NL_FOCUS_51_2023_Fleischhauer
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AUSGABE <strong>51</strong> 16. Dezember <strong>2023</strong> € 5,20 EUROPEAN MAGAZINE AWARD WINNER <strong>2023</strong> COVER /// INFOGRAPHIC<br />
40 SEITEN<br />
Vom jüngsten Gerücht<br />
bis zum letzten<br />
Abendmahl:<br />
Das Alphabet des<br />
„Grill Royal“-<br />
Gründers Stephan<br />
Landwehr<br />
WIE GEHT FRIEDEN?<br />
Was Hillary Clinton über die Hamas denkt.<br />
Wovon Soldaten nach ihrem Einsatz im Krieg erzählen.<br />
Warum wir bei Immanuel Kant Trost finden.
JAN FLEISCHHAUER<br />
Der schwarze Kanal<br />
Familie, vier Pers.,<br />
2732 Euro<br />
Ein Bürger, der nichts von ihm will, ist dem<br />
Sozialpolitiker unheimlich. Wer keine Leistungen<br />
bezieht, ist dem Staat auch nichts schuldig.<br />
Deshalb arbeitet der Sozialstaat daran, alle<br />
zu Leistungsempfängern zu machen - das ist<br />
sein wahres Ziel<br />
Mit dem Bürgergeld verhält es sich ein wenig wie mit<br />
der Definition von Pornografie. Fragen Sie 15 Leute und<br />
Sie erhalten 15 verschiedene Auskünfte. Man kann darin<br />
System sehen, wenn man will. Wenn selbst die Experten<br />
uneinig sind, wie hoch die staatlichen Leistungen<br />
denn nun ausfallen, ist das vermutlich kein Zufall.<br />
Je länger man sich mit der Materie befasst, desto<br />
komplizierter wird es außerdem. Dass Geringverdiener<br />
ihr Gehalt durch den Bezug von Bürgergeld aufbessern<br />
können, das wusste ich. Die Leute heißen dann Aufstocker.<br />
Aber dass man auch als ganz normaler Arbeitnehmer<br />
Anspruch auf Wohngeld hat? Das war mir nicht<br />
bewusst. Ich bezweifele, dass mein Bäcker in Pullach<br />
Wohngeld beantragt hat oder der Kellner nebenan im<br />
Rabenwirt. Aber es stimmt: Die beiden könnten, wenn<br />
sie wollten.<br />
Ich habe vor drei Wochen über das Bürgergeld<br />
geschrieben. Als Grundlage diente mir<br />
eine Berechnung aus dem Bundessozialministerium,<br />
wonach eine vierköpfige Familie<br />
ab Januar Anspruch auf 2502 Euro hat.<br />
Ich habe meine Leser eingeladen, bei<br />
Gelegenheit mal den Brutto-Netto-Rechner<br />
anzuwerfen, was Sie als Familienvater, zwei<br />
Kinder, Steuerklasse 3 verdienen müssen,<br />
um da mithalten zu können. Arzthelfer, Paketzusteller,<br />
Bäcker, Kindergärtner, Kellner, Verkäufer, Busfahrer sind<br />
schon mal raus. Deswegen fehlen sie ja auch überall.<br />
Kaum war der Text erschienen, sah ich mich mit Gegenrechnungen<br />
konfrontiert. Mehrere Leser wiesen darauf<br />
hin, dass ich beim Bäcker das<br />
Wohngeld übersehen hätte. Auch<br />
der Bäcker habe Anspruch auf<br />
Mietzuschuss. Dann schaltete sich<br />
die Vorsitzende des Rats der Wirtschaftsweisen,<br />
Monika Schnitzer,<br />
ein. Meine Rechnung sei falsch.<br />
Wenn man Kindergeld und Wohngeld<br />
berücksichtige, habe der<br />
Bäcker 1000 Euro mehr an verfügbarem<br />
Monatseinkommen als der<br />
Bürgergeldempfänger.<br />
Mir kam das bekannt vor.<br />
Immer, wenn ich in einer Talkshow<br />
sitze, sagen alle, wie mickrig<br />
die Sozialsätze doch seien. Binnen<br />
zwei Minuten ist das Bürgergeld<br />
so runtergerechnet, dass man<br />
sich schämt, überhaupt darüber<br />
gesprochen zu haben.<br />
»<br />
Auf 14 Bücher<br />
und 5784 Seiten bringt<br />
es die aktuelle Ausgabe<br />
des Sozialgesetzbuchs,<br />
die Magna Charta<br />
des deutschen<br />
Wohlfahrtsstaats<br />
«<br />
Wäre es nicht geschickter, man würde den<br />
Leuten mehr von ihrem erarbeiteten Geld<br />
lassen? Dann müssten sie auch keine Sozialleistungen<br />
beantragen. Also Steuersätze<br />
runter, anstatt ihnen übers Sozialamt wieder einen Teil von<br />
dem zurückzugeben, was man ihnen vorher abgenommen<br />
hat. Aber wer so denkt, hat das Prinzip des Sozialstaats<br />
nicht verstanden. Sein Ziel ist es, alle zu Leistungsempfängern<br />
zu machen. Deshalb ist das entscheidende Wort auch<br />
nicht Selbstbestimmung, sondern Umverteilung.<br />
Erst wenn der letzte Deutsche zum Kostgänger gemacht<br />
worden ist, gibt sich der deutsche Wohlfahrtsstaat zufrieden.<br />
Wobei das stimmt nicht, da muss ich mich korrigieren:<br />
Es ist völlig unerheblich, ob jemand deutscher Staatsbürger<br />
ist oder nicht, um in den<br />
Genuss von Sozialtransfers zu<br />
kommen. 2024 wird mit großer<br />
Wahrscheinlichkeit das Jahr sein,<br />
in dem die Zahl der Bürgergeldempfänger<br />
ohne deutschen Pass<br />
die der Nutznießer mit deutschem<br />
Pass übersteigt.<br />
Ein Bürger, der nichts von<br />
ihm will, ist dem Sozialpolitiker<br />
unheimlich. Wer keine Leistungen<br />
bezieht, ist dem Staat auch nichts<br />
schuldig. Das aber wäre dann ein<br />
Bürger, vor dem man sich vorsehen<br />
muss. Er könnte ja zu Aufsässigkeit<br />
neigen.<br />
Dass es darum gehe, den in Not<br />
Geratenen beizustehen, ist das<br />
Mantra der Sozialstaatsfreunde.<br />
In Wahrheit dient nur der kleinste<br />
Fo t o : M a r k u s C . H u r e k f ü r F O C U S - M a g a z i n<br />
6 <strong>FOCUS</strong> <strong>51</strong>/<strong>2023</strong>
KOLUMNE<br />
Wer Menschheit sagt, will betrügen<br />
Illustration von Michael Szyszka<br />
bedürftigen Familien ankommen. Aber das liegt<br />
in der Logik des Sozialstaats: Ohne Fachberatung<br />
läuft nichts.<br />
Kein Wunder, dass viele das Gefühl haben, sie<br />
kämen zu kurz. Ein System, das darauf ausgelegt<br />
ist, ständig neue Sozialleistungen zu erfinden,<br />
muss zu schlechter Laune führen. Mit jeder weiteren<br />
Leistung verstärkt sich das Gefühl, dass man<br />
etwas übersehen hat, was man auch noch hätte<br />
beantragen können, wenn man nur die Zeit finden<br />
würde, sich noch eingehender mit den Details<br />
zu beschäftigen. Vielleicht sind die Deutschen deshalb<br />
so missmutig.<br />
Teil des gewaltigen Sozialbudgets noch dem „Schutz und<br />
der Daseinshilfe in Notlagen“, wie es im Rechtslexikon<br />
heißt. Wenn es eine Lebensleistung gibt, für die die Nachkriegslinke<br />
uneingeschränkt Kredit beanspruchen kann,<br />
dann den Umbau des Sozialstaats von einer Grundsicherung<br />
gegen die großen Schadensfälle des Lebens zum<br />
umfassenden Für- und Nachsorgesystem.<br />
Auf 14 Bücher und 5784 Seiten bringt es die<br />
aktuelle Ausgabe des Sozialgesetzbuchs, die<br />
Magna Charta des deutschen Wohlfahrtsstaats.<br />
Wie viele Versorgungswege über die Jahre<br />
gegraben wurden und welche Ergebnisse der Umverteilungsapparat<br />
im Einzelnen erzielt, kann niemand seriös<br />
sagen. Vollends den Überblick verliert, wer den Versuch<br />
unternimmt, die Transferströme innerhalb eines deutschen<br />
Durchschnittshaushalts zu erfassen. Dort haben sich die<br />
Negativtransfers, also alle Gehaltsabzüge und Steuerzahlungen,<br />
mit den Positivtransfers des Sozialstaats so verknäult,<br />
dass nicht einmal der Haushaltsvorstand weiß,<br />
ob er am Ende nun draufzahlt oder nicht.<br />
Im Grund braucht es Soziallotsen, um sich zurechtzufinden,<br />
das ist die Konsequenz. Ich bin bei der Zeitungslektüre<br />
darauf gestoßen, dass sich allein im Verantwortungsbereich<br />
der Bundesfamilienministerin Lisa Paus 150<br />
verschiedene familienpolitische Leistungen angesammelt<br />
haben. Frau Paus wurde sehr dafür gescholten, dass sie<br />
von dem Geld, das sie für die Kindergrundsicherung losgeeist<br />
hat, erst einmal Beamte einstellen will. 5000 neue<br />
Stellen will sie schaffen, damit die Hilfsgelder auch bei<br />
Es gibt noch Menschen, denen es der Stolz<br />
verbietet, beim Sozialamt vorstellig zu<br />
werden. Aber das ist eine Minderheit.<br />
Wer verschmäht, was ihm zusteht, gilt<br />
heute als Trottel. Es gibt eine ganze Industrie, die<br />
davon lebt, den Bedürftigen und allen, die es werden<br />
wollen, den Weg zu weisen. Oben sitzen die<br />
Sozialverbände, die jedes Jahr neue Horrorzahlen über die<br />
angeblich grassierende Armut veröffentlichen. Unten stehen<br />
die Berater, die den Leuten einreden, ja auf keinen<br />
Euro zu verzichten.<br />
Beim mit Abstand größten Posten des Haushalts, dem<br />
Sozialbudget, wird selbstverständlich nicht gespart. Die<br />
Vorschläge konservativer Politiker, in der Haushaltskrise<br />
auch noch einmal über die Höhe des Bürgergelds nachzudenken,<br />
seien moralisch unverantwortlich, hat Arbeitsminister<br />
Hubertus Heil gesagt. „Wer Menschheit sagt, will<br />
betrügen“, heißt es bei Carl Schmitt. Ich weiß, Schmitt war<br />
ein schlimmer Finger. Aber die Lebenserfahrung lehrt, dass<br />
Vorsicht geboten ist, wenn es zu luftig wird. Wenn Politiker<br />
ins Moralfach greifen, sieht’s bei den handfesten Argumenten<br />
eher dünn aus.<br />
Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums<br />
hat ebenfalls eine Berechnung zur Höhe des Bürgergelds<br />
vorgelegt. Demnach hat eine vierköpfige Familie<br />
in München inklusive Miete Anspruch auf 2732 Euro – im<br />
Durchschnitt. In der Spitze beträgt der „Mindest bedarf“<br />
sogar 3333 Euro. Klar, München ist auch ein teures Pflaster.<br />
In Hamburg, Köln oder Düsseldorf sieht es allerdings<br />
nicht viel anders aus. Ich will ja nicht zu defätistisch klingen.<br />
Aber ich verstehe den Bäcker, der sich fragt, ob es<br />
sich wirklich lohnt, jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe<br />
aufzustehen, wenn es finanziell keinen großen Unterschied<br />
macht – Wohn- und Kindergeld hin oder her. 7<br />
Jan <strong>Fleischhauer</strong> ist Kolumnist und Buchautor. Er sieht sich als Stimme<br />
der Vernunft - was links der Mitte naturgemäß Protest hervorruft<br />
<strong>FOCUS</strong> <strong>51</strong>/<strong>2023</strong><br />
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