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FC50_Woelfe

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WISSEN<br />

NATUR<br />

„Die Debatte<br />

über<br />

den Wolf<br />

wird in<br />

Deutschland<br />

oft<br />

emotional<br />

geführt“<br />

Fortschritte Ministerin<br />

Steffi Lemke<br />

(hier in Anklam)<br />

begrüßt den Beschluss,<br />

„Wölfe<br />

nach Rissen auf<br />

Weidetiere schnell<br />

und unkompliziert<br />

abzuschießen“<br />

Verhaltensforschung zu dämpfen. Die<br />

Argumentationslinie wolfsfreundlicher<br />

Experten lässt sich so zusammenfassen:<br />

Hat ein Rudel ein Territorium besetzt,<br />

lässt es keine weiteren Tiere mehr zu.<br />

Abschüsse hingegen können die Struktur<br />

destabilisieren. Fehlt dem Rudel der Leitwolf,<br />

weil er etwa einem Jäger zum Opfer<br />

gefallen ist, tendiert der Rest zu einer Art<br />

Rowdytum. Es wächst die Gefahr, dass die<br />

übrig gebliebenen Rudelmitglieder intensiver<br />

auf Weidetiere losgehen. Norgall<br />

vom BUND: „Wer wahllos<br />

irgendwelche Wölfe<br />

abschießt, beschädigt<br />

die Sozialstruktur der<br />

Tiere.“<br />

Wie viel nützen Zäune?<br />

Als zentrales Element einer<br />

Konfliktlösung stellen<br />

Regierungspolitiker,<br />

Natur- und Umweltschützer<br />

die sogenannten<br />

Herdenschutzmaßnahmen<br />

dar. Man ziehe<br />

elektrisch geladene Zäune<br />

um die Weide, und<br />

Falle gegen die Wolfsplage<br />

Zur Ausrottung trugen im 18. Jahrhundert<br />

mit Reisig zugedeckte<br />

Gruben bei, in deren Mitte ein Köder<br />

lag. Sprang der Wolf nach dem<br />

Fleisch, fiel er in die Vertiefung<br />

schon lasse der Angreifer von seiner anvisierten<br />

Beute ab, lautet die Erwartung.<br />

Die Bundesländer fördern eifrig Elektrozäune,<br />

wenn sich auch die Richtlinien<br />

dafür in vielen Details voneinander unterscheiden.<br />

Über die langfristige Wirksamkeit dieser<br />

Art von Herdenschutz sind die Meinungen<br />

geteilt. Immer wieder überspringt<br />

ein Wolf einen der bis zu 120 Zentimeter<br />

hohen Zäune oder untergräbt ihn.<br />

Zuverlässigee Zahlen existieren nicht,<br />

aber selbst Wolfsfreunde<br />

schätzen, dass jedes<br />

zweite bis vierte gerissene<br />

Tier in irgendeiner<br />

Form geschützt auf der<br />

Weide stand. Absolute<br />

Sicherheit bieten die<br />

Zäune also nicht.<br />

Ein zweiter Rat lautet,<br />

Herdenschutzhunde<br />

einzusetzen. Derartige<br />

Hunde gehören<br />

einigen wenigen Rassen<br />

an und sind speziell<br />

ausgebildet. Sie können<br />

bis zu 3500 Euro kosten<br />

plus 2500 Euro für den jährlichen Unterhalt.<br />

Auch für sie gibt es Zuschüsse aus<br />

öffentlichen Töpfen, die aber meist nicht<br />

alles abdecken.<br />

Fragt man Schäfer Schmücker nach<br />

seiner Meinung zu den Herdenschutzmaßnahmen,<br />

bekommt man betriebswirtschaftliche<br />

Argumente zu hören.<br />

Augenscheinlich lassen sich die Elektrozäune<br />

leicht umstecken, doch für<br />

einen Wanderschäfer kann der Aufwand<br />

beträchtlich sein. Die Förderung<br />

lehnt Schmücker ab. Es seien Vorschriften<br />

damit verbunden, denen er sich als<br />

Geschäftsmann nicht unterwerfen wolle.<br />

Die teuren Herdenschutzhunde wiederum<br />

könnten Unheil anrichten, wenn sie etwa<br />

vorbeiradelnde Ausflügler angingen.<br />

Es gibt zwei von Wölfen aufgesuchte<br />

Geländetypen in Deutschland, in denen<br />

der Herdenschutz komplizierter ist als<br />

anderswo. Der eine sind Deiche. Auf ihnen<br />

sind grasende Schafe besonders beliebt,<br />

denn sie verfestigen den Boden und dienen<br />

so dem Hochwasserschutz. Wegen<br />

der Gezeiten und der Geländeneigung<br />

müssen Zäune dort aber oft höher, länger<br />

und stärker sein. Auch sind Konflikte<br />

zwischen Schutzhunden und Touristen<br />

am Deich nicht unwahrscheinlich.<br />

In Niedersachsen haben Organisationen<br />

wie der Naturschutzbund das Problem<br />

erkannt. Sie schicken Berater zu<br />

den Haltern, die versuchen, die richtige<br />

Anti-Wolf-Strategie zu finden. Auch auf<br />

Almen sind Nutztiere schwerer abzuschirmen.<br />

Nicht zuletzt deshalb hat Bayern in<br />

einer umstrittenen Landesverordnung die<br />

Wolfsjagd bereits im Frühjahr erleichtert.<br />

Städter sind die größeren Wolfsfreunde<br />

Fotos: Stefan Sauer/dpa<br />

Quellen: Civey, Savanta, DBBW, BfN<br />

Faktenreport: Rückkehr eines Räubers<br />

Erfolg für den Artenschutz: Der „gute Erhaltungszustand“, den die EU durch<br />

strenge Jagdverbote erreichen will, ist in vielen Regionen Realität<br />

Wolfsvorkommen<br />

in Deutschland<br />

2022/2023<br />

Totfunde von<br />

Wölfen 2023<br />

Düsseldorf<br />

Saarbrücken<br />

Wiesbaden<br />

Mainz<br />

Wolf als Opfer<br />

Selten wird eine<br />

„Entnahme“ genehmigt.<br />

Häufiger übt<br />

jemand Selbstjustiz<br />

Bremen<br />

Stuttgart<br />

Kiel<br />

Hannover<br />

10x10 km-Raster<br />

Hamburg<br />

Magdeburg<br />

Erfurt<br />

Schwerin<br />

116<br />

13<br />

8<br />

5<br />

Potsdam<br />

Dresden<br />

Berlin<br />

Todesursache und Anzahl<br />

Verkehrsunfall<br />

natürlicher Tod<br />

illegale Tötung<br />

genehmigte Entnahme*<br />

unklar/noch offen<br />

12<br />

*im Rahmen des<br />

Wolfsmanagements<br />

Nachweis<br />

mit Reproduktion<br />

67 %<br />

der deutschen Landbewohner<br />

geben an,<br />

dass Wölfe und andere<br />

Beutegreifer grundsätzlich<br />

eine Daseinsberechtigung<br />

haben<br />

Anzahl der Wolfsrudel<br />

in Deutschland<br />

Wilder Norden<br />

Ein Grund für die<br />

Verteilung: Viele<br />

Tiere wanderten<br />

aus Polen zu<br />

1<br />

2004/<br />

2005<br />

sehr/eher positiv<br />

weiß nicht, k. A.<br />

2014/<br />

2015<br />

51 13<br />

2<br />

32<br />

Wolfsverursachte<br />

Nutztierschäden<br />

in Deutschland<br />

unentschieden<br />

34<br />

Anzahl der getöten<br />

oder verletzten<br />

Tiere<br />

Anzahl der<br />

Übergriffe<br />

184<br />

2022/<br />

2023<br />

Eroberer Die Zahl steigt stärker<br />

als anderswo in Europa. Einem<br />

Rudel gehören etwa acht Tiere an<br />

Wie bewerten Sie es, dass<br />

Wölfe als freilebende Tiere nach<br />

Deutschland zurückkehren?<br />

in Prozent, gerundet<br />

eher/sehr<br />

negativ<br />

Sympathien Es wurde auch nach<br />

Bären gefragt. Deren Rückkehr fänden<br />

nur 48 Prozent gut<br />

4000<br />

3000<br />

2000<br />

1000<br />

0<br />

2000 05 10 15 2022<br />

Blutweide Zu etwa 90 Prozent<br />

waren Schafe und Ziegen betroffen.<br />

Rest: Gatterwild und Rinder<br />

Die Debatte über den Wolf laufe „oft emotional“,<br />

beklagte Ministerin Lemke nach<br />

der Umweltministerkonferenz. Das verwundert<br />

nicht, denn viele Berichte und<br />

Bilder von Rissen lassen an einen regelrechten<br />

Killerinstinkt denken. In einer<br />

Septembernacht etwa schlüpfte ein<br />

Räubertrio in das Gehege eines Gutshofs<br />

in der Uckermark. Die Wölfe töteten<br />

24 Damhirsche, Kälber und Muttertiere.<br />

Aber nur ein Opfer fraßen sie. Waren die<br />

Tiere in einer Art Blutrausch? Experten<br />

erklären das Verhalten eher als instinktiven<br />

Versuch, eine Art Vorrat für das Rudel<br />

anzulegen. Dennoch sind die Fotos derartiger<br />

Massaker nicht nur für die Besitzer<br />

schwer zu ertragen.<br />

Emotionen können auch wach werden,<br />

wenn es um Fragen des globalen Artenschutzes<br />

geht. An dieser Stelle punkten<br />

die Naturschützer. „Wir befinden uns mitten<br />

in einer weltweiten Biodiversitätskrise“,<br />

sagt Moritz Klose, Wildtierexperte<br />

beim World Wide Fund for Nature (WWF)<br />

Deutschland in Berlin. Wenn die reichen<br />

Länder Europas von den armen Afrikas<br />

fordern, ihre Elefanten und andere große<br />

Tierarten zu schützen, sei es nicht zu viel<br />

verlangt, den Aufwand für den Wolf und<br />

wohl auch für Bär, Biber, Fischotter und<br />

so weiter auf sich zu nehmen.<br />

Meinungsumfragen zeigen jedenfalls<br />

zwar nicht überwältigende, aber deutliche<br />

Mehrheiten für ein Lebensrecht des<br />

Wolfs in Deutschland. Im August ergab<br />

eine Civey-Umfrage unter 10 000 Menschen,<br />

dass die Bewohner Hamburgs,<br />

Berlins und Bremens die wolfsfreundlichsten<br />

sind. Jene in Thüringen, Sachsen<br />

und Mecklenburg-Vorpommern zeigten<br />

sich am skeptischsten. In diese Richtung<br />

tendierten auch die Wähler konservativer<br />

und rechter Parteien eher als die Anhänger<br />

von SPD und Grünen.<br />

Fitnesstrainer für das Wild<br />

Manche Fachleute gestehen dem Wolf<br />

sogar eine günstige Wirkung auf die<br />

Artenvielfalt zu. Kurt Kotrschal, Mitbegründer<br />

des Wolfsforschungszentrums<br />

WSC in der Nähe von Wien, meinte in<br />

einem Interview, Wölfe hielten „Wildbestände<br />

gesünder als menschliche Jäger<br />

das könnten“. Fleischfressende Beutegreifer,<br />

wie Fachleute sie nennen, tragen nach<br />

Ansicht vieler Biologen dazu bei, die Fitness<br />

eines Ökosystems zu erhöhen. Weil<br />

ihnen vermehrt die schwächsten Individuen<br />

einer Population zum Opfer fielen,<br />

nähmen sie eine Selektion im positiven<br />

Sinn vor.<br />

Das sehen viele Jäger anders. Und es<br />

trifft wohl nur dort zu, wo man zumindest<br />

ansatzweise von Wildnis sprechen<br />

kann. Tiere im Gehege und Vieh auf der<br />

Weide werden nicht herausgefordert, sondern<br />

sind Wölfen ausgeliefert. Aber auch<br />

die Opfer, die Schafe, Ziegen und andere<br />

erbringen ökologische Leistungen, indem<br />

sie auf ihren Weiden Lebensraum für<br />

Insekten und einige Vogelarten schaffen.<br />

Vor mehr als 19 000 Jahren soll jener<br />

Prozess begonnen haben, der zur Domestikation<br />

des Wolfs führte und den Hund<br />

hervorbrachte. Es schien schon, als würde<br />

Bellos Stammvater endgültig aus Westeuropa<br />

verschwinden. Jetzt ist er wieder<br />

da und hält, wenn man es zulässt, oft zu<br />

wenig Distanz. 7<br />

68 FOCUS 50/2023 FOCUS 50/2023 69

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