Christian Grethlein: Altern heute (Leseprobe)
Unübersehbar nimmt die Zahl alter und hochaltriger Menschen in unserer Gesellschaft zu. Die sich damit ergebenden Veränderungen werden im ersten Teil in folgenden Perspektiven skizziert: demografisch, biologisch, medizinisch, pflegerisch, psychologisch, soziologisch und sozial. Der zweite Teil reflektiert das Altern in biblischer Perspektive, einschließlich ihrer Wirkungsgeschichte, etwa im »Memento mori«-Konzept. Von da aus werden im dritten Teil exemplarisch handlungsorientierende Vorschläge entworfen; konkret zu den aktuellen Themen Ruhestand, Wohnen im Alter, Umgang mit Demenzkranken und Sterben im Alter. Den Abschluss bildet ein Ausblick: Altern in der Perspektive des Evangeliums – Herausforderungen und Chancen.
Unübersehbar nimmt die Zahl alter und hochaltriger Menschen in unserer Gesellschaft zu. Die sich damit ergebenden Veränderungen werden im ersten Teil in folgenden Perspektiven skizziert: demografisch, biologisch, medizinisch, pflegerisch, psychologisch, soziologisch und sozial. Der zweite Teil reflektiert das Altern in biblischer Perspektive, einschließlich ihrer Wirkungsgeschichte, etwa im »Memento mori«-Konzept. Von da aus werden im dritten Teil exemplarisch handlungsorientierende Vorschläge entworfen; konkret zu den aktuellen Themen Ruhestand, Wohnen im Alter, Umgang mit Demenzkranken und Sterben im Alter. Den Abschluss bildet ein Ausblick: Altern in der Perspektive des Evangeliums – Herausforderungen und Chancen.
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<strong>Christian</strong> <strong>Grethlein</strong><br />
<strong>Altern</strong> <strong>heute</strong><br />
Herausforderungen und Chancen
Vorwort<br />
Schon ein kurzer Gang durch die städtische Fußgängerzone<br />
macht es offenkundig: Unsere Gesellschaft befindet sich in<br />
einem tiefen Umbruch. Die Zahl alter Menschen nimmt rapide<br />
zu, die von Kindern und Jugendlichen geht zurück. Diese<br />
Entwicklung wird sich, schreibt man entsprechende Statistiken<br />
fort, in den nächsten Jahren noch verstärken. Dabei begegnen<br />
in der Öffentlichkeit aber nur diejenigen, die noch<br />
gut zu Fuß sind bzw. sich mit einem Rollator bewegen können.<br />
Die in Pflegeheimen Untergebrachten bzw. die zuhause<br />
Gepflegten bleiben verborgen. In dieser kulturgeschichtlich<br />
neuen Situation gilt es grundsätzlich über die Gestaltung<br />
und den Sinn des Alt-Seins und damit des Alt-Werdens nachzudenken,<br />
in individueller, sozialer und gesellschaftlicher<br />
Hinsicht. In vorliegendem Buch geschieht dies aus christlichtheologischer<br />
Perspektive.<br />
Wesentliche Impulse hierzu gaben mir die Begleitung<br />
meiner beiden hochaltrigen Eltern sowie ein wöchentlicher<br />
ehrenamtlicher Besuchsdienst im Franziskus-Hospital, Münster.<br />
Herausforderungen, aber auch Chancen des <strong>Altern</strong>s wurden<br />
mir hier immer wieder deutlich und ermutigten mich<br />
zur hier vorgelegten Reflexion.<br />
Formale Hinweise: Kursiver Druck in Zitaten wurde nicht<br />
übernommen; Kursivsetzungen gehen allein auf mich zurück.<br />
Absätze in petit-Druck geben Detail-Informationen,<br />
häufig in Form der Zitation einschlägiger Publikationen.<br />
5
Vorwort<br />
Literatur nenne ich in jedem Hauptteil beim ersten Vorkommen<br />
vollständig, im Weiteren nur abgekürzt. Die Abkürzungen<br />
folgen der RGG 4 .<br />
Gewidmet seien diese Überlegungen dem Andenken meines<br />
Vaters, Dr. iur. utr. Gerhard <strong>Grethlein</strong> (1924-2021). Er<br />
wurde mir in seinen letzten Lebensjahren ein Vorbild in der<br />
Kunst des „Aufhörens“. Dafür bin ich ihm sehr dankbar.<br />
Münster, im Juli 2023<br />
<strong>Christian</strong> <strong>Grethlein</strong><br />
6
Inhalt<br />
Einführung<br />
Alt-Sein und -Werden als vielfältiges aktuelles Thema . . . . . . . . 9<br />
I<br />
II<br />
Alt-Sein und -Werden in gegenwärtigen Perspektiven<br />
0 Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
1 Demographische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
2 Biologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />
3 Medizinische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
4 Pflegerische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />
5 Psychologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />
6 Soziologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54<br />
7 Soziale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59<br />
8 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />
Alt-Sein und -Werden in biblischer Perspektive<br />
1 Altes Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
1.1 Demographische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />
1.2 Biologische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />
1.3 Soziale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />
1.4 Weisheitliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
2 Neues Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
2.1 Altersbezogene Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
2.2 Soziale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />
2.3 Gemeindliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82<br />
2.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83<br />
3 Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
7
Inhalt<br />
3.1 Altersbezogene Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />
3.2 Memento-mori-Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
3.3 Soziale Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />
3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90<br />
4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />
III<br />
Handlungsorientierende Überlegungen zum<br />
Alt-Sein und -Werden<br />
1 Grundsätzliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
1.1 Zeittheoretischer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
1.2 Sozialer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100<br />
2 Exemplarische Konkretionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />
2.1 Ruhestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />
2.2 Wohnen im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
2.3 Umgang mit Demenzkranken . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />
2.4 Sterben im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />
3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />
Ausblick<br />
Alt-Sein und -Werden in der Perspektive des Evangeliums . . . 137<br />
Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />
8
Einführung<br />
Alt-Sein und -Werden als vielfältiges<br />
aktuelles Thema<br />
Alt-Sein und -Werden beschäftigt schon seit langem das<br />
Nachdenken der Menschen. Die große Spannweite der dabei<br />
gewonnenen Einsichten und Urteile zeigt bereits ein kurzer<br />
Blick in die Werke der zwei wohl wichtigsten griechischen<br />
Philosophen. So rühmt Plato in der „Politeia“ den „heiligen<br />
Frieden und Freiheit“ des Greisenalters, die durch ein Nachlassen<br />
der Libido entstehen. 1 Umgekehrt charakterisiert kurz<br />
danach Aristoteles in seiner „Rhetorik“ die „Älteren, die die<br />
Blüte ihres Lebens mehr oder weniger schon hinter sich haben“<br />
u. a. als „bösartig“, „argwöhnisch aus Misstrauen“, „kleinmütig“,<br />
„knauserig“ und „feige“. 2 In eine ähnliche Richtung<br />
geht ein späteres volkstümliches Märchen, das versucht, die<br />
Einschränkungen höheren Alters zu erklären:<br />
„Also lebt der Mensch siebenzig Jahre. Die ersten dreißig sind seine<br />
menschlichen Jahre, die gehen schnell dahin; da ist er gesund, arbeitet<br />
mit Lust und freut sich seines Daseins. Hierauf folgen die achtzehn<br />
Jahre des Esels, da wird ihm eine Last nach der andern auferlegt: er<br />
muss das Korn tragen, das andere nährt, und Schläge und Tritte sind<br />
der Lohn seiner treuen Dienste. Dann kommen die zwölf Jahre des<br />
Hundes, da liegt er in den Ecken, knurrt und hat keine Zähne mehr<br />
zum Beißen. Und wenn diese Zeit vorüber ist, so machen die zehn<br />
1 S. den entsprechenden Auszug aus der Politeia in: Thomas Rentsch/Morris<br />
Vollmann (Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen,<br />
Stuttgart 2017, 16 f.<br />
2 S. den entsprechenden Auszug a. a. O., 23.<br />
9
Einführung<br />
Jahre des Affen den Beschluß. Da ist der Mensch schwachköpfig und<br />
närrisch, treibt alberne Dinge und wird ein Spott der Kinder.“ 3<br />
Zwar nahm der auch dieses Märchen edierende Germanist Jacob<br />
Grimm in seiner berühmten „Rede über das Alter“ vor der<br />
Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1860)<br />
anfangs hierauf Bezug, räumte – selbst 75-jährig – ein, dass<br />
die sinnliche Wahrnehmungskraft im Alter zurückgehe, sah<br />
darin aber auch Vorteile:<br />
„Jene Abnahme ist noch keine Niederlage, oft nur ein neues Glühen<br />
und Auftauchen der Lebenskraft. … Jedes Übel und Leiden führt leicht<br />
im Stillen irgendeinen zugute kommenden Ersatz mit sich. … Nur ein<br />
Blinder vermag eigentlich die von der Volkspoesie, wie wir sie uns vorstellen,<br />
ausgehenden Strahlen in der Stille seiner Seele zu hegen und<br />
zu vereinbaren, wo sich hernach sehende Augen einmischen, verderben<br />
sie es leicht wieder. Wird nicht dem blinden Manne von Chios<br />
das größte Epos aller Zeiten, dem blinden Ossian das wundervolle<br />
Gewirk der kostbaren Lieder des schottischen Hochlandes beigelegt?<br />
… Man darf weiter sagen, dass in Greisen das Gefühl für die Natur steige<br />
und vollkommener werde, als es im vorausgehenden Leben war,<br />
und dass alles sie zum sicheren Verkehr mit dieser stillen und fesselnden<br />
Gewalt dränge oder anweise. … In begabten, auserwählten Männern<br />
halten Kraft und Ausdauer fast ohne Abnutzung weit länger<br />
nach, welche Fülle ununterbrochener Tätigkeit und geistiger Gewalt<br />
hat ein Humboldt bis ins fernste Alter allen zu staunender Bewunderung<br />
kundgegeben … Je näher wir dem Rande des Grabes treten, desto<br />
ferner weichen von uns sollten Scheu und Bedenken, die wir früher<br />
hatten, die erkannte Wahrheit, da, wo es an uns kommt, auch kühn zu<br />
bekennen.“ 4<br />
3 Aus: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen Bd. 3, hg. v. Hans-Jörg<br />
Uther, Darmstadt (München) 1996, 86 f.<br />
4 Jacob Grimm, Rede über das Alter, in: Thomas Rentsch/Morris Vollmann<br />
(Hg.), Gutes Leben im Alter. Die philosophischen Grundlagen, Stuttgart<br />
2017, 98–109.<br />
10
Einführung<br />
Deutlich tritt hier die auch sonst im 19. Jahrhundert in gebildeten<br />
bürgerlichen Kreisen begegnende Hochschätzung<br />
des Alters zu Tage. Damals verstarben allerdings noch viele<br />
Kinder und jüngere Menschen; nur wenige erreichten das Alter<br />
des Festredners Grimm.<br />
Dies hat sich inzwischen grundlegend geändert. Langlebigkeit<br />
bzw. Hochaltrigkeit sind in den wohlhabenden Ländern<br />
dieser Erde weit verbreitet. Sie – und damit das Alt-Werden<br />
und -Sein – stellen – nach Einschätzung des Schweizer<br />
Theologen und Gerontologen Heinz Rüegger – sogar „die<br />
zentrale sozialpolitische Herausforderung des 21. Jahrhunderts<br />
dar“. 5 Dabei beobachtet er eine interessante Spannung:<br />
„So befinden wir uns in der eigenartigen Situation, dass einerseits<br />
durch Wissenschaft, Technik, Medizin und Sozialpolitik alles getan<br />
wird, um immer ausgeprägter eine Gesellschaft des langen Lebens zu<br />
verwirklichen, dass unsere Gesellschaft sich aber andrerseits weithin<br />
an einem Juvenilitätsideal orientiert (ganz nach dem Motto des Anti-<br />
Aging: forever young!), den Prozess des <strong>Altern</strong>s zu verhindern versucht<br />
und das Alter – insbesondere das hohe Alter, das quantitativ die<br />
am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe darstellt – entwertet.“ 6<br />
Die offensichtlich im häufigeren Alt-Sein und -Werden begründete<br />
gesellschaftliche Herausforderung begegnet ebenfalls<br />
in individueller und sozialer Hinsicht. Viele Menschen<br />
müssen ihr Leben unter den durch die Alterungsprozesse bedingten<br />
Veränderungen gestalten. Sozial gilt dies ebenso für<br />
Familien, sonstige Gemeinschaften und Kommunen bzw.<br />
Städte. Die starke Zunahme alter Menschen verändert deren<br />
Zusammensetzung und erfordert neue soziale Formen und<br />
5 Heinz Rüegger, Vom Sinn im hohen Alter. Eine theologische und ethische<br />
Auseinandersetzung, Zürich 2016, 14.<br />
6 A. a. O., 7.<br />
11
Einführung<br />
Gestaltungen. In besonderem Maß betrifft dies die Kirchen,<br />
weil deren Mitglieder noch älter sind als der Bevölkerungsdurchschnitt.<br />
„Nach Modellrechnungen der EKD ist schon derzeit (sc. 2010, C.G.) fast<br />
ein Drittel (32 %) der Evangelischen älter als 60 Jahre. Und dieser Anteil<br />
soll sich in den nächsten zwanzig Jahren auf 41,5 Prozent erhöhen.“ 7<br />
Diese Herausforderungen erhalten eine besondere Akzentuierung<br />
durch die Tatsache, dass mit den Babyboomern, et -<br />
wa Jahrgang 1955 bis 1970, 8 eine neue Generation (s. auch<br />
3. Hauptteil 1.1) ins Alter tritt: Sie „hat eine ausgesprochen jugendorientierte<br />
Lebenseinstellung verinnerlicht (nach dem<br />
Motto der Anti-Aging-Bewegung: forever young!) und orientiert<br />
sich auch im Blick auf das Älterwerden an Werten wie<br />
Leistung, Gesundheit, Vitalität, Unabhängigkeit und Genuss<br />
– Werte also, die ganz auf eine Kultur des mittleren Erwachsenenalters<br />
zugeschnitten sind“ 9 . Auf jeden Fall entstehen<br />
bereits durch ihre große Zahl neue Hausforderungen in<br />
den verschiedensten Lebensbereichen: „persönlich, familiär,<br />
gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch und kulturell“ 10 .<br />
Doch bisher war nur sehr pauschal von „Alter“ die Rede.<br />
Zum einen ist hier <strong>heute</strong> die Unterscheidung von sog. Drittem<br />
und Viertem Alter weit verbreitet. 11 Dabei bezeichnet der<br />
7 Petra-Angela Ahrens, Uns geht’s gut. Generation 60plus: Religiosität und<br />
kirchliche Bindung (Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche<br />
11), Berlin 2011, 12.<br />
8 So z. B. Klaus Hurrelmann/Erik Albrecht, Die heimlichen Revolutionäre.<br />
Wie die Generation Y unsere Welt verändert, Weinheim 2014,22f.; Rüegger<br />
dagegen datiert – eher unüblich und empirisch schwierig (s. Tabelle 1) –<br />
die Babyboomer auf die Jahrgänge 1946 bis 1964, (Sinn, 17).<br />
9 Rüegger, Sinn, 17.<br />
10 A. a. O., 14.<br />
12
Einführung<br />
erste Begriff eine Lebensphase, die durch Austritt aus dem Erwerbsleben,<br />
aber – vor allem bei gebildeten und materiell gut<br />
gestellten Menschen – durch rege Aktivitäten etwa in Form<br />
von kultureller Partizipation, Reisen o. Ä. geprägt ist (sog. „silver<br />
agers“). Tatsächlich geben die meisten Menschen in diesem<br />
Alter an, sich jünger zu fühlen als es ihr chronologisches<br />
Alter angibt. Bei einer Befragung evangelischer Kirchenmitglieder<br />
ergab sich:<br />
„73 Prozent der Befragten ab 60 Jahren fühlen sich jünger, als sie es<br />
vom chronologischen Alter her sind, bei 17 Prozent entsprechen chronologisches<br />
und subjektives Alter einander, zehn Prozent fühlen sich<br />
älter als es ihr chronologisches Alter ausweist.“ 12 „Nur die 75- bis 79-<br />
Jährigen weichen mit einem Anteil von nur 68 Prozent, die sich jünger<br />
fühlen, erkennbar von diesem Ergebnis ab.“ 13<br />
Der anschließende vierte Lebensabschnitt ist demgegenüber<br />
durch zunehmende Erkrankungen (Multimorbidität) und<br />
schließlich das Sterben bestimmt. Dabei deuten Altersangaben<br />
wie von 60 bis 75 bzw. 80 Jahren (Drittes Alter) sowie dann<br />
darüber hinaus (Viertes Alter) nur einen groben Rahmen an<br />
und sind individuell zu konkretisieren.<br />
Dies nimmt zum anderen das Wort „<strong>Altern</strong>“ auf, indem es<br />
in verbaler Form der Dynamik des Alt-Werdens und -Seins<br />
Rechnung trägt, das im Einzelnen sehr unterschiedlich verläuft.<br />
Gemeinsam ist den verschiedenen Verlaufsformen aber<br />
ihre Dynamik auf Reduktionen und/bzw. Einbußen hin sowie<br />
ihr Ende im Tod.<br />
11 S. grundlegend Peter Laslett, Das dritte Alter. Historische Soziologie des<br />
<strong>Altern</strong>s, Weinheim 1995.<br />
12 Ahrens, Uns geht’s gut, 20.<br />
13 A. a. O., 20, Anm. 3.<br />
13
Einführung<br />
Auf jeden Fall werden gegenwärtig verschiedene Alterstheorien<br />
nebeneinander entwickelt und diskutiert. 14 Ein erster<br />
Ansatz, das Defizitmodell, stellte die mit dem <strong>Altern</strong> verbundenen<br />
Verluste ins Zentrum:<br />
„<strong>Altern</strong> wird bei diesem Ansatz als ‚zeitabhängiger, irreversibler und<br />
vorhersagbar fortschreitender Funktionsverlust‘ angesehen. Durch<br />
ste tigen Rückgang individueller Kompetenzen entsteht eine zunehmende<br />
Diskrepanz zwischen der individuellen Fähigkeit, sein Leben<br />
angemessen zu gestalten, und den dafür notwendigen Ressourcen. …<br />
Sozialer Rückzug, Autonomieverlust, vermehrte Abhängigkeit und<br />
entsprechender Unterstützungsbedarf sind eine zwangsläufige Folge<br />
dieses stetigen Kompetenzverlustes. Auch in geistiger Hinsicht sieht<br />
man die Lernfähigkeit im Laufe des Lebens und insbesondere im Alter<br />
schwinden. Das Defizitmodell findet in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung<br />
mittlerweile kaum noch Beachtung. Um diesen<br />
Ansatz historisch einzuordnen, gilt es zu bedenken, dass die <strong>Altern</strong>sforschung<br />
insgesamt bis in die 1960er Jahre ihren Schwerpunkt auf<br />
biologische und medizinische Fragen gelegt hat.“<br />
Kritisch begegnet diesem Ansatz in der Theoriediskussion die<br />
Aktivitätstheorie, die durchaus Positives im <strong>Altern</strong> benennt:<br />
„Bei der Aktivitätstheorie wird erfolgreiches <strong>Altern</strong> eng mit (hoher)<br />
sozialer Aktivität und Interaktion in Verbindung gebracht. Aktiv zu<br />
sein und etwas leisten zu können, eine erfüllende Aufgabe zu haben<br />
und das Gefühl von anderen gebraucht zu werden, all diese Erfahrungen<br />
machen (Lebens-)Sinn, geben Anerkennung und stiften Identität.<br />
Sie haben von daher zentrale Bedeutung für die Lebenszufriedenheit<br />
und einen positiven <strong>Altern</strong>sprozess.“ 15<br />
14 S. ausführlicher zum Folgenden Martin Erhardt, <strong>Altern</strong>stheorien, in:<br />
Ders./Lothar Hoffmann/Horst Roos (Hg.), Altenarbeit weiterdenken.<br />
Theorien – Konzepte – Praxis, Stuttgart 2014, 41–48; vgl. sachlich ähnlich,<br />
aber in anderer Terminologie Wolfgang Voges, Pflege alter Menschen,<br />
Wiesbaden 2002, 176–179.<br />
15 Erhardt, <strong>Altern</strong>stheorien, 45.<br />
14
I Alt-Sein und -Werden<br />
in gegenwärtigen Perspektiven<br />
0 Historischer Hintergrund<br />
Drei Sachverhalte grundieren die historische Entwicklung<br />
des Verhältnisses zu alten Menschen und damit zum Alt-<br />
Werden im christlich geprägten Kulturraum:<br />
Auf Grund der herausgehobenen Stellung im sowohl<br />
ethisch als auch katechetisch wichtigen Dekalog ist zuerst<br />
das 4. Gebot (Ex 20,12; Dtn 5,16) zu nennen. Demnach galt es<br />
als unbedingte Christenpflicht, die Eltern, und damit Ältere,<br />
zu „ehren“. Ob und wie dieses Gebot in die tatsächliche familiäre<br />
und sonstige soziale sowie gesellschaftliche Realität umg<br />
e s e t z t wurde b z w. i n N o t z e i t e n u m g e s e t z t w e r d e n k o n n t e ,<br />
war je nach den konkreten Umständen allerdings recht verschieden.<br />
Tatsächlich wurden Alte im Lauf der Zeit unterschiedlich<br />
behandelt: „Mißachtung wechselte mit Achtung, Beschimpfung<br />
mit Huldigung“ 1 . Dabei spielten die jeweiligen sozialen,<br />
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte sowie<br />
jeweils aktuelle Entwicklungen und Veränderungen eine<br />
wichtige Rolle.<br />
Schließlich unterschied – und unterscheidet – sich die<br />
Lage alter Menschen je nach Berufszugehörigkeit, ökono-<br />
1 Peter Borscheid, Geschichte des Alters. Vom Spätmittelalter zum 18. Jahrhundert,<br />
München 1989, 11.<br />
21
I Alt-Sein und -Werden in gegenwärtigen Perspektiven<br />
misch-materieller Ausstattung und nicht zuletzt nach dem<br />
Geschlecht erheblich. Für Mittelalter und frühe Neuzeit konstatiert<br />
hierzu der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Peter<br />
Borscheid: „Der Lebensabend der Adligen, Staatsbeamten und<br />
Pfarrer war nicht zu vergleichen mit dem der Bauern, Handwerker,<br />
Bergarbeiter und Tagelöhner. Diese Abweichungen<br />
waren überlagert von einer Ungleichheit nach dem Geschlecht.“<br />
2<br />
Grundsätzlich gilt bis zur Industrialisierung, dass wesentlich<br />
die Familien verantwortlich für die Versorgung der<br />
insgesamt – in heutiger Sicht – sehr wenigen Alten waren. Allerdings<br />
gab es stets auch Alleinstehende, vor allem Witwen,<br />
um die sich – wie im 2. Hauptteil 2.3 gezeigt – die christlichen<br />
Gemeinden kümmerten. Das in der Rede des Weltenrichters<br />
(Mt 25,31-46) angemahnte Besuchen und Beherbergen führte<br />
zur Gründung von Hospizen bzw. Hospitälern.<br />
„Im frühen Mittelalter waren es Stifte, insbesondere Domstifte, und<br />
Klöster, welche öffentliche Hospitäler gründeten und unterhielten<br />
für Arme, Alte und Waisen, Kranke und Invalide, durchziehende Pilger,<br />
überhaupt für alle der Hilfe Bedürftigen.“ „Seit Ende des 13. Jh.<br />
überwiegen bürgerliche Hospitalgründungen … Über das 14. und vor<br />
allem das 15. Jh. erstreckten sich Hunderte von Hospitalgründungen<br />
in den Landstädten.“ 3 „Mit der Reformation verloren die Hauptmotive<br />
mittelalterlicher Hospitalgründungen – Sorge um das Seelenheil<br />
und Selbstdarstellung – ihre Legitimation. Die lutherischen Obrigkeiten<br />
führten die Unterstellung der Hospitäler unter die Aufsicht<br />
der weltlichen Behörden fort.“ 4<br />
Hier fanden – allerdings streng reglementiert – alte Menschen<br />
Zuflucht, für die sonst keiner sorgte. Doch konnte dies<br />
2 A. a. O., 12.<br />
3 Alfred Wendehorst, Hospital, in: TRE 15 (1986), 600–604, 601.<br />
4 A. a. O., 602 f.<br />
22
nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem in Zeiten von<br />
Pandemien wie der Pest, Missernten oder von Kriegen die<br />
Alten möglichst abgeschoben wurden. Demografisch nahm,<br />
soweit rekonstruierbar, die Lebensdauer seit der Wende des 13.<br />
zum 14. Jahrhundert bis zum Dreißigjährigen Krieg stetig<br />
ab. 5 Exemplarisch kann dies am Lebensalter der Kaiser des Römischen<br />
Reichs deutscher Nation im 16. und 17. Jahrhundert<br />
veranschaulicht werden, also von Personen, die bereits als<br />
Kinder besonders gut gepflegt wurden und später ein nicht<br />
durch damals sonst übliche Einschränkungen reduziertes,<br />
gut geschütztes Leben führen konnten:<br />
Übersicht 1:<br />
Lebensalter der deutsch-römischen Kaiser im 16./17. Jahrhundert<br />
Kaiser Lebenszeit Todesalter<br />
Maximilian I. 1459–1519 60<br />
Karl V. 1500–1558 58<br />
Ferdinand I. 1503–1564 61<br />
Maximilian II. 1527–1576 49<br />
Matthias 1557–1619 62<br />
Ferdinand II. 1578–1637 59<br />
Ferdinand III. 1608 –1657 49<br />
0 Historischer Hintergrund<br />
Bei den meisten Menschen war die Lebensdauer erheblich geringer.<br />
Wie auch schon bei den Germanen galt im Weiteren<br />
die Jugend als „das Lebensalter, in dem allein vollste Verwirklichung<br />
zu erreichen ist“ 6 . Seine bildliche Darstellung fand<br />
dies im „Jungbrunnen“ (s. 2. Hauptteil 3.2).<br />
Demgegenüber erschien das Alter als von vielfältigen<br />
Krankheiten und sonstigem Übel geplagt. Sarkastisch hieß es<br />
noch im „Simplicissimus“ (1668):<br />
5 S. Borscheid, Geschichte, 22.<br />
6 A. a. O., 19.<br />
23
I Alt-Sein und -Werden in gegenwärtigen Perspektiven<br />
„Das Vieh verdirbt vor Alter, und der arme Mensch vor Krankheit: Der<br />
eine hat den Grind, der ander den Krebs, der dritte den Wolf, der vierte<br />
die Franzosen, der fünfte das Podagram, der sechste die Gicht, der<br />
siebente die Wassersucht, der achte den Stein, der neunte das Gries,<br />
der zehente die Lungensucht, der elfte das Fieber, der zwölfte den Aussatz,<br />
der dreizehente das Hinfallen, und der vierzehente die Torheit! …<br />
Der eine stirbt in der Wiegen, der ander in der Jugend auf dem Bett,<br />
der dritte am Strick, der vierte am Schwert, der fünfte auf dem Rad,<br />
der sechste auf dem Scheiterhaufen, der siebente im Weinglas, der<br />
achte in einem Wasserfluß, der neunte erstickt im Freßhafen, der<br />
zehente erwürgt am Gift, der elfte stirbt jähling, der zwölfte in einer<br />
Schlacht, der dreizehente durch Zauberei, und der vierzehente er -<br />
tränkt seine arme Seel im Tintenfaß.“ 7<br />
Vorher hatte der Dreißigjährige Krieg „zu einer beispiellosen<br />
Verrohung der Sitten geführt“ 8 , was nicht zuletzt für den<br />
Umgang mit alten Menschen zutraf.<br />
Ein gewisses Widerlager bildete hierzu die Betonung des<br />
Vaters als des Stellvertreters Gottes durch die Reformatoren,<br />
was allerdings bei den Humanisten auf Widerspruch stieß. 9<br />
Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges kehrte auch im<br />
Allgemeinen wieder „ein langwährender Prozeß der Versittlichung<br />
ein, der mit einer Inthronisation des Alters verbunden<br />
war“ 10 . Gefördert wurde dies durch religiöse Aufbrüche wie<br />
den Pietismus oder auf katholischer Seite die Janseniten. Sie<br />
rückten das Gebot der Nächstenliebe wieder ins Zentrum.<br />
Die damit verbundene Ehrung der Alten fand in der Aufklärung<br />
eine Verstärkung. Hier kommt jetzt auch – neu gegenüber<br />
der vorausgehenden Zeit – die Länge des Lebens als<br />
positives Ziel in den Blick.<br />
7 Zitiert a. a. O., 30.<br />
8 A. a. O., 33.<br />
9 S. a. a. O., 44.<br />
10 A. a. O., 166.<br />
24
0 Historischer Hintergrund<br />
„Gegenüber dem 16. Jahrhundert, das noch kaum einen Gedanken<br />
darauf verschwendet hatte, wie die Altersphase zu verlängern sei und<br />
lediglich auf eine rasche Erlösung von allen Qualen des Diesseits hoffte,<br />
wird jetzt in der Gesellschaft die Frage nach der Beeinflußbarkeit<br />
der Lebensdauer heftig diskutiert.“ 11<br />
Durch rechte Ernährung (Diätetik), 12 aber auch die in Deutschland<br />
am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Sportbewegung<br />
13 versuchen Menschen ihr Leben zu verlängern. Äußerlich<br />
kam das damit verbundene Streben nach bleibender<br />
Ju gendlichkeit in neuen Verhaltensweisen zum Ausdruck. So<br />
heißt es schon in einem Text von 1736:<br />
„Sie kleiden sich nach der Mode der Jünglinge, sie tanzen, sie schwärmen<br />
bis über Mitternacht, sie fahren leicht bewahrt zu Schlitten, sie<br />
quälen sich und stumpfen ihren Körper noch mehr als durch knappe<br />
Kleider und Schuhe … Sie opfern ihre Zeit der Galanterie und dem Putze,<br />
verabsäumen ihre Geschäfte, parfümieren sich, und schmelzen am<br />
sanften Klavier ins Elysium hinüber.“ 14<br />
Die dahinter stehende Juvenilisierung des Alters ist ein Trend,<br />
der sich bis in die Gegenwart verfolgen lässt, inzwischen unterstützt<br />
durch vielfältige medizinische Behandlungen und<br />
Empfehlungen für ein „gesundes Leben“. Allerdings ist auch<br />
hier der Fokus vor allem auf gebildetere und wohlhabendere<br />
Menschen gerichtet.<br />
11 A. a. O., 196.<br />
12 S. a. a. O., 198 f.<br />
13 S. a. a. O., 202.<br />
14 Zitiert a. a. O., 240.<br />
25
I Alt-Sein und -Werden in gegenwärtigen Perspektiven<br />
1 Demografische Perspektive<br />
Den allgemeinen Hintergrund für eine demografische Analyse<br />
der gegenwärtigen Situation bildet weltweit die nur explosionsartig<br />
zu nennende Vermehrung lebender Menschen<br />
in den letzten hundert Jahren. 15 Um Christi Geburt schätzt<br />
man eine Erd-Gesamtbevölkerung von etwa 300.000.000, um<br />
1500 von 500.000.000. Noch im Jahr 1800 betrug die Zahl der<br />
Menschen unter einer Milliarde (980.000.000); 1900 war sie um<br />
mehr als ein Viertel auf 1.260.000.000 angewachsen; 1950 hatte<br />
sie sich nochmals verdoppelt (2.500.000.000), 2000 demgegenüber<br />
mehr als verdreifacht (6.150.000.000); 2022 überschritt sie<br />
schließlich die 8.000.000.000. Dabei verstärken sich Geburtenüberschüsse<br />
vor allem in Afrika und manchen Ländern Asiens<br />
sowie die längere Lebensdauer in vielen Ländern gegenseitig.<br />
Der Deutsche Alterssurvey beobachtet – entsprechende<br />
Einzelbefunde zusammenfassend – im deutschsprachigen<br />
Kulturraum hinsichtlich des Alters folgende Veränderungen:<br />
Es „sinkt die Sterblichkeit seit etwa zweieinhalb Jahrhunderten<br />
… Durch bessere hygienische Verhältnisse, bessere Ernährung<br />
und medizinischen Fortschritt sank zunächst die<br />
Kindersterblichkeit. Verbesserte allgemeine Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
trugen dann zu einer Reduzierung der<br />
Sterblichkeit im mittleren Lebensalter bei. Seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg sinkt auch die Sterblichkeit im hohen Alter. Die Lebensphase<br />
‚Alter‘ umfasst inzwischen mehrere Jahrzehnte.“ 16<br />
15 Die folgenden Zahlenangaben zur Erdbevölkerung entstammen der entsprechenden<br />
Tabelle des Statistischen Bundesamtes (https://de.statista.<br />
com/statistik/daten/studie/1694/umfrage/entwicklung-der-weltbevölkerung,<br />
abgerufen am 14.05.2023).<br />
16 Katharina Mahne/Julia K. Wolff/Julia Simonson/Clemens Tesch-Römer,<br />
<strong>Altern</strong> im Wandel: Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey, in: Dies. (Hg.),<br />
26
1 Demographische Perspektive<br />
Konkret war bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts die Lebenserwartung<br />
konstant niedrig. Sie lag z. B. zwischen „1816<br />
und 1860 in Ost- und Westpreußen bei 24,7 Jahren, in der<br />
Rheinprovinz bei 29,8, in Westfalen bei 31,3 Jahren.“ 17 Im Jahrzehnt<br />
1871/1880 kam es dann zu einer deutlichen Erhöhung:<br />
„im Deutschen Reich liegt sie jetzt bei Männern bei 35,6, bei<br />
Frauen bei 38,5 Jahren.“ 18 Dabei spielen sowohl ein gewisser<br />
Rückgang der Sterblichkeit vor allem in der Kindheit als auch<br />
eine Erhöhung der Lebenserwartung in der Mittel- und Oberschicht<br />
eine Rolle. 19 Inzwischen hat sich aber die Lebenserwartung<br />
mehr als verdoppelt. Sie beträgt für Jungen (2019/21)<br />
78,5, für Mädchen (2019/2021) 83,4 Jahre. 20<br />
Allerdings ist auch dieser Befund im Einzelnen genauer<br />
zu differenzieren, insofern soziale Determinanten wie Bildung,<br />
Arbeitsverhältnis(se) und Herkunft zu Minderungen<br />
bzw. Steigerungen führen. Grundsätzlich gilt dabei, dass höhere<br />
Bildung, besserer beruflicher Status und ökonomische<br />
Prosperität durchschnittlich zu einer längeren Lebensdauer<br />
führen, während umgekehrt niedrige Bildung, problematische<br />
Arbeitsverhältnisse und Armut in der Regel mit einer<br />
um einige Jahre kürzeren Lebenszeit verbunden sind.<br />
„Den Schätzungen zufolge leben Männer, die ein geringes Einkommen<br />
haben oder von Armutsgefährdung betroffen sind, im Durchschnitt<br />
etwa sechs Jahre kürzer als Männer aus wohlhabenden Haus-<br />
<strong>Altern</strong> im Wandel. Zwei Jahrzehnte Deutscher Alterssurvey (DEAS), Wiesbaden<br />
2017, 11–28, 14.<br />
17 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker<br />
Staat, München 5 1991, 106.<br />
18 A. a. O., 106.<br />
19 S. a. a. O., 107.<br />
20 S. https://destatis/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenwartung<br />
(abgerufen am 15.05.2023).<br />
27
I Alt-Sein und -Werden in gegenwärtigen Perspektiven<br />
halten. … Auch bei mittleren Einkommen verbleiben noch deutliche<br />
Differenzen von knapp vier beziehungsweise viereinhalb Jahren … Die<br />
größte durchschnittliche Restlebenserwartung zum Alter 65 haben<br />
mit 21,5 Jahre die Beamtinnen und Beamten. Während bei Angestellten<br />
und Selbstständigen diese immerhin noch über 19 Jahre beträgt,<br />
lässt sich für die Arbeiterinnen- und Arbeitergruppe die mit Abstand<br />
geringste Lebenserwartung von durchschnittlich nur noch 15,9 Jahren<br />
feststellen.“ 21<br />
Dazu ist die gegenwärtige demografische Situation in Deutschland<br />
durch einen seit 1972 zu verzeichnenden Sterbeüberschuss<br />
gekennzeichnet: 22<br />
Übersicht 2:<br />
Lebendgeborene und Gestorbene in Deutschland 1950–2021<br />
A: Lebendgeborene<br />
B: Je 1000 Einwohner<br />
C: Gestorbene<br />
D: Je 1000 Einwohner<br />
E: Geburten- bzw. Sterbeüberschuss<br />
Jahr A B C D E<br />
2021 795.517 9,5 1.023.723 12,1 -228.206<br />
2020 773.144 9,3 985.572 11,8 -212.428<br />
2015 737.575 9,0 925.200 11,3 -187.625<br />
2013 682.069 8,5 893.825 11,1 -211.756<br />
2011 662.685 8,3 852.328 10,6 -189.643<br />
2009 665.126 8,1 854.544 10,4 -189.418<br />
2004 705.622 8,5 818.271 9,9 -112.649<br />
2000 766.999 9,3 838.797 10,2 -71.798<br />
1997 812.173 9,9 860.389 10,5 -48.216<br />
21 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. Heterogene Lebenserwartung,<br />
Berlin 2021, 2.<br />
22 Die Zahlen entstammen den Angaben des Statistischen Bundesamtes<br />
(https://www.destatis/de/DE/Themen/Wirtschaft/Konjunkturindikatoren/Lange-Reihen/Bevoelkerung;<br />
abgerufen am 14.05.2023).<br />
28
II<br />
Alt-Sein und -Werden<br />
in biblischer Perspektive<br />
1. Altes Testament<br />
1.1 Demographische Perspektive<br />
Für die Zeiten, in denen die biblischen Bücher entstanden,<br />
liegen keine – im heutigen Sinn – demographisch verwertbaren<br />
Angaben vor. Grundsätzlich gilt aber, dass der Mensch in<br />
„eine Ordnung der Zeit hinein“ geschaffen wurde. Das tritt in<br />
der ersten Schöpfungserzählung (Gen 1,–2,4) deutlich zu Tage:<br />
„Am ersten Tag trennt Gott Licht und Finsternis (Gen 1,3–5),<br />
initiiert so den Wechsel von Tag und Nacht als Grundrhythmus<br />
der Zeit. Am vierten Tag erschafft er die Gestirne, die zur<br />
‚Bestimmung von Festzeiten, von Tagen und Jahren‘ dienen<br />
sollen (Gen 1,14). Am siebten Tag schließlich vollendet Gott<br />
die Schöpfung, indem er ruht.“ 1<br />
Das Geschlechtsregister in Gen 5 gibt zwar dann für die<br />
Reihe von Adam bis Noah konkrete Lebensdaten an. Sie sind<br />
aber offenkundig nicht am heutigen Verständnis linearer<br />
Zeitmessung orientiert.<br />
Demnach wäre Adam 930 Jahre, Set 912 Jahre, Enosch 905 Jahre, Kenan<br />
910 Jahre, Mahalalel 895 Jahre, Jered 962 Jahre, Henoch 365 Jahre,<br />
Metuschelach 969 Jahre sowie Lamech 777 Jahre alt geworden, wobei<br />
1 <strong>Christian</strong> Frevel, Altes Testament, in: Ders./Oda Wischmeyer, Menschsein.<br />
Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Neue Echter Bibel –<br />
Themen 11), Würzburg 2003, 7–60, 54.<br />
69
II Alt-Sein und -Werden in biblischer Perspektive<br />
sie ihre jeweiligen Nachkommen teilweise ebenfalls in sehr hohem<br />
Alter hervorbrachten. Noah zeugte schließlich seine drei Söhne mit<br />
500 Jahren.<br />
Allerdings finden sich anderweitig verschiedentlich plausiblere<br />
Altersangaben. So konstatiert Ps 90,10: „Unser Leben<br />
währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig<br />
Jahre“ – schränkt den dadurch gegebenen Lebensgewinn<br />
aber sogleich ein: „und was daran köstlich scheint, ist doch<br />
nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen<br />
wir davon.“ Zugleich bestand aber nachexilisch – angesichts<br />
wohl hoher Kindersterblichkeit – „in einem neuen<br />
Himmel und einer neuen Erde“ (Jes 65,17) die Hoffnung auf<br />
noch höheres Alter:<br />
„Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder<br />
Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert<br />
Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.“<br />
(Jes 65,20)<br />
Genauere Daten liegen für die 14 Könige des Davidhauses von<br />
Juda vor, die in der Zeit zwischen 926 bis 597 v. Chr. herrschten.<br />
Hans Walter Wolff 2 stellte ihre Lebenszeit zusammen:<br />
Übersicht 7:<br />
Lebensalter der Könige von Juda (926 – 597 v. Chr.)<br />
Rehabeam<br />
Josaphat<br />
Joram<br />
Ahasja<br />
Joas<br />
Amazja<br />
56 Jahre<br />
55 Jahre<br />
38 Jahre<br />
21 Jahre<br />
45 Jahre<br />
38 Jahre<br />
2 Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 3 1977,<br />
177.<br />
70
1 Altes Testament<br />
Asarja<br />
Jotham<br />
Ahas<br />
Hiskia<br />
Manasse<br />
Amon<br />
Josia<br />
Jojakim<br />
66 Jahre<br />
40 Jahre<br />
35 Jahre<br />
56 Jahre<br />
66 Jahre<br />
22 Jahre<br />
38 Jahre<br />
35 Jahre<br />
Daras ergibt sich für diese zweifellos privilegiert aufwachsenden<br />
und lebenden Männer eine durchschnittliche Lebenserwartung<br />
von 44 Jahren.<br />
„Bedenkt man, daß Prinzen im Säuglings- und Kindesalter besonders<br />
gepflegt und Könige im Mannesalter stärker geschützt wurden als die<br />
meisten übrigen Glieder des Volkes, so wird man die mittlere Lebenserwartung<br />
vor allem angesichts der hohen Säuglingssterblichkeit<br />
wesentlich niedriger anzusetzen haben.“ 3<br />
In diese Richtung weist, dass der Priesterdienst der Leviten<br />
mit Vollendung des 50. Lebensjahres endete (Num 4,3.23.30;<br />
8,25 u. ö.). 4 Auf jeden Fall waren durch die hohe Sterblichkeit<br />
von Kindern und jungen Menschen Sterben und Tod nicht in<br />
dem Maß mit hohem Alter verbunden, wie dies <strong>heute</strong> in unserem<br />
Kulturraum weithin der Fall ist.<br />
1.2 Biologische Perspektive<br />
Das Alt-Werden bzw. -Sein wird im Alten Testament ganz realistisch<br />
gesehen – sowohl in negativer als auch positiver Hinsicht.<br />
„Altersbeschwerden (sind) durchaus präsent.“ 5<br />
3 A. a. O., 178.<br />
4 S. Frevel, Altes Testament, 55.<br />
5 Ebd.<br />
71
II Alt-Sein und -Werden in biblischer Perspektive<br />
„Neben einem Abbau des Seh- (Gen 27,1.21; 48,10; 1 Sam 3,2; 4,15; 1 Kön<br />
14,4), Gehör- und Geschmacksvermögens (2 Sam 19,36) werden in körperlicher<br />
Hinsicht Durchblutungsstörungen (1 Kön 1,1–4), Leiden an<br />
Beinen und Füßen (1 Kön 15,23) und Schwerfälligkeit (1 Sam 4,18)<br />
genannt. Zudem hören die Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit der Frau<br />
auf (Gen 18,11–13), wie auch die Potenz des Mannes nachlässt (1 Kön 1,4;<br />
2 Kön 4,14). Im Blick auf die Psyche und die soziale Einbettung wird<br />
von einer nachlassenden Lebenslust (2 Sam 19,36–38), einem Schwinden<br />
der geistigen Kräfte (Sir 3,12 f.), der Angst vor Einsamkeit und<br />
Marginalisierung (Ps 71,9 ff.) sowie von Geschwätzigkeit und Altersneid<br />
(Sir 32,3 f.) gesprochen.“ 6<br />
Als gravierender Einschnitt im Lebenslauf wurde die „nachlassende<br />
Fruchtbarkeit“ erlebt:<br />
„Von der Fähigkeit, Nachkommen in die Welt zu setzen, hängt im<br />
alten Israel die Weitergabe des Namens, Erbes sowie Segens des Mannes,<br />
der Status der Frau und die Altersversorgung für beide Geschlechter<br />
ab. Mit Gen 19,30–38 und 1 Kön 1,1–4 richtet sich der Fokus … zuerst<br />
auf zwei alte Männer, dann mit Gen 18,11–13 auf ein altes Paar, wobei<br />
die Frau im Vordergrund steht, und mit Rut 1,11–13; 4,14–16 auf eine<br />
weitere Frau. Es werden divergente <strong>Altern</strong>sphasen und Lebenslagen<br />
deutlich.“ 7<br />
Zwar begegnet der Zusammenhang von Alter und Krankheit<br />
im Pentateuch und den Geschichtsbüchern nur am Rand:<br />
Vom König Asa wird berichtet, dass er im Alter „an seinen<br />
Füssen krank“ war (1Kön 15,23; so auch 2Chr 16,12), ebenso von<br />
der Erkrankung des alten Jakob (Gen 48,1). 8 Umgekehrt zeigen<br />
Hinweise wie auf die ungebrochene Sehkraft des sterbenden<br />
6 <strong>Christian</strong> Mulia, Kirchliche Altenbildung. Herausforderungen – Perspektiven<br />
– Konsequenzen (PTHe 110), Stuttgart 2011, 33. 44.<br />
7 Antje Mickan, „Sieh doch: Ich bin alt!“ Deutungen biblischer Texte zum<br />
Alter(n) im Kontext geronto-poimenischer Fragestellungen (Rostocker<br />
Theologische Studien 29), Münster 2015, 58 f.<br />
8 S. a. a. O., 74.<br />
72
1 Altes Testament<br />
Mose (Dtn 34,7), dass dies als Ausnahme von den üblichen Altersgebrechen<br />
galt.<br />
Zugleich wird aber mit dem Begriff der „Lebenssättigung“<br />
Alter zumindest bei einigen Personen auch durchaus<br />
positiv konnotiert. So heißt es von Abraham: „Und Abraham<br />
verschied und starb in einem guten Alter, als er alt und lebenssatt<br />
war.“ (Gen 25,8) Dies wird ebenso von Isaak (Gen<br />
35,29), David (1Chr 23,1), Hiob (Hiob 42,17) und Jojada (2Chr<br />
24,15) berichtet. 9 Allerdings sind es nur wenige, und jeweils in<br />
ihrem Leben in besonderer Nähe zu Gott stehende Personen,<br />
eben die genannten, von denen eine solche Lebenssättigung<br />
berichtet wird.<br />
Insgesamt erzählt das Alte Testament also von unterschiedlichen<br />
Formen des <strong>Altern</strong>s, was durchaus den heutigen<br />
biologischen Befunden entspricht (s. 1. Hauptteil 2.).<br />
1.3 Soziale Perspektive<br />
Die herausgehobene soziale Stellung alter Männer („Ältester“)<br />
kommt darin zum Ausdruck, dass sie im Tor Recht sprachen<br />
(Dtn 21,2–6.19 f.; 22,15–18; 25,7–9; Ri 4,2,4,9,11; Jer 26,17) und<br />
dem königlichen Rat angehörten (1Kön 12,6). Den Hintergrund<br />
dafür bietet der weithin angenommene Zusammenhang<br />
von Alter und Weisheit, auf den z. B. Hiob 12,12 anspielt.<br />
10<br />
Zugleich ist es auffällig, dass bei den Profeten das Alt-Werden<br />
bzw. auch alte Menschen nur selten begegnen. In Hos 7,9<br />
9 S. Heinz Rüegger, Alter in christlicher Perspektive, in: Helmut Bachmaier/Bernd<br />
Seeberger (Hg.), Religiosität im Alter, Göttingen 2022, 97–120, 98<br />
Anm. 2.<br />
10 S. Wolff, Anthropologie, 185; s. auch Rüegger, Alter, 99.<br />
73
II Alt-Sein und -Werden in biblischer Perspektive<br />
wird wohl die „Ambivalenz des Alters“ 11 angesprochen – von<br />
Ephraim wird in einer Scheltrede gesagt: „seine Haare sind<br />
schon grau geworden, doch er selber merkt es nicht.“ Ebenfalls<br />
in den Kontext göttlicher Gerichtsrede gehört die Feststellung:<br />
„Der Junge geht los auf den Alten und der Verachtete<br />
auf den Geehrten.“ (Jes 3,5)<br />
In Jahwes Verheißungen für die Zeit nach dem Gericht ist<br />
ebenfalls nur am Rand von Alten die Rede, jetzt aber in positiver<br />
Hinsicht. So heißt es – für die Zeit nach der Rückkehr<br />
Jahwes auf den Zion –: „Es sollen hinfort wieder sitzen auf den<br />
Plätzen Jerusalems alte Männer und Frauen, jeder mit seinem<br />
Stock in der Hand vor hohem Alter“ (Sach 8,4), was interessanterweise<br />
ergänzt wird durch den Nachsatz: „und die Plätze<br />
der Stadt sollen voll sein von Knaben und Mädchen, die dort<br />
spielen“. Zur Fülle des von Jahwe verheißenen Lebens gehören<br />
also gleichermaßen Alte und Kinder. Und in Jes 46,4 verheißt<br />
Jahwe wiederum den Alten: „Auch bis in euer Alter bin<br />
ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich<br />
habe es getan; ich will heben und tragen und erretten.“<br />
Allerdings lassen mehrfache Mahnungen, alte Menschen<br />
zu ehren, ahnen, dass deren soziale Stellung in der Realität<br />
keineswegs durchgehend günstig war. Sie mussten ja, wenn<br />
sie nicht mehr arbeiten konnten, von den Jüngeren versorgt<br />
werden. So fordern gewiss nicht umsonst Gebote: „Vor einem<br />
grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und<br />
sollst dich fürchten vor deinem Gott“ (Lev 19,32). Auch wäre<br />
sonst im Dekalog (Ex 20,12; Dtn 5,16) die Mahnung: „Vater<br />
und Mutter zu ehren“ nicht notwendig gewesen. Das mit<br />
„ehren“ übersetzte hebräische Wort („kbd“) heißt wörtlich<br />
übersetzt: „schwer machen“ und bezieht sich wohl – auch –<br />
11 Mickan, „Sieh doch“, 147.<br />
74
1 Altes Testament<br />
auf ausreichend „schwere“ Essensportionen, die den Eltern<br />
zu gewähren sind.<br />
Doch ist die Ehrung der Alten kein allgemeines Prinzip.<br />
Denn: „In wichtigen Partien der biblischen Überlieferung aus<br />
verschiedenen Zeiten trifft Jahwes Wahl einen Jungen, während<br />
Ältere hintangestellt oder gar verworfen werden, so Joseph<br />
gegenüber seinen älteren Brüdern, Samuel gegenüber<br />
dem alten Eli, der junge David gegenüber Saul.“ 12<br />
1.4 Weisheitliche Perspektive<br />
Das Alt-Sein und -Werden wird im Alten Testament verschiedentlich<br />
in der Weisheitsliteratur bedacht, mit durchaus unterschiedlichen<br />
Akzentuierungen:<br />
„Spr 26,31; 17,6 und 20,29 befassen sích mit der besonderen Auszeichnung<br />
des Alters, welche im grauen Haar oder in den Nachkommen<br />
ihren bildhaften Ausdruck findet. Es wird in Spr 22,6 auf den Zusammenhang<br />
von Erziehung und Lebenslauf hingewiesen und in 23,22<br />
zur Achtung der Eltern gemahnt. In den Psalmen finden sich aufs<br />
Ganze gesehen wenige Aussagen zum Alter. Ps 92,13-16 stellt in bildreicher<br />
Sprache den Zusammenhang von Gerechtigkeit und jugendlicher<br />
Frische bis ins hohe Alter heraus. Ps 90 verbindet die Klage über<br />
die Vergänglichkeit mit der Bitte um Weisheit. Nur in Ps 37 sowie<br />
bedingt auch 72 stellt ein alter Mensch ausdrücklich das sprechende<br />
Ich dar und in Ps 119,100 und 107,22 findet eine Relativierung der<br />
Altersweisheit gegenüber einer Offenbarungsweisheit statt.“ 13<br />
Insgesamt wird dabei „ein positives Altersbild“ gelehrt, „welches<br />
die besondere Ehrwürdigkeit der Älteren in der Gemeinschaft<br />
als hohen Status betont. Dass ein Mensch ein hohes<br />
12 Wolff, Anthropologie, 186.<br />
13 Mickan, „Sieh doch“, 107.<br />
75
<strong>Christian</strong> <strong>Grethlein</strong>, Dr. theol., Jahrgang<br />
1954, lehrte in Berlin und Halle und war<br />
von 1997 bis 2020 Professor für Praktische<br />
Theologie an der Evangelisch-Theologischen<br />
Fakultät in Münster. Von 2006 bis<br />
2009 war er Vorsitzender des Evangelisch-<br />
Theologischen Fakultätentags. Von 2010 bis<br />
2012 erhielt er die Opus-magnum-Förderung<br />
der VolkswagenStiftung. Bis 2017 hat<br />
er seit den 1990er Jahren die »Theologische<br />
Literaturzeitung« als Fachherausgeber im<br />
wiedervereinigten Deutschland entscheidend<br />
mitgeprägt.<br />
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ISBN 978-3-374-07571-3 / eISBN (PDF) 978-3-374-07572-0<br />
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