Bachelor- & Master-Abschlüsse Semester - itchy feet
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56 – Jobs & Praktika<br />
das Tanzen auf eine natürliche Art und<br />
Weise, als ob es eine Selbstverständlichkeit<br />
wäre, wie die Fähigkeit zu sprechen oder<br />
zu laufen. Neben dem Tanzen habe ich<br />
während meines Aufenthalts außerdem<br />
sechs Monate lang dreimal die Woche<br />
abends einen Capoeirakurs (brasilianische<br />
Kampfkunst) besucht. In Deutschland hätte<br />
ich Probleme gehabt, den Kurs zu finanzieren.<br />
In Lima kostete er nur 15,- € pro Monat.<br />
Überhaupt ist das Leben in Peru sehr günstig.<br />
Allerdings kann man dort nicht damit rechnen,<br />
ein hohes Taschengeld gezahlt zu bekommen.<br />
In meinem Fall mussten Kost und Logis aus-<br />
reichen, zusammen mit etwas Essensgeld für<br />
die Wochenenden und die Ferien. Um mir<br />
etwas dazuzuverdienen, unterrichtete ich<br />
eine Zeit lang in einer Art Volkshochschule<br />
im Zentrum Limas Englisch.<br />
Anfang Januar rückten die lang erwarte-<br />
ten zweimonatigen Sommerferien näher. Während<br />
der Ferien reiste ich als Backpacker durch<br />
den Norden Perus, Ecuador, Kolumbien und<br />
Venezuela. Höhepunkt der Reise war die<br />
Teilnahme am Weltsozialforum in Caracas,<br />
der wichtigsten Gegenveranstaltung zum<br />
Weltwirtschaftsgipfel. Schon damals zeichnete<br />
sich die Spaltung Venezuelas in Anhänger und<br />
Gegner des charismatischen Präsidenten Chavez<br />
ab. Ein Großteil der verarmten Bevölkerung<br />
Venezuelas setzt große Hoffnungen darauf,<br />
dass unter ihm endlich die gravierenden so-<br />
zialen Ungleichheiten beseitigt werden.<br />
Auch Peru hat mit sozialen Problemen zu<br />
kämpfen. Die wohl größte Herausforderung<br />
sind das Stadt-Land-Gefälle und die damit<br />
verbundene Verelendung der Landbevölke-<br />
rung. Die bekam ich vor allem im Laufe einer<br />
Reise in das Hochland um Huaraz zu spüren.<br />
Eingeladen von einem Freund, besuchten<br />
wir dessen Eltern in einem kleinen Berg-<br />
dorf namens Piscobamba. Die dort lebenden<br />
Campesionos sind sehr arm und ihr Leben<br />
unterscheidet sich kaum von dem ihrer Vorfah-<br />
ren, der Inkas. Im Haushalt unserer Gastfamilie<br />
gab es weder Toiletten noch fließendes Wasser<br />
und im Garten traf man auf Hühner, Schafe,<br />
Ziegen und Meerschweinchen. Während der<br />
Osterfeier wurde ein Großteil der Tiere ge-<br />
schlachtet. Für unsere Gastfamilie war das<br />
ein ganz besonderes Ereignis, denn im All-<br />
tag besteht deren karges Essen nur aus<br />
Mais, Weizensuppe und gelegentlich etwas<br />
Obst. Trotz des einfachen Lebens genoss ich<br />
die Zeit und war froh darüber, dem hekti-<br />
schen Alltag Limas für eine Weile entfliehen<br />
zu können. Zurück im Colegio gab man mir<br />
die Möglichkeit, die letzten zwei Monate in<br />
einer anderen Klasse zu verbringen.<br />
Dort hatte ich nun nicht mehr Kinder im<br />
Grundschulalter, sondern sieben bereits<br />
erwachsene Behinderte zu betreuen. Bald<br />
war der Juni gekommen und das Ende mei-<br />
nes Aufenthalts rückte unaufhaltsam<br />
näher. Im Colegio verbrachten wir die Tage<br />
vor allem damit, mit den Schülern das Thea-<br />
terstück „Die Bremer Stadtmusikanten“<br />
einzuüben. Die Proben nahmen viel Zeit in<br />
Anspruch. Das Ergebnis war eine Auffüh-<br />
rung, von der alle begeistert waren, allen<br />
voran die Eltern. Ich selbst erlebte diesen<br />
letzten Höhepunkt mit gemischten Gefühlen,<br />
denn der Tag der Aufführung war gleichzei-<br />
tig mein letzter Schultag und mir wurde be-<br />
wusst, dass ich „meine“ Kinder an jenem<br />
Abend zum letzten Mal sehen würde. Ehe<br />
ich mich versah, saß ich auch schon im<br />
Flugzeug und blickte wehmütig auf die Stadt<br />
zurück, die mir zur zweiten Heimat gewor-<br />
den war. Bis heute habe ich das Gefühl, ein<br />
Teil meines Herzens befinde sich noch in<br />
Lima. Die Fülle an Erfahrungen hat mich be-<br />
reichert und meinen Horizont erweitert,<br />
gleichzeitig aber vor das Problem gestellt,<br />
meinen Platz und mein Leben in Deutsch-<br />
land wieder neu definieren zu müssen.<br />
Manchmal überkommt mich das Fernweh.<br />
Dann höre ich tagelang Salsa, betrachte die<br />
verstaubten Fotos und verliere mich in Erin-<br />
nerungen an eine wunderschöne Zeit.<br />
Jonas Nonnenmann ist 20 Jahre alt und seit<br />
einigen Monaten freier Mitarbeiter bei einer<br />
Regionalzeitung im Schwarzwald. Er hat ge-<br />
rade sein Philosophie- und Englischstudium<br />
aufgenommen.