsprozessen<br />

innerhalb der Bremischen Evangelischen Kirche. Ich erfuhr durch Gespräche<br />

mit Pfarrer:innen und Kirchenvorsteher:innen 10 sowie Mitgliedern des<br />

Kirchenausschusses (Leitungsgremium der Bremischen Evangelischen Kirche),<br />

dass das Thema »Gemeindefusionen« 11 allgemein ein hohes Konfliktpotential<br />

beinhaltet und die Bearbeitung der daraus resultierenden Konflikte viel Aufmerksamkeit<br />

erfordert.<br />

In Bezug auf die konkrete Wahrnehmung einzelner Gemeindefusionen stellte<br />

ich bei meinen Gesprächspartner:innen starke Unterschiede fest. Das, was von<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Vgl. Elin Hinrichsen, Kirche ohne Bänke. Gemeindefusion in Düsseldorf. URL: https://<br />

www.deutschlandfunkkultur.de/gemeindefusion-in-duesseldorf-kirche-ohne-baenke-<br />

100.html (Stand: 22.07.2022).<br />

Vgl. EPD, Leipziger Kirchen wehren sich gegen Fusion. URL: https://www.evangelisch.<br />

de/inhalte/191553/07-10-2021/widerstand-gegen-geplante-fusion-leipziger-innenstadt<br />

gemeinden (Stand: 22.07.2022).<br />

Insgesamt wird im empirischen Teil dieser Studie durchgehend von Kirchenvorsteher:<br />

innen bzw. Kirchenvorständen gesprochen, auch wenn die Leitungsgremien in manchen<br />

Landeskirchen Gemeindekirchenräte oder Presbyterien heißen. Kirchenrechtliche Unterschiede<br />

in Bezug auf die Leitungsgremien waren für die Fragestellung nicht relevant,<br />

sodass eine einheitliche Bezeichnung sowohl der Lesbarkeit als auch der Anonymisierung<br />

dient.<br />

Die Begriffe Gemeindefusion und <strong>Kirchengemeindefusion</strong> werden synonym verwendet.


Einleitung 15<br />

den einen als Erfolgsgeschichte präsentiert wurde, wurde von anderen als ein<br />

Beispiel des Scheiterns angesehen. Die Kategorien, mit denen Fusionsprozesse<br />

beurteilt und bewertet wurden, schienen ganz unterschiedliche zu sein.<br />

In einem nächsten Schritt wollte ich das Thema »<strong>Kirchengemeindefusion</strong>«<br />

theologisch reflektieren und fand heraus, dass es bisher kaum theologische Literatur<br />

und so gut wie keine empirischen Studien zum Thema Gemeindefusion<br />

gab, obwohl es für die Pfarrer:innen und die Kirchenvorsteher:innen in ihrer<br />

Leitungstätigkeit eine hohe Relevanz hat und viele Aufmerksamkeitsressourcen<br />

bindet. An diesem Punkt war mein Forschungsinteresse geweckt und ich begann<br />

Anfang 2016, meine eigene Studie zu designen.<br />

Wie schon am Beispiel meiner Vikariatsgemeinde deutlich geworden ist,<br />

hängen die Themen Kooperation und Fusion eng miteinander zusammen. Viele<br />

Kooperationen münden in Fusionen, doch bei Weitem nicht alle. 12 Ich habe mich<br />

früh dazu entschieden, den Fokus meiner Arbeit auf rechtlich abgeschlossene<br />

<strong>Kirchengemeindefusion</strong>en, also den Zusammenschluss ursprünglich eigenständiger<br />

Kirchengemeinden zu einer neuen Kirchengemeinde zu legen, immer im<br />

Wissen, dass den Fusionen oft lange Phasen der Kooperation vorausgehen. Das<br />

Thema Kooperation ist somit ausgehend vom Thema Fusion ein integraler Bestandteil<br />

dieser Studie. Pfarrsprengel, Gesamtkirchengemeinden oder Verbundgemeinden<br />

stellen ähnliche, aber eigenständige Phänomene dar, die innerhalb<br />

dieser Studie nur am Rand mitdiskutiert werden können.<br />

Ausgehend von einer Vorstudie innerhalb der Bremischen Evangelischen<br />

Kirche, dem theoretischen Vorwissen und meinen eigenen Erfahrungen, entschied<br />

ich, dass ich mich auf die subjektiven Deutungen von Fusionsprozessen<br />

fokussiere und nicht versuche, »objektive Kriterien« für ein Gelingen oder<br />

Misslingen von Fusionen zu entwickeln.<br />

Im Folgenden wird kurz der Aufbau der Arbeit erläutert. Die Studie beginnt<br />

nach der Einleitung in Kapitel1mit einer Übersichtüber den Forschungsstand zu<br />

Fusionen imKontext der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kapitel 2stellt<br />

zentrale Einsichten zum Thema Fusion aus den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften<br />

vor. Somit bilden Kapitel 1und Kapitel 2im engeren Sinne den<br />

Forschungsstand ab. In den Kapiteln 3und 4wird die Perspektive noch einmal<br />

geweitet. Der Neo-Institutionalismus, der in Kapitel 3eingeführt wird, hat sich<br />

sowohl bei der Interpretation der eigenen Daten als auch beim Verständnis der<br />

kirchentheoretischen Diskurse als hilfreich und gewinnbringend erwiesen und<br />

ist eine der zentralen Grundlagen dieser Arbeit. Kapitel 4nimmt den kirchentheoretischen<br />

Diskurs über die Zukunftder Ortsgemeinde in den Blick und leitet<br />

daraus Erkenntnisse für die eigene Studie ab. Dies geschieht explizit unter Berücksichtigung<br />

des Neo-Institutionalismus.<br />

12<br />

Vgl. Zentrum für Mission in der Region, Handbuch Kirche und Regionalentwicklung.<br />

Region – Kooperation – Mission (Kirche im Aufbruch 11), Leipzig 2014, 487 ff.


16 Einleitung<br />

An diesem Punkt ist zu erwähnen, dass parallel zu meinem Forschungsprozess<br />

zwei wichtige Studien zum Thema Gemeindefusion publiziert wurden:<br />

»Ortsgemeinde im Übergang« von Jürgen Lehwalder aus dem Jahr 2018 und<br />

»Wirkfaktoren für das Gelingen von Fusionsprozessen« von Baumfeld und<br />

Riermeier aus dem Jahr 2020. Beide Studien werden im vierten Kapitel der Arbeit<br />

ausführlich vorgestellt, eingeordnet und später zu den Ergebnissen der eigenen<br />

Studie in Beziehung gesetzt.<br />

Basierend auf den Erkenntnissen der Kapitel 1–4 wird in Kapitel 5die<br />

Forschungsfrage hergeleitet. In diesem Zusammenhang wird auch eine explorative<br />

Vorstudie innerhalbder Bremischen Evangelischen Kirche vorgestellt,die<br />

die Funktion hatte, die Forschungsfrage zu präzisieren.Die Forschungsfrage der<br />

Studie mit ihren dazugehörenden Unterfragen lautet:<br />

Wie wird eine <strong>Kirchengemeindefusion</strong> mit ihren Prozessdynamiken von ehrenamtlichen<br />

Kirchenvorsteher:innen und Pfarrer:innen gedeutet?<br />

⌥ Durch welche Bilder kommen die Fusionsdeutungen zum Ausdruck?<br />

⌥ Welchen Prozesselementen wird eine besondere Bedeutung für die Fusion<br />

zugeschrieben?<br />

⌥ Welche Faktoren können bedingen, dass eine <strong>Kirchengemeindefusion</strong> als<br />

gelungen oder misslungen gedeutet wird?<br />

Im Zentrum der Studie (Kapitel 7–9) steht eine umfassende qualitative Erhebung,<br />

basierend auf sieben Gruppendiskussionen mit Kirchenvorsteher:innen und acht<br />

Leitfadeninterviews mit Pfarrer:innen aus insgesamt sieben unterschiedlichen<br />

Fusionsgemeinden aus drei Landeskirchen (Evangelisch-lutherische Landeskirche<br />

Hannovers, Evangelische KircheBerlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz<br />

und Evangelische KircheimRheinland). Die gesamte Erhebung wurde auf Basis<br />

der Grounded-Theory-Methodologie durchgeführt und ausgewertet. 13 Das methodische<br />

Vorgehen wird in Kapitel 6ausführlich erläutert.<br />

In Kapitel 7werden zentrale Prozesselemente vorgestellt, die sich fallübergreifend<br />

nachweisen lassen. Hier zeigt sich bereits eine die gesamten Daten<br />

durchziehende Spannung zwischen Zwang und Selbstbestimmung, womit wir<br />

direkt beim Titel dieser Studie angekommen wären. Ob ein Fusionsprozess als<br />

selbstinitiiert oder als fremdinitiiert gedeutet wird, macht einen zentralen Un-<br />

13<br />

Die Grounded-Theory-Methodologie ist vereinfacht ausgedrückt ein mehrstufiges Kodierungsverfahren,<br />

durch das Daten zuerst in Konzepte und dann in Kategorien überführt<br />

werden. Ein zentrales Ziel des Analyseverfahrens ist das Finden einer Schlüsselkategorie,<br />

durch die sich alle Daten in einen inhaltlich konsistenten Zusammenhang<br />

bringen lassen. Vgl. Aglaja Przyborski u. Monika Wohlrab-Sahr, Qualitative Sozialforschung.<br />

Ein Arbeitsbuch (Lehr- und Handbücher der Soziologie), Berlin/Boston 5 2021,<br />

241–284.


Einleitung 17<br />

terschied für die Gesamtbeurteilung des Prozesses. Die detaillierten Darstellungen<br />

der Prozesselemente füllen eine Forschungslücke und zeigen auf, welchen<br />

Elementen eine besondere Bedeutung und Wichtigkeit von den beteiligten<br />

Akteur:innen für den Gesamtprozess zugeschrieben wird. Das siebte Kapitel<br />

bildet das Herzstück dieser Studie und gibt umfassend Einblick in die Deutungen<br />

der interviewtenKirchenvorsteher:innen undPfarrer:innen in Bezug auf den<br />

eigenen Fusionsprozess.<br />

Im achten Kapitel werden aus den Daten vier zusammenhängende Fusionsund<br />

Gemeindebilder herausgearbeitet, in denen unterschiedliche Fusionsdeutungen<br />

und Gemeindeverständnisse verdichtet zum Vorschein kommen. Das<br />

neunte Kapitel widmet sich ganz der Kategorie »Selbstbestimmung« in ihren<br />

vielfältigen Ausdifferenzierungen und zeigt auf, dass »Selbstbestimmung« der<br />

Schlüssel zum Verständnis der großen Vielfalt an Fusionsdeutungen ist. Kapitel9<br />

ist das Fazit der empirischen Studie und nimmt direkten Bezug zu den Kapiteln 7<br />

und 8. Abschließend werden in Kapitel 10die Erkenntnisse der eigenen Studie<br />

in den größeren kirchentheoretischen Diskurs zur Zukunftder Kirchengemeinde<br />

(Kapitel 4) eingeordnet und mit den anderen Studien zum Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong><br />

ins Gespräch gebracht (Kapitel 1).<br />

Meine Vikariatsgemeinde ist bis zum heutigen Zeitpunkt nicht fusioniert und<br />

hält an der Kooperation fest. Werweiß, vielleicht kommt es noch irgendwann zu<br />

der Fusion, von der schon vor acht Jahren die Rede war, vielleicht bleibt es aber<br />

auch bei der Kooperation. Fusionen sind ein Weg, um auf veränderte Umweltbedingungen<br />

zureagieren, aber es gibt selbstverständlich weitere Wege. Und<br />

dennoch lohnt es sich, das Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong> zu vertiefen, denn es<br />

hat nach wie vor eine hohe Aktualität. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische<br />

Oberlausitz (EKBO) hat auf ihrer Herbstsynode 2021 ein<br />

Mindestmitgliederzahlgesetz beschlossen, das zu vielen weiteren Gemeindezusammenschlüssen<br />

führen wird, und auch in den anderen Landeskirchen ist die<br />

Fusion nach wie vor eine beliebte Kirchenreformmaßnahme.<br />

Die hier vorliegende Studie ist die erste detaillierte Analyse, wie Kirchenvorsteher:innen<br />

und Pfarrer:innen die Herausforderung einer Gemeindefusion<br />

bewältigen und verarbeiten. Allein durch die exemplarisch vorgestellten Interviewsequenzen<br />

wird deutlich, mit welch starken Emotionen Fusionsprozesse<br />

verbunden sind. <strong>Kirchengemeindefusion</strong>en bringendie beteiligten Akteur:innen<br />

zu einer Auseinandersetzung mit der Frage, welche Aspekte von Kirchengemeinde<br />

zentral und unaufgebbar sind und an welchen Stellen Kompromisse<br />

möglich erscheinen. Strukturfragen haben immer auch eine stark inhaltliche<br />

Komponente.Die hier vorliegende Arbeitist somitnicht nurals reine Studie zum<br />

Phänomen»Gemeindefusion« zu lesen, sondern als kirchentheoretischer Beitrag<br />

zum Thema Kirchengemeinde.


1 Fusionen und Kooperationen<br />

innerhalb der ev. Kirche<br />

(Forschungsstand)<br />

Im ersten Kapitel wird ein Forschungsüberblick über Aufsätze und Studien, die<br />

sich mit dem Thema Fusion im Kontext der evangelischen Kirche auseinandersetzen,<br />

gegeben. Lehwalder und Baumfeld/Riermeier haben explizit das Thema<br />

Gemeindefusionen als Forschungsgegenstand, sodass diesen beiden Studien eine<br />

besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Jung und Armbruster haben zu einem<br />

Zeitpunkt einen Aufsatz zum Thema Fusion verfasst, als es noch keine<br />

empirische Forschung dazu gab, und in der Habilitationsschrift von Mulia über<br />

Kirchenvorstandsarbeit sind Kooperationen und Fusionen ein wichtiger Seitenaspekt.<br />

Der Politikwissenschaftler Czychun untersucht die Fusion von kirchlichen<br />

Verwaltungsämtern. Dies ist besonders interessant, da davon auszugehen<br />

ist, dass die Fusion von kirchlichen Verwaltungsämtern alleine durch das »organisationale<br />

Feld« 14 und die geteilte Umwelt eine größere Nähe zuGemeindefusionen<br />

aufweisen als z. B. Fusionen von Wirtschaftsunternehmen.<br />

1.1 Paradoxien von Fusionsprozessen (Jung und<br />

Armbruster 2013)<br />

Armbruster und Jung befassen sich in ihrem 2013 erschienenen Aufsatz »Reform<br />

oder Reformation« mit der Frage, warum Fusionen scheitern. Sie erklären, dass<br />

Fusionen immer auf spezifische Herausforderungen reagieren. 15 Hierzu zählen<br />

14<br />

15<br />

Der Begriff »Organisationales Feld« stammt aus dem Neoinstitutionalismus. Dieser<br />

Theorieansatz wird in Kapitel 3genauer entfaltet.<br />

Vgl. Stefan Jung u. Andre Armbruster, Reform oder Reformation? Paradoxien von<br />

Fusionen und Kooperationen und ein Vorschlag zur Erneuerung, in: Stefan Jung (Hrsg.),<br />

Fusion und Kooperation in Kirche und Diakonie (Management – Ethik – Organisation<br />

Bd. 2), Göttingen 2014, 9–24, 11 ff.


20 1Fusionen und Kooperationen innerhalb der ev. Kirche<br />

u. a. der Mitgliedsschwund, der demographische Wandel und der niedrige Gottesdienstbesuch.<br />

16<br />

Fusionen sind in die größere Debatte der Kirchenreform einzuordnen, also<br />

der Frage, wie die Gestalt der Kirche in der Zukunft aussehen könne. Indieser<br />

Debatte um die Kirchenreform sind Fusionen und Kooperationen ein bevorzugter<br />

Weg. 17 Gleichzeitig gibt esbei Fusionen jedoch immer Paradoxien. 18<br />

Die erste Paradoxie ist, dass Fusionen gleichzeitig ein »schöpferisches« und<br />

ein »zerstörerisches« Potential haben. 19 Es entsteht etwas Neues, indem z. B.<br />

Mitarbeitende aus den unterschiedlichen Gemeinden gemeinsame Aufgaben<br />

erhalten und Pastoren für andere bzw. mehr Mitglieder zuständig sind. Gleichzeitig<br />

würden jedoch eingespielte Abläufe und Routinen zwischen den Mitarbeitenden<br />

oder bei Gemeindefesten zerstört. Informelle Strukturen könnennicht<br />

weiterbestehen und »Geschichte« als identitätsstiftendes Element für die Kirchengemeinde<br />

kann nicht weitergegeben werden. 20<br />

Die zweite Paradoxie ist die, dass Fusionen zu Erneuerungen führen, um<br />

bestimmte Strukturen zu bewahren. 21 Geschichte undRoutinen werden zerstört,<br />

um an einer parochialen Versorgung der Kirchenmitglieder festhalten zu können.<br />

Jede Fusion hat somit ein reaktives Moment. Die Veränderung betrifft meistens<br />

den Zuschnitt von Parochien, aber das parochiale Prinzip und der Aufbau der<br />

Landeskirchen bleiben bestehen. Um den Kernzubewahren, »reorganisiert« sich<br />

die Kirche und passt Strukturen und Organisationsformen an. 22 Armbrusterund<br />

Jung halten mit Luhmann fest, dass Religion »unorganisierbar« ist. 23<br />

Fusionen führen drittens zu Paradoxien, wenn sie versuchen, den Glauben<br />

der Kirchenmitglieder zu organisieren, da Glaube nichtorganisiert werden kann.<br />

Interaktion mit anderen Menschen und Vertrauen zu den handelnden Personen<br />

spielt beim Glauben eine zentrale Rolle. Somit seien Gottesdienstorte,<br />

Seelsorgesettings oder handelnde Personen nicht einfach austauschbar. Religiöse<br />

Kommunikation hat immer eine»Eigendynamik«, auf diedie Kirchenicht einfach<br />

zugreifen kann. 24 Diese drei Paradoxien von Fusionen sind Gründe, warum Fusionen<br />

nach Armbruster undJung oftscheitern. Abschließend erklären Jungund<br />

Armbruster, dass eineReform der Organisationsstrukturen zu kurz greiftund es<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. a. a. O., 12 f.<br />

Vgl. a. a. O., 12 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 14 f.<br />

Vgl. a. a. O., 15.<br />

Vgl. a. a. O., 16 f.<br />

Vgl. a. a. O., 17.<br />

Vgl. a. a. O., 17 ff.


1.2 Ortsgemeinden im Bbergang (Lehwalder 2018) 21<br />

Elemente einer Reformation braucht, die allerdings nicht mit Mitteln der Organisation<br />

erreichbar ist. 25<br />

1.1.1 Ertrag<br />

Jung und Armbruster gehören mit zu den Ersten, die das Thema Fusion aus<br />

praktisch-theologischer Perspektive beleuchtet haben. Ihr Schwerpunkt liegt<br />

hierbei auf dem krisenhaften Moment von Fusionen. An diesem Punkt kann<br />

vorweggenommen werden, dass die von ihnen beschriebenen Paradoxien sich<br />

auch in den Daten dieser Studie nachweisen lassen.<br />

Besonders das Motiv, durch Veränderung Bestehendes bewahren zu wollen,<br />

aber auch das Gefühl, dass Fusionen ein zerstörerisches Moment haben, wird von<br />

den Interviewpartner:innen geteilt.<br />

1.2 Ortsgemeinden im >bergang (Lehwalder 2018)<br />

Die von JürgenLehwalder im Jahr 2018veröffentlichte Studie »Ortsgemeinden im<br />

Übergang« befasst sich auf vielfältige Art und Weise mit dem Thema Gemeindefusion.<br />

Zum einen entwickelt er eine theoretische Grundlegung von Gemeindefusionen<br />

mit Hilfe kirchentheoretischer und soziologischer Literatur sowie<br />

Ansätzen aus der Gemeindeberatung, zum anderen analysiert er fünfzehn Fusionspredigten<br />

und Fusionsliturgien auf Basis der schriftlich vorliegenden Entwürfe.<br />

Lehwalder verweist explizit darauf, dass seine eigenen Erfahrungen als<br />

Pfarrer einer fusionierten Frankfurter Großstadtgemeinde in die theoretische<br />

Grundlegung und die Gesamtkonzeption der Arbeit mit einfließen undunter der<br />

Bezeichnung »das Frankfurter Beispiel« 26 als Referenzgröße dienen. Das erste<br />

Kapitel, das eine kurze Einordnung des Themas in den praktisch-theologischen<br />

Diskurs darstellt, mündet in einer Leitthese, die den Ausgangspunkt für Lehwalders<br />

Studie bildet.<br />

»Die Gemeindefusion ist ein besonderer Fall, ein Kasus im Leben von zwei bzw.<br />

mehreren Kirchengemeinden. Um diesen Fall praktisch-theologisch zu deuten, wird<br />

eine kasualtheologische Interpretation als erweiternde Dimension des organisationslogischen<br />

Verständnisses von Gemeindefusionen vorgeschlagen. Die Gemeindefusion,<br />

als tiefer Einschnitt im Leben von zwei oder mehr Kirchengemeinden, ist eine<br />

25<br />

26<br />

Vgl. a. a. O., 19 ff.<br />

Jürgen Lehwalder, Ortsgemeinden im Übergang. Fusionen von Kirchengemeinden in<br />

kasualtheologischer Perspektive, Stuttgart 2018, 41.


22 1Fusionen und Kooperationen innerhalb der ev. Kirche<br />

Gemeindekasualie. Eine kasualtheologische Interpretation von Gemeindefusionen<br />

erlaubt einen neuen und damit erweiternden Blickwinkel auf die kirchliche Reformmaßnahme<br />

Fusion.« 27<br />

Die These wird nicht vollständig aus der Theorie abgeleitet, sondern hat ihren<br />

Ursprung auch in dem von Lehwalder angeführten eigenen Erfahrungshorizont.<br />

Ausgehendvon dieser Leittheseist Lehwalders Studie alsein Versuchaufzufassen,<br />

das Verständnis von Gemeindefusion als Kasualie zu vertiefen und zu plausibilisieren.<br />

Die theoretische Grundlegung hat zwei Schwerpunkte, die Lehwalder innerhalbseinerStudieentfaltet.Lehwalder<br />

versteht Fusionen als»Raumgeschehen«<br />

(Kapitel 2) und als »prozesshaftes Geschehen« (Kapitel 3). Das Verständnis der<br />

Fusion als Kasualie (Kapitel 4)bildet für Lehwalder eine Art übergeordnete Kategorie,<br />

durch die die Fusionsprozesse eine theologische Deutung erfahren.<br />

1.2.1 Fusion als Raumgeschehen<br />

Im Anschluss an Löw und Steinhäuser entfaltet Lehwalder eine Theorie, wie<br />

durch Fusionsprozesse Räume verändert werden. Der geographische Raum, in<br />

dem das ortsgemeindliche Leben stattfindet, wird durch eine Fusion erweitert. Es<br />

kann hierbei nicht zu einer unendlichen Vergrößerung des Raumes kommen,<br />

da sich eine Größe vorstellen lässt, bei der die Handlungsstruktur Ortsgemeinde<br />

nicht mehr funktioniert. Die Grenze zur Region ist hierbei fließend. 28 Die Kirchengemeinde<br />

ist laut Lehwalder Sachverwalterin von realen Räumen, wie z. B.<br />

Kirchen, Gemeindehäusern oder Pfarrhäusern. 29 Innerhalb einer Ortsgemeinde<br />

gibt es »markante Orte«, die einen »räumlichen Überschuss« und einen »symbolischen<br />

Mehrwert« haben und die mit anderen markanten Orten innerhalb<br />

eines geographischen Raumes in einer Wechselbeziehung stehen. 30 Geographische<br />

Räume haben eine »symbolische Typographie« und kirchliche Gebäude sind<br />

Bestandteil dieser Topographie. 31 Wenn der geographische Raum erweitert wird,<br />

verändert dies das Verhältnis der markanten Orte zueinander und somit verändert<br />

sich auch die symbolische Typographie. 32<br />

Neben realen Räumen gibt es nach Lehwalder in einer Kirchengemeinde<br />

auch »metaphorische Raumbezüge«. Diese definiert er als »Gegebenheiten oder<br />

Aktivitäten sozialer Art, die auf eine Raumkategorie rekurrieren, ohne mit<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

A.a. O., 43.<br />

Vgl. a. a. O., 68.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.


1.2 Ortsgemeinden im Bbergang (Lehwalder 2018) 23<br />

Raumkoordinaten hinreichend erfasst zu sein«. 33 Als Beispiele dienen ihm<br />

hierfür die Kategorien »Sozialraum« und »Lebensraum«, zwei Kategorien, die<br />

zwar auch verortet werden können, aber gleichzeitig über konkrete Orte hinausweisen.<br />

34 Da in Kirchengemeinden Menschen aus unterschiedlichen Sozialräumen<br />

zusammenkommen, sind kirchliche Räume für Lehwalder »Sozialräume<br />

ganz eigener Art«. 35 Dies sei bei Fusionsprozessen laut Lehwalder zu beachten.<br />

Räume sind im Kontext von Kirchengemeinden auf das Engste mit dem<br />

Glauben verknüpft. Da der Glaube ein »individuelles Geflecht aus Einflüssen,<br />

menschlichen Prägungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit Menschen und<br />

Worten an konkreten Orten und zu konkreten Zeiten« 36 sei, ist es laut Lehwalder<br />

angemessen, die konkrete Ortsgemeinde als »Glaubensraum« 37 zu verstehen. Bei<br />

einer Fusion werden somit unterschiedliche Glaubensräume zusammengeführt.<br />

Ob nach einer Erweiterung des geographischen Raumes die neu entstandene<br />

Kirchengemeinde als Glaubensraum angenommen wird, ist der Planbarkeit<br />

entzogen. 38 Es ist zwar möglich, den Rahmen für Interaktionen, z.B.inGottesdiensten<br />

oder Gemeindekreisen bereitzustellen, aber ob es zu Interaktionen<br />

kommt, bleibt laut Lehwalder unverfügbar. 39 Solche Veränderungen von Glaubensräumen<br />

können die bisher gelebte Glaubenspraxis in Frage stellen und<br />

krisenhafte Momente mit sich bringen. 40<br />

1.2.2 Fusion als prozesshaftes Geschehen<br />

Eine weitere zentrale Kategorie von Lehwalders theoretischer Grundlegung ist<br />

sein Verständnis von der Fusion als prozesshaftes Geschehen. Lehwalder unterscheidetausgehend<br />

von Ansätzen aus der Organisationsberatung zwei Phasen<br />

innerhalb eines Fusionsprozesses, die Entscheidungs- unddie Gestaltungsphase.<br />

Der Fusionsgottesdienst bildet für ihn das Scharnier zwischen den beiden Phasen.<br />

Eine detaillierte Beschreibungeiner Fusion in allen Prozessphasen liegt laut<br />

Lehwalder bisher nicht vor und ist ein Forschungsdesiderat, das aufgrund des<br />

kasualtheoretischen Ansatzes seiner Studie nicht gefüllt werden kann. 41<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41<br />

A.a. O., 69.<br />

Vgl. a. a. O., 69 f.<br />

A.a. O., 70.<br />

Ebd.<br />

Ebd.<br />

Vgl. a. a. O., 71.<br />

Vgl. a. a. O., 87.<br />

Vgl. a. a. O., 71.<br />

Vgl. ebd.


2 Erkenntnisse der Wirtschafts- und<br />

Verwaltungswissenschaften<br />

Fusionen spielen sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Sektor eine<br />

zentrale Rolle. Neben Unternehmensfusionen ist es in den letzten Jahrzehnten<br />

zu zahlreichen Fusionen von politischen Gemeinden, Landkreisen oder Krankenhäusern<br />

in öffentlicher Trägerschaftgekommen. Fusionsprozesse sind somit<br />

ein Thema der Wirtschaftswissenschaften, der Verwaltungswissenschaften und<br />

der Politikwissenschaften. Besonders das Scheiternvon Fusionenist Gegenstand<br />

zahlreicher Publikationen. Im folgenden Kapitel sollen die zentralen Einsichten<br />

und Erkenntnisse zu Unternehmensfusionen und Fusionen im öffentlichen<br />

Sektor dargestellt werden. Hierbei wird sich vor allem an einschlägigen Lehrbüchernorientiert.<br />

Die dargestellten Erkenntnisse werden nicht einszueins auf<br />

<strong>Kirchengemeindefusion</strong>en übertragen. Vielmehr soll die Auseinandersetzung<br />

mit Theorien zu Fusionen dazu führen, dass »sensibilisierende Konzepte« 186<br />

gewonnen werden und die Forschungsfrage entwickelt und präzisiert wird.<br />

2.1 BegriffsklCrung<br />

In den Wirtschaftswissenschaften wird zwischen den Begriffen Kooperation,<br />

Merger und Acquisition unterschieden. Bei einer Kooperation behalten die kooperierenden<br />

Unternehmen ihre rechtliche Eigenständigkeit, entscheiden sich<br />

aber aus strategischen Gründen, in bestimmten Bereichen oder Aufgabenfeldern<br />

zu kooperieren. 187 Ein »Merger« ist die Fusion zweier ehemals rechtlich eigenständiger<br />

Unternehmen zu einem neuen rechtlich eigenständigen Unterneh-<br />

186<br />

187<br />

Udo Kelle u. Susann Kluge, Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung<br />

in der qualitativen Sozialforschung, Wiesbaden 2 2010, 30.<br />

Vgl. Stephan A. Jansen, Mergers &Acquisitions. Unternehmensakquisitionen und<br />

-kooperationen. Eine strategische, organisatorische und kapitalmarkttheoretische Einführung,<br />

Wiesbaden 6 2016, 219 f.


50 2Erkenntnisse der Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften<br />

men (to merge =fusionieren). 188 Eine Acquisition bezeichnet die Übernahme<br />

eines Unternehmensdurch ein anderes Unternehmen.Dies geschieht durch den<br />

hundertprozentigen Erwerb der Unternehmensanteile. 189 Bei der Acquisition<br />

bleibt das übernehmende Unternehmen rechtlich eigenständig und das zu<br />

übernehmende Unternehmen wird eingegliedert. Die Themen Merger und Acquisitions<br />

werden im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs oft gemeinsam<br />

thematisiert und als M&A abgekürzt. 190 Für Fusionen im öffentlichen Sektor wird<br />

der Begriff Public Merger verwendet. 191 Nach Plamper lassen sich zwei Arten von<br />

Mergers unterscheiden. »Mergers auf einer Ebene« und »Mergers von oben«. 192<br />

Bei Mergers auf einer Ebene überwiegt das Element der Freiwilligkeit, wohingegen<br />

bei Mergers von oben das Element des Zwangs überwiegt. 193 Gleichzeitig<br />

hält Plamper fest, dass viele Mergers eine Mischform zwischen freiwilliger Fusion<br />

und Zwangsfusion seien. Hier ist es spannend zu beobachten, ob solche<br />

Mischformen auch bei Gemeindefusionen vorkommen.<br />

2.2 Fusionsmotive<br />

Unternehmen bzw. Organisationen fusionieren aus unterschiedlichen Motiven.<br />

Die Vertreter:innen der »Skalenerträge-Hypothese« sehen einen Zusammenhang<br />

zwischen der Größe eines Unternehmens bzw. einer Organisation und der<br />

Wirtschaftlichkeit. 194 Umso größer ein Unternehmen sei, umso leichter könne es<br />

Produktionskosten, verstanden als Stückkosten, bei einem homogenen Produktangebot<br />

reduzieren. 195 Größere Unternehmen würden mehr Geld in den<br />

Bereichen »Beschaffung, Fertigung, Absatz und Organisation« 196 einsparen. Die<br />

Vergrößerung der Produktionsmenge könne sowohl durch internes Wachstum<br />

als auch durch externes Wachstum erreicht werden. 197 Gleichzeitig muss nach<br />

188<br />

189<br />

190<br />

191<br />

192<br />

193<br />

194<br />

195<br />

196<br />

197<br />

Vgl. a. a. O., 128.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Die Begriffe Fusion und Merger werden in dieser Arbeit synonym verwendet.<br />

Harald Plamper, Politische Voraussetzungen einer Fusion, in: Andreas Huber/Stephan<br />

A. Jansen/Harald Plamper (Hrsg.), Public Merger. Strategien für Fusionen im<br />

öffentlichen Sektor, Wiesbaden 2004, 39–55, 41.<br />

A.a. O., 41 f.<br />

Vgl. Stephan A. Jansen, Public Merger Management, in: Andreas Huber/Stephan A.<br />

Jansen/Harald Plamper (Hrsg.), Public Merger. Strategien für Fusionen im öffentlichen<br />

Sektor, Wiesbaden 2004, 3–37, 22.<br />

Vgl. Jansen, Mergers &Acquisitions, 173.<br />

Jansen, Public Merger Management, 22.<br />

Jansen, Mergers &Acquisitions, 173.


2.2 Fusionsmotive 51<br />

Jansen bedacht werden, dass mit großen Organisationen eine gewisse »Inflexibilität«<br />

198 einhergehen kann. Jansen spricht hier von den »Diseconomics of bureaucracy«,<br />

die die Vorteile der »Economics of scale« aufwiegen würden. 199<br />

In eine ähnliche Richtung wie die Vertreter:innen der »Economics of scale«<br />

argumentieren die Vertreter:innen der »Economics of scope«. 200 Hierbei wird<br />

davon ausgegangen, dass es auch bei einem heterogenen Produktangebot zu<br />

Kostensenkungen kommen kann, wenn z. B. bestimmte Prozesse für die Herstellung<br />

unterschiedlicher Produkte genutzt werden. 201 Doch auch in diesem<br />

Fall steht eine mögliche »Inflexibilität« der Organisation den Kostenvorteilen<br />

gegenüber. Nach der Skalenerträge-Hypothese wäre somit ein mögliches Fusionsmotiv,<br />

Kostensenkungen durch externes Wachstum und die Vergrößerung<br />

der Produktmenge(n) zu erzielen.<br />

Die Vertreter:innen der »Synergiehypothese« gehen davon aus, dass durch<br />

Unternehmens- bzw. Organisationszusammenschlüsse in unterschiedlichen<br />

Bereichen Synergieeffekte erzielt werden können. Ein mögliches Fusionsmotiv<br />

wären somit erwartete Synergieeffekte. Der Ursprung der Synergiehypothese<br />

liegt in den Naturwissenschaften und beschreibt das »Zusammenwirken von<br />

Substanzen mit überadditivem Resultat«. 202 Dieses Konzept aus den Naturwissenschaften<br />

wird auf Unternehmen und Organisationen übertragen. Jansen<br />

unterscheidet drei Arten von Synergieeffekten: »Allgemeine Synergietypen«,<br />

»spezifisch funktionale Synergien« und »Zugangssynergien«. Die oben beschriebenen<br />

Kosteneinsparungen durch die Vergrößerung der Produktmenge<br />

wären ein Beispiel für allgemeine Synergietypen. 203 Um »spezifisch funktionale<br />

Synergien« handelt es sich, wenn ein Unternehmen bzw. eine Organisation z.B.<br />

Technologien oder Fähigkeiten in die gemeinsame Organisation einbringt, die<br />

zu einer Stärkung der Wettbewerbsposition des neuen Unternehmens führen. 204<br />

Von Zugangssynergien wird gesprochen, wenn ein Unternehmen durch den<br />

Zusammenschluss mit einem anderen Unternehmen Zugang zu neuem Wissen,<br />

zu neuen Märkten oder zu neuen Kontakten erhält, zu denen es vorher keinen<br />

Zugang hatte. 205 Jansen verweist darauf, dass die erwarteten Synergieeffekte<br />

immer mit Kosten verbunden seien und die Kosten die Effekte oft aufwiegen<br />

würden. 206<br />

198<br />

199<br />

200<br />

201<br />

202<br />

203<br />

204<br />

205<br />

206<br />

Jansen, Public Merger Management, 22.<br />

Ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. ebd.<br />

Jansen, Mergers &Acquisitions, 207.<br />

Vgl. ebd.<br />

A.a. O., 209.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. Jansen, Public Merger Management, 24 f.


52 2Erkenntnisse der Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften<br />

2.3 Fusionsphasenmodell<br />

In den Wirtschaftswissenschaften werden Fusions- und Übernahmeprozesse<br />

mehrheitlich in drei Phasen unterteilt: die »Strategiephase«, die »Verhandlungsphase«<br />

und die »Integrationsphase«. 207 Dieses Verlaufsmodell hat einen<br />

idealtypischen Charakter.<br />

2.3.1 Pre Merger (Strategiephase)<br />

Die Strategiephase markiert nach Jansen den Beginn eines Fusionsprozesses.<br />

Eine Fusion findet nicht imluftleeren Raum statt, sondern ist eine Reaktion auf<br />

Veränderungsprozesse. 208 Zu den zentralen Aufgaben der Strategiephase gehört<br />

die Analyse der eigenen Organisation und ihrer Umwelt. 209 Ebenso muss herausgearbeitet<br />

werden, inwiefern die Organisation ihre Ziele durch eine mögliche<br />

Zusammenarbeit mit einer anderen Organisation erreichen und besser auf die<br />

Herausforderungen einer sich verändernden Umwelt reagieren kann. Die engste<br />

Form der Zusammenarbeit mit möglichen Partnern ist dieFusion, bei der es eine<br />

»hohe Bindungsintensität« und eine »geringe Autonomie« gibt. 210 Eine Form<br />

der Zusammenarbeit, die weniger bindungsintensiv wäre, ist z. B. die Kooperation.<br />

Welche Form der Zusammenarbeit angestrebt wird, hängt wiederum stark<br />

von der eigenen Organisationskultur, der Organisationskultur des potentiellen<br />

Partners und der zu bewältigenden Herausforderungen ab. 211 Ein weiteres Element<br />

der Strategiephase ist die Suche nach einem geeigneten Partner, das sogenannte<br />

»Screening«. 212 Es ist entscheidend festzulegen, welche Voraussetzungen<br />

der mögliche Partner mitbringen sollte. Hierbei ist es z. B. wichtig,<br />

finanzielle Rahmendaten, Vertriebswege und Standorte zu analysieren. 213 Nach<br />

Möglichkeit sollte sich schon in der Strategiephase mit der Organisationskultur<br />

des möglichen Partners befasst werden. Eine möglichst frühe Analyse der Or-<br />

207<br />

208<br />

209<br />

210<br />

211<br />

212<br />

213<br />

Vgl. a. a. O., 27.<br />

Vgl. Jansen, Mergers &Acquisitions, 2f.<br />

Vgl. Robert Bachert u. Laura Wagner, Nachhaltige Gestaltung von Unternehmenszusammenschlüssen,<br />

in: Stefan Jung (Hrsg.), Fusion und Kooperation in Kirche und<br />

Diakonie (Management – Ethik – Organisation Bd. 2), Göttingen 2014, 45–68, 49.<br />

A.a. O., 47.<br />

Vgl. a. a. O., 47 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 56. Jansen verortet das Screening hingegen in die zweite Phase. Vgl. Jansen,<br />

Public Merger Management, 27.<br />

Vgl. Bachert/Wagner,Nachhaltige Gestaltung von Unternehmenszusammenschlüssen,<br />

46.


2.3 Fusionsphasenmodell 53<br />

ganisationskultur des möglichen Partners ist wichtig, da Fusionen nach Bachert<br />

und Wagner oft anorganisationskulturellen Differenzen scheitern. 214<br />

2.3.2 Merger (Verhandlungsphase)<br />

Im Zentrum der Merger-Phase steht das Aushandeln des Fusionsvertrages und<br />

die Entwicklung einer Strategie für die neu entstehende Organisation. 215 In der<br />

Verhandlungsphase, oftauch Transaktionsphase genannt, steigt das Wissen über<br />

den möglichen Fusionspartner an. 216 Dies gilt sowohl für detaillierte Informationen<br />

zu den Finanzen als auch für den nun tieferen Einblick in die Organisationskultur<br />

des Gegenübers. Durch diesen Zugewinn an Wissen kann es dazu<br />

kommen, dass von den in der Strategiephase festgelegten Zielen abgewichen<br />

wird und sich Motive und Zielvorstellungen verändern. 217<br />

Dem Verhandlungsteam gehören Entscheidungsträger und Juristenan. 218 In<br />

der Verhandlungsphase muss detailliert ausgearbeitet werden, wie die zukünftige<br />

Zusammenarbeit bzw. die Fusion ausgestaltet wird. Das während der Verhandlung<br />

neu hinzukommende Wissenmuss daraufhin überprüftwerden, ob die<br />

Kosten der Integration den Nutzen der Fusion übersteigen. 219 Weiterhin kann<br />

es wichtig sein, dass der Kreis der Mitwissenden klein bleibt und nichts über eine<br />

geplante Fusion nach außen dringt, um den Prozess nicht in der Verhandlungsphase<br />

zu gefährden. 220 Plamper vertritt dieThese, dass die Chanceauf eine<br />

erfolgreich abgeschlossene Fusionsverhandlung steige, wenn möglichst wenige<br />

im Verhandlungsprozess die Richtung vorgeben. Bei einer hohen Anzahl an<br />

Beteiligten würden auch vermehrt »Veto-Spieler« 221 auftreten. Rechtsverbindlich<br />

wird eine Fusion mit dem sogenannten »signing«. In der Wirtschaft kann es<br />

passieren, dass nach Vertragsunterzeichnung die Kartellbehörden einen Zusammenschluss<br />

aus wettbewerbsrechtlichen Gründen prüfen. Hier spricht man<br />

dann von der Phase zwischen »signing« und »closing«. 222<br />

214<br />

215<br />

216<br />

217<br />

218<br />

219<br />

220<br />

221<br />

222<br />

Vgl. a.a. O., 50; vgl. Kirsten Meynerts-Stiller u. Christoph Rohloff, Post Merger<br />

Management. MA-Integrationen erfolgreich planen und gestalten, Stuttgart 2015, 165.<br />

Vgl. Jansen, Public Merger Management, 27.<br />

Vgl. Meynerts-Stiller/Rohloff, Post Merger Management, 44; vgl. Jansen, Public<br />

Merger Management, 27.<br />

Vgl. Meynerts-Stiller/Rohloff, Post Merger Management, 47.<br />

Vgl. Bachert/Wagner,Nachhaltige Gestaltung von Unternehmenszusammenschlüssen,<br />

59.<br />

Vgl. Meynerts-Stiller/Rohloff, Post Merger Management, 44.<br />

Vgl. Plamper, Politische Voraussetzungen einer Fusion, 45.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. Meynerts-Stiller/Rohloff, Post Merger Management, 54.


3 Der Neo-Institutionalismus<br />

als Perspektiverweiterung<br />

Der Neo-Institutionalismus ist eine der zentralen Theorien dieser Studie. Während<br />

des Forschungsprozesses hat sich der Neo-Institutionalismus als besonders<br />

hilfreich herausgestellt, um die Dynamiken von kirchlichen Strukturreformen<br />

besser zu verstehen.Imweiteren Verlauf der Studie wird immer wieder auf<br />

Grundgedanken des Neo-Institutionalismus zurückgegriffen. Insgesamt ist<br />

festzuhalten, dass es sich bei der Neoinstitutionalistischen Organisationstheorie<br />

nicht um eineinsichgeschlossene einheitliche Theorie handelt, sondern dass es<br />

unterschiedliche Spielartenund Ansätze gibt, die auch zueinander in Spannung<br />

stehen können.<br />

Als grundlegend für den Neo-Institutionalismus gelten zwei Aufsätze: 282<br />

»Institutionalized organizations – Formal structure as myth and ceremony« von<br />

Meyer und Rowan aus dem Jahr 1977 und »The Iron Cage Revisited – Institutional<br />

Isomorphism and Collective Rationality in Organisational Fields« von DiMaggio<br />

und Powell aus dem Jahr 1983. Ergänzend wird hier der Aufsatz »The Actors of<br />

Modern Society – The Cultural Construction of Social Agency« vorgestellt, da in<br />

diesem Aufsatz die Rolle des Akteursbzw. der Akteurin im Zentrumsteht, was für<br />

das Verständnis von Fusionsprozessen von zentraler Bedeutung ist.<br />

3.1 Organisationsstruktur<br />

Der Ursprung des Neo-Institutionalismus liegt in der Beobachtung begründet,<br />

dass viele Organisationen sich in Bezug auf ihre Strukturen angleichen. Meyer<br />

und Rowan vertreten in ihrem Aufsatz die These, dass die Struktur einer Organisation<br />

nicht automatisch an die jeweiligen Anforderungen und Aufgabenstel-<br />

282<br />

Alle aufgeführten Aufsätze wurden im Original gelesen. Das Lehrbuch von Walgenbach<br />

und Meyer hat jedoch bei der Vorauswahl der Texte und beim Erschließen der Texte<br />

geholfen: Peter Walgenbach u. Renate E. Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie,<br />

Stuttgart 2008.


64 3Der Neo-Institutionalismus als Perspektiverweiterung<br />

lungen der Organisation angepasst ist, sondern sich an den Erwartungen der<br />

institutionalisierten Umwelt orientiert. Sie schreiben hierzu:<br />

»This paper argues that the formal structures of many organisations in postindustrial<br />

society dramatically reflect the myths of their institutional environments instead of<br />

demands of their work activities.« 283<br />

Eine Struktur kann für eine Organisation von besonderem Wert sein, da die<br />

Organisation durch ihre Struktur an Legitimität gewinnt. Hierbei ist es nicht<br />

zentral, ob diese Struktur wirklich die effizienteste ist, um dieKernaufgabender<br />

Organisation zuerfüllen. 284 Meyer und Rowan gehen davon aus, dass sich die<br />

Effizienz bestimmter Strukturelemente nicht belegen lässt. 285 Die Strukturelemente<br />

erzielen Wirkung, wenn sie in der Außenwahrnehmung als besonders<br />

legitim gelten und die Umwelt die Organisation daraufhin als vertrauenswürdig<br />

einschätzt. Organisationen beobachten ihre Umwelt. Wenn bestimmte Strukturelemente<br />

als legitim oder erfolgreich angesehen werden, übernehmen sie<br />

diese, es kommt zu sogenannten Isomorphien (Strukturangleichungen) und die<br />

Organisationen werden sich in der formalen Gestalt ähnlicher. 286 Indem eine<br />

Organisation gesellschaftlich legitimierte Strukturelemente übernimmt, erhöht<br />

sie ihre Überlebenswahrscheinlichkeit:<br />

»Organisations that incorporate societally legitimated rationalized elements in their<br />

formal structures maximize their legitimacy and increase their resources and survival<br />

capabilities.« 287<br />

Der zentrale Beitrag von Meyer und Rowan liegt darin aufzuzeigen, dass es zu<br />

einer »Entkopplung« zwischen den Kernaufgaben einer Organisation und der<br />

formalen Struktur der Organisation kommen kann. 288<br />

Diese Grundthese von Meyer und Rowan wurde in der Theologie bisher von<br />

Weyen und Witte-Karp aufgegriffen. Frank Weyen beschreibt in seiner Habilitationsschrift,<br />

dass die aktuellen Strukturveränderungsprozesse vor allem das<br />

Ziel hätten, die Parochie als Organisationskern zu schützen, underwähnt, dass es<br />

auch im kirchlichen Kontext genau solch eine Entkopplung zwischen Kern und<br />

283<br />

284<br />

285<br />

286<br />

287<br />

288<br />

John W. Meyer u. Brian Rowan, Institutionalized organizations. Formal structure as<br />

myth and ceremony, in: The American journal of sociology: AJS 83 (1977) 2, 340–363,<br />

341.<br />

Vgl. a. a. O., 348.<br />

Vgl. Walgenbach/Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 25.<br />

Vgl. Meyer/Rowan, Institutionalized organizations, 348f.<br />

A.a. O., 352.<br />

Vgl. Walgenbach/Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 81 ff.


3.2 Isomorphie-Mechanismen 65<br />

Struktur gäbe. 289 Witte-Karp erklärt, wenn Kirchen Strukturelemente von anderen<br />

Organisationen übernehmen, die als erfolgreich betrachtet werden, sind<br />

dies »Nebencodierungen«, die den theologischen Kern kirchlicher Arbeit verstellen.<br />

290<br />

3.2 Isomorphie-Mechanismen<br />

DiMaggio und Powell vertiefen in ihrem Beitrag die Frage, welche Faktoren<br />

bei der Strukturangleichung zwischen Organisationen eine Rolle spielen. Sie<br />

schließen damit inhaltlich an den Beitrag von Meyer und Rowan an. Das Konzept<br />

des organisationalen Feldes bietet hierbei den Ausgangspunkt für die Überlegungen<br />

von DiMaggio und Powell:<br />

»By organisational field, we mean those organisations that, in the aggregate, constitute<br />

arecognized area of institutional life: key suppliers, resource and product<br />

consumers, regulatory agencies and other organizations that produce similar services<br />

or products.« 291<br />

Auf das Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong> übertragen, könnten z.B. benachbarte<br />

Kirchengemeinden, der Kirchenkreis und die Superintendentur, Regionen, aber<br />

auch Vereine oder kommunale Einrichtungen zum organisationalen Feld einer<br />

Kirchengemeinde gezählt werden. Grundsätzlich gehören auch Organisationen,<br />

für die z. B. Kirchenvorsteher:innen arbeiten, zum organisationalen Feld einer<br />

Kirchengemeinde hinzu, vor allem dann, wenn die Kirchenvorstände Strukturelemente<br />

oder Managementkonzepte aus ihrem beruflichen Umfeld in die Kirchengemeinde<br />

einspielen.<br />

Die Kontakte zu anderen Organisationen innerhalb eines organisationalen<br />

Feldes beschleunigen den Prozess der Strukturangleichung. DiMaggio und Powell<br />

unterscheiden zwischen drei unterschiedlichen Isomorphie-Mechanismen:<br />

Isomorphie durch Zwang (coercive isomorphism), Isomorphie durch mimetische<br />

Prozesse (mimetic isomorphism) und Isomorphie durch normativen Druck (nor-<br />

289<br />

290<br />

291<br />

Vgl. Frank Weyen,Kirche in der strukturellen Transformation. Identität, Programmatik,<br />

organisatorische Gestalt, Göttingen 2016, 171 f.<br />

Vgl. André Witte-Karp, Knappheit und Fülle. Ökonomien und Ökonomisierung im<br />

Raum der Kirche, in: Peter Scherle (Hrsg.), Haus halten. Gottes »oikonomia« und die<br />

kirchliche Haushalterschaft (Herborner Beiträge Bd. 5), Berlin 2011, 79–98, 86; vgl.<br />

Weyen, Kirche in der strukturellen Transformation, 168.<br />

Paul J. DiMaggio u. Walter W. Powell, The Iron Cage Revisited. Institutional Isomorphism<br />

and Collective Rationality in Organisational Fields, in: American Sociological<br />

Review 48 (1983) 2, 147–160 148.


66 3Der Neo-Institutionalismus als Perspektiverweiterung<br />

mative isomorphism). 292 DiMaggio und Powell betonen, dass diese drei Mechanismen<br />

nicht immer trennscharf sind und es zu Überschneidungen bzw. zu<br />

Abgrenzungsproblemen kommen kann.<br />

Isomorphie durch Zwang ist nach DiMaggio und Powell ein Ergebnis von<br />

formellem und informellem Druck undErwartungen anderer Organisationen, mit<br />

denen eine Organisation verbunden ist bzw. zu denen ein Abhängigkeitsverhältnis<br />

besteht. 293 DiMaggio und Powell erklären hierzu: »Such pressures may be<br />

felt as force, as persuasion, or as invitations to join in collusion.« 294 Isomorphie<br />

durch Zwang wird oft durch Instanzen höherer Ordnung ausgeübt. 295 DiMaggio<br />

und Powell denken hierbei z. B. an gesetzliche Vorgaben durch Staaten, die eine<br />

Strukturangleichung nötig machen. 296 Sie betonen jedoch, dass nicht nur Staaten,<br />

sondern z. B. auch Dachverbände oder Mutterkonzerne Druck ausüben können,<br />

um Strukturangleichungen zu erreichen. 297<br />

Auf das Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong> übertragen, können der Kirchenkreis<br />

oder eine Landeskirche solch eine höhere Instanz sein, die durch gesetzliche<br />

Vorgaben oder durch die Steuerung von Ressourcen Strukturanpassungen<br />

erzwingt. Zwang kann aber auch auf subtilere Art und Weise ausgeübt werden,<br />

wenn z. B. Organisationen, die nicht hierarchisch aufgebaut sind, Hierarchien<br />

aufbauen müssen, um mit anderen hierarchisch gegliederten Organisationen in<br />

Kontakt treten zu können, da ansonsten Kommunikationswege und die Zuordnung<br />

der Ansprechpartner:innen unklar sind. 298<br />

Dies wird besonders gut an folgenden Ausführungen des Kirchenrechtlers<br />

Rainer Mainusch deutlich. 299 Er erklärt, dass es bei Gremien wie Kirchenvorständen<br />

zu einer Überforderung durch eine »zunehmende Verdichtung organisationaler<br />

Regelungen kommt«. 300 Diese Überforderung wird laut Mainusch<br />

durch einen »gewissen Zwang zur organisatorischen Uniformität verstärkt«. 301<br />

Als Grund für diesen Zwangbenennt er, dass staatliche Stellen die evangelische<br />

292<br />

293<br />

294<br />

295<br />

296<br />

297<br />

298<br />

299<br />

300<br />

301<br />

A.a. O., 150; vgl. Peter Walgenbach, Neoinstitutionalistische Ansätze in der Organisationstheorie,<br />

in: Alfred Kieser/MarkEbers (Hrsg.), Organisationstheorien, Stuttgart<br />

2014, 295–345, 310 ff.<br />

Vgl. DiMaggio/Powell, The Iron Cage Revisited, 150; vgl. Walgenbach/Meyer, Neoinstitutionalistische<br />

Organisationstheorie, 35.<br />

DiMaggio/Powell, The Iron Cage Revisited, 150f.<br />

Vgl. Walgenbach/Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 35.<br />

Vgl. DiMaggio/Powell, The Iron Cage Revisited, 150.<br />

Vgl. a. a. O., 151.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. Rainer Mainusch,Der rechtliche Rahmen einer Kirche im Transformationsprozess,<br />

in: ZevKR 65 (2020) 4, 349–406, 377.<br />

Ebd.<br />

Ebd.


3.2 Isomorphie-Mechanismen 67<br />

Kirche manchmal als »Konzern« ansehen, in dem die EKD als »Konzernspitze«<br />

organisatorische Vorgaben machen kann, die von den Landeskirchen und den<br />

unteren Ebenen umgesetzt werden müssen. 302 Auch wenn eine solche Sicht auf<br />

die Kirche durch die Umwelt nicht der Wirklichkeit entspricht, wird jedoch durch<br />

solch eine Erwartung Anpassungsdruck aufgebaut, der dann auch zu Anpassungen<br />

führt.<br />

Isomorphie durch mimetische Prozesse resultiert daraus, dass Organisationen<br />

ihre Umwelt beobachten und erfolgreiche bzw. besonders legitimierte Strukturelementeübernehmen:»Organizationstend<br />

to model themselves after similar<br />

organisations in their field that they perceive to be more legitimate or successful.«<br />

303 Innerhalb eines Kirchenkreises oder einer Region existieren oft bereits<br />

Kontakte zu Nachbarkirchengemeinden. Es kann davon ausgegangen werden,<br />

dass <strong>Kirchengemeindefusion</strong>en in unmittelbarer Nähe auch von nicht beteiligten<br />

Kirchengemeinden wahrgenommen werden. Dies kann durch Berührungspunkte<br />

auf der Kirchenkreisebene geschehen, wie z. B. durch Pfarrkonvente oder<br />

Kreissynoden, wenn bestimmte Fusionen als besonders gelungene Fallbeispiele<br />

kommuniziert werden.<br />

Isomorphie durch normativen Druck hängt nach DiMaggiound Powell eng mit<br />

der Professionalisierung von Organisationen zusammen. Durch standardisierte<br />

Ausbildungsgänge, Berufsverbände und andere Netzwerke weisen Menschen<br />

derselben Professionen große ÄhnlichkeitinBezug auf ihr Selbstverständnis und<br />

ihre Orientierung auf. 304 Ausdiesem Grund wird in Organisationen auf ähnliche<br />

Konzepte oder Managementpraktiken zurückgegriffen, um bestimmte Anforderungen<br />

zu bewältigen:<br />

»To the extent managers and key staff are drawn from the same universities and<br />

filtered on acommon set of attributes, they will tend to view problems in asimilar<br />

fashion, see the same policies, producers and structures as normatively sanctioned<br />

and legitimated, and approach decisions in much the same way.« 305<br />

Diese Beobachtungen lassen sich auch auf den Pfarrberuf übertragen. In den<br />

letzten Jahrzehnten wurden kirchliche Prüfungsordnungen angeglichen und<br />

Predigerseminare zusammengelegt. Außerdem besteht durch Pfarrkonvente<br />

ein enger Austausch zwischen den Pfarrer:innen. In Bezug auf das Thema <strong>Kirchengemeindefusion</strong><br />

muss aber immer auch das ehrenamtliche Leitungsgremium<br />

mitberücksichtigt werden.<br />

302<br />

303<br />

304<br />

305<br />

Vgl. ebd.<br />

DiMaggio/Powell, The Iron Cage Revisited, 152.<br />

Vgl. ebd.; vgl. Walgenbach/Meyer, Neoinstitutionalistische Organisationstheorie, 38.<br />

DiMaggio/Powell, The Iron Cage Revisited, 153.


4 Die Gemeinde im<br />

kirchentheoretischen Diskurs<br />

Im folgenden Kapitel soll ein Überblick über unterschiedliche Positionen zur<br />

Stellung der Gemeinde für die Zukunftder Kirchegegebenwerden.Der Überblick<br />

beansprucht keine Vollständigkeit. Vielmehr sollen Positionen vorgestellt werden,<br />

die einen Bezug zur Fusionsthematik aufweisen oder deren Argumente sich<br />

auch im Diskurs über Gemeindefusionen nachweisen bzw. übertragen lassen.<br />

Neben den fünf Positionen von Pohl-Patalong, Hermelink, Karle, Weyen und<br />

Herbst wird auch auf das Impulspapier »Kirche der Freiheit« eingegangen, das<br />

gerade im kirchentheoretischen Diskurs große Aufmerksamkeit erfahren hat.<br />

4.1 Kirchliche Orte (Pohl-Patalong 2003)<br />

Das Verhältnis zwischen der Ortsgemeinde und übergemeindlicher Arbeit ist<br />

einer der zentralen Forschungsgegenstände von Uta Pohl-Patalong. In ihrer<br />

Habilitationsschrift untersucht sie den Konflikt zwischen Parochialität und<br />

Nichtparochialität, indem sie den Diskurs analysiert und unterschiedliche Argumente<br />

für die jeweiligen Strukturtypen gegenüberstellt. Abschließend erarbeitet<br />

sie einen Ansatz, um beide Strukturtypen produktiv zueinander in Beziehung<br />

zu setzen. Auch wenn Fusionen im klassischen Verständnis nicht zur<br />

übergemeindlichen Arbeit zählen, kann hier bereits vorweggenommen werden,<br />

dass uns im Diskurs über Gemeindefusionen ähnliche Argumente begegnen.<br />

Pohl-Patalong zeigt in einem ersten Schritt auf, dass die Vertreter:innen für<br />

beide Positionen, also Parochialität und Nichtparochialität, sehr parallel argumentieren<br />

und die Argumente nicht auf unterschiedlichen Ebenen verortet<br />

sind. 322 Auch die Autoritäten, auf die sich berufen wird, sind größtenteils die-<br />

322<br />

Vgl. Uta Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine<br />

Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, Göttingen 2003, 197.


74 4Die Gemeinde im kirchentheoretischen Diskurs<br />

selben, wie z. B. das Neue Testamentoder die protestantische Tradition, nur dass<br />

hier bestimmte Aspekte unterschiedlich gewichtet werden. 323<br />

Beide Richtungen sind sich grundsätzlich darin einig, dass Kirche für alle<br />

Menschen zuständig ist, präsent sein sollte und es einen ökumenischen Horizont<br />

braucht. 324 In der Frage, ob parochiale oder nichtparochiale Strukturen dies am<br />

besten gewährleisten, unterscheiden sie sich jedoch. Dissensstellt Pohl-Patalong<br />

u. a. auf der soziologischen und der ekklesiologischen Ebene fest. So schätzen<br />

die Vertreter:innen der nichtparochialen Strukturen die Mobilität in der Gesellschaft<br />

höher ein als die Vertreter:innen der parochialen Strukturen. 325 Die Vertreter:innen<br />

auf der parochialen Seite hingegen betonen, dass durch parochiale<br />

Strukturender Wohnort gestärkt und Heimat in der Mobilität geschaffenwird. 326<br />

»Subjektivität« 327 und »Individualisierung« 328 werden von den Vertreter:innen<br />

der nichtparochialen Strukturen als etwas Positives und Förderungswürdiges<br />

bewertet. Eine Mehrheit der Vertreter:innen parochialer Strukturen sieht Individualisierung<br />

und Subjektorientierung hingegen kritischer und erklärt, dass die<br />

Parochie einen Kontrapunkt zur wachsenden »Individualisierung« 329 und »Subjektorientierung«<br />

330 der Gesellschaft darstelle.<br />

Besonders interessant sind die Differenzen im Gemeindebegriff. Die Anhänger:innen<br />

der parochialen Position betonen, dass das Evangelium »Ganzheit«<br />

stiftet und das Interesse an Differenzierung durch nichtparochiale Strukturen<br />

somit der Intention des Evangeliums widerspricht. 331 Gemeinde wird hier<br />

territorial verstandenund als Sammlung der Gläubigenangesehen. 332 Auf Seiten<br />

der nichtparochialen Argumentationslinie wird dem territorialen Gemeindebegriff<br />

ein prozesshafter bzw. funktionaler Gemeindebegriff entgegengestellt und<br />

stärker der Aspekt der Sendung betont. Es wird erklärt, dass die territoriale<br />

Abgrenzungeiner Gemeinde keine theologische, sondern eine kirchenrechtliche<br />

Größe darstellt. Weiterhin wird erklärt, dass Gemeinde immer aus Sammlung und<br />

Sendung besteht und eine Vorordnung der Sammlung gegenüber der Sendung<br />

theologisch schwierig sei. 333 Im Anschluss an ihre Analyse resümiert Pohl-<br />

323<br />

324<br />

325<br />

326<br />

327<br />

328<br />

329<br />

330<br />

331<br />

332<br />

333<br />

Vgl. a. a. O., 199.<br />

Vgl. a. a. O., 200.<br />

Vgl. a. a. O., 151 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 153 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 160 f.<br />

Vgl. a. a. O., 157 f.<br />

Vgl. a. a. O., 158.<br />

Vgl. a. a. O., 162 f.<br />

Vgl. a. a. O., 173.<br />

Vgl. a. a. O., 180.<br />

Vgl. a. a. O., 179 f.


4.1 Kirchliche Orte (Pohl-Patalong 2003) 75<br />

Patalong, dass die nichtparochiale Seite gerade in Bezug auf die soziologischen<br />

und ekklesiologischen Dissense differenzierter argumentiert.<br />

Ausgehend von ihrer Analyse entwirft Pohl-Patalong das Modell der kirchlichen<br />

Orte, das beide Strukturtypen miteinander in Verbindung bringt. Pohl-<br />

Patalong erklärt, dass das Gegenüber von Gemeinden und Diensten im Begriff der<br />

kirchlichen Orte aufgelöst wird. Kirchliche Orte können somit sowohl eine<br />

ehemalige Parochie, repräsentiert durch Kirche und Gemeindehaus, als auch<br />

Tagungshäuser und Akademien oder andere Gebäude sein, in denen kirchliche<br />

Arbeit geleistet wird. 334 Sie betont explizit, dass nicht alle kirchlichen Orte erhalten<br />

werden müssen, die Entscheidung über die Gebäudestruktur jedoch vor<br />

Ort getroffen werden muss. 335<br />

Pohl-Patalongs Grundidee ist, dass es an allen kirchlichen Orten ein vereinskirchliches<br />

Leben geben soll, dieses jedoch organisatorisch von inhaltlichen<br />

Arbeitsbereichen getrennt wird. Sie erklärt, dass dies der Rücknahme einer<br />

knapp 100 Jahre alten Entwicklung gleichkommt. 336 Die vereinskirchliche Arbeit<br />

wird in ihrem Modell von den ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen selbst organisiert<br />

und stellt die wohnortsnahe Versorgung sicher, 337 wohingegensich die<br />

hauptamtlichen Mitarbeiter:innen auf die inhaltlichen Arbeitsbereiche konzentrieren<br />

sollen. Hierbei betont Pohl-Patalong, dass nicht jeder inhaltliche Arbeitsbereich<br />

an jedem Ort angesiedelt sein könne, sondern es Spezialisierungen<br />

geben müsse und unterschiedliche kirchliche Orte unterschiedliche Angebote<br />

vorhalten können, wie z. B. Bildungs-, Beratungs- oder Seelsorgeangebote. 338 Bei<br />

der Frage, welcher kirchliche Ort sich auf welches Angebot spezialisiert, braucht<br />

es eine Koordination durch Theolog:innen. 339 Durch die vereinskirchlichen Angebote<br />

an jedem Ort wird ein territorial gefasstes Gemeindeverständnis berücksichtigt,<br />

und durch die inhaltliche Spezialisierung an den jeweiligen<br />

kirchlichen Orten wird einem funktionalen Gemeindebegriff Rechnung getragen.<br />

In ihrer mit Eberhard Hauschildt zusammen verfassten Kirchentheorie<br />

nimmt Uta Pohl-Patalong noch einmal eine Korrektur ihres Modells vor. Anders<br />

als ursprünglich angedacht hält sie es nicht für durchführbar, den Gemeindebegriff<br />

durch den Begriff der kirchlichen Orte zu ersetzen. 340 Zusammen mit<br />

Hauschildt erklärt sie, dass der Gemeindebegriff für die Zukunft der Kirche<br />

334<br />

335<br />

336<br />

337<br />

338<br />

339<br />

340<br />

Vgl. a. a. O., 228.<br />

Vgl. a. a. O., 229.<br />

Vgl. a. a. O., 230.<br />

Vgl. a. a. O., 233.<br />

Vgl. a. a. O., 239 ff.<br />

Vgl. a. a. O., 240.<br />

Vgl. Eberhard Hauschildt u. Uta Pohl-Patalong, Kirche (Lehrbuch praktische Theologie<br />

/hrsg. von Albrecht Grözinger …; Bd. 4), Gütersloh 2013, 307.


76 4Die Gemeinde im kirchentheoretischen Diskurs<br />

unaufgebbar sei und definiert Kirche als »Netz von Gemeinden ankirchlichen<br />

Orten.« 341<br />

4.2 Kirche der Freiheit (EKD 2006)<br />

»Kirche der Freiheit« ist ein von der EKD herausgegebenes Impulspapier, das<br />

ausgehend von einer Situationsanalyse der Zeit um die Mitte der 2000er Jahre<br />

und dem Zielpunkt 2030 Ressourcen und Veränderungsbedarfe für die zukünftige<br />

Kirche inForm von 12 Leuchtfeuern erarbeitet. In der folgenden Darstellung<br />

wird sich vor allem auf Aussagen zur Stellung der Ortsgemeinde im<br />

Gesamtkontext der Kirche konzentriert. ImImpulspapier wird erklärt, dass die<br />

parochial verfasste Ortsgemeinde auch weiterhin als »Grundform« evangelischer<br />

Gemeinden angesehen wird, sie jedoch in Bezug auf Qualität und Mission<br />

ergänzungsbedürftig ist. 342 Für die Zukunft der Ortsgemeinden werden unterschiedliche<br />

Perspektiven skizziert. Ortsgemeinden, die zu klein sind, um eigenständig<br />

zu bleiben, wobei hier keine Mindestgröße angegeben wird, entwickeln<br />

sich zu »Standorten christlichen Lebens mit gottesdienstlichem Kern«<br />

weiter, um sicherzustellen, dass die Kirche vor Ort präsent ist. 343 Größere Ortsgemeinden<br />

bilden bestimmte Profile herausund werden zu Profilgemeinden, die<br />

z. B. einen kulturellen, kirchenmusikalischen oder sozialen Schwerpunkt haben.<br />

Die unterschiedlichen Profile innerhalb eines Kirchenkreises sollten sich ergänzen,daman<br />

von dem Verständnis ausgeht, dass eine Profilgemeinde jeweils<br />

stellvertretend für die anderen Gemeinden innerhalb einer Region ein Profil<br />

ausbaut und schärft. 344 Weiterhin entstehen Regionalkirchen, die für die Versorgung<br />

einer Region zuständig sind und in denen sich »lokale und netzwerkartige<br />

Zugehörigkeit miteinander verbinden«. 345 Als Ziel wird angegeben, eine<br />

größere Vielfalt anGemeindeformen zulassen zu wollen und die Dominanz der<br />

parochial verfassten Ortsgemeinden, die 80 %der Gemeindeformen ausmachen,<br />

aufzubrechen, um zu einem ausgeglicheneren Verhältnis der Gemeindeformen<br />

zu kommen. 346 Zusätzlich sollen Regionen durch geistliche Zentren mit einer<br />

besonderen Ausstrahlungskraft ergänzt werden. 347 Das Impulspapier beinhaltet<br />

keine expliziten Forderungen,mehr Kirchengemeinden zu fusionieren, wobei die<br />

341<br />

342<br />

343<br />

344<br />

345<br />

346<br />

347<br />

A.a. O., 305.<br />

Vgl. EKD, Impulspapier »Kirche der Freiheit«, Hannover 2006, 54 f.<br />

Vgl. a. a. O., 55.<br />

Vgl. ebd.<br />

Ebd.<br />

Vgl. a. a. O., 56 f.<br />

Vgl. a. a. O., 60 f.


4.3 Die MehrdimensionalitDt des Gemeindebegriffes (Hermelink) 77<br />

Fusion implizit als Wegzueiner größeren Konzentration eine zentrale Rolle im<br />

Impulspapier spielt.<br />

4.3 Die MehrdimensionalitCt des Gemeindebegriffes<br />

(Hermelink)<br />

Der im Jahre 2008 von Jan Hermelink verfasste Aufsatz »Regionalisierung in<br />

theologischer Perspektive«, der auf einem Vortrag basiert, ist von besonderem<br />

Interesse für diese Studie, da er eine theologische Einordnung und Vertiefung<br />

des Phänomens der Regionalisierung bietet und sich gleichzeitig mit der prinzipiellen<br />

Frage beschäftigt, wie unterschiedlich der Gemeindebegriff verwendet<br />

werden kann. Fusionen sind oftmals in den größeren Kontext von Regionalisierungsprozessen<br />

einzuordnen. Somit könnte dieser Aufsatz gleichzeitig auch<br />

als Teil des Forschungsstandes zum Thema betrachtet werden, doch in diesem<br />

Kontext sind vor allem Hermelinks grundsätzliche Gedanken zum Thema Gemeindeverständnis<br />

und zur theologischen Dimension von Strukturprozessen von<br />

Interesse.<br />

Anders als im Aufsatz, wo das Phänomen der Regionalisierung Hermelinks<br />

Ausgangspunkt ist, erarbeitet Hermelink in seiner Kirchentheorie eine »systematische«<br />

Darstellung und theologische Einordnung der evangelischen Kirche<br />

der Gegenwart. Der Gemeindebegriff spielt auch hier eine wichtige Rolle,und es<br />

wird unter 2.3.2 ergänzend auf Hermelinks Kirchentheorie eingegangen, wobei<br />

für diese Studie der Aufsatz aus dem Jahr 2008 noch zentraler ist und im Vergleich<br />

zur Kirchentheorie ausführlicher dargestelltwird. In einem dritten Schritt<br />

wird ein Aufsatz vorgestellt, in welchem Hermelink die Entwicklung des Gemeindebegriffes<br />

im Kirchenrecht untersucht.<br />

4.3.1 Regionalisierung in theologischer Perspektive (2008)<br />

In einem ersten Schritt erklärt Hermelink, dass die Phänomene, die seit Mitte<br />

der 90er Jahre als Regionalisierungsprozesse beschrieben werden, Vorläufer in<br />

den Kirchenreformprogrammen der 1960er Jahre haben. Neu in diesem Zusammenhang<br />

ist, dass Regionalisierung als Konkurrenz zur Ortsgemeinde verstanden<br />

wird. 348<br />

In diesem Kontext betont Hermelink die Mehrdimensionalität des Gemeindebegriffes.<br />

Er unterscheidet drei Vorstellungen von Gemeinde: Gemeinde als<br />

348<br />

Vgl. Jan Hermelink, Regionalisierung in theologischer Perspektive, in: Stefan Bölts<br />

(Hrsg.), Aufbruch in die Region. Kirchenreform zwischen Zwangsfusion und profilierter<br />

Nachbarschaft (Netzwerk Kirche Bd. 3), Hamburg-Schenefeld 2008, 59–78, 61.


© Studioline<br />

<strong>Daniel</strong> <strong>Rudolphi</strong>, Dr theol., Jahrgang 1986, studierte Evangelische<br />

Theologie in Leipzig, Oslo und Berlin und arbeitete nach<br />

dem Vikariat für das Ausbildungsreferat der Bremischen Evangelischen<br />

Kirche (2015–2019) und als Pfarrer der Stadtkirchengemeinde<br />

St. Marien zu Bernau bei Berlin (2019–2022). Seit<br />

Oktober 2022 arbeitet er als Referent für Religiosität und Weltanschauungen<br />

im Haus kirchlicher Dienste der Evangelischlutherischen<br />

Landeskirche Hannovers. <strong>Daniel</strong> <strong>Rudolphi</strong> wurde<br />

mit der vorliegenden Arbeit an der Theologischen Fakultät der<br />

Georg-August-Universität Göttingen promoviert.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

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und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07384-9 // eISBN (PDF) 978-3-374-07385-6<br />

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