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AUSGABE 4 20. Januar <strong>2024</strong> € 5,20 DAS MAGAZIN /// HIER SIND DIE FAKTEN /// SEIT 1993<br />

Die Frauen<br />

des Jahres<br />

Zukunft wird aus<br />

Mut gemacht:<br />

Diese 15 prägen <strong>2024</strong><br />

Sind ARD und ZDF<br />

noch zu retten?<br />

Zu teuer, zu aufgebläht,<br />

zu lahm: Was sich<br />

jetzt ändern muss<br />

WIE WEHRHAFT IST UNSERE<br />

Die AfD: konspirative Treffen und Deportationsfantasien<br />

Deutschland diskutiert ein Verbot der Partei


POLITIK<br />

Bibi, der Kriegsherr<br />

Rund drei Monate nach dem Hamas-Angriff auf <strong>Israel</strong> droht ein Flächenbrand im Nahen Osten.<br />

Aber Premierminister Benjamin Netanjahu kämpft vor allem um sein politisches Überleben<br />

TEXT VON PIERRE HEUMANN<br />

Foto: Avi Ohayan/GPO/Polaris/ddp images<br />

48 <strong>FOCUS</strong> 4/<strong>2024</strong>


ISRAEL<br />

Bis zum Sieg<br />

In Schutzweste<br />

mit Helm zeigt<br />

sich Regierungschef<br />

Netanjahu (r.)<br />

beim Besuch seiner<br />

Soldaten in Gaza<br />

Er ist ein Mann der Superlative.<br />

Benjamin Netanjahu darf<br />

sich jetzt schon rühmen, der<br />

am längsten regierende Premier<br />

in der Geschichte <strong>Israel</strong>s<br />

zu sein. Er ist vielleicht<br />

der geschickteste Polit-Zauberer<br />

in einem Land, das an<br />

Wunder glaubt. Und auf jeden Fall das<br />

gerissenste PR-Talent in einer Gesellschaft,<br />

in der Bescheidenheit nicht als<br />

Zierde gilt. Selbst seine politischen Gegner<br />

geben zu: Benjamin „Bibi“ Netanjahu<br />

sei brillant – auf seine Weise freilich.<br />

Er selbst lässt niemanden daran zweifeln,<br />

dass er sich tatsächlich so sieht. Weil das<br />

US-Magazin „Forbes“ ihn wiederholt<br />

zu den mächtigsten Menschen der Welt<br />

zählte, brüstete er sich, einer von nur vier<br />

politischen Führern weltweit zu sein, die<br />

seit mehr als einem Jahrzehnt konstant in<br />

jeder Auflistung erscheinen.<br />

Doch nun kommen bittere Superlative<br />

hinzu: Noch nie seit der Staatsgründung<br />

vor 75 Jahren gab es einen tödlicheren<br />

Angriff auf <strong>Israel</strong> als an jenem 7. Oktober,<br />

als die palästinensische Terrororganisation<br />

Hamas rund 1200 Menschen ermordet<br />

und mindestens 240 in den Gazastreifen<br />

entführt hat. Noch nie hat das Land einen<br />

so langen Krieg geführt.<br />

Und geht es nach Bibi, wird er noch<br />

lange nicht zu Ende sein. Er werde bis<br />

zum Sieg über die Hamas weitermachen,<br />

sagte er erneut am vorigen Wochenende,<br />

bis sie Gaza nicht mehr kontrolliere<br />

und komplett entwaffnet sei. „Niemand<br />

wird uns dabei aufhalten“, so der Premier.<br />

Nicht der Internationale Gerichtshof<br />

in Den Haag, vor dem sich <strong>Israel</strong> wegen<br />

des Vorwurfs des Genozids an den Palästinensern<br />

verantworten soll. Nicht die von<br />

Iran angeführte und alimentierte „Achse<br />

des Bösen“, obwohl die iranischen Revolutionsgarden<br />

und die aus dem Libanon<br />

agierende Hisbollah in den vergangenen<br />

Tagen mit Raketenangriffen die Region<br />

weiter destabilisiert haben. Und selbst<br />

die USA nicht, <strong>Israel</strong>s wichtigster Verbündeter,<br />

die auf ein rasches Ende des<br />

Krieges drängen. „Wer sich zurückzieht,<br />

um dem Terro rismus zu entkommen, wird<br />

vom Terrorismus verfolgt werden“, lautet<br />

Netanjahus Grundsatz.<br />

Das ungelöste Schicksal der Geiseln<br />

Doch trotz markiger Worte: Nach mehr<br />

als hundert Tagen erbitterter Kämpfe<br />

ist der Gazastreifen noch nicht vollends<br />

unter israelischer Kontrolle. Noch immer<br />

hält die Hamas 136 Geiseln fest, einige<br />

kamen im Feuer der israelischen Armee<br />

um. So wächst der Druck, der Befreiung<br />

der Entführten endlich politische Priorität<br />

einzuräumen. Oppositionsführer, große<br />

Teile der Gesellschaft, selbst ein Mitglied<br />

des Kriegskabinetts unterstützen die Forderung,<br />

die Militäroperationen zu stoppen,<br />

um die Freilassung der Gekidnappten zu<br />

ermöglichen. Bereits im Dezember hielt<br />

laut Umfragen eine Mehrheit der <strong>Israel</strong>is<br />

die Geiselbefreiung für wichtiger als den<br />

Sieg über die Hamas. Die Familien der<br />

Entführten werfen Netanjahu nicht nur<br />

Untätigkeit vor, sondern auch mangelnde<br />

Empathie. Bei seinen – seltenen – Treffen<br />

mit ihnen vergriff er sich mitunter im Ton.<br />

„Die Hamas stellt Forderungen, die selbst<br />

Sie nicht akzeptieren würden“, erklärte er<br />

den Angehörigen einmal.<br />

So haben sich die Familien der Geiseln<br />

inzwischen zu einer potenten Lobbygruppe<br />

mit permanenter Medienpräsenz<br />

formiert. Und dabei geht es längst nicht<br />

mehr nur um die gefangenen Liebsten.<br />

„Derjenige, der uns für seine politischen<br />

Ziele und seine Liebe zur Macht opfert,<br />

ist nicht geeignet, uns zum Sieg zu führen.“<br />

In ganz <strong>Israel</strong> fordern Demonstranten<br />

immer wieder Netanjahus Rücktritt.<br />

Das noch relativ bescheidene Ausmaß<br />

der Proteste sei erst der Anfang, glaubt die<br />

Politologin Ilana Shpaizman von der Bar-<br />

Ilan-Universität bei Tel Aviv. Und Netanjahu-Biograf<br />

Anshel Pfeffer ist sich sicher:<br />

„Von dem 7.-Oktober-Schock wird sich<br />

Bibi nicht mehr erholen.“<br />

Dieser Tag sei für die Nation „eine Riesenkatastrophe“<br />

gewesen, sagt Amos<br />

Yadlin, Ex-Chef des israelischen Militärgeheimdienstes.<br />

An jenem schwarzen<br />

Samstag implodierte Netanjahus wichtigstes<br />

Wahlversprechen, als „Mr. Security“<br />

jede Gefahr abwenden zu können.<br />

Seine Politik sei sehr einfach, erklärte er<br />

einmal: „Der jüdische Staat wurde gegründet,<br />

um jüdisches Leben zu verteidigen.“<br />

Das klingt wie Hohn, seitdem die Hamas-<br />

Terroristen bei einem Überraschungsangriff<br />

in jüdischen Städten und Kibbuzim<br />

mordeten und kidnappten. Die Geiseln in<br />

Gaza sind ihr Pfand für künftige Verhandlungen<br />

– und eine enorme Demütigung für<br />

<strong>Israel</strong>, aber vor allem eine Blamage für den<br />

Regierungschef.<br />

Noch zwei Wochen vor der Hamas-Attacke<br />

hatte sich Netanjahu als Friedensprophet<br />

profiliert. <strong>Israel</strong> stehe an der Schwelle<br />

zu einem historischen Abkommen mit<br />

Saudi-Arabien, das den gesamten Nahen<br />

Osten verändern werde, sagte er vor der<br />

UN-Generalversammlung. Wenn der arabisch-israelische<br />

Konflikt ende, verbesserten<br />

sich auch die Aussichten auf einen<br />

Frieden mit den Palästinensern, sagte er<br />

und zeichnete ein Bild von Harmonie<br />

<strong>FOCUS</strong> 4/<strong>2024</strong><br />

49


POLITIK<br />

und Eintracht. Doch statt Frieden zu feiern,<br />

kämpfen nun 300 000 israelische Soldaten<br />

gegen die Hamas, die in Gaza die<br />

eigenen Bürger als menschliche Schutzschilde<br />

einsetzt und <strong>Israel</strong> die Schuld an<br />

mehr als 20 000 toten Palästinensern gibt.<br />

Bilder zeigen horrende Verwüstungen,<br />

Gaza solle unbewohnbar gemacht werden,<br />

unterstellen Palästinenser-Vertreter.<br />

Gleichzeitig feuern die Terroristen Hunderte<br />

Raketen auf <strong>Israel</strong>, die nur dank des<br />

Abwehrsystems „Iron Dome“ keinen größeren<br />

Schaden anrichteten.<br />

Netanjahu betont gern die moralische<br />

Überlegenheit gegenüber der Hamas:<br />

ballistischen Raketen galt Zielen in Syrien.<br />

Auch in Pakistan hat der Iran zugeschlagen<br />

und damit eine diplomatische Krise<br />

mit dem atomar bewaffneten Land ausgelöst.<br />

Auch diese Angriffe mögen noch Warnungen<br />

gewesen sein, den Beschuss von<br />

Gaza weiterzuführen. Doch die Gefahr<br />

eines Flächenbrands rückt näher. Netanjahu<br />

soll bereits Gefechtspläne gegen die<br />

Hisbollah genehmigt haben. „Wenn sie<br />

weitermachen, werden sie Schläge einstecken<br />

müssen, von denen sie nie zu träumen<br />

wagten“, sagte er auf einer Pressekonferenz<br />

und fügte hinzu, dass diese<br />

Warnung auch für den Iran gelte.<br />

„Einige werden<br />

mich immer<br />

kritisieren – egal<br />

was ich tue“<br />

<strong>Israel</strong>s Premier<br />

Benjamin Netanjahu<br />

„Wir nutzen die Raketenabwehr, um<br />

unsere Zivilisten zu schützen – sie nutzen<br />

ihre Zivilisten, um ihre Raketen zu<br />

schützen.“ Ob die Politik des Premiers<br />

allerdings wirklich dem Schutz der eigenen<br />

Bevölkerung am besten dient? Oder<br />

doch eher zur Eskalation beiträgt? Die Terrormiliz<br />

Hisbollah überzieht den Norden<br />

<strong>Israel</strong>s aus dem Libanon heraus mit Raketen.<br />

Die radikal-islamistischen Huthi-<br />

Rebellen schießen ballistische Raketen<br />

aus dem Jemen in Richtung <strong>Israel</strong>, attackieren<br />

zudem Schiffe im Roten Meer.<br />

Alle werden vom Iran mit Geld und Waffen<br />

versorgt und agieren als Statthalter der<br />

Ajatollahs im Kampf gegen <strong>Israel</strong>. Bisher<br />

galten die Attacken noch als Scharmützel,<br />

als Warnungen.<br />

Doch vorige Woche schaltete sich das<br />

Mullah-Regime gleich mehrfach direkt in<br />

den Konflikt ein. Iranische Revolutionsgarden<br />

griffen mit Raketen „anti-iranische<br />

Terrorgruppen“ in der nordirakischen<br />

Stadt Erbil an. Ein weiterer Angriff mit<br />

Die meisten <strong>Israel</strong>is goutieren<br />

den bellizistischen Kurs<br />

offenbar nicht mehr. Würden<br />

heute Wahlen stattfinden,<br />

hätte Netanjahus rechts-religiöse<br />

Koalition im Parlament keine Mehrheit<br />

mehr. 70 Prozent der Wähler fordern laut<br />

Umfragen seinen Rücktritt – „sofort oder<br />

spätestens nach dem Krieg“. Für die Politologin<br />

Shpaizman ist der Fall klar: „Die<br />

Bevölkerung hat das Vertrauen zu Netanjahu<br />

und dessen Regierung verloren.“<br />

Kein Plan für die Zukunft Gazas<br />

Unter Kontrolle<br />

Im Häuserkampf<br />

eroberte <strong>Israel</strong>s<br />

Armee den nördlichen<br />

Teil Gazas<br />

Die heile Welt, die „Mr. Security“ seinen<br />

Wählern vorgegaukelt hatte, ging nach<br />

der Hamas-Attacke unter. Netanjahu<br />

hat sich fürchterlich geirrt. Die Abschreckungskraft<br />

der Armee funktionierte<br />

nicht. Das Frühwarnsystem versagte. Der<br />

Zaun, der jeden Angriff aus Gaza hätte<br />

abhalten sollen, wurde von den Hamas-<br />

Kämpfern mit Leichtigkeit durchbrochen.<br />

Dass die Hamas gigantische Tunnelanlagen<br />

baute und das Raketenarsenal massiv<br />

aufstockte – das alles meldeten <strong>Israel</strong>s<br />

Geheimdienste zwar, aber Gehör fanden<br />

sie bei den Politikern nicht. Auch nicht<br />

beim Premier.<br />

„Dass Netanjahu für seine Fehlbeurteilung<br />

keine Verantwortung übernehmen<br />

will und versucht, die Schuld auf andere<br />

abzuschieben, beurteilen die Bürger<br />

als unverzeihlich“, sagt Shpaizman. Für<br />

Shaul Kimhi von der Universität Tel Aviv,<br />

der die Verhaltensmuster des 74-Jährigen<br />

seit mehr als 20 Jahren analysiert, ist das<br />

keine Überraschung. „Bibi übernimmt nie<br />

Verantwortung“, sagt Kimhi. Einen Fehler<br />

einzuräumen oder sich zu<br />

entschuldigen komme für ihn<br />

nicht infrage. Am wichtigsten<br />

sei für Netanjahu sein politisches<br />

Überleben. So schmiedete er vor<br />

gut einem Jahr mit zwei ultrarechten, religiös-messianischen<br />

Politikern ein Koalitionskabinett<br />

– wissend, dass damit Frieden<br />

mit den Palästinensern quasi ausgeschlossen<br />

war. Jetzt ist er von ihnen abhängig.<br />

Sollte er ihren Forderungen – zum Beispiel<br />

nach der Neubesiedlung des Gazastreifens<br />

durch israelische Bürger – nicht<br />

Folge leisten, könnten sie die Regierung<br />

zu Fall bringen.<br />

Um die Unterstützung der radikalen<br />

Minister nicht zu verlieren, ließ Netanjahu<br />

auch bislang im Kabinett keine substanzielle<br />

Diskussion über die Strategie<br />

„für den Tag danach“ zu. „Die Armee<br />

operiert in Gaza ohne Instruktionen der<br />

Regierung“, sagt Eyal Pinko, ehemaliger<br />

Leiter der Nachrichtenabteilung im<br />

Büro des Regierungschefs. Es zirkulier-<br />

Fotos: Ziv Koren/ddp images, Iranian Army Office/dpa<br />

50 <strong>FOCUS</strong> 4/<strong>2024</strong>

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