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Der Zwölfte Schritt

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Zwölf<br />

<strong>Schritt</strong>e und<br />

ZWÖLF<br />

TRADITIONEN


Titel der amerikanischen Originalausgabe:<br />

"Twelve Steps and Twelve Traditions':"<br />

Copyright © 1952, 1953 by<br />

The A.A. Grapevine, Inc. and Alcoholics Anonymous Publishing<br />

(now known as Alcoholics Anonymous World Services, Inc.)<br />

New York, N Y, USA<br />

First printing April 1953<br />

Dies ist von der<br />

Amerikanischen General Service Conference der AA<br />

und der deutschen GDK (Gemeinsame Dienstkonferenz)<br />

anerkannte Literatur<br />

Übersetzt aus dem Englischen und hergestellt mit der Genehmigung<br />

von Alcoholics Anonymous World Services,Inc.,New York, NY, USA (A.A.WS.)<br />

A.A.WS. ist auch Inhaber der englischen Version dieses Werkes.<br />

Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form in jeglicher Sprache<br />

ohne schriftliche Genehmigung von A.A.WS. vervielfältigt<br />

werden.<br />

Herausgeber und © 2004 :<br />

Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e.V.<br />

Postfach 46 02 27, D-8091O München,<br />

www.anonyme-alkoholiker.de<br />

Übersetzung und Bearbeitung durch<br />

deutschsprachige Anonyme Alkoholiker<br />

Printed in Germany by<br />

Schnitzer Druck, D-87616 Marktoberdorf


Vorwort<br />

DIE ZWÖLF SCHRITTE<br />

Erster <strong>Schritt</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind -und unser Leben<br />

nicht mehr meistern konnten.<br />

Wer mag schon seine völlige Niederlage eingestehen? Das Eingeständnis der<br />

Machtlosigkeit ist der erste <strong>Schritt</strong> zur Befreiung. Verhältnis von Demut zu<br />

Nüchternheit. Geistige Besessenheit verbunden mit körperlicher Allergie. Warum<br />

muss jeder Anonyme Alkoholiker seinen Tiefpunkt erreichen?<br />

Zweiter <strong>Schritt</strong><br />

Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere<br />

geistige Gesundheit wiedergeben kann.<br />

Woran können wir glauben? AA verlangt keinen Glauben. Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e sind nur<br />

Empfehlungen. Die Wichtigkeit, geistig offen zu sein. Vielzahl der Wege zum<br />

Glauben. AA als Ersatz für eine Höhere Macht. Die Zwangslage der Enttäuschten .<br />

Gleichgültigkeit und Voreingenommenheit als Hindernisse. Verschütteter Glaube in<br />

AA wiedergefunden. Probleme durch geistigen Hochmut und Selbstzufriedenheit.<br />

Negatives und positives Denken. Selbstgerechtigkeit. Trotz ist eine hervorstechende<br />

Eigenschaft der Alkoholiker. <strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong> ist der Sammelpunkt, der zur<br />

geistigen Gesundheit führt. Die richtige Beziehung zu Gott.<br />

Dritter <strong>Schritt</strong><br />

Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes -wie<br />

wir Ihn verstanden anzuvertrauen.<br />

<strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong> ist dem Öffnen einer verschlossenen Tür vergleichbar. Wie können<br />

wir Gott in unser Leben eintreten lassen? Bereitwilligkeit ist der Schlüssel.<br />

Abhängigkeit als Hilfe zur Selbständigkeit. Gefahren der Selbstzufriedenheit.<br />

Übergabe unseres Willens an die Höhere Macht. Missbrauch der Willenskraft.<br />

Nachhaltiges, persönliches Bemühen, sich dem Willen Gottes zu fügen.<br />

Vierter <strong>Schritt</strong><br />

Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.


Wie Instinkte über ihre normale Funktion hinauswuchern können. <strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong><br />

ist das Bemühen, unsere Verpflichtungen zu erkennen. Das Grundproblem extremer<br />

Triebkräfte. Missverstandene innere Inventur kann zu Schuldgefühlen und<br />

Größenwahn führen oder dazu, bei anderen die Schuld zu suchen. Neben den<br />

Minuspunkten sollten auch die Pluspunkte berücksichtigt werden. Ausreden sind<br />

gefährlich. Bereitwilligkeit zur Inventur bringt Klarheit und neues Vertrauen. <strong>Der</strong><br />

Vierte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang einer lebenslangen Gewohnheit. Allgemeine Symptome<br />

gefühlsmäßiger Unsicherheit sind Sorge, Ärger, Selbstmitleid und<br />

Niedergeschlagenheit. Die Inventur bringt klare Einsicht in unsere Beziehungen. Die<br />

Bedeutung der Gründlichkeit.<br />

Fünfter <strong>Schritt</strong><br />

Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt<br />

unsere Fehler zu.<br />

Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e lassen das Ego kleiner werden. <strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong> ist schwierig,<br />

aber für die Nüchternheit und den Seelenfrieden notwendig. Die Beichte ist eine<br />

uralte Disziplin. Ohne das furchtlose Eingeständnis von Fehlern konnten nur wenige<br />

nüchtern bleiben. Welchen Nutzen ziehen wir aus dem Fünften <strong>Schritt</strong>? Beginn einer<br />

wahren Verbundenheit mit Mensch und Gott. Wir verlieren das Gefühl der Isolation,<br />

erhalten Vergebung und können selbst verzeihen, lernen Demut, erreichen<br />

Ehrlichkeit und eine realistische Einschätzung unserer selbst. Absolute Ehrlichkeit ist<br />

notwendig. Die Gefahr, Probleme mit dem Verstand zu lösen. Wie man die Person<br />

seines Vertrauens wählt. Ergebnis ist innere Ruhe und sich Gott bewusst sein. Das<br />

Eins-sein mit Gott und Mensch bereitet uns auf die folgenden <strong>Schritt</strong>e vor.<br />

Sechster <strong>Schritt</strong><br />

Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.<br />

<strong>Der</strong> Sechste <strong>Schritt</strong> ist für das spirituelle Wachstum notwendig. <strong>Der</strong> Anfang einer<br />

lebenslangen Aufgabe. Erkenntnis, dass zwischen dem Streben nach einem<br />

spirituellen Ziel und Vollkommenheit ein Unterschied besteht. Warum wir es immer<br />

wieder versuchen müssen. Bereitsein ist von größter Wichtigkeit. Die Notwendigkeit,<br />

aktiv zu werden. Aufschieben ist gefährlich. Auflehnung kann tödlich sein. <strong>Der</strong><br />

Punkt, an dem wir selbst gesteckte Ziele aufgeben und uns auf das zubewegen, was<br />

Gott mit uns vorhat.<br />

Siebter <strong>Schritt</strong><br />

Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.


Was ist Demut? Was kann sie uns bedeuten? <strong>Der</strong> Weg zur wahren Freiheit des<br />

menschlichen Geistes. Eine zum Überleben notwendige Hilfe. Wert des Ego-<br />

Abbaus. Versagen und Elend durch Demut verwandelt. Stärke, die aus Schwäche<br />

erwächst. Schmerz ist der Eintrittspreis in ein neues Leben. Egozentrische Angst ist<br />

der Motor für Fehlhaltungen. <strong>Der</strong> Siebte <strong>Schritt</strong> ist eine Änderung der<br />

Geisteshaltung, die uns aus unserem Selbst heraushebt und uns Gott näher bringt.<br />

Achter <strong>Schritt</strong><br />

Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und<br />

wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.<br />

Dieser <strong>Schritt</strong> wie auch die beiden folgenden beschäftigen sich mit persönlichen<br />

Beziehungen. Lernen, mit anderen zu leben, ist ein faszinierendes Abenteuer.<br />

Hindernisse: das Zögern, anderen zu vergeben; Fehler anderen gegenüber nicht<br />

zugeben zu wollen; zweckdienliche Vergesslichkeit. Notwendigkeit, die eigene<br />

Vergangenheit zu durchforschen. Tiefere Einsicht erwächst aus Gründlichkeit. Auf<br />

welche Art wir andere geschädigt haben. Vermeidung extremer Beurteilung.<br />

Objektive Haltung. <strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong> leitet das Ende unserer Isolation ein.<br />

Neunter <strong>Schritt</strong><br />

Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut wo immer es möglich war -, es<br />

sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.<br />

Innere Ruhe ist die erste Voraussetzung für eine richtige Beurteilung. <strong>Der</strong> rechte<br />

Zeitpunkt ist für die Wiedergutmachung wichtig. Was ist Mut? Mit Besonnenheit ein<br />

kalkulierbares Risiko eingehen. Wiedergutmachung beginnt, wenn wir uns den AA<br />

anschließen. Seelenfrieden kann nicht auf Kosten anderer erkauft werden.<br />

Notwendigkeit sorgfältigen Abwägens. Bereitschaft, die Folgen unserer<br />

Vergangenheit zu tragen und Verantwortung für das Wohl anderer zu übernehmen<br />

ist das Wesen des Neunten <strong>Schritt</strong>es.<br />

Zehnter <strong>Schritt</strong><br />

Wir setzen die Inventur bei uns fort und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort<br />

zu.<br />

Können wir unter allen Umständen nüchtern und gefühlsmäßig im Gleichgewicht<br />

bleiben? Selbsterforschung wird zur ständigen Gewohnheit. Zugeben, hinnehmen<br />

und geduldig Fehler korrigieren. "Kater" im Gefühlsbereich. Wenn wir mit der<br />

Vergangenheit im Reinen sind, können wir uns den Herausforderungen der<br />

Gegenwart stellen. Mannigfaltigkeit der Inventur. Ärger, Groll, Eifersucht, Neid,<br />

Selbstmitleid, verletzter Stolz -alle diese Gefühle führten zur Flasche.


Selbstbeherrschung ist das vorrangige Ziel. Versicherung gegen Großmannssucht.<br />

Neben den Soll-auch unsere Habenposten berücksichtigen. Prüfung der Motive.<br />

EIfter <strong>Schritt</strong><br />

Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir<br />

Ihn verstanden - zu vertiefen. Wir baten Ihn nur; uns Seinen Willen erkennbar<br />

werden zulassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.<br />

Meditation und Gebet sind der Zugang zur Höheren Macht. Verbindung zwischen<br />

Selbsterforschung und Meditation und Gebet. Ein unerschütterliches Fundament für<br />

das Leben. Wie sollen wir meditieren? Meditation hat keine Grenzen. Ein<br />

persönliches Abenteuer. Erstes Resultat ist die Ausgeglichenheit der Gefühle. Wie<br />

steht es um das Gebet? Täglich es Bitten, den Willen Gottes zu erkennen und um<br />

die Gnade, ihn auszuführen. Die Wirksamkeit des Gebets ist unbestritten. Lohn der<br />

Meditation und des Gebets.<br />

<strong>Zwölfte</strong>r <strong>Schritt</strong><br />

Nachdem wir durch diese <strong>Schritt</strong>e ein spirituelles Erwachen erlebt haben,<br />

versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches<br />

Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.<br />

Lebensfreude ist das Leitmotiv des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es, Tätig sein die Losung.<br />

Geben, ohne nach Lohn zu fragen. Liebe, die keinen Preis hat. Was ist spirituelles<br />

Erwachen? Ein neues Lebensgefühl wird als Geschenk empfangen. Die<br />

Bereitschaft, diese Gabe zu empfangen, liegt in der Anwendung der Zwölf <strong>Schritt</strong>e.<br />

Die großartige Realität. Belohnung für die anderen Alkoholikern gebrachte Hilfe.<br />

Verschiedene Arten, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu sein. Probleme bei der Arbeit im<br />

<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>. Wie steht es mit der Anwendung dieser Grundsätze in allen<br />

unseren Lebensbereichen? Eintönigkeit, Schmerz und Elend in Nutzen verwandelt<br />

durch die Anwendung der <strong>Schritt</strong>e. Schwierigkeiten ihrer Anwendung. "Two-<br />

Stepper". Umschalten auf alle Zwölf <strong>Schritt</strong>e und Vorleben des Glaubens.<br />

Spirituelles Wachstum ist die Antwort auf unsere Probleme und sollte an erster<br />

Stelle stehen. Beherrschende Kräfte und übermäßige Abhängigkeit. Unser Leben<br />

auf die Grundlage des Gebens und Nehmens stellen. Gottvertrauen ist für die<br />

Genesung des Alkoholikers notwendig. Anwendung dieser Grundsätze in allen<br />

unseren Angelegenheiten. Familiäre Beziehungen. Die Einstellung zu materiellen<br />

Dingen ändert sich. Ebenso die Gefühle über die eigene Bedeutung. Triebe auf den<br />

wirklichen Sinn zurückführen, Verstehen ist der Schlüssel zur richtigen Einstellung,<br />

die richtige Handlungsweise der Schlüssel zu einem erfüllten Leben.


DIE ZWÖLF TRADITIONEN<br />

Erste Tradition<br />

Unser gemeinsames Wohlergehen sollte an erster Stelle stehen; die Genesung des<br />

Einzelnen beruht auf der Einigkeit der Anonymen Alkoholiker.<br />

Ohne Einigkeit stirbt die Gemeinschaft der AA. Individuelle Freiheit, jedoch große<br />

Einigkeit. Lösung des Widerspruchs: Das Leben eines jeden AA ist abhängig von<br />

Gehorsam gegenüber spirituellen Prinzipien. Die Gruppe muss überleben, oder der<br />

Einzelne wird untergehen. In erster Linie geht es um das gemeinsame Wohl. Wie<br />

das Leben und die Zusammenarbeit in Gruppen am besten funktioniert.<br />

Zweite Tradition<br />

Für den Sinn und Zweck unserer Gruppe gibt es nur eine höchste Autorität -einen<br />

liebenden Gott, wie Er sich in dem Gewissen unserer Gruppe zu erkennen gibt.<br />

Unsere Vertrauensleute sind nur betraute Diener; sie herrschen nicht.<br />

Woher bekommt die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker ihre Weisungen?<br />

Einzige Autorität der AA ist der liebende Gott, der sich im Gruppengewissen zu<br />

erkennen gibt. Gründung einer Gruppe. Wachstumsschmerzen. Regelmäßiger<br />

Wechsel in den dienenden Ämtern. Diese Leute herrschen nicht, sie dienen. Haben<br />

die AA eine richtige Führung? "Oldtimer" und "blutende Diakone". Das<br />

Gruppengewissen spricht.<br />

Dritte Tradition<br />

Die einzige Voraussetzung für die AA-Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem<br />

Trinken aufzuhören.<br />

Intoleranz in frühen Tagen basierte auf Angst. Einem Alkoholiker die Chance in der<br />

Gruppe zu verwehren, kam manchmal einem Todesurteil gleich. Vorschriften für die<br />

Zugehörigkeit wurden aufgehoben. Zwei Erfahrungsbeispiele. Zugehörig zu den AA<br />

ist, wer dies von sich sagt.<br />

Vierte Tradition<br />

Jede Gruppe sollte selbstständig sein, außer in Dingen, die andere Gruppen oder<br />

die Gemeinschaft der AA als Ganzes angehen.<br />

Jede Gruppe regelt ihre Angelegenheiten nach eigenem Ermessen, es sei denn, die<br />

Gemeinschaft als Ganzes wird da durch betroffen. Ist solche Freiheit gefährlich? Die<br />

Gruppe wie auch der Einzelne muss letzten Endes mit den Prinzipien konform<br />

gehen, die das Überleben gewährleisten. Zwei Sturmwarnungen: eine Gruppe sollte


nichts tun, was den AA schaden könnte, noch sollte sie sich mit Zielen außerhalb<br />

der Gemeinschaft verbinden. Beispiel: das "AA-Zentrum" , das nicht funktionierte.<br />

Fünfte Tradition<br />

Die Hauptaufgabe jeder Gruppe ist, unsere AA-Botschaft zu Alkoholikern zu bringen,<br />

die noch leiden.<br />

Besser ist es, eine Sache gut als viele Dinge schlecht zu tun. Das Leben unserer<br />

Gesellschaft hängt von diesem Grundsatz ab. Die Fähigkeit eines jeden AA, sich mit<br />

einem Neuling zu identifizieren und ihm zur Genesung zu verhelfen, ist eine Gabe<br />

Gottes. Diese Gabe an andere weiterzureichen, ist unser Ziel. Nüchternheit kann<br />

nicht gewahrt bleiben, wenn sie nicht weiterverschenkt wird.<br />

Sechste Tradition<br />

Eine AA-Gruppe sollte niemals irgendein außenstehendes Unternehmen<br />

unterstützen, finanzieren oder mit dem AA-Namen decken, damit uns nicht Geld-,<br />

Besitz- und Prestigeprobleme von unserem eigentlichen Zweck ablenken.<br />

Die Erfahrung hat gelehrt, dass wir kein verwandtes Unternehmen -und sei es noch<br />

so gut - unterstützen dürfen. Wir konnten nicht allen Menschen alles sein. Wir<br />

merkten, dass wir den Namen AA für keine außerhalb unserer Gemeinschaft<br />

stattfindenden Aktivitäten herleihen konnten.<br />

Siebte Tradition<br />

Jede AA-Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen kommende<br />

Unterstützungen ablehnen.<br />

Keine AA-Tradition hatte derartige Geburtswehen wie diese. Kollektive Armut war<br />

anfangs Notwendigkeit. Die Angst, ausgenutzt zu werden. Erfordernis, das Geistige<br />

vom Materiellen zu trennen. Entscheidung, sich lediglich von freiwilligen Spenden<br />

der AA-Zugehörigen zu erhalten, Verantwortung für den Unterhalt des Zentralbüros<br />

wurde den AA-Zugehörigen direkt übertragen. Dessen Politik sind die reinen<br />

Betriebskosten plus einer Sicherheitsreserve.<br />

Achte Tradition<br />

Die Tätigkeit bei den Anonymen Alkoholikern sollte immer ehrenamtlich bleiben,<br />

jedoch dürfen unsere zentralen Dienststellen Angestellte beschäftigen.<br />

Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> hat nichts mit zu Geld tun. Scharfe Trennung zwischen<br />

Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> und bezahlten Dienstleistungen. Ohne bezahlte Mitarbeiter<br />

könnten die Dienste der AA-Gemeinschaft nicht funktionieren. Hauptberuflich


Angestellte sind keine "Berufs-AA". Beziehungen der AA zu Wirtschaft,<br />

Bildungswesen usw. Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>ll <strong>Schritt</strong> wird niemals bezahlt, wer jedoch für<br />

uns arbeitet, muss seinen Lohn erhalten.<br />

Neunte Tradition<br />

Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden. Jedoch dürfen wir Dienst-<br />

Ausschüsse und -Komitees bilden, die denjenigen verantwortlich sind, denen sie<br />

dienen.<br />

Besondere Dienstausschüsse und Komitees. Die Gemeinsame Dienstkonferenz. der<br />

Gemeinsame Dienstausschuss und Gruppen-Komitees können AA-Mitgliedern oder<br />

Gruppen keine Weisungen erteilen. AA lassen sich weder einzeln noch kollektiv ein<br />

Diktat aufzwingen. Diese Zwanglosigkeit funktioniert; denn wenn ein AA die<br />

empfohlenen <strong>Schritt</strong>e zur Genesung nicht befolgt, unterschreibt er sein eigenes<br />

Todesurteil. Gleiches gilt für die Gruppe. Leiden und Liebe sind die Lehrmeister bei<br />

den AA. Unterschied zwischen autoritärer Haltung und dem Geist des Dienstes,<br />

Sinn und Zweck unserer Dienste ist, jedem, der danach strebt, die Nüchternheit<br />

nahe zu bringen.<br />

Zehnte Tradition<br />

Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu Fragenaußerhalb ihrer<br />

Gemeinschaft; deshalbsollte auch der AA-Name niemals in öffentliche Streitfragen<br />

verwickelt werden.<br />

AA nehmen nicht Stellung zu öffentlichen Streitfragen. Mangelnder Kampfgeist ist<br />

jedoch keine besondere Tugend. Überleben und Verbreiten sind unsere Hauptziele.<br />

Aus dem Beispiel der "Washington-Gesellschaft" gezogene Lehren.<br />

Elfte Tradition<br />

Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr auf Anziehung als auf<br />

Werbung. Deshalb sollten wir auch. gegenüber Presse, Rundfunk. Film und<br />

Fernsehen stets unsere persönliche Anonymität wahren.<br />

Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig für die AA. Gute Aufklärung rettet Leben. Wir<br />

wünschen Veröffentlichungen über die AA-Prinzipien, aber nicht über die AA-<br />

Mitglieder. Die Presse war kooperativ. Persönliche Anonymität ist der Eckpfeiler<br />

unserer Öffentlichkeitsarbeit. Die Elfte Tradition soll ständig daran erinnern, dass<br />

persönlicher Ehrgeiz bei den AA keinen Raum hat. Jeder einzelne AA wird zum<br />

tätigen Hüter unserer Gemeinschaft.


<strong>Zwölfte</strong> Tradition<br />

Anonymität ist die spirituelle Grundlage aller unserer Traditionen, die uns immer<br />

daran erinnern soll, Prinzipien über Personen zu stellen.<br />

Opfer ist die spirituelle Substanz der Anonymität. Das Wesentliche aller zwölf<br />

Traditionen ist die Unterordnung persönlicher Interessen unter das gemeinsame<br />

Wohl. Warum die AA nicht eine geheime Gesellschaft bleiben konnten. Prinzipien<br />

stehen über Personen. Hundertprozentige Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit.<br />

Anonymität ist wahre Demut.<br />

Zwölf Traditionen (Langfassung)


Vorwort<br />

Die Anonymen Alkoholiker sind eine weltweite Gemeinschaft von<br />

ca. 2,2 Millionen Alkoholikern (Stand 2002), Männern und Frauen,<br />

die sich zusammengefunden haben, um ihre gemeinsamen<br />

Schwierigkeiten zu lösen und anderen Alkoholikern zu helfen, von<br />

dieser seit Jahrhunderten herrschenden, fürchterlichen Krankheit,<br />

dem Alkoholismus, zu genesen.<br />

Dieses Buch behandelt die "Zwölf <strong>Schritt</strong>e und ZwölfTraditionen"<br />

der Anonymen Alkoholiker. Es ist eine eingehende Darstellung der<br />

Grundsätze, durch die Anonyme Alkoholiker genesen und nach<br />

denen ihre Gemeinschaft wirkt.<br />

Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA sind Grundsätze spiritueller Art. Werden<br />

sie im täglichen Leben verwirklicht, nehmen sie den Zwang zum<br />

Trinken und helfen dem Kranken, ein zufriedener und nützlicher<br />

Mensch zu werden.<br />

Die Zwölf Traditionen der AA gelten nur für das Leben innerhalb der<br />

Gemeinschaft. Sie beschreiben Mittel und Wege zur<br />

Aufrechterhaltung ihrer Einigkeit und ihrer Beziehungen zur Umwelt.<br />

Sie regeln Leben und Wachstum der Gemeinschaft.<br />

Obwohl die folgenden Betrachtungen ursprünglich für Anonyme<br />

Alkoholiker geschrieben wurden, waren außenstehende Freunde<br />

der Gemeinschaft der Meinung, diese Gedanken könnten auch<br />

außerhalb der AA Interesse wecken und von Nutzen sein. Viele<br />

Nichtalkoholiker berichten, dass durch die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA mit<br />

anderen Lebensproblemen fertig geworden sind. Sie glauben, dass<br />

die Zwölf <strong>Schritt</strong>e mehr bewirken können als Nüchternheit für<br />

Problemtrinker. Sie sehen darin für viele Menschen, ob Alkoholiker<br />

oder nicht, einen Weg zu einem zufriedenen und erfolgreichen<br />

Leben.<br />

Auch an den Zwölf Traditionen der AA besteht wachsendes<br />

Interesse. Leute, die sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen<br />

befassen, wundern sich, wie und warum die Gemeinschaft der<br />

Anonymen Alkoholiker funktioniert.


Wie kommt es, fragen sie, dass in dieser Gemeinschaft niemand<br />

persönliche Autorität über einen anderen besitzt und dass man<br />

nirgends eine Art zentraler Leitung aufdecken kann?<br />

Wie kann ein Dutzend traditioneller Grundsätze ohne Gesetzeskraft<br />

die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker in Einigkeit und<br />

Wirksamkeit zusammenhalten?<br />

Solchen Fragestellern wird der zweite Teil dieses Buches, der<br />

eigentlich nur für AA-Mitglieder bestimmt ist, erstmalig einen<br />

Einblick in das interne Leben der Gemeinschaft geben.<br />

Die Gemeinschaft der AA entstand im Jahre 1935 in Akron, Ohio,<br />

aus einer Begegnung zwischen einem bekannten Chirurgen und ein<br />

m New Yorker Börsenmakler, Beide litten schwer unter der<br />

Krankheit Alkoholismus. Sie waren vom Schicksal dazu<br />

ausersehen, die Gründer der Gemeinschaft der AA zu werden.<br />

Die wichtigsten Grundsätze der AA, wie sie heute bekannt sind,<br />

wurden aus den Bereichen der Religion und Medizin übernommen.<br />

Einige Prinzipien jedoch, von denen letztlich der Erfolg abhing,<br />

entstanden, indem man auf das Verhalten und die Bedürfnisse der<br />

AA-Gemeinschaft selbst achtete und sie auswertete.<br />

Nach drei Jahren Versuch und Irrtum bei der Auswahl der<br />

geeigneten Grundsätze für den Aufbau der Gemeinschaft und nach<br />

zahlreichen Fehlschlägen bei dem Bemühen, Alkoholikern zur<br />

Genesung zu verhelfen, gab es schließlich drei erfolgreiche<br />

Gruppen: die erste in Akron, die zweite in New York und die dritte in<br />

Cleveland. Dennoch hatten diese drei Gruppen nicht einmal vierzig<br />

trockene Alkoholiker aufzuweisen.<br />

Obwohl die Gemeinschaft noch in ihren Kinderschuhen steckte,<br />

entschloss man sich, die Erfahrungen in einem Buch<br />

zusammenzufassen. Dieses Buch wurde schließlich im April 1939<br />

veröffentlicht. Damals zählte die Gemeinschaft etwa 100 nüchterne<br />

Alkoholiker. <strong>Der</strong> Buchtitel war "Alcoholics Anonymous" (Anonyme<br />

Alkoholiker) -und daher hat die Gemeinschaft ihren Namen.


In dem Buch wurde der Alkoholismus aus der Sicht des Alkoholikers<br />

beschrieben.' Das spirituelle Gedankengut der Gemeinschaft wurde<br />

zum ersten Mal in den Zwölf <strong>Schritt</strong>en zusammengefasst und es<br />

wurde klar dargestellt, wie diese <strong>Schritt</strong>e in der ausweglosen Lage<br />

des Alkoholikers anzuwenden sind.<br />

<strong>Der</strong> zweite Teil des Buches enthielt dreißig Lebensgeschichten oder<br />

Berichte von Alkoholikern, die über ihre Erfahrungen mit dem<br />

Alkohol und ihre Genesung berichteten. Damit konnte sich der<br />

Leser, der ein Problem mit dem Alkohol hatte identifizieren und er<br />

bekam den Beweis, dass das unmöglich Scheinende nun möglich<br />

geworden war. Das .Anonyme Alkoholiker" wurde zur Grundlage<br />

der Gemeinschaft und ist es noch immer. Die vorliegende Schrift will<br />

nur das Verständnis für die Zwölf <strong>Schritt</strong>e, wie sie in dem genannten<br />

Buch zuerst beschrieben wurden, erweitern und vertiefen.<br />

Mit der Veröffentlichung des Buches "Anonyme Alkoholiker" im<br />

Jahre 1939 endete die Pionierzeit. Es setzte eine ungeheure<br />

Kettenreaktion ein, als die nüchtern gewordenen Alkoholiker<br />

begannen, ihre Botschaft an andere Alkoholiker weiterzugeben.<br />

Zehntausende von Alkoholikern strömten in den folgenden Jahren<br />

zu den AA, zumeist als Folge von immer wieder erscheinenden<br />

guten Berichten, die gern von Zeitschriften und Zeitungen in der<br />

ganzen Welt verbreitet wurden. Seelsorger und Ärzte scharten sich<br />

um die neue Bewegung und gaben ihr uneingeschränkt Hilfe und<br />

Unterstützung.<br />

Diese überraschende Ausbreitung brachte sehr ernste<br />

Wachstumsschwierigkeiten mit sich. <strong>Der</strong> Beweis, dass Alkoholiker<br />

genesen können, war erbracht. Es war jedoch keineswegs sicher,<br />

dass so viele noch unausgeglichene Menschen harmonisch und<br />

erfolgreich zusammenleben und zusammenarbeiten konnten.<br />

Überall tauchten bedrohliche Probleme auf, die um Mitgliedschaft,<br />

Geld , persönliche Beziehungen, um das Verhältnis zur<br />

Öffentlichkeit, die Leitung von Gruppen und Clubs und um andere<br />

Schwierigkeiten kreisten. Aus diesen Wirren und Spannungen


formten sich die Zwölf Traditionen der AA. Sie wurden zunächst im<br />

Jahre 1946 veröffentlicht und später auf der Ersten Internationalen<br />

Konferenz der AA, die 1950 in Cleveland stattfand, bestätigt. Die<br />

Kapitel über die Traditionen im zweiten Teil dieses Buches geben<br />

durch Schilderung von Einzelheiten ein getreues Abbild der<br />

Erfahrung, die schließlich zu den Zwölf Traditionen geführt hat.<br />

So erhielt die Gemeinschaft der AA ihre gegenwärtige Gestalt, ihre<br />

Substanz und ihre Einigkeit. Nach und nach wuchs die<br />

Gemeinschaft und besteht jetzt in ca. 150 Ländern (Stand 2002).<br />

Es ist zu hoffen, dass dieses Buch allen, die es lesen, einen klaren<br />

Einblick in Grundsätze und Kräfte vermittelt, die die Anonymen<br />

Alkoholiker zu dem gemacht haben, was sie sind.


<strong>Der</strong> Erste <strong>Schritt</strong><br />

“Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind -<br />

und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“<br />

Wer gesteht schon gern seine vollständige Niederlage ein'?<br />

Selbstverständlich niemand. <strong>Der</strong> natürliche Instinkt wehrt sich gegen<br />

das Eingeständnis persönlicher Machtlosigkeit. Es ist in der Tat<br />

schrecklich, wenn wir zugeben müssen: Wir selbst haben durch das<br />

Glas in unserer Hand unser Denken und unser inneres Wesen in die<br />

Sucht des zerstörerischen Trinkens getrieben, so dass uns nur noch<br />

das Wirken der Vorsehung daraus befreien kann.<br />

Keine andere Art von Bankrott gleicht diesen. <strong>Der</strong> Alkohol ist jetzt zum<br />

erpresserischen Gläubiger geworden. Er presst jedes Selbstvertrauen<br />

aus uns heraus und bricht jeden Willen, uns seinen Forderungen zu<br />

widersetzen. Haben wir diese furchtbare Tatsache einmal eingesehen,<br />

dann ist unser Bankrott als Mensch vollständig.<br />

Nachdem wir uns aber den Anonymen Alkoholikern angeschlossen<br />

haben, sehen wir bald diese absolute Demütigung mit anderen Augen.<br />

Wir erkennen. dass wir nur durch eine völlige Niederlage unsere<br />

ersten <strong>Schritt</strong>e auf dem Weg zur Befreiung und Stärke tun können.<br />

Das Eingeständnis unserer persönlichen Machtlosigkeit wird<br />

schließlich zum Fundament, auf dem ein zufriedenes und sinnvolles<br />

Leben aufgebaut werden kann.<br />

Wir wissen, dass jeder Alkoholiker. der sich den AA angeschlossen<br />

hat, ohne Chancen ist, wenn er nicht zuerst seine zerstörerische<br />

Schwäche mit allen Konsequenzen akzeptiert hat. Solange er nicht<br />

demütig wird, wird seine Nüchternheit wenn er sie überhaupt erlangt -.<br />

nicht von Dauer sein. Er wird auch kein wirkliches Glück finden. Das<br />

ist eine der Wahrheiten, die ohne Frage durch vielfältige Erfahrung in<br />

unserer Gemeinschaft bewiesen ist. Die Tatsache, dass wir nicht auf


Dauer standhaft bleiben können. wenn wir nicht zuerst unsere<br />

vollständige Niederlage eingestehen, ist die Wurzel des Baumes, aus<br />

der unsere Gemeinschaft wuchs und blühte.<br />

Als wir erstmals aufgefordert wurden, unsere Niederlage zuzugeben,<br />

revoltierten die meisten von uns dagegen. Wir hatten uns den AA<br />

angeschlossen in der Erwartung, dass man uns Selbstvertrauen<br />

beibringen würde. Nun sagte man uns, dass Selbstvertrauen als Waffe<br />

gegen den Alkohol überhaupt nichts taugte. In Wahrheit war es eine<br />

totale Unterwerfung. Die nüchternen AA erklärten uns, wir seien die<br />

Opfer einer krankhaften Besessenheit, die so mächtig ist, dass kein<br />

noch so großer Aufwand an menschlicher Willenskraft sie brechen<br />

kann. Sie behaupteten, eine Überwindung dieses Zwanges durch<br />

eigene Willenskraft sei ohne fremde Hilfe nicht möglich. Unablässig<br />

brachten uns unsere AA-Freunde zu einer immer tieferen Einsicht in<br />

unsere ausweglose Lage. Sie erklärten uns unsere wachsende<br />

Empfindlichkeit gegenüber dem Alkohol als Allergie. <strong>Der</strong> Tyrann<br />

Alkohol schwang sein zweischneidiges Schwert über uns: Erst wurden<br />

wir von dem irrsinnigen Zwang befallen weiterzutrinken - und<br />

schließlich würde uns diese körperliche Allergie völlig zerstören. Es<br />

gab wirklich nur wenige, die den Kampf diesem Feind gegenüber allein<br />

und aus eigener Kraft gewonnen hatten. Es ist statistisch erwiesen.<br />

dass Alkoholiker fast niemals aus eigener Kraft genesen sind. Und das<br />

ist mit Sicherheit so, seit der Mensch zum<br />

ersten Mal Trauben gekeltert hat.<br />

In der Pionierzeit der AA brachten es nur völlig Verzweifelte fertig<br />

diese bittere Wahrheit zu schlucken und zu verdauen. Selbst diese<br />

heruntergekommenen Menschen hatten es oft schwer einzusehen, wie<br />

hoffnungslos sie wirklich waren. Immerhin taten es einige von ihnen.<br />

Wenn sie sich an die Grundsätze der AA mit dem Mut der<br />

Verzweiflung klammerten, mit dem ein Ertrinkender nach dem<br />

Rettungsring greift, ging es ihnen fast ausnahmslos besser. Darum<br />

enthielt die erste Ausgabe des Buches ,,Anonyme Alkoholiker", das<br />

erschien, als wir noch wenige waren, nur Geschichten von total<br />

heruntergekommenen Alkoholikern. Viele, die noch nicht am Abgrund<br />

angelangt waren, suchten Hilfe in der Gemeinschaft. aber sie waren<br />

erfolglos, weil sie ihre Hoffnungslosigkeit nicht eingestehen konnten.


Es ist wirklich erfreulich festzustellen, dass sich das in den folgenden<br />

Jahren geändert hat. Alkoholiker, die noch ihre Gesundheit besaßen,<br />

ihre Familien, ihren Beruf und selbst zwei Autos in der Garage,<br />

begannen, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Im Zuge dieser<br />

Entwicklung schlossen sich auch junge Leute, Alkoholiker im<br />

Frühstadium gewissermaßen, der Gemeinschaft der AA an. Ihnen<br />

blieben die letzten zehn oder fünfzehn Jahre einer buchstäblichen<br />

Hölle erspart. durch die wir anderen gegangen waren. Wie konnten<br />

diese Menschen diesen <strong>Schritt</strong> tun. der unser Eingeständnis verlangt,<br />

unser Leben nicht mehr meistern zu können?<br />

Es war offenbar nötig, den Tiefpunkt. den wir übrigen erlebt hatten, bis<br />

zu dem Punkt anzuheben, an dem diese jungen Leute selbst standen.<br />

AIs wir auf die Geschichten unseres eigenen Trinkens zurückblickten,<br />

konnten wir aufzeigen, dass unser Trinken schon Jahre bevor wir den<br />

Kontrollverlust hatten, kein Gewohnheitstrinken mehr war. Es war<br />

wirklich schon der Anfang zu einem verhängnisvollen Abstieg. Zu den<br />

Zweifelnden konnten wir sagen: „Es ist durchaus möglich, dass du<br />

kein Alkoholiker bist. Warum versuchst du nicht. kontrolliert<br />

weiterzutrinken und dabei immer daran zu denken. was wir dir über<br />

Alkoholismus gesagt haben?“<br />

Diese Einstellung hatte unmittelbar praktische Folgen. Es stellte sich<br />

heraus. dass ein Alkoholiker, der über die wahre Art der Krankheit<br />

Bescheid wusste, nicht mehr derselbe Mensch war wie vorher. Nach<br />

jedem Rausch musste er sich sagen: „Vielleicht hatten diese AA doch<br />

recht ..." Nach einigen bösen Erfahrungen, oft Jahre vor dem Auftreten<br />

äußerster Schwierigkeiten, kehrte er offensichtlich überzeugt zu uns<br />

zurück. Er hatte seinen Tiefpunkt genauso erreicht wie jeder andere<br />

von uns. <strong>Der</strong> Teufel Alkohol selbst hatte ihn so weit gebracht.<br />

Warum wird beharrlich die Ansicht vertreten, jeder AA müsse erst<br />

seinen Tiefpunkt erreicht haben? Die Antwort darauf ist, dass nur<br />

wenige ernsthaft versuchen. das AA Programm zu leben, ehe sie nicht<br />

ihren Tiefpunkt hatten. Um die übrigen elf <strong>Schritt</strong>e der AA zu<br />

praktizieren, muss man sich nämlich Ansichten und Tätigkeiten<br />

aneignen. An die ein noch trinkender Alkoholiker im Traum nicht denkt.


Wer will wirklich ehrlich und tolerant sein'? Wer will einem anderen<br />

gegenüber Fehler eingestehen und angerichteten Schaden wieder<br />

gutmachen'? Wer kümmer1 sich um eine Höhere Macht, geschweige<br />

denn um Besinnung und Gebet'? Wer denkt daran, Zeit und Kraft zu<br />

opfern bei dem Versuch, die AA-Botschaft einem anderen Alkoholiker<br />

weiterzugeben'? Im Allgemeinen hat der Alkoholiker, dessen Interesse<br />

sich allein um sich selbst dreht kein Motiv für ein solches Umdenken<br />

bis er diese Dinge einfach tun muss um zu überleben.<br />

Die Geißel des Alkoholismus trieb uns zu den Anonymen Alkoholikern<br />

- und hier erst entdeckten wir, wie verhängnisvoll unsere Lage war.<br />

Dann und nur dann werden wir aufnahmebereit und können zuhören<br />

wie jemand, der den Tod vor Augen hat. Wir sind bereit, alles zu tun<br />

was uns von dieser unbarmherzigen Sucht frei macht.


<strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong><br />

“Wir kamen zu dem Glauben, daß eine Macht, größer als wir<br />

selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“<br />

Die meisten Neuen bei den Anonymen Alkoholikern geraten beim<br />

Lesen des Zweiten <strong>Schritt</strong>s in einen inneren Zwiespalt, der ziemlich<br />

ernst sein kann. Wie oft hören wir von ihnen: "Schaut, was ihr uns<br />

angetan habt! Ihr habt uns überzeugt, daß wir Alkoholiker sind und<br />

unser Leben nicht mehr meistern können. Nachdem ihr uns in den<br />

Zustand völliger Hilflosigkeit heruntergedrückt habt, erklärt ihr uns<br />

nun, daß nur eine Höhere Macht uns von unserer Sucht befreien<br />

kann. Einige von uns wollen nicht an Gott glauben, andere können<br />

es nicht. Wieder andere, die glauben, daß Gott existiert, vertrauen<br />

nicht darauf, daß Er dieses Wunder vollbringen kann. Ja, ihr habt<br />

uns aus dem Sumpf gezogen, das stimmt, aber wie soll der Weg<br />

nun weitergehen?"<br />

Wir wollen zuerst den Fall des Streitlustigen betrachten, der sagt,<br />

daß er nicht glauben will. Seine Geisteshaltung kann nur als<br />

rebellisch bezeichnet werden. Seine Lebensanschauung, auf die er<br />

so stolz war, ist bedroht. Für ihn ist es schon schlimm genug,<br />

zugeben zu müssen, daß der Alkohol ihn in der Gewalt hat. Doch<br />

jetzt, da ihn sein Eingeständnis noch schmerzt, sieht er sich einer<br />

weiteren unmöglichen Zumutung gegenüber. Wie sehr hängt er an<br />

dem Gedanken, daß der Mensch, so majestätisch aus einer<br />

einzigen Zelle im Urschlamm emporgestiegen, die Krönung der<br />

Entwicklung ist und darum auch der einzige Gott, den seine<br />

Anschauung vom Weltall anerkennt. Muß er sich hiervon lossagen,<br />

um sich selbst zu retten?<br />

An dieser Stelle lächelt sein Sponsor meistens. Das ist der letzte<br />

Tropfen, denkt der Neue: Jetzt läuft das Faß über. Das ist der<br />

Anfang vom Ende. Und so ist es auch: <strong>Der</strong> Anfang vom Ende<br />

seines alten Lebens und der Aufbruch in ein neues Leben. Sein<br />

Sponsor wird wahrscheinlich sagen: "Mach dir's nicht so schwer.<br />

<strong>Der</strong> Reifen, durch den du springen mußt, ist größer als du glaubst.<br />

Ich jedenfalls empfand es so. Ebenso mein Freund, seinerzeit<br />

Vizepräsident der 'Amerikanischen Atheistischen Gesellschaft'. Aber<br />

auch er kam hindurch, und es blieb noch viel Platz übrig."


"Also gut", sagt der Neue, "ich weiß, daß du mir die Wahrheit sagst.<br />

Es ist zweifellos richtig, daß in der AA-Gemeinschaft viele sind, die<br />

einst dieselbe Einstellung hatten wie ich. Wie geht das: 'Mach dir's<br />

nicht so schwer'? Das möchte ich gern wissen."<br />

<strong>Der</strong> Sponsor stimmt ihm zu: "Ich glaube, ich kann dir sagen, wie du<br />

es dir leichter machen kannst. Du brauchst dich nicht einmal sehr zu<br />

plagen. Wenn du willst, kannst du dir drei Feststellungen anhören:<br />

1. Die Anonymen Alkoholiker verlangen nicht, daß du<br />

irgendetwas glaubst. Diese Zwölf <strong>Schritt</strong>e sind nur<br />

Empfehlungen.<br />

2. Um nüchtern zu werden und nüchtern zu bleiben, brauchst<br />

du den Zweiten <strong>Schritt</strong> nicht auf einmal zu machen.<br />

Zurückblickend stelle ich fest, daß ich ihn nach und nach<br />

verstanden habe.<br />

3. Alles was du brauchst, ist Bereitschaft. Tritt einfach aus<br />

deinem Diskussionsklub aus und quäle dich nicht mit so<br />

tiefgehenden Fragen, ob zuerst die Henne da war oder das Ei.<br />

Ich sage es dir noch einmal: Alles, was du brauchst, ist<br />

Bereitschaft."<br />

<strong>Der</strong> Sponsor fährt nun fort: "Nimm meinen eigenen Fall als Beispiel.<br />

Ich hatte eine wissenschaftliche Ausbildung. Natürlich achtete ich<br />

die Wissenschaft, verehrte sie, betete sie sogar an. Ich habe auch<br />

heute noch eine hohe Meinung von der Wissenschaft, aber ich bete<br />

sie nicht mehr an. Nach und nach haben mir meine Lehrer das<br />

Grundprinzip allen wissenschaftlichen Fortschritts eingeprägt:<br />

Suchen und Forschen - unaufhörlich, immer mit klarem Verstand.<br />

Als ich mich zuerst mit dem Programm der AA befaßte, war meine<br />

Reaktion genau wie deine. Diese AA-Sache, so dachte ich, ist völlig<br />

unwissenschaftlich. Das kann ich nicht schlucken. Über solch einen<br />

Unsinn will ich einfach nicht nachdenken.<br />

Dann wurde ich wach. Ich mußte zugeben, daß die Gemeinschaft<br />

der AA Erfolge aufzuweisen hatte, erstaunliche Erfolge. Ich merkte,<br />

daß meine Einstellung diesen Erfolgen gegenüber alles andere als<br />

wissenschaftlich gewesen war. Es waren nicht die AA, die engstirnig<br />

waren, ich selbst war es. In dem Moment, als ich keine Einwände<br />

mehr machte, war ich fähig, zu sehen und zu fühlen. Gleichzeitig<br />

drang der Sinn des Zweiten <strong>Schritt</strong>es ganz allmählich in mein Leben<br />

ein. Ich kann nicht sagen, bei welcher Gelegenheit oder an


welchem Tage ich zu dem Glauben an eine Höhere Macht kam,<br />

aber jetzt habe ich diesen Glauben ganz sicher. Um ihn zu<br />

erlangen, mußte ich nur aufhören zu kämpfen und versuchen, das<br />

übrige AA-Programm zu leben.<br />

Dies ist nur die Meinung eines einzelnen, die selbstverständlich auf<br />

dessen eigener Erfahrung beruht. Ich möchte noch ergänzen, daß<br />

Anonyme Alkoholiker bei ihrer Suche nach dem Glauben zahllose<br />

Wege gehen. Wenn dir der von mir vorgeschlagene nicht zusagt,<br />

wirst du sicher einen anderen entdecken, der dir besser gefällt,<br />

wenn du nur beobachtest und zuhörst. Manch einer wie du hat zu<br />

Anfang das Problem gelöst, indem er für die Höhere Macht einen<br />

Ersatzbegriff wählte. Wenn du willst, kannst du die Gemeinschaft<br />

der AA als deine Höhere Macht betrachten. Das sind viele<br />

Menschen, die ihr Alkoholproblem gelöst haben. In dieser Hinsicht<br />

sind sie wirklich eine Macht größer als du, denn du bist nicht einmal<br />

einer Lösung nähergekommen. Du kannst ihnen unbedingt<br />

vertrauen. Selbst dieses Minimum an Glauben wird dir zunächst<br />

genügen. Du wirst viele AA finden, die die Schwelle auf diese Weise<br />

überschritten haben. Sie alle werden dir bestätigen, daß sich ihr<br />

Glaube danach festigte und vertiefte; sie wurden vom Zwang ihrer<br />

Sucht befreit. Ihr Leben verwandelte sich auf eine unerklärliche<br />

Weise. Sie kamen zum Glauben an eine Höhere Macht, und die<br />

meisten von ihnen begannen von Gott zu sprechen."<br />

Betrachten wir nun die Not derer, die einst einen Glauben hatten,<br />

ihn jedoch verloren haben. Unter ihnen sind viele, die sich in<br />

Gleichgültigkeit treiben ließen, und andere, die von sich selbst so<br />

überzeugt waren, daß sie sich vom Glauben lösten. Wieder andere<br />

waren voller Vorurteile gegen die Religion, und noch andere zürnten<br />

Gott, weil Er ihre Wünsche nicht erfüllen wollte. Können die AA aus<br />

ihrer Erfahrung allen diesen Menschen sagen, daß sie einen<br />

Glauben finden können, der ihnen hilft?<br />

Manchmal wird der AA-Weg für jene Menschen schwieriger, die<br />

ihren Glauben verloren oder verworfen haben, als für die, die nie<br />

einen Glauben hatten. Denn sie sind der Meinung, sie hätten den<br />

Glauben ausprobiert und er habe versagt. Sie sind ihren Weg<br />

zunächst mit einem Glauben und dann ohne einen Glauben<br />

gegangen. Da sich beide Wege als bittere Enttäuschung erwiesen<br />

haben, sind sie zu dem Schluß gekommen, daß es für sie


überhaupt kein Ziel mehr gibt. Für sie sind Gleichgültigkeit,<br />

eingebildete Selbstherrlichkeit, Vorurteile und Trotz stärkere und<br />

bedrohlichere Hindernisse als die, die von glaubenslosen<br />

Agnostikern oder selbst kämpferischen Atheisten errichtet wurden.<br />

Die Theologie sagt: Die Existenz Gottes kann bewiesen werden. Da<br />

muß doch der Sucher nach dem Glauben in große Verwirrung<br />

geraten. Er merkt, daß keine dieser Theorien ihm helfen kann, da er<br />

nicht den Bruchteil der Sicherheit erreicht, die der Gläubige, der<br />

Ungläubige oder der Atheist besitzt. Er hat allen Halt verloren.<br />

Es gibt viele Anonyme Alkoholiker, die dem Nichtglaubenden sagen<br />

können: ja, wir waren auch von unserem Kindheitsglauben<br />

abgefallen. Das blinde Vertrauen der Jugendzeit wurde uns zuviel.<br />

Natürlich waren wir froh, daß uns ein gutes Elternhaus und eine<br />

religiöse Erziehung gewisse Werte gegeben hatten. Es war uns klar,<br />

daß wir einigermaßen ehrlich, tolerant und gerecht sein sollten,<br />

ehrgeizig und arbeitsam.<br />

Wir kamen zu der Überzeugung, daß solche einfachen<br />

Lebensregeln von Sitte und Anstand ausreichen würden. Nachdem<br />

sich bei uns materieller Erfolg allein aufgrund dieses normalen<br />

Verhaltens eingestellt hatte, glaubten wir, das Leben meistern zu<br />

können. Das war aufregend; es machte uns glücklich. Warum<br />

sollten wir uns um theologische Abhandlungen und religiöse<br />

Pflichten kümmern oder um den Zustand unserer Seelen im<br />

Diesseits und Jenseits? Das Hier und Heute genügte uns. <strong>Der</strong> Wille<br />

zu gewinnen würde uns schon weiterbringen. Aber dann trat der<br />

Alkohol in unser Leben. Als wir schließlich keine Trümpfe mehr in<br />

der Hand hatten, erkannten wir, daß wir bei der nächsten Runde<br />

aus dem Spiel waren. Wir mußten nach unserem verlorenen<br />

Glauben suchen. Bei den AA haben wir ihn wiedergefunden. Und<br />

das kannst du auch."<br />

Wir kommen nun zu einem Problemtyp: Das ist der intellektuelle<br />

selbstzufriedene Mensch, ob Mann oder Frau. Diesem können viele<br />

AA nur sagen: ja, wir waren genauso, viel schlauer als uns guttat.<br />

Wir hatten es gern, wenn die Leute uns Wunderkinder nannten. Wir<br />

benutzten unsere Schulbildung, um uns aufzublasen, und meinten,<br />

die anderen würden es nicht merken. Insgeheim glaubten wir, wir<br />

könnten allein mit unserer Intelligenz alle anderen überflügeln. <strong>Der</strong><br />

wissenschaftliche Fortschritt zeigte uns, daß es nichts gab, was


Menschen nicht vollbringen konnten. Wissen war Macht. <strong>Der</strong><br />

Intellekt konnte die Natur bezwingen. Da wir uns gescheiter als die<br />

meisten Menschen dünkten, meinten wir, mit dem Verstand alles<br />

schaffen zu können. <strong>Der</strong> Gott des Intellekts ersetzte den Gott<br />

unserer Väter. Doch wieder trat König Alkohol dazwischen. Wir, die<br />

wir so elegant auf der ganzen Linie gesiegt hatten, verwandelten<br />

uns in ständige Verlierer. Uns wurde klar, daß wir umdenken<br />

mußten oder untergehen würden. Wir fanden bei AA viele, die<br />

früher so gedacht hatten wie wir; sie halfen uns, indem sie uns auf<br />

die richtige Größe zurechtstutzten. Durch ihr Beispiel zeigten sie<br />

uns, daß Demut und Intellekt miteinander vereinbar sind,<br />

vorausgesetzt, daß wir die Demut an die erste Stelle setzten. Als wir<br />

das versuchten, empfingen wir das Geschenk des Glaubens, eines<br />

wirksamen Glaubens. Dieser Glaube ist auch für dich da."<br />

Wieder andere AA sagen: "Uns hat die Religion und alles, was<br />

damit zusammenhängt, einfach abgestoßen. Nach unserer Meinung<br />

enthielt die Bibel viel Unsinn; wir konnten zwar Kapitel und Verse<br />

daraus zitieren, aber vor lauter Skandalgeschichten und<br />

Gleichnissen hatten wir die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen<br />

nicht verstanden. Stellenweise schien uns der moralische Anspruch<br />

unwahrscheinlich hoch, anderes wiederum stieß uns ab.<br />

Doch es war mehr die Moral der Frömmler, die uns störte. Wir<br />

weideten uns an der Heuchelei, dem Fanatismus und der<br />

überheblichen Selbstgerechtigkeit, die so viele 'Gläubige' in ihren<br />

Sonntagskleidern zur Schau trugen. Mit welcher Freude haben wir<br />

die schlimme Wahrheit hinausposaunt, daß Millionen 'religiöser<br />

Menschen' sich immer noch gegenseitig im Namen Gottes<br />

umbringen. Das alles bedeutete natürlich, daß unser Denken<br />

negativ statt positiv war. Nachdem wir zu den AA gekommen waren,<br />

mußten wir erkennen, daß wir mit dieser Denkweise nur unser<br />

eigenes Ich genährt hatten. Solange wir die Sünden anderer<br />

frommer Menschen anprangerten, konnten wir uns allen überlegen<br />

fühlen. Mehr noch, wir kamen so nicht dazu, unsere eigenen Fehler<br />

zu sehen.<br />

Gerade die Selbstgerechtigkeit, die wir bei anderen verachteten,<br />

war einer unserer größten Fehler. Dieses lautstarke Herausstellen<br />

unserer eigenen Achtbarkeit war unser Unglück - soweit es den<br />

Glauben betraf. Erst bei den Anonymen Alkoholikern besannen wir


uns eines Besseren. Eine gewisse Erwartungshaltung ist, wie<br />

Psychiater häufig beobachtet haben, eine hervorstehende<br />

Eigenschaft vieler Alkoholiker. Darum ist es nicht verwunderlich,<br />

daß viele von uns eines Tages Gott selbst herausforderten.<br />

Manchmal, weil Gott uns nicht die guten Dinge des Lebens<br />

bescherte, die wir uns genauso wünschten wie ein unbescheidenes<br />

Kind, das eine endlose Wunschliste für den Weihnachtsmann<br />

schreibt.<br />

Öfter jedoch brachen größere Schwierigkeiten über uns herein, und<br />

das geschah nach unserer Meinung nur, weil Gott uns verlassen<br />

hatte. Das Mädchen, das wir heiraten wollten, hatte andere<br />

Absichten; wir beteten zu Gott, sie möge es sich anders überlegen,<br />

doch sie tat es nicht. Wir baten Gott um gesunde Kinder, und wir<br />

bekamen kranke oder überhaupt keine. Wir beteten um eine<br />

Beförderung im Beruf, doch sie blieb aus. Geliebte Menschen, an<br />

denen wir mit ganzem Herzen hingen, wurden uns durch höhere<br />

Gewalt entrissen. Dann wurden wir Trinker, und wir baten Gott, uns<br />

zu helfen. Doch nichts geschah. Das war das Schlimmste, was uns<br />

je passiert war. 'Zum Teufel mit dem Glaubenskram', sagten wir.<br />

Nachdem wir uns der Gemeinschaft der AA angeschlossen hatten,<br />

wurde uns unsere ungerechtfertigte Erwartungshaltung bewußt:<br />

Niemals hatten wir nach dem Willen Gottes für uns gefragt; statt<br />

dessen hatten wir Ihm vorgeschrieben, was Er tun solle. Wir sahen<br />

ein, daß kein Mensch an Gott glauben und Ihn gleichzeitig<br />

herausfordern kann. Glaube heißt Vertrauen, nicht Mißtrauen. In der<br />

Gemeinschaft der AA sahen wir die Früchte dieses Glaubens:<br />

Männer und Frauen, die ihrem Untergang durch den Alkohol<br />

entgangen waren. Wir sahen sie zusammen. Wir sahen, wie sie ihre<br />

Nöte und Sorgen überwanden. Wir sahen, wie sie gelassen<br />

Schwierigkeiten hinnahmen und weder versuchten, wegzulaufen<br />

noch sich zu rechtfertigen. Das war kein leerer Glaube, das war ein<br />

Glaube, der sich in jeder Lebenslage bewährte. Daraus folgerten<br />

wir, daß wir für Demut jeden verlangten Preis zahlen würden."<br />

Betrachten wir nun denjenigen, der sehr gläubig ist, doch immer<br />

noch nach Alkohol riecht. Er hält sich für einen frommen Menschen.<br />

Seine religiösen Pflichten erfüllt er gewissenhaft. Er ist davon<br />

überzeugt, daß er an Gott glaubt. Er legt ein Gelübde nach dem<br />

anderen ab. Nicht nur, daß er nach jedem wieder trinkt, er benimmt<br />

sich schlimmer als zuvor. Mutig kämpft er gegen den Alkohol und


erfleht dazu Gottes Hilfe. Doch diese Hilfe bleibt aus. Woran mag<br />

das nur liegen? Für Pfarrer, Ärzte, Freunde und Angehörige ist<br />

solch ein Alkoholiker, der die gute Absicht hat und hart kämpft, ein<br />

erschütterndes Rätsel. Für die meisten Anonymen Alkoholiker ist er<br />

es nicht. Unter uns gibt es zu viele, die so waren wie er und die des<br />

Rätsels Lösung gefunden haben. Diese Lösung liegt eher in der<br />

Qualität des Glaubens als in der Quantität. Hier waren wir mit<br />

Blindheit geschlagen. Wir glaubten, demütig zu sein, waren es aber<br />

nicht. Wir bildeten uns ein, wir hätten unsere religiösen Pflichten<br />

ernst genommen, doch mit der Ehrlichkeit zu uns selbst kam die<br />

Einsicht, daß wir nur oberflächlich waren. Oder, um das andere<br />

Extrem zu nennen, wir schwelgten in Gefühlsduseleien und hielten<br />

das für echtes religiöses Empfinden. In beiden Fällen hatten wir<br />

etwas verlangt, ohne etwas zu geben. In Wirklichkeit hatten wir<br />

noch nicht reinen Tisch gemacht, so daß Gottes Gnade uns nicht<br />

erreichen und die Sucht von uns nehmen konnte. Wir hatten<br />

niemals gründlich und aufrichtig Inventur in unserem Innern<br />

gemacht, niemals die um Verzeihung gebeten, die wir gekränkt<br />

hatten, niemals jemandem etwas geschenkt, ohne eine<br />

Gegenleistung zu erwarten. Wir hatten nicht einmal richtig gebetet.<br />

Wir haben immer gesagt: "Erfülle mir meine Wünsche" statt "Dein<br />

Wille geschehe".<br />

Wir verstanden überhaupt nicht, was Liebe zu Gott und den<br />

Mitmenschen bedeutete. Darum betrogen wir uns weiterhin selbst,<br />

und darum konnten wir nicht genug Gnade erlangen, die zu unserer<br />

geistigen Genesung nötig war.<br />

Es gibt allerdings nur wenige trinkende Alkoholiker, die ahnen, wie<br />

unvernünftig sie sind. Erkennen sie jedoch ihre Unvernunft, können<br />

sie sich nicht damit abfinden. Allenfalls sind sie bereit, sich als<br />

Problemtrinker zu bezeichnen, doch weisen sie den Gedanken weit<br />

von sich, geistig krank zu sein. In ihrer Blindheit werden sie von<br />

einer Welt unterstützt, die den Unterschied zwischen normalem<br />

Trinken und Alkoholismus nicht versteht. Vernunft ist der Ausdruck<br />

geistiger Gesundheit. Kein Alkoholiker kann für sich geistige<br />

Gesundheit in Anspruch nehmen, wenn er nüchtern sein<br />

destruktives Verhalten analysiert, ob er nun die Wohnzimmermöbel<br />

oder seine Moral zerstört hat.


<strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong> ist daher der Sammelpunkt für uns alle. Ob<br />

Agnostiker, Atheist oder jemand, der seinen Glauben verloren hat:<br />

Diesen <strong>Schritt</strong> können wir gemeinsam gehen. Wahre Demut und<br />

Bereitschaft können uns zum Glauben führen, und jedes AA-<br />

Meeting garantiert uns, daß Gott uns unsere geistige Gesundheit<br />

wiedergeben wird, wenn wir uns in der richtigen Weise mit Ihm<br />

verbinden.


<strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong><br />

"Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben<br />

der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen."<br />

Mit dem Dritten <strong>Schritt</strong> öffnen wir eine Tür, die noch verschlossen<br />

und verriegelt zu sein scheint. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein<br />

Schlüssel und den Entschluss, die Tür zu öffnen. Es gibt nur einen<br />

Schlüssel: er heißt Bereitwilligkeit. Ist die Tür erst einmal so<br />

entriegelt, öffnet sie sich beinahe von selbst.<br />

Wenn wir durch die Tür schauen, sehen wir einen Weg mit dem<br />

Hinweis: „Das ist der Weg zu einem wirksamen Glauben." In den<br />

ersten beiden <strong>Schritt</strong>en haben wir über unsere Lage nachgedacht.<br />

Wir sahen ein, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos waren,<br />

wir erkannten aber auch, dass jeder eine Art von Glauben erlangen<br />

kann, und sei es nur der Glaube an die Gemeinschaft der<br />

Anonymen Alkoholiker. Diese Überlegungen erforderten kein<br />

Handeln, nur Akzeptieren.<br />

Wie die weiteren <strong>Schritt</strong>e verlangt der Dritte bejahendes Handeln.<br />

Nur durch die Tat können wir den Eigensinn überwinden, der bisher<br />

verhinderte, dass Gott - oder wenn du willst, die Höhere Macht -<br />

Zutritt zu unserem Leben bekam. Glaube ist sicher notwendig, aber<br />

der Glaube allein kann nichts ausrichten. Wir können einen Glauben<br />

haben und doch Gott aus unserem Leben fernhalten. Die<br />

Schwierigkeit besteht jetzt darin, wie und auf welchem Wege wir Ihn<br />

in unser Leben eintreten lassen können. <strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong> ist dazu<br />

der erste Versuch.<br />

Tatsächlich steht und fällt die Wirkungskraft des ganzen AA-<br />

Programms damit, wie gut und wie ernsthaft wir versucht haben,<br />

„den Entschluss zu fassen, unseren Willen und unser Leben der<br />

Sorge Gottes, wie wir Ihn verstehen, anzuvertrauen". Jedem<br />

materiell und sachlich denkenden Anfänger kommt dieser <strong>Schritt</strong><br />

schwierig, ja unmöglich vor. Wie kann er, selbst wenn er es gern<br />

möchte, seinen eigenen Willen und sein eigenes Leben der Sorge<br />

Gottes, was er auch darunter verstehen mag, anvertrauen?<br />

Glücklicherweise können wir, die wir es mit denselben Zweifeln<br />

versucht hatten, bezeugen, dass jeder, wirklich jeder, damit<br />

beginnen kann. Wir können noch hinzufügen, dass ein Anfang, sei<br />

er noch so bescheiden, schon genügt. Haben wir einmal den


Schlüssel der Bereitschaft benutzt und die Tür ein wenig geöffnet,<br />

erkennen wir, dass wir sie immer weiter aufmachen können. Obwohl<br />

die Tür durch unseren Eigensinn wieder zuschlagen kann, was<br />

häufig vorkommt, öffnet sie sich sofort wieder, wenn wir zum<br />

Schlüssel der Bereitwilligkeit greifen.<br />

Mag sein, dass dies alles geheimnisvoll und weit hergeholt klingt,<br />

etwa wie Einsteins Relativitätstheorie oder wie ein Lehrsatz aus der<br />

Kernphysik. So ist es aber nicht. Betrachten wir einmal, wie einfach<br />

es tatsächlich ist. Jeder AA, ob Mann oder Frau, der sich der<br />

Gemeinschaft mit der Absicht angeschlossen hat, dabei zu bleiben,<br />

hat unbewusst den Anfang des Dritten <strong>Schritt</strong>es gemacht. Stimmt es<br />

denn nicht, dass jeder, was den Alkohol betrifft, bereit war, sein<br />

Leben der Sorge, dem Schutz und der Führung der Anonymen<br />

Alkoholiker anzuvertrauen? Damit zeigte er schon Bereitwilligkeit,<br />

den eigenen Willen und die eigene Meinung über das<br />

Alkoholproblem aufzugeben und dafür die Empfehlungen der AA<br />

anzunehmen. Jeder Neue, der sich ernsthaft bemüht, ist davon<br />

überzeugt, dass diese Gemeinschaft der einzig sichere Hafen für<br />

das leckgeschlagene Boot ist, in dem er sitzt. Wenn das keine<br />

Hingabe des eigenen Willens und Lebens an eine neu entdeckte<br />

Vorsehung ist, was ist es dann?<br />

Aber angenommen, die innere Einstellung wehrt sich noch<br />

dagegen, und sie wird es tun: „Ja, was den Alkohol angeht, muss<br />

ich wohl von den AA abhängig sein, aber in allen anderen Dingen<br />

muss ich meine Unabhängigkeit noch bewahren. Durch nichts lasse<br />

ich mich zu einer Null degradieren. Wenn ich fortfahre, mein Leben<br />

und meinen Willen der Sorge von 'Irgend etwas' oder von<br />

'Irgendwem' anzuvertrauen, was wird aus mir werden? Ich würde<br />

nichts weiter sein als eine Marionette." Das kommt dabei heraus,<br />

wenn Gefühl und Vernunft das Geltungsbedürfnis steigern und<br />

geistige Entwicklung verhindern. <strong>Der</strong> Haken ist, dass diese<br />

Denkweise den Tatsachen nicht Rechnung trägt. Und die<br />

Tatsachen sind offensichtlich: Je mehr wir bereit werden, uns von<br />

einer Höheren Macht abhängig zu machen, um so unabhängiger<br />

werden wir in Wirklichkeit. Darum bedeutet die Abhängigkeit, wie sie<br />

bei den Anonymen Alkoholikern praktiziert wird, in Wirklichkeit, dass<br />

man die wahre Unabhängigkeit des Geistes erreicht. Lasst uns<br />

einen Augenblick diesen Begriff der Abhängigkeit auf der Ebene<br />

des täglichen Lebens untersuchen. Es ist überraschend, in diesem


Zusammenhang zu entdecken, wie abhängig wir wirklich sind und<br />

wie wenig uns diese Abhängigkeit bewusst ist. Jedes moderne<br />

Haus hat elektrische Anschlüsse, die ihm Energie und Licht<br />

zuführen. Diese Abhängigkeit erfreut uns; wir hoffen, dass nichts<br />

uns jemals von der Stromzufuhr abschneiden wird.<br />

Dadurch, dass wir unsere Abhängigkeit von diesem Wunder der<br />

Wissenschaft akzeptieren, glauben wir, persönlich unabhängiger zu<br />

sein. Wir sind nicht nur unabhängig, wir leben auch bequemer und<br />

sicherer. Energie strömt genau dorthin, wo sie gebraucht wird. Still<br />

und zuverlässig befriedigt die Elektrizität, diese geheimnisvolle<br />

Kraft, die von so wenigen verstanden wird, unsere einfachsten<br />

täglichen Bedürfnisse, aber auch unsere dringlichsten. Frage einen<br />

Poliokranken, der an eine eiserne Lunge angeschlossen ist,<br />

welches unbedingte Vertrauen er in diese Maschine setzt, die<br />

seinen Lebensatem in Gang hält.<br />

In dem Augenblick aber, da es sich um die Unabhängigkeit im<br />

Bereich unseres Denkens und unserer Gefühle handelt, benehmen<br />

wir uns ganz anders. Wie hartnäckig bestehen wir auf dem Recht,<br />

alles selbst zu entscheiden, was wir denken und wie wir handeln<br />

sollen. O ja, wir werden das Für und Wider bei jedem Problem<br />

abwägen. Wir werden denen höflich zuhören, die uns beraten<br />

wollen, doch die Entscheidungen treffen wir allein. Niemand hat sich<br />

in solchen Dingen in unsere persönliche Unabhängigkeit<br />

einzumischen. Außerdem glauben wir, dass wir niemandem wirklich<br />

vertrauen können. Wir sind sicher, dass unsere Intelligenz,<br />

unterstützt durch Willenskraft, unser Innenleben richtig kontrollieren<br />

kann und unseren Erfolg in der Welt, in der wir leben, garantiert.<br />

Diese mutige Lebensanschauung, in der jeder Gott spielt, klingt in<br />

Worten gut, sie muss aber noch die Feuerprobe bestehen: Wie gut<br />

bewährt sie sich in der Praxis? Ein langer Blick in den Spiegel<br />

könnte jedem Alkoholiker darauf die Antwort geben.<br />

Sollte ihn sein eigenes Bild im Spiegel abstoßen - gewöhnlich ist es<br />

so -, dann mag er sich zunächst einmal die Ergebnisse ansehen,<br />

die normale Menschen mit ihrer Überheblichkeit erzielen. Überall<br />

begegnet er Menschen, die voller Zorn und Furcht sind, er sieht, wie<br />

die Gesellschaft in Stücke bricht, wie einer den anderen bekämpft.<br />

Jede Gruppe sagt zur anderen: „Wir haben Recht, und ihr Unrecht."<br />

Jede dieser Machtgruppen zwingt, wenn sie stark genug ist,


selbstherrlich den übrigen ihren Willen auf. Und überall geschieht<br />

dasselbe zwischen einzelnen Menschen. Das Resultat dieses<br />

Kraftaufwandes ist weniger Frieden und weniger Brüderlichkeit als<br />

früher. Diese überhebliche Lebensanschauung zahlt sich nicht aus.<br />

Sie ist wie ein Moloch, dessen Endziel die Zerstörung ist.<br />

Darum können wir Alkoholiker uns wirklich glücklich schätzen. Jeder<br />

von uns hat seinen nahezu tödlichen Zusammenstoß mit dem<br />

Götzenbild des Eigenwillens gehabt und hat genug unter seinem<br />

Druck gelitten, so dass er bereit ist, nach Besserem zu suchen. Es<br />

waren bei uns eher die Umstände als unsere eigenen Verdienste,<br />

die uns zu den AA brachten, wo wir unsere Niederlage<br />

eingestanden haben und anfingen zu glauben. Und nun wollen wir<br />

den Entschluss fassen, unseren Willen und unser Leben einer<br />

Höheren Macht anzuvertrauen.<br />

Wir stellen fest, dass das Wort „Abhängigkeit" vielen Psychiatern<br />

und Psychologen genauso widerwärtig ist wie Alkoholikern. Wie<br />

unseren professionellen Freunden ist auch uns klar, dass es falsche<br />

Arten der Abhängigkeit gibt. Wir haben viele davon erlebt. Kein<br />

Erwachsener, ob Mann oder Frau, sollte beispielsweise mit zu<br />

großer Gefühlsbindung an einem Elternteil hängen. Er sollte schon<br />

lange abgenabelt sein, und wenn das noch nicht geschehen ist,<br />

sollte er sich dieser Tatsache endlich bewusst werden. Gerade aus<br />

dieser Form falscher Abhängigkeit hat mancher rebellische<br />

Alkoholiker gefolgert, dass jede Art von Abhängigkeit unerträglich<br />

und schädlich sein muss. Die Abhängigkeit von einer AA-Gruppe<br />

oder von einer Höheren Macht hat noch keine schlimmen Folgen<br />

gehabt.<br />

Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte dieses spirituelle Prinzip<br />

seinen ersten Härtetest. Anonyme Alkoholiker wurden zum<br />

Militärdienst einberufen und über die ganze Welt verstreut. Würden<br />

sie sich einer Disziplin unterordnen können? Würden sie sich im<br />

Feuer bewähren? Würden sie die Eintönigkeit und das Elend des<br />

Krieges aushallen? Würde ihnen die Art der Abhängigkeit, die sie<br />

von den AA kannten, über alles hinweghelfen? Genauso war es. Es<br />

gab bei ihnen weniger Rückfälle und Nervenzusammenbrüche als<br />

bei denen, die zu Hause saßen. Sie hatten genauso viel<br />

Durchhaltevermögen und Mut wie alle anderen Soldaten. Ihre<br />

Abhängigkeit von einer Höheren Macht bewährte sich, ob in Alaska


oder am Brückenkopf von Salerno. Diese Abhängigkeit war bei<br />

weitem keine Schwäche, sie war ihre größte Kraftquelle.<br />

Was kann der Mensch, der bereit ist, seinen Willen und sein Leben<br />

der Höheren Macht anzuvertrauen, tatsächlich weiterhin<br />

unternehmen? Wir haben gesehen, dass er einen Anfang gemacht<br />

hatte, als er sich wegen seines Alkoholproblems der AA-<br />

Gemeinschaft anvertraute. Jetzt aber ist er zu der Überzeugung<br />

gekommen, dass er noch andere Schwierigkeiten als den Alkohol<br />

hat. Einige davon können nicht durch persönliche Entscheidung und<br />

Mut gelöst werden, so sehr er sich auch bemüht; sie wollen einfach<br />

nicht weichen. Sie machen ihn verzweifelt und unglücklich und<br />

bedrohen seine neugewonnene Nüchternheit. Unser Freund ist<br />

noch voll von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, wenn er an<br />

gestern denkt. Verbitterung übermannt ihn, wenn er über die<br />

nachgrübelt, die er beneidet oder hasst. Seine finanzielle<br />

Unsicherheit macht ihn krank vor Sorgen, und er gerät in Panik,<br />

wenn er daran denkt, wie viele Brücken, die ihm Sicherheit gaben,<br />

der Alkohol hinter ihm abgebrochen hat. Und wie soll er jemals<br />

dieses fürchterliche Durcheinander in Ordnung bringen, das ihn die<br />

Zuneigung seiner Familie gekostet und ihn von ihr getrennt hat?<br />

Ohne Hilfe, allein mit seinem Mut und seinem Willen ist nichts zu<br />

schaffen. Auf jeden Fall muss er sich nun auf irgendjemanden oder<br />

auf irgendetwas stützen können.<br />

Zuerst ist dieser „Jemand" wahrscheinlich sein nächster AA-Freund.<br />

Er verlässt sich auf die Zusicherung, dass seine zahlreichen<br />

Schwierigkeiten, die ihm jetzt noch größer erscheinen, weil er sie<br />

nicht mit Alkohol wegspülen kann, auch gelöst werden können.<br />

Natürlich macht ihm der Sponsor klar, dass er sein Leben noch<br />

nicht meistern kann, auch wenn er trocken ist, aber wenigstens<br />

schon ein Anfang im AA-Programm gemacht wurde. Es ist gut für<br />

die Festigung seiner Trockenheit, seine Alkoholkrankheit<br />

zuzugeben und einige Meetings zu besuchen, doch dauerhafte<br />

Nüchternheit und ein zufriedenes, nützliches Leben sind noch weit<br />

entfernt. Nun ist es Zeit, sich mit den übrigen <strong>Schritt</strong>en des AA-<br />

Programms zu befassen. Nur dadurch, dass diese <strong>Schritt</strong>e zu einem<br />

ständigen Lebensweg werden, stellt sich der langersehnte Erfolg<br />

ein. Weiter wird gesagt, dass die übrigen <strong>Schritt</strong>e des AA-<br />

Programms nur dann mit Erfolg praktiziert werden können, wenn<br />

man sich immer wieder entschlossen und beständig mit dem Dritten


<strong>Schritt</strong> befasst. Diese Feststellung mag neue Freunde überraschen,<br />

die immer nur den Verlust ihres Wertgefühls erlebt haben und mehr<br />

und mehr davon überzeugt wurden, dass mit menschlichem Willen<br />

allein nichts zu schaffen ist. Jetzt haben sie endlich begriffen, dass<br />

außer dem Alkoholproblem auch viele andere Schwierigkeiten nicht<br />

im Alleingang und nicht mit einem Frontalangriff gelöst werden<br />

können. Aber es gibt offensichtlich einige Dinge, die nur der<br />

einzelne tun kann. Ganz auf sich gestellt und sich seiner eigenen<br />

Umstände bewusst muss er seine Bereitschaft weiter entwickeln.<br />

Erst wenn er sie erreicht hat, kann er allein entscheiden, wie er sie<br />

anwenden will.<br />

Das Leben mit den Zwölf <strong>Schritt</strong>en erfordert ständigen persönlichen<br />

Einsatz, um die Grundsätze dieser <strong>Schritt</strong>e zu erfüllen und damit,<br />

wie wir hoffen, auch den Willen Gottes.<br />

Erst dann, wenn wir uns bemühen, unseren Willen in Einklang mit<br />

dem Willen Gottes zu bringen, gebrauchen wir ihn richtig. Diese<br />

Entdeckung war für uns alle eine Offenbarung. Unser ganzes<br />

Problem bestand darin, dass wir unsere Willenskraft falsch<br />

einsetzten. Wir hatten versucht, unsere Schwierigkeiten mit<br />

unserem eigenen Willen zu beseitigen, statt zu versuchen, ihn in<br />

Einklang mit Gottes Absicht für uns zu bringen.<br />

Diesem Ziel näher zu kommen ist der Sinn der Zwölf <strong>Schritt</strong>e der<br />

AA, und der Dritte <strong>Schritt</strong> öffnet dazu die Tür. Wenn wir uns einmal<br />

mit diesen Gedanken vertraut gemacht haben, ist es wirklich leicht,<br />

mit dem Dritten <strong>Schritt</strong> anzufangen. Jedes Mal, wenn unser<br />

Gefühlsleben gestört ist oder wir unentschlossen sind, können wir<br />

innehalten, um Ruhe beten und in der Stille einfach sagen: „Gott,<br />

gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht<br />

ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und<br />

die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. - Dein Wille<br />

geschehe, nicht meiner!"


<strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong><br />

“Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in<br />

unserem Inneren.“<br />

Die Schöpfung hat uns unsere Naturtriebe zu einein bestimmten<br />

Zweck gegeben. Ohne sie wären wir keine vollständigen Menschen.<br />

Wenn Männer und Frauen sich nicht um die Sicherheit ihrer eigenen<br />

Person bemühen, nicht für Nahrung sorgen und kein Obdach bauen<br />

würden, gäbe es für sie kein Überleben. Wenn sie sich nicht<br />

vermehren würden, wäre die Erde nicht bevölkert. Hätten sie nicht<br />

den Naturtrieb, miteinander zu leben, gäbe es keine menschliche<br />

Gesellschaft. Darum ist das Begehren nach sexueller Beziehung,<br />

nach materieller Sicherheit, nach seelischer Geborgenheit und nach<br />

Freundschaft bestimmt notwendig und richtig. Es ist gottgegeben.<br />

So wichtig diese Naturtriebe für unser Dasein sind, übersteigen sie<br />

oft das richtige Maß. Mächtig, unbemerkt, oftmals arglistig, treiben<br />

und beherrschen sie uns und bestimmen unser Leben. Unser Drang<br />

nach Sex, nach materieller und innerer Sicherheit und nach einem<br />

wichtigen Platz in der Gesellschaft tyrannisiert uns häufig. Stimmt<br />

das Verhältnis nicht mehr, bereiten die natürlichen Wünsche jedem<br />

Menschen große Schwierigkeiten - wirklich alle Schwierigkeiten, die<br />

es gibt.<br />

Keinem Menschen, ganz gleich, wie gut er ist, bleiben diese<br />

Probleme erspart. Fast jede ernsthafte Störung in unserem<br />

Gefühlsleben kann auf fehlgeleitete Instinkte zurückgeführt werden-<br />

In einem gestörten Gefühlsleben hat sich der Instinkt, unser großes<br />

natürliches Vermögen, in eine Belastung für Körper und Geist<br />

verwandelt.<br />

Im Vierten <strong>Schritt</strong> bemühen wir uns ernsthart und gründlich<br />

herauszufinden, welche Belastungen jeder von uns hatte und noch<br />

hat. Wir wollen genau erkennen, wie, wann und wo unsere<br />

Naturtriebe uns fehlgeleitet haben. Wir wollen offen das Unglück<br />

betrachten, das uns und anderen dadurch geschehen ist. Wenn wir<br />

die Fehler in unserem Gefühlsleben entdecken, können wir sie<br />

korrigieren- Wenn wir uns darum nicht bereitwillig und dauerhaft<br />

bemühen, wird es kaum Nüchternheit oder Zufriedenheit für uns<br />

geben. Die meisten von uns haben erkannt, daß ohne eine


furchtlose, gründliche Inventur in unserem Innern ein Glaube, der<br />

sich im täglichen Leben bewährt, noch in weiter Ferne liegt.<br />

Bevor wir uns mit der Inventur näher befassen, wollen wir zunächst<br />

die Hauptschwierigkeiten angehen. Einfache Beispiele wie die<br />

folgenden gewinnen eine ganz andere Bedeutung, sobald wir<br />

darüber nachdenken. Angenommen, jemand stellt seinen<br />

Sexualtrieb über altes. In diesem Fall kann der ihn beherrschende<br />

Zwang seine Aussichten auf materielle Sicherheit und inneres<br />

Gleichgewicht und seine Stellung in der Gesellschaft zerstören. Ein<br />

anderer entwickelt vielleicht eine ebenso große Besessenheit nach<br />

finanzieller Sicherheit, so daß er nur noch Geld scheffelt. Verfällt er<br />

dabei ins Extrem, kann er ein Geizhals werden oder ein Sonderling,<br />

dem Familie und Freunde gleichgültig werden.<br />

Dieser Drang nach Sicherheit drückt sich aber nicht immer in<br />

Geldwerten aus. Oft sehen wir, wie ein ängstlicher Mensch danach<br />

strebt, sich vollkommen von einer stärkeren Persönlichkeit abhängig<br />

zu machen, die ihn leitet und schützt. Dieser Schwächling, der seine<br />

Aufgabe im Leben nicht aus eigener Kraft erfüllen kann, wird<br />

niemals erwachsen. Enttäuschungen und Hilflosigkeit sind sein Los.<br />

Mit der Zeit ziehen sich seine Beschützer zurück oder sie sterben,<br />

und er ist wieder allein mit seiner Angst.<br />

Wir haben auch Männer und Frauen kennengelernt, die vom<br />

Machthunger besessen waren. Ihr Streben bestand darin, ihre<br />

Mitmenschen zu beherrschen. Das kann so weit gehen, daß sie<br />

dafür geordnete Verhältnisse und ein glückliches Familienleben in<br />

den Wind schlagen. Wenn in einem Menschen das Triebleben<br />

durcheinander gerät, kann es für ihn keinen Frieden geben. Es gibt<br />

aber noch andere Gefahren. Immer, wenn jemand seine Wünsche<br />

gedankenlos anderen aufzwingen will, entstehen Schwierigkeiten.<br />

Wenn bei der Jagd nach Reichtum und Macht die niedergetreten<br />

werden, die einem im Wege stehen, gibt es mit Sicherheit Zorn,<br />

Eifersucht und Rachegefühle. Sexbesessenheit wirkt sich ähnlich<br />

aus. Werden die Forderungen nach Aufmerksamkeit, Schutz und<br />

Liebe zu hoch geschraubt, kann dieses Verlangen bei den<br />

Angesprochenen selbst Herrschsucht oder Ablehnung hervorrufen.<br />

Beide Gefühle sind genauso ungesund wie die Forderungen, die sie<br />

auslösen.


Wenn der Ehrgeiz des einzelnen außer Kontrolle gerät - sei es in<br />

einem Nähkursus oder am internationalen Konferenztisch -, leiden<br />

andere darunter und lehnen sich dagegen auf. Wenn eins zum<br />

anderen kommt, dann kann das alles mögliche hervorrufen, von<br />

kalter Zurückweisung bis zu heftiger Auflehnung. In allen diesen<br />

Fällen befinden wir uns nicht nur im Konflikt mit uns selbst, sondern<br />

auch mit anderen Menschen, die ihr eigenes Gefühlsleben haben.<br />

Gerade Alkoholiker sollten wissen, daß unbeherrschtes Verhalten<br />

der Grund ihres zerstörerischen Trinkens ist. Wir haben getrunken,<br />

um Furcht, Enttäuschung, Schuldgefühl und Niedergeschlagenheit<br />

loszuwerden. Wir haben getrunken, um unseren Leidenscharten zu<br />

entfliehen, und dann haben wir wieder getrunken, um neue<br />

Leidenschaften zu erwecken. Wir haben aus Geltungssucht<br />

getrunken, um unsere törichten Träume von Prunk und Macht noch<br />

mehr zu genießen- Es ist schwer, sich mit dem widersinnigen<br />

Verhalten dieser seelischen Krankheit auseinanderzusetzen.<br />

Unsere durcheinander geratenen Gefühle wehren sich gegen jede<br />

Kontrolle. In dem Augenblick, in dem wir uns ernsthaft bemühen,<br />

diese Gefühle zu durchleuchten, müssen wir auf schlimme<br />

Reaktionen gefaßt sein.<br />

Wenn wir zu Depressionen neigen, versinken wir in Schuldgefühlen<br />

und Abscheu vor uns selbst. Wir wühlen in diesem Sumpf und<br />

entwickeln dabei oft ein unnatürliches und selbstquälerisches<br />

Vergnügen. Wenn wir diese Melancholie krankhaft weitertreiben,<br />

können wir so verzweifeln, dass nur noch völliges Vergessen als<br />

Lösung möglich erscheint. Damit haben wir jeden Überblick<br />

verloren, und das hat auch mit Demut nichts zu tun. Das ist eher<br />

falscher Stolz, bestimmt keine Inventur. Es ist der gleiche Vorgang,<br />

der depressive Menschen oft zur Flasche und Selbstzerstörung<br />

getrieben hat.<br />

Wenn wir jedoch eher selbstgerecht und prahlerisch veranlagt sind,<br />

wird unsere Reaktion genau umgekehrt sein. Wir werden die von<br />

den AA empfohlene Inventur beleidigt ablehnen. Zweifellos werden<br />

wir stolz auf das gute Leben hinweisen, das wir geführt haben,<br />

bevor uns die Flasche in die Knie zwang. Wir werden behaupten,<br />

dass unsere schlimmen Charakterfehler, falls wir überhaupt welche<br />

haben sollten, hauptsächlich auf das exzessive Trinken<br />

zurückzuführen sind. Wenn das so ist, glauben wir logischerweise,<br />

dass wir nur Nüchternheit anstreben müssen - jetzt und immer. Wir


glauben, dass unser ehemals guter Charakter wieder zum<br />

Vorschein kommt, wenn wir den Alkohol meiden. Wir waren im<br />

Grunde genommen, abgesehen vom Trinken, immer ganz nette<br />

Menschen. Wozu brauchen wir eine innere Inventur, da wir Jetzt<br />

nüchtern sind?<br />

Wir klammern uns auch noch an eine andere wunderbare Ausrede,<br />

um einer Inventur zu entgehen. Wir jammern, daß unsere jetzigen<br />

Ängste und Schwierigkeiten durch das Verhalten anderer<br />

hervorgerufen seien, durch Menschen, die wirklich eine innere<br />

Inventur nötig hätten. Wir sind fest davon überzeugt, daß alles in<br />

Ordnung wäre, wenn sie uns besser behandelten. Nach unserer<br />

Meinung sind die Entrüstung ihnen gegenüber berechtigt und<br />

vernünftig und unser Groll völlig in Ordnung. Nicht wir sind die<br />

Schuldigen, die anderen sind es.<br />

Wenn wir an diesem Punkt der Inventur stecken bleiben, hilft uns<br />

unser Sponsor. Er ist dazu in der Lage, da er schon eigene<br />

Erfahrungen mit dem Vierten <strong>Schritt</strong> hat. Er tröstet den<br />

Melancholiker und macht ihm klar, daß sein Fall nichts<br />

Außergewöhnliches ist und daß seine Charakterfehler nicht<br />

zahlreicher und schlimmer sind als die irgendeines anderen AA.<br />

Zum Beweis spricht der Sponsor offen, ehrlich und ohne<br />

Übertreibung über seine eigenen früheren und jetzigen Fehler.<br />

Diese ruhige und realistische Bestandsaufnahme ist ungeheuer<br />

ermutigend. <strong>Der</strong> Sponsor weist vermutlich den Neuen darauf hin,<br />

daß er einiges Guthaben besitzt, gegen das er seine Schulden<br />

aufrechnen kann. Das hilft ihm. Krankhaftes auszuräumen und<br />

innere Ausgeglichenheit anzustreben. Sobald der Neue sich<br />

objektiver sieht, kann er seine Fehler ohne Furcht betrachten.<br />

Vor einem ganz anderen Problem steht der Sponsor bei denen, die<br />

eine Inventur für überflüssig halten. Diese Menschen sind<br />

überheblich und meinen, sie hätten nichts gutzumachen. Sie<br />

brauchen keinen Trost. Die Schwierigkeit für den Sponsor besteht<br />

darin, einen Riß in der Mauer ihres Egos zu entdecken, durch den<br />

ein Lichtstrahl der Vernunft eindringen kann. Zunächst kann man<br />

ihnen sagen, daß die meisten AA in ihrer Trinkerzeit schwer unter<br />

ihrer Selbstgerechtigkeit gelitten haben. Bei vielen von uns war sie<br />

die Quelle aller Ausreden, natürlich Ausreden für unser Trinken und<br />

unsere verrückte und schädliche Lebensweise. Wir waren Künstler


im Erfinden neuer Ausreden. Wir mußten trinken, weil die Zeiten<br />

schlecht waren oder weil es uns so gut ging. Wir mußten trinken,<br />

weit wir daheim mit Liebe überschüttet wurden oder weil wir keine<br />

Zuneigung fanden. Wir mußten trinken, weil wir im Beruf sehr<br />

erfolgreich waren oder weil wir versagten. Wir mußten trinken, weil<br />

unsere Nation einen Krieg gewonnen oder einen Frieden verloren<br />

hatte.<br />

Und so ging es weiter bis ins Unendliche.<br />

Wir glaubten, daß uns die „Umstände" zum Trinken brachten, und<br />

als wir versuchten, diese Umstände zu ändern, und es uns nicht<br />

nach unserer Vorstellung gelang, verloren wir die Kontrolle über das<br />

Trinken und wurden Alkoholiker. Wir kamen nie auf den Gedanken,<br />

daß wir uns selbst ändern mußten, um mit den Umständen fertig zu<br />

werden, so wie sie waren.<br />

Bei AA lernten wir langsam, daß gegen unsere Rachsucht, unser<br />

Selbstmitleid und unsere grundlose Einbildung etwas getan werden<br />

mußte. Wir mußten einsehen, daß immer, wenn wir uns aufspielten,<br />

sich die Menschen gegen uns stellten. Wir mußten erkennen, daß<br />

wir uns selbst mit dem Knüppel unserer eigenen Wut schlugen, mit<br />

dem wir die anderen treffen wollten, wenn wir über solche<br />

Niederlagen wütend waren und auf Rache sannen. Dabei lernten<br />

wir, daß wir uns bei starker Aufregung zuerst selbst zur Ruhe<br />

bringen mußten, ganz gleich wer oder was der Grund für die<br />

Aufregung war. Es dauerte oft sehr lange, bis wir einsahen, daß wir<br />

Opfer unserer eigenen verworrenen Gefühle waren. Bei anderen<br />

konnten wir sie schnell entdecken, doch bei uns nur sehr schwer.<br />

Zunächst mußten wir zugeben, daß wir eine Menge Charakterfehler<br />

hatten, obwohl diese Erkenntnis schmerzlich und demütigend war.<br />

Soweit es sich um andere Menschen handelte, mußten wir das Wort<br />

„Vorwurf" aus unserem Reden und Denken streichen. Um hiermit<br />

anzufangen, war große Bereitschaft notwendig. Hatten wir die<br />

ersten zwei oder drei Hürden genommen, erschien uns der weitere<br />

Weg schon leichter. Wir sahen uns in der richtigen Perspektive, mit<br />

anderen Worten: Wir wurden demütiger.<br />

Natürlich sind der Depressive und der Überhebliche extreme<br />

Persönlichkeiten, die wir bei AA wie überall in der Welt finden. Oft<br />

zeigen sich ihre Persönlichkeitsmerkmale genauso ausgeprägt wie<br />

in den beschriebenen Beispielen. Doch ebenso häufig haben einige


von uns Eigenschaften, die mehr oder weniger auf beide Typen<br />

zutreffen. Menschen sind niemals gleich. Darum muß jeder von uns<br />

bei seiner Inventur seine eigenen Charakterfehler genau<br />

herausfinden. Hat er die passenden Schuhe gefunden und<br />

angezogen, sollte er losmarschieren, darauf vertrauend, daß er<br />

endlich auf dem richtigen Wege ist.<br />

Jetzt wollen wir über eine Liste der hervorstechenden<br />

Charakterfehler nachdenken, die mehr oder weniger bei allen<br />

vorhanden sind. Bei religiösen Menschen würde eine solche Liste<br />

aus erheblichen Verstößen gegen moralische Grundsätze<br />

bestehen. Andere werden an eine Auflistung von Charakterfehlern<br />

denken. Wieder andere sehen darin ein Verzeichnis von<br />

Anpassungsschwierigkeiten. Manch einer wird sehr ärgerlich, wenn<br />

von Unmoral die Rede ist, ganz zu schweigen von Sünde. Jedoch<br />

alle, die noch einen Rest Verstand haben, werden in einem Punkt<br />

übereinstimmen: Bei uns Alkoholikern liegt sehr viel im argen, und<br />

es muß eine Menge getan werden, wenn wir Nüchternheit,<br />

Fortschritt und Lebenstüchtigkeit erreichen wollen. Um<br />

Verständigungsschwierigkeiten bei der Benennung dieser Fehler zu<br />

vermeiden, stellen wir eine allgemein anerkannte Liste<br />

schwerwiegender menschlicher Verfehlungen zusammen, nämlich<br />

die sieben Todsünden:<br />

Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Zorn, Unmäßigkeit, Neid und Trägheit.<br />

Nicht zufällig führt Stolz diese Reihenfolge an. Denn der Stolz, der<br />

zur Überheblichkeil führt und immer durch bewußte und unbewußte<br />

Ängste angestachelt wird, ist die Brutstätte für die meisten<br />

menschlichen Schwierigkeiten. Er hemmt jede Entwicklung. Stolz<br />

verführt uns dazu, Forderungen an uns und andere zu stellen, die<br />

nicht erfüllt werden können, ohne unsere von Gott gegebenen<br />

Naturtriebe zu mißbrauchen.<br />

Wenn die Befriedigung unserer Triebe nach Sex, Geborgenheit und<br />

Selbstbestätigung zu unserem einzigen Lebensziel wird, tritt der<br />

Stolz hinzu, um diese Maßlosigkeit zu rechtfertigen. Alle diese<br />

Fehlhaltungen erzeugen Angst. Und Angst ist eine Erkrankung der<br />

Seele. Angst erzeugt weitere Charakterfehler. Unbegründete Angst,<br />

daß unsere Triebe nicht befriedigt werden, treibt uns immer weiter:<br />

zum Begehren des Eigentums anderer, zu Sex- und Machtgier. Wir<br />

werden wütend, wenn unsere Forderungen unerfüllt bleiben; uns


packt der Neid, wenn die ehrgeizigen Wünsche anderer sich<br />

erfüllen, unsere dagegen nicht- Wir essen, trinken und begehren<br />

von allem mehr, als wir nötig haben, aus Angst, wir würden nicht<br />

genug bekommen. Und aus einer echten Angst vor der Arbeit<br />

faulenzen wir. Wir bummeln und schieben die Arbeit auf, oder wir<br />

erledigen sie mißmutig und mit halber Kraft.<br />

Diese Ängste sind wie Termiten. Bei allem, was wir uns im Leben<br />

aufbauen wollen, nagen sie uns ständig die Fundamente weg.<br />

Wenn die AA eine furchtlose innere Inventur empfehlen muß es<br />

jedem Neuen so vorkommen, als ob von ihm mehr verlangt würde,<br />

als er tun kann. Sowohl sein Stolz als auch seine Furcht treiben ihn<br />

jedesmal zurück, wenn er Einkehr bei sich halten will. <strong>Der</strong> Stolz<br />

sagt: ,,Du brauchst diesen Weg nicht zu gehen." Die Furcht sagt:<br />

„Du traust dich nicht." Dem steht das Zeugnis von AA-Freunden<br />

gegenüber, die tatsächlich versucht haben, eine innere Inventur zu<br />

machen. Danach sind Stolz und Furcht dieser Art nur<br />

Schreckgespenster, sonst nichts. Sobald wir die völlige Bereitschaft<br />

zeigen, Inventur zu machen, und uns dabei um Gründlichkeil<br />

bemühen, erhellt sich unser verschwommenes Denken. Wenn wir<br />

durchhalten, erfahren wir eine völlig andere Art von Selbstvertrauen.<br />

Das Gefühl der Erleichterung ist unbeschreiblich, wenn wir uns<br />

selbst erkennen. Das sind die ersten Früchte des Vierten <strong>Schritt</strong>es.<br />

Wahrscheinlich ist der Neue mittlerweile zu dem Schluß gekommen,<br />

daß seine Charakterfehler, seine fehlgeleiteten Triebe die<br />

Hauptursache für sein Trinken und sein Versagen im Leben waren.<br />

Wenn er jetzt nicht bereit ist, hart an der Beseitigung seiner<br />

schlimmsten Fehler zu arbeiten, wird er weder Nüchternheit noch<br />

inneren Frieden erlangen. Darum muß das unsichere Fundament<br />

seines Lebens beseitigt und durch ein neues, starkes ersetzt<br />

werden. Nun, da er bereit ist, seine eigenen Fehler zu suchen, fragt<br />

er: „Wie fange ich das nur an? Wie kann ich eine Inventur in<br />

meinem Innern machen?"<br />

<strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong> ist nur der Anfang eines neuen Lebensweges.<br />

Wer sich damit befaßt, sollte zunächst mit den persönlichen<br />

Mängeln beginnen, die ihm die größten Schwierigkeiten bereiten.<br />

Auch wenn er nach bestem Wissen und Gewissen urteilt, was<br />

richtig und falsch war, kann er höchstens einen groben Überblick<br />

darüber gewinnen, wie er mit seinen Hauptproblemen, Sexualität,


Sicherheitsstreben und mitmenschlichen Beziehungen fertig wird.<br />

Bei diesem Rückblick auf sein Leben kommt er viel weiter, wenn er<br />

sich folgende Fragen stellt: Wann, wie und unter welchen<br />

Umständen hat mein Egoismus in sexuellen Beziehungen anderen<br />

Menschen und mir geschadet? Welche Menschen wurden verletzt<br />

und wie sehr? Habe ich nie eine Ehe zerstört und meinen Kindern<br />

wehgetan? Habe ich meine Stellung in der Gesellschaft gefährdet?<br />

Wie habe ich seinerzeit auf diese Situation reagiert? Verzehrte ich<br />

mich in Schuldgefühlen, die durch nichts zu beseitigen waren? Oder<br />

bildete ich mir ein, das Opfer zu sein und nicht der Schuldige, um<br />

mich damit freizusprechen? Wie habe ich auf sexuelle<br />

Enttäuschungen reagiert? Ließ ich andere dafür büßen? Wenn mir<br />

zu Hause Ablehnung und Kälte entgegenschlugen, ging ich dann<br />

fremd?<br />

Für die meisten Alkoholiker sind Fragen zu ihrem Verhalten in<br />

materieller und gefühlsmäßiger Hinsicht sehr wichtig. Auf diesem<br />

Gebiet haben Furcht, Geiz, Habgier und Stolz oft Schlimmes<br />

angerichtet. Bei einem Rückblick auf seine Leistungen als<br />

Vorgesetzter1 oder Angestellter wird sich fast jeder Alkoholiker<br />

fragen müssen: Welche Charakterfehler haben außer meinem<br />

Trinken zu meiner finanziellen Unsicherheit beigetragen? Haben<br />

Angst und Minderwertigkeitskomplexe wegen meiner beruflichen<br />

Leistungen mein Selbstvertrauen zerstört und mich in innere<br />

Konflikte gebracht? Habe ich versucht, diese Komplexe durch Bluff,<br />

Schwindel, Lügen und Drücken vor Verantwortung zu verdecken?<br />

Oder ärgerte ich mich, daß die anderen meine wirklich<br />

außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht anerkannten? Habe ich mich<br />

überbewertet und den großen Mann gespielt? Hatte ich keine<br />

Grundsätze, da ich meine Geschäftspartner gegeneinander<br />

ausspielte? War ich verschwenderisch? Habe ich mir unbedenklich<br />

Geld geliehen, ohne mir Sorgen um die Rückzahlung zu machen?<br />

War ich ein Pfennigfuchser, der seine Familie nicht ordentlich<br />

versorgte? Habe ich unsaubere Geschäfte gemacht? Wie war das<br />

mit dem schnellen Geldverdienen durch Spekulationen und Wetten?<br />

Berufstätige Frauen in der Gemeinschaft der AA erkennen<br />

selbstverständlich, daß viele dieser Fragen auch auf sie zutreffen.<br />

Aber auch die alkoholabhängige Hausfrau kann die Familie<br />

finanziell ruinieren. Sie kann das Haushaltsbuch fälschen, mit dem<br />

Wirtschaftsgeld manipulieren, die Nachmittage mit Glücksspiel


verbringen und durch Verantwortungslosigkeit, Verschwendung<br />

oder Vergeudung ihren Mann in Schulden stürzen.<br />

Alle Alkoholiker aber, die sich durch ihre Trunksucht um Stellung,<br />

Familie und Freunde gebracht haben, müssen sich rücksichtslos ins<br />

Kreuzverhör nehmen, um festzustellen, wie ihre Charakterfehler ihr<br />

gesichertes Leben zerstört haben.<br />

Die häufigsten Symptome für Unsicherheit im Gefühlsleben sind<br />

Sorgen, Angst, Selbstmitleid und Niedergeschlagenheit. Sie<br />

entstehen aus Ursachen, die möglicherweise in uns selbst liegen.<br />

Häufig sind diese Symptome auch nicht zu begründen. Wenn wir<br />

eine Inventur machen, sollten wir sorgfältig alle persönlichen<br />

Beziehungen durchleuchten, die uns in ständige oder sich<br />

wiederholende Schwierigkeiten stürzen. Wir dürfen dabei nicht<br />

vergessen, daß diese Art der Unsicherheit in jedem Bereich unseres<br />

Gefühlslebens entstehen kann. Darum stellen wir uns folgende<br />

Fragen: Welche Situation in meinem Sexualleben hat bei mir in der<br />

Vergangenheit und Gegenwart Furcht, Verbitterung, Enttäuschung<br />

oder Depression hervorgerufen? Wenn ich jede Situation ehrlich<br />

überdenke, kann ich meine eigene Schuld erkennen? Bin ich in<br />

diese Schwierigkeiten durch Egoismus oder unvernünftige<br />

Forderungen geraten? Wenn mein Fehlverhalten offensichtlich<br />

durch andere verursacht wurde, warum war ich unfähig, die Dinge<br />

hinzunehmen, die ich nicht ändern kann? Durch derart gründliches<br />

Nachforschen kann die Ursache meiner Unruhe geklärt werden, und<br />

ich erkenne, ob ich mein eigenes Benehmen ändern und mir<br />

gelassen Selbstdisziplin aneignen kann.<br />

Angenommen, finanzielle Unsicherheit ist die Ursache für solche<br />

Unruhe, dann kann ich mich fragen, ob ich daran nicht selbst schuld<br />

bin. Wenn das Verhalten anderer dazu beigetragen hat, was kann<br />

ich dagegen tun? Falls ich nicht in der Lage bin, den jetzigen<br />

Zustand zu ändern, bin ich gewillt, Maßnahmen zu ergreifen, um<br />

mich den augenblicklichen Umständen anzupassen? Solche und<br />

ähnliche Fragen, die jedem zu seinen persönlichen Schwierigkeiten<br />

leicht einfallen, sind nützlich, um deren Ursachen aufzudecken.<br />

Viele von uns haben am meisten unter gestörten Beziehungen zu<br />

Angehörigen, Freunden und Mitmenschen gelitten. Ihnen<br />

gegenüber sind wir besonders töricht und stur gewesen. Tatsache<br />

war, daß wir unsere absolute Unfähigkeit zu einer wahren


Partnerschaft nicht erkennen konnten. Unsere Egozentrik stellte uns<br />

zwei mörderische Fallen- Entweder versuchten wir, die Menschen,<br />

die wir kennen, zu beherrschen, oder wir machten uns zu sehr von<br />

ihnen abhängig. Wenn wir uns zu stark auf andere verlassen,<br />

werden sie uns früher oder später enttäuschen, denn auch sie sind<br />

nur Menschen und können unmöglich unsere ständigen<br />

Forderungen erfüllen. Dadurch wächst und wuchert unsere<br />

Unsicherheit. Wenn es zur Gewohnheit wird, anderen unsere<br />

eigenwilligen Wünsche aufzuzwingen, revoltieren sie und<br />

widersetzen sich heftig. Bei uns entwickeln sich verletzte Gefühle.<br />

Wir fühlen uns verfolgt und sinnen auf Vergeltung. Wenn wir mit<br />

doppelter Kraft die anderen zu beherrschen versuchen und<br />

weiterhin keinen Erfolg haben, wird unser akutes Leiden chronisch.<br />

Wir haben nicht einmal versucht, nur ein Glied in der Familie zu<br />

sein, ein Freund unter Freunden, ein Mitarbeiter unter Kollegen,<br />

einfach nur ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Immer wollten<br />

wir uns bis zum obersten Platz empor drängen oder in der Masse<br />

verstecken. Dieses egozentrische Benehmen hat uns jede<br />

Beziehung zu den Menschen unserer Umgebung blockiert. Echtes<br />

Miteinander war uns kein Begriff.<br />

Einige werden gegen viele dieser Fragen Einwände erheben, weil<br />

nach ihrer Meinung ihre eigenen Charakterfehler nicht so sehr<br />

hervorstechen. Bei ihnen kann vermutet werden, daß eine<br />

gewissenhafte Prüfung der beanstandeten Fragen gerade diese<br />

Fehler zutage bringt. Da unser Ruf nicht der schlechteste war,<br />

waren wir umso bestürzter, als sich herausstellte, daß wir gerade<br />

diese Fehler in unserem Innern unter einer dicken Schicht von<br />

Selbstgerechtigkeit begraben hatten-<br />

Ganz gleich, welche Fehler wir haben, sie gewannen die Überhand<br />

und trieben uns schließlich in den Alkoholismus und in das Elend.<br />

Deswegen sollte Gründlichkeit das Schlüsselwort zu unserer<br />

Inventur sein. Es ist klug, Fragen und Antworten aufzuschreiben.<br />

Das hilft uns, klar zu denken und gewissenhaft zu urteilen. Jetzt<br />

haben wir den ersten greifbaren Beweis unserer völligen<br />

Bereitschaft, diesen Weg weiterzugehen.


<strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong><br />

“Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen<br />

gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.“<br />

Alle zwölf <strong>Schritt</strong>e der Anonymen Alkoholiker empfehlen uns, einen<br />

Weg zu gehen, der uns zunächst überhaupt nicht behagt. Geht es<br />

doch darum, unser überzogenes Ich abzubauen. Dabei ist kaum ein<br />

<strong>Schritt</strong> so mühsam wie der Fünfte. Und kaum ein <strong>Schritt</strong> ist für eine<br />

dauerhafte Nüchternheit und innere Ausgeglichenheit wichtiger.<br />

Die Erfahrung der AA hat uns gelehrt, daß wir nicht allein leben<br />

können mit unseren drückenden Problemen und Charakterfehlern,<br />

die Schwierigkeiten hervorrufen oder bestehende verschlimmern.<br />

Wir haben mit Hilfe des Vierten <strong>Schritt</strong>es unseren Lebenslauf<br />

vorwärts und rückwärts durchleuchtet, und die Erfahrungen, die wir<br />

am liebsten vergessen möchten, traten besonders stark hervor.<br />

Falls wir jetzt erkannt haben, wie unser falsches Denken und<br />

Handeln uns selbst und anderen geschadet hat, wird es um so<br />

dringlicher, daß wir damit aufhören, allein mit den quälenden<br />

Gespenstern von gestern zu leben. Wir müssen mit jemandem<br />

darüber sprechen.<br />

Doch unsere Furcht und unser Widerstreben, dies zu tun, sind so<br />

stark, daß viele AA sich zunächst um den Fünften <strong>Schritt</strong> drücken<br />

wollen. Wir suchen nach einem leichteren Weg, der gewöhnlich in<br />

dem ganz allgemein gehaltenen und ziemlich schmerzlosen<br />

Eingeständnis besteht, daß wir während unseres Trinkens<br />

manchmal schlecht gehandelt haben. Und zum Ausgleich geben wir<br />

zusätzlich eine dramatische Beschreibung der Seite unseres<br />

Trinkverhaltens, die unsere Freunde ohnehin schon kennen.<br />

Aber von den Dingen, die uns wirklich sehr belasten, sprechen wir<br />

nicht. Gewisse peinliche und demütigende Erinnerungen sind nach<br />

unserer Meinung nicht für andere bestimmt. Sie bleiben unser<br />

Geheimnis. Niemand soll etwas davon erfahren. Wir möchten sie<br />

mit ins Grab nehmen.<br />

Wenn die Erfahrungen der AA nützen sollen, dann ist ein solcher<br />

Entschluß nicht nur unklug, sondern geradezu gefährlich. Es gibt<br />

nur wenig in unserem verworrenen Innenleben, das uns mehr


Schwierigkeiten bereitet als die Scheu vor dem Fünften <strong>Schritt</strong>.<br />

Manche bleiben überhaupt nicht trocken, andere haben immer<br />

wieder Rückfälle, bevor sie nicht endlich einen gründlichen<br />

Hausputz gemacht haben. Selbst AA, die jahrelang nüchtern sind,<br />

müssen es oft teuer bezahlen, wenn sie diesen <strong>Schritt</strong><br />

überspringen. Sie können dir erzählen, wie sie versuchten, die Last<br />

allein zu tragen, wie sie unter Reizbarkeit, Angst, Gewissensbissen<br />

und Niedergeschlagenheit gelitten haben, und wie sie unbewußt<br />

Erleichterung suchten, indem sie ihren besten Freunden eben die<br />

Charakterfehler vorwarfen, die sie selbst zu verbergen suchten. Sie<br />

entdeckten jedesmal, daß es keine Erleichterung bringt, anderer<br />

Menschen Inventur zu machen. Jeder muß seine eigenen Fehler<br />

erkennen.<br />

Das Eingestehen der eigenen Fehler anderen gegenüber ist<br />

natürlich ein sehr alter Brauch. Er war jahrhundertelang wirksam<br />

und kennzeichnet das Leben aller wahrhaft gläubigen Menschen,<br />

die ein geistiges Fundament besitzen. Doch heutzutage ist es nicht<br />

mehr die Religion allein, die dieses heilsame Prinzip empfiehlt.<br />

Psychiater und Psychologen betonen, daß es für jeden Menschen<br />

dringend nötig ist, Einblick in seine persönlichen Fehlhaltungen zu<br />

erlangen, sie kennenzulernen und darüber mit verständnisvollen<br />

und vertrauenswürdigen Personen zu reden. Soweit es sich um<br />

Alkoholiker handelt, gehen die AA sogar noch weiter. Die meisten<br />

von uns sind davon überzeugt, daß wir ohne ein furchtloses<br />

Eingeständnis unserer Fehler einem anderen gegenüber nicht<br />

nüchtern bleiben können. Offensichtlich kann die Gnade Gottes uns<br />

nicht erreichen und unsere zerstörende Sucht von uns nehmen, ehe<br />

wir nicht bereit sind, den Fünften <strong>Schritt</strong> zu praktizieren.<br />

Was erwarten wir vom Fünften <strong>Schritt</strong>? Zunächst sollen wir von dem<br />

schrecklichen Gefühl der ständigen Isolation befreit werden.<br />

Alkoholiker leiden fast ausnahmslos unter Einsamkeit. Selbst ehe<br />

unser Trinken sich verschlimmerte und die Leute uns zu meiden<br />

begannen, litten fast alle von uns unter dem Gefühl des<br />

Ausgestoßenseins. Entweder waren wir schüchtern und wagten<br />

nicht, uns anderen anzuschließen, oder wir spielten den lauten<br />

netten Kumpel, der Aufmerksamkeit und Kameradschaft suchte,<br />

aber nie fand - wenigstens nicht so, wie wir es uns vorstellten. Da<br />

stand immer diese geheimnisvolle Schranke, die wir weder<br />

überwinden noch begreifen konnten.


Wir kamen uns wie Schauspieler auf der Bühne vor, die plötzlich<br />

feststellen, daß sie den Text ihrer Rolle vergessen haben. Das ist<br />

einer der Gründe, warum wir dem Alkohol so zugetan waren. Er<br />

nahm uns das Lampenfieber. Aber dann half uns auch Bacchus<br />

nicht mehr weiter; schließlich wurden wir zu Boden geworfen und<br />

blieben in schrecklicher Einsamkeit zurück.<br />

Als wir in der Gemeinschaft der AA zum ersten Mal in unserem<br />

Leben unter Menschen waren, die uns zu verstehen schienen, hat<br />

uns das Gefühl des Dazugehörens tief beeindruckt. Wir glaubten,<br />

das Problem der Einsamkeit sei gelöst. Doch bald wurde uns klar,<br />

daß wir immer noch unter den früheren Qualen des Abseitsstehens<br />

litten, obwohl wir im gesellschaftlichen Sinne nicht mehr allein<br />

waren. Bevor wir nicht offen und ehrlich über unsere Konflikte<br />

gesprochen und aus dem Beispiel der anderen gelernt hatten,<br />

gehörten wir noch nicht dazu. <strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong> zeigte uns die<br />

Richtung. Er war der Anfang einer echten Beziehung zu den<br />

Menschen und zu Gott.<br />

Durch diesen wichtigen <strong>Schritt</strong> wurde uns langsam bewußt, daß uns<br />

vergeben würde, was wir auch gedacht oder getan hatten. Wenn wir<br />

im Fünften <strong>Schritt</strong> gemeinsam mit unserem Sponsor oder einem<br />

anderen Vertrauten arbeiteten, fühlten wir uns zum ersten Mal fähig,<br />

zu verzeihen, ganz gleich, wie tief wir verletzt worden waren. Durch<br />

unsere innere Inventur gelangten wir zu der Überzeugung, daß<br />

Vergebung nach beiden Seiten erstrebenswert ist. Doch erst, als wir<br />

tatkräftig den Fünften <strong>Schritt</strong> in Angriff nahmen, wußten wir in<br />

unserem Innern, daß wir Verzeihung erhalten und geben können.<br />

Ein anderer großer Gewinn, den wir erwarten dürfen, wenn wir<br />

einem anderen Menschen unsere Fehler eingestehen, ist Demut -<br />

ein oft mißverstandenes Wort. Denjenigen, die durch das AA-<br />

Programm schon Fortschritte gemacht haben, bedeutet Demut die<br />

klare Erkenntnis dessen, was und wer sie sind, verbunden mit dem<br />

ehrlichen Versuch, das zu werden, was sie sein könnten. Unser<br />

erster praktischer <strong>Schritt</strong> zur Demut muß darin bestehen, unsere<br />

Mängel wahrzunehmen. Wir können nur Fehler korrigieren, die wir<br />

klar erkennen, jedoch ist mehr als Einsicht erforderlich. Die<br />

objektive Selbsteinschätzung, die wir im Vierten <strong>Schritt</strong> erreicht<br />

hatten, war schließlich nur ein Einblick. Wir haben zum Beispiel alle<br />

gesehen, daß uns Aufrichtigkeit und Toleranz fehlten und wir


zeitweise Anfälle von Selbstmitleid und Wahnvorstellungen über<br />

unsere Größe hatten. Obwohl dies für uns eine demütigende<br />

Erfahrung war, bedeutete es nicht unbedingt, daß wir schon echte<br />

Demut erreicht hatten. Unsere Fehler waren, obwohl wir sie erkannt<br />

hatten, immer noch vorhanden, und bald fanden wir heraus, daß wir<br />

sie aus eigener Kraft, mit frommen Wünschen und gutem Willen<br />

nicht beseitigen konnten.<br />

Die großen Gewinne aus dem Fünften <strong>Schritt</strong> sind eine<br />

realistischere und deshalb ehrlichere Einstellung uns selbst<br />

gegenüber. Bei der Inventur ahnten wir bereits, wie viele<br />

Schwierigkeiten wir mit der Selbsttäuschung bekämen; das<br />

beunruhigte uns. Das ganze Leben lang hatten wir uns mehr oder<br />

weniger selbst betrogen. Wie konnten wir jetzt sicher sein, daß wir<br />

uns nicht noch weiter täuschten? Wie konnten wir gewiß sein, daß<br />

wir eine ehrliche Liste der Fehler gemacht hatten, die wir zugaben,<br />

sogar uns selbst gegenüber? Noch voller Furcht, Selbstmitleid und<br />

verletzter Gefühle, konnten wir uns vielleicht noch kein klares Urteil<br />

über uns selbst bilden. Zu große Schuld-<br />

und Reuegefühle konnten uns dazu verleiten, unsere Fehler zu<br />

dramatisieren und zu übertreiben. Oder Zorn und verletzter Stolz<br />

bildeten eine Wand, hinter der wir einige unserer Fehler<br />

versteckten, für die wir andere Menschen verantwortlich machten.<br />

Vielleicht lastete auch Schuld auf uns, die uns noch gar nicht<br />

bewußt geworden war. Uns wurde klar, daß es nicht genügte, uns<br />

selbst zu beurteilen und unsere Fehler einzugestehen. Wir<br />

brauchten Hilfe von außen, wenn wir die Wahrheit über uns selbst<br />

erkennen und zugeben sollten - die Hilfe Gottes und die Hilfe eines<br />

anderen Menschen. Nur wenn wir über uns selbst sprachen, nichts<br />

zurückhielten, die Empfehlung<br />

anderer akzeptierten, konnten wir den richtigen Weg betreten, der<br />

zu klarem Denken, zu Ehrlichkeit und zu echter Demut führt.<br />

Viele von uns hielten sich immer noch zurück. Wir dachten: Warum<br />

kann Gott - wie wir Ihn verstehen - uns nicht zu erkennen geben, wo<br />

wir falsch liegen? Wenn der Schöpfer uns schon das Leben<br />

gegeben hat, dann muß er in allen Einzelheiten wissen, wo wir vom<br />

Wege abgekommen sind. Warum können wir Ihm nicht unmittelbar<br />

unsere Fehler eingestehen? Warum sollen wir einen anderen<br />

Menschen einbeziehen?


Jetzt kommen zwei Dinge auf uns zu, die unser richtiges Verhältnis<br />

zu Gott erschweren. Waren wir zunächst über den Gedanken<br />

betroffen, daß Gott alles über uns weiß, so gewöhnten wir uns doch<br />

sehr schnell daran. Mit Gott allein zu sein, scheint uns weniger<br />

peinlich, als anderen Menschen gegenüberzusitzen. Solange wir<br />

uns nicht mit jemandem zusammensetzen und über das sprechen,<br />

was wir so lange verborgen hatten, bleibt unsere Bereitschaft zum<br />

gründlichen Hausputz nur Theorie. Wenn wir einem anderen<br />

Menschen gegenüber ehrlich sind, bestätigt das, daß wir uns selbst<br />

und Gott gegenüber ehrlich waren.<br />

Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß uns Verstand und<br />

Wunschdenken im Wege sind, wenn wir mit uns allein fertig werden<br />

wollen. Im Gespräch mit einem anderen Menschen liegt der Vorteil<br />

darin, sofort seine Meinung und sein Urteil über unsere Lage zu<br />

hören, und wir können verstehen, wie diese Empfehlung gemeint<br />

ist. Ein Alleingang in spirituellen Dingen ist gefährlich. Wie oft hörten<br />

wir, daß wohlmeinende Leute sich auf die Führung Gottes beriefen,<br />

obwohl sie sich ganz offensichtlich schrecklich täuschten. Da es<br />

ihnen an Erfahrung und Demut fehlte, hatten sie sich in Illusionen<br />

verrannt und konnten den blühendsten Unsinn rechtfertigen, als ob<br />

Gott ihnen dies eingegeben hätte. Es sollte festgehalten werden,<br />

daß es Menschen von spiritueller Reife für sehr wichtig halten, mit<br />

Freunden und Ratgebern über die Art, wie sie ihrer Meinung nach<br />

von Gott geführt werden, zu sprechen. Darum sollten Neue sich<br />

nicht der Gefahr aussetzen, auf diesem Gebiet törichte oder<br />

vielleicht sogar tragische Irrtümer zu begehen. Wenn auch<br />

Ansichten und Empfehlungen anderer nicht unbedingt richtig sein<br />

müssen, sind sie doch viel verständlicher als die eigene innere<br />

Führung, unter der wir angeblich stehen, solange wir noch keine<br />

Erfahrung darin haben, den Kontakt zu einer Macht, größer als wir<br />

selbst, herzustellen. Unser nächstes Problem ist, einen Menschen<br />

unseres Vertrauens zu finden. Hier sollten wir darauf bedacht sein,<br />

daß Vorsicht eine Tugend ist, die nicht hoch genug eingeschätzt<br />

werden kann. Möglicherweise müssen wir diesem Menschen<br />

Tatsachen über uns anvertrauen, von denen eigentlich niemand<br />

etwas wissen sollte. Wir wollen mit jemandem sprechen, der<br />

Erfahrung hat, der nicht nur trocken ist, sondern auch andere ernste<br />

Schwierigkeiten bewältigt hat. Dieser Vertraute könnte vielleicht<br />

dein Sponsor sein, muß es aber nicht. Solltest du schon größeres<br />

Vertrauen zu ihm haben und sollten sein Wesen und seine


Lebensprobleme deinen ähnlich sein, ist dies eine gute Wahl.<br />

Außerdem hat dein Sponsor den Vorteil, schon einiges über dich zu<br />

wissen.<br />

Vielleicht ist jedoch deine Beziehung zu ihm so, daß du ihm nur<br />

einen Teil deiner Lebensgeschichte anvertrauen möchtest. Tu es<br />

auf jeden Fall, denn du solltest so schnell wie möglich einen Anfang<br />

machen. Es kann sich auch ergeben, daß du deine schweren und<br />

tiefliegenden Probleme mit jemand anderem besprichst. Das<br />

braucht kein AA zu sein, vielleicht ist es dein Pfarrer oder dein Arzt.<br />

Für manchen von uns mag sich ein vollkommen Fremder als<br />

geeignet erweisen.<br />

Voraussetzung für ein Vorankommen im Fünften <strong>Schritt</strong> ist deine<br />

Bereitschaft zur Offenheit und dein Vertrauen zu den Menschen, mit<br />

denen du deine erste gründliche Selbsterforschung besprichst.<br />

Selbst wenn du diesen Menschen gefunden hast, ist manchmal<br />

noch viel Mut nötig, ihn anzusprechen. Es sollte niemand sagen,<br />

der Lebensweg der AA erfordere keine Willenskraft. Hier ist eine<br />

Gelegenheit, deine ganze Willenskraft einzusetzen. Wenn du dein<br />

Anliegen ausführlich erklärst und dein Vertrauter erkennt, wie er dir<br />

wirklich helfen kann, wird das Gespräch in Gang kommen. Es wird<br />

nicht lange dauern, und dein Zuhörer wird dir sicher die eine oder<br />

andere Geschichte aus seinem Leben erzählen. Wenn du nichts<br />

verheimlichst, wirst du merken, daß es dir von Minute zu Minute<br />

leichter wird. Jahrelang aufgestaute Emotionen<br />

brechen hervor, und wie ein Wunder verschwinden sie, sobald sie<br />

offengelegt werden. Sowie der Schmerz nachläßt, tritt eine heilende<br />

Ruhe ein.<br />

Aus der Verbindung von Demut und Gelassenheit entsteht etwas<br />

Bedeutungsvolles: Manch ein AA, der früher Agnostiker oder Atheist<br />

war, berichtet, daß er in diesem Stadium des Fünften <strong>Schritt</strong>es zum<br />

ersten Mal tatsächlich die Gegenwart Gottes verspürt hat. Und<br />

selbst diejenigen, die einen Glauben hatten, erlebten Gott so<br />

bewußt wie nie zuvor.<br />

Dieses Erlebnis, mit Gott und den Menschen eins geworden zu<br />

sein, diese Befreiung aus der Isolation durch offenes und ehrliches<br />

Bekennen unserer Schuld lassen uns zur Besinnung kommen. Jetzt


können wir uns auf die folgenden <strong>Schritt</strong>e vorbereiten, die uns<br />

weiter auf den Weg zu einer sinnvollen Nüchternheit führen.


<strong>Der</strong> sechste <strong>Schritt</strong><br />

“Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott<br />

beseitigen zu lassen.“<br />

„Dies ist der <strong>Schritt</strong>, der Erwachsene von Kindern unterscheidet",<br />

erklärte ein geschätzter Geistlicher, einer der besten Freunde der<br />

Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Er begründete das so:<br />

Jeder Mensch, der genug Bereitschaft und Ehrlichkeit aufbringen<br />

kann, um den Sechsten <strong>Schritt</strong> immer wieder und ohne<br />

irgendwelche Vorbehalte auf alle seine Fehler anzuwenden, ist in<br />

seiner geistigen Entwicklung ein gutes Stück vorwärts gekommen.<br />

Er hat Anspruch darauf, ein Erwachsener genannt zu werden, weil<br />

er ernsthaft versucht, zum Ebenbild seines Schöpfers<br />

heranzuwachsen.<br />

Selbstverständlich wird die umstrittene Frage, ob Gott<br />

Charakterfehler beseitigen kann - und unter bestimmten Umständen<br />

auch will -, von fast allen AA prompt bestätigt. Für sie ist es keine<br />

Theorie mehr, sondern eine feststehende Tatsache, die im<br />

Allgemeinen durch Ausführungen wie die folgenden belegt wird.<br />

„Es stimmt, dass ich am Ende und völlig am Boden zerstört war.<br />

Meine eigene Willenskraft versagte gegenüber dem Alkohol. Weder<br />

Ortswechsel noch die größten Bemühungen der Familie, Freunde,<br />

Ärzte und Pfarrer konnten gegen meine Alkoholkrankheit etwas<br />

ausrichten. Ich konnte einfach mit dem Trinken nicht aufhören, und<br />

es schien, als ob niemand anders das für mich tun konnte. Doch als<br />

ich bereit war, mich mit mir auseinander zusetzen und die Höhere<br />

Macht - Gott, wie ich Ihn verstehe - bat, mir zu helfen, war ich von<br />

dem Zwang zum Trinken befreit. Ich brauchte nicht mehr zu<br />

trinken."<br />

In den AA-Meetings auf der ganzen Welt hören wir täglich<br />

ähnliches. Es ist bei nüchternen AA klar zu erkennen, dass ihnen<br />

Befreiung von dieser hartnäckigen und lebensgefährlichen Sucht<br />

zuteil wurde. So sind alle nüchternen AA im wahrsten Sinne des<br />

Wortes „völlig bereit gewesen", die Gier nach Alkohol von Gott<br />

beseitigen zu lassen. Dann hat Gott eingegriffen und genau das<br />

getan.


Nachdem der Zwang zum Trinken von uns genommen wurde,<br />

konnte es möglich sein, dass wir auf die gleiche Art von allen<br />

anderen Schwierigkeiten und Fehlern befreit wurden. Das ist ein<br />

Rätsel unseres Daseins, dessen vollständige Lösung allein bei Gott<br />

liegt. Dennoch wird uns wenigstens ein Teil der Lösung<br />

verständlich.<br />

Wenn Männer und Frauen so viel Alkohol trinken, dass sie dadurch<br />

ihr Leben zerstören, handeln sie wider die Natur. Im Gegensatz zu<br />

ihrem instinktiven Wunsch nach Selbsterhaltung stehen sie<br />

offensichtlich unter einem Zwang zur Selbstzerstörung, sie handeln<br />

gegen ihre Naturinstinkte. Wenn sie durch ihre schrecklichen<br />

Erfahrungen mit dem Alkohol in die Knie gezwungen wurden, kann<br />

Gottes Gnade sie erreichen und die Sucht von ihnen nehmen. Jetzt<br />

kann ihr starker Selbsterhaltungstrieb mit dem Wunsch des<br />

Schöpfers in Einklang gebracht werden, ihnen neues Leben zu<br />

schenken. Denn die Natur und Gott verabscheuen in gleicher Weise<br />

Selbstmord.<br />

Die meisten unserer Schwierigkeiten fallen jedoch nicht in solch<br />

eine Kategorie. Jeder normale Mensch will zum Beispiel essen,<br />

Nachkommen haben und in der Gesellschaft seiner Mitmenschen<br />

etwas darstellen. Er will auch, wenn er danach strebt, einigermaßen<br />

sicher und geschützt sein. So hat Gott ihn geschaffen. Er hat den<br />

Menschen nicht dazu ausersehen, sich durch Alkohol zu zerstören,<br />

sondern ihn mit Instinkten ausgestattet, die ihm helfen zu<br />

überleben. Nirgendwo steht geschrieben, dass unser Schöpfer,<br />

zumindest nicht im Diesseits, von uns erwartet, unsere Triebe<br />

vollkommen zu unterdrücken. Soweit wir wissen, steht es auch<br />

nirgendwo, dass Gott je einem Menschen alle seine Triebe<br />

genommen hat.<br />

Die meisten von uns haben zu viele natürliche Wünsche, und so ist<br />

es nicht verwunderlich, wenn wir damit oft weit über das Ziel<br />

hinausschießen. Wenn wir uns von ihnen blind treiben lassen oder<br />

halsstarrig erwarten, dass die Wünsche uns mehr Befriedigung und<br />

Genuss verschaffen, als uns gutgut, haben wir uns von der<br />

Vollkommenheit entfernt, die Gott für uns auf Erden vorgesehen hat.<br />

Daran werden unsere Charakterfehler oder, wenn man will, unsere<br />

Sünden gemessen.


Wenn wir Gott darum bitten, wird Er uns sicherlich unser<br />

Fehlverhalten vergeben. Aber auf keinen Fall wäscht Er uns weiß<br />

wie Schnee und belässt uns in diesem Zustand, wenn wir nicht<br />

mitarbeiten. <strong>Der</strong> gute Wille, für uns selber etwas zu tun, muss<br />

Voraussetzung sein. Gott erwartet von uns nur, dass wir versuchen,<br />

das Beste zu tun, um Fortschritte bei unserer<br />

Persönlichkeitsveränderung zu machen.<br />

So ist im Sechsten <strong>Schritt</strong>: „Wir waren völlig bereit, all diese<br />

Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen" in der Sprache der<br />

AA die bestmögliche Einstellung für den neuen Anfang eines<br />

lebenslangen Bemühens beschrieben. Das bedeutet nicht, dass alle<br />

unsere Charakterfehler in der gleichen Weise wie der Zwang zum<br />

Trinken von uns genommen werden. Einige Fehler verschwinden<br />

relativ schnell, doch bei den meisten müssen wir uns mit einer<br />

langsamen Besserung zufrieden geben. Die Schlüsselworte „völlig<br />

bereit" unterstreichen die Tatsache, dass wir das Beste anstreben,<br />

das wir erkennen oder lernen können.<br />

Wer von uns ist wirklich völlig bereit? Im Prinzip niemand. Das<br />

Beste, das wir tun können, ist, mit aller Ehrlichkeit zu versuchen,<br />

diese Bereitschaft zu erreichen. Selbst derjenige, der sich die<br />

größte Mühe gibt, wird zu seiner eigenen Beschämung immer<br />

wieder an einem Punkt stecken bleiben, an dem er sagt: "Nein, dies<br />

kann ich noch nicht aufgeben." Und es wird noch gefährlicher, wenn<br />

er mit Nachdruck betont: „Dies will ich niemals aufgeben." Wie weit<br />

wir auch vorangekommen sein mögen, wir werden immer wieder bei<br />

uns Wünsche entdecken, die sich Gottes Gnade entgegenstellen.<br />

Manche, die glauben, schon vorangekommen zu sein, werden das<br />

bestreiten. Darum wollen wir uns noch etwas näher damit befassen.<br />

Sicher möchte jeder gern die auffälligsten Fehler loswerden.<br />

Niemand möchte so eingebildet sein, dass man ihn einen Angeber<br />

nennt, oder so habgierig, dass er zum Dieb wird. Niemand möchte<br />

aus Zorn zum Mörder, aus Lust zum Triebtäter, aus Unmäßigkeit<br />

zum Zerstörer der eigenen Gesundheit werden.<br />

Niemand möchte dauernd von Neidgefühlen gepeinigt sein, und<br />

schließlich will keiner in Schlamperei verkommen. Bei den meisten<br />

Menschen nehmen diese Fehler nicht solche Ausmaße an. Wir, die<br />

wir nicht so tief gesunken sind, können uns gratulieren. Doch


können wir das wirklich? War es nicht reiner Egoismus, der uns<br />

davor bewahrte, so tief zu sinken? Große geistige Fälligkeiten sind<br />

nicht nötig, um Dinge nicht zu tun, für die man bestraft wird. Wenn<br />

wir aber noch nicht so tief gesunken waren, wo stehen wir dann?<br />

Worüber wir uns jetzt klar werden müssen, ist, dass wir an einigen<br />

dieser Fehler Spaß haben. Wir kokettieren sogar damit. Wer zum<br />

Beispiel möchte den anderen nicht ein bisschen oder gar weit<br />

überlegen sein? Stimmt es nicht, dass wir unsere Habgier hinter der<br />

Maske von Strebsamkeit verbergen? Den Gedanken, sexbesessen<br />

zu sein, weisen wir weit von uns.<br />

Viele Männer und Frauen reden von Liebe und meinen etwas ganz<br />

anderes. Ihre wahren Absichten verbergen sie. Und selbst<br />

Menschen, die sich für moralisch halten, haben sexuelle<br />

Phantasien, in die geheime Wünsche einfließen.<br />

Sogar selbstgerechten Zorn kann man genießen. In einer<br />

unnatürlichen Weise können wir dadurch Befriedigung erfahren,<br />

dass uns viele nicht mögen, denn wir empfinden dabei ein<br />

wohltuendes Überlegenheitsgefühl. Klatsch, gespickt mit<br />

moralischer Entrüstung, ist eine gängige Art des Rufmordes, der<br />

auch für uns seine Reize hat. Hier versuchen wir nicht, denen zu<br />

helfen, die wir kritisieren. Wir versuchen nur, unsere eigene<br />

Rechtschaffenheit hervorzuheben.<br />

Wenn Unmäßigkeit nicht gerade zur Zerstörung führte, sprechen wir<br />

mit einem milderen Wort gern vom gehobenen Lebensstandard. Wir<br />

leben in einer Welt voller Neid. Mehr oder weniger ist jeder davon<br />

angesteckt. Irgendwie gibt der Neid uns sogar noch eine gewisse<br />

Befriedigung. Warum würden wir sonst so viel Zeit aufwenden, uns<br />

Dinge zu wünschen, die wir nicht haben, statt dafür zu arbeiten.<br />

Warum ärgern wir uns über den Mangel an Vorzügen, die wir nie<br />

haben werden, statt die Tatsachen hinzunehmen, wie sie sind? Wie<br />

oft arbeiten wir hart aus dem einzigen Grund, später ein sicheres<br />

und sorgenfreies Leben führen zu können, und nennen das dann<br />

den wohlverdienten Ruhestand? Oder betrachten wir unser<br />

wunderbares Talent, Dinge hinauszuzögern: Das kann man kürzer<br />

auch mit Faulheit bezeichnen. Fast jeder könnte eine Liste von<br />

solchen Charakterfehlern aufstellen. Doch nur wenige würden<br />

ernsthaft daran denken, sie abzulegen, es sei denn, sie geraten<br />

dadurch in äußerste Schwierigkeiten.


Natürlich sind manche Menschen bereit, alle diese Fehler<br />

beseitigen zu lassen. Selbst wenn sie eine Liste mit leichteren<br />

Fehlern aufstellen, werden sie zugeben müssen, dass sie einige<br />

gern beibehalten würden. Offensichtlich sind nur wenige von uns<br />

bereit, schnell oder leicht geistige und moralische Vollkommenheit<br />

anzustreben. Uns genügt soviel Vollkommenheit, wie uns für unser<br />

Leben ausreichend erscheint, je nach unseren merkwürdigen<br />

Vorstellungen von dem, was wir unter ausreichend verstehen. So<br />

liegt der Unterschied zwischen dem unreifen Kind und dem reifen<br />

Erwachsenen darin, ob nach einem selbstbestimmten Ziel gestrebt<br />

wird oder nach dem vollkommenen Ziel, das bei Gott ist. Viele<br />

werden sofort fragen: „Wie können wir den Sechsten <strong>Schritt</strong> mit all<br />

seinen Auswirkungen annehmen? Warum überhaupt, das wäre ja<br />

Vollkommenheit?" Das hört sich zwar schwierig an, ist es aber in<br />

Wirklichkeit nicht. Nur den Ersten <strong>Schritt</strong>, in dem wir aus tiefster<br />

Überzeugung unsere Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber<br />

zugeben, vollziehen wir vollkommen und bedingungslos. Die<br />

übrigen elf <strong>Schritt</strong>e sind Idealvorstellungen. Sie sind<br />

erstrebenswerte Ziele und Maßstäbe, an denen wir unseren<br />

Fortschritt messen. So gesehen ist der Sechste <strong>Schritt</strong> zwar<br />

schwierig, aber durchführbar. Es ist dringend notwendig, einen<br />

Anfang zu machen und es immer wieder zu versuchen.<br />

Wenn wir aus diesem <strong>Schritt</strong> einen wirklichen Nutzen für die Lösung<br />

von Schwierigkeiten, die mit Alkohol nichts zu tun haben, ziehen<br />

wollen, müssen wir uns mutig zur Aufgeschlossenheit durchringen.<br />

Wir sollten Vollkommenheit anstreben und bereit sein, diesen Weg<br />

weiterzugehen. Ob wir dabei langsam vorgehen, spielt keine Rolle,<br />

wichtig ist nur: „Sind wir bereit?" Wir kommen noch einmal zurück<br />

auf die Fehler, die wir nur ungern aufgeben wollen. Das sollten wir<br />

nicht vergessen, aber wir sollten nicht so streng mit uns sein.<br />

Vielleicht müssen wir manchmal noch sagen: „Dies kann ich noch<br />

nicht aufgeben", doch sollten wir niemals sagen: „Dies will ich nie<br />

aufgeben." Was wird wohl geschehen, wenn wir uns noch eine<br />

Hintertür offen lassen? Uns wird empfohlen, Vollkommenheit<br />

anzustreben, wobei einige Verzögerungen durchaus entschuldbar<br />

sind. Das Wort Verzögerung könnte von einem durchtriebenen<br />

Alkoholiker als Ausrede für langfristigen Aufschub missbraucht<br />

werden. Er könnte sagen: „Wie leicht! Selbstverständlich will ich<br />

Vollkommenheit anstreben, doch bestimmt werde ich mich nicht


übereilen. Möglicherweise kann ich einige meiner Probleme auf die<br />

lange Bank schieben." So geht es natürlich nicht. Solch ein<br />

Selbstbetrug muss genauso aufgegeben werden wie viele andere<br />

Ausreden. Mindestens sollten wir einige unserer ärgsten Fehler in<br />

Angriff nehmen und uns um schnelle Beseitigung bemühen.<br />

In dem Augenblick, in dem wir sagen: „Nein, niemals", verschließen<br />

wir uns der Gnade Gottes. Jede Verzögerung ist gefährlich, und<br />

Auflehnung<br />

kann verhängnisvoll werden. Erst wenn wir diesen „Nein-niemals-<br />

Standpunkt" aufgeben, können wir erkennen, was Gott mit uns im<br />

Sinn hat.


<strong>Der</strong> Siebte <strong>Schritt</strong><br />

“Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.“<br />

Da dieser <strong>Schritt</strong> sich besonders mit der Demut befasst, sollten wir<br />

hier innehalten und darüber nachdenken, was Demut ist und was es<br />

bedeutet, demütig zu sein.<br />

Alle zwölf <strong>Schritt</strong>e der Anonymen Alkoholiker sind auf das Wachsen<br />

in der Demut ausgerichtet, denn ohne Demut kann kein Alkoholiker<br />

nüchtern bleiben. Die meisten AA wissen, dass die Aussichten auf<br />

zufriedene Nüchternheit gering sind, wenn sie diese positive<br />

Eigenschaft nicht weiter entwickeln, als es für die Trockenheit nötig<br />

ist. Ohne Demut können die Anonymen Alkoholiker nicht sinnvoll<br />

leben, und bei Schwierigkeiten können sie nicht den Glauben<br />

aufbringen, der sich in jeder Gefahr bewährt.<br />

Demut als Begriff und als Ideal ist in unserer Zeit nicht gefragt. Nicht<br />

nur die Bedeutung wird missverstanden, auch gegen das Wort<br />

Demut besteht eine starke Abneigung. Viele Menschen wissen nicht<br />

recht, was Demut im Leben bedeutet. Vieles von dem, was wir<br />

täglich hören und lesen, verherrlicht des Menschen Stolz über seine<br />

eigenen Errungenschaften.<br />

Mit großer Intelligenz haben die Wissenschaftler die Natur<br />

gezwungen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Die riesigen<br />

Bodenschätze, die jetzt genutzt werden, versprechen eine solche<br />

Fülle materieller Segnungen, dass viele bereits glauben, ein von<br />

Menschen geschaffenes Jahrtausend läge vor uns. Die Armut wird<br />

verschwinden, und es wird ein derartiger Überfluss herrschen, dass<br />

jeder ein gesichertes Leben und die Erfüllung aller seiner<br />

persönlichen Wünsche finden wird. Die Theorie sieht scheinbar so<br />

aus, dass es keinen Grund mehr für Schwierigkeiten gibt, wenn die<br />

Grundbedürfnisse eines jeden Menschen befriedigt sind. Die<br />

Menschheit wird dann glücklich und frei sein, um sich auf Kultur und<br />

Ethik zu konzentrieren. Nur durch eigene Intelligenz und Arbeit<br />

werden die Menschen ihr Schicksal gestalten.<br />

Kein Alkoholiker und gewiss kein Anonymer mindert materielle<br />

Errungenschaften herab. Wir streiten uns auch nicht mit den vielen,<br />

die noch so leidenschaftlich an der Überzeugung festhalten, dass<br />

die Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse der eigentliche


Zweck des Lebens ist. Aber eines wissen wir mit Sicherheit, dass<br />

keine Schicht unserer Gesellschaft, die nach diesem Prinzip zu<br />

leben versucht, ein größeres Durcheinander angerichtet hat als<br />

Alkoholiker. Leute wie wir haben seit Jahrtausenden immer mehr<br />

Sicherheit, Prestige und Verehrung gefordert, als ihnen zustand.<br />

Wenn wir scheinbar Erfolg hatten, tranken wir, damit der Traum<br />

noch großartiger wurde. Bei der geringsten Enttäuschung tranken<br />

wir, um zu vergessen. Es gab nie genug von dem, was wir nach<br />

unserer Meinung brauchten.<br />

Alle unsere manchmal sogar ernstgemeinten Bemühungen<br />

scheiterten an fehlender Demut. Wir wussten nicht, dass<br />

charakterliche und spirituelle Werte Vorrang haben müssen und<br />

dass die Befriedigung der materiellen Wünsche nicht der Sinn des<br />

Lebens ist. Es war ganz charakteristisch für uns, dass wir die Ziele<br />

mit dem Weg verwechselten. Statt die Befriedigung unserer<br />

materiellen Wünsche als Mittel zum Leben zu betrachten, haben wir<br />

darin den Hauptsinn unseres Lebens gesehen.<br />

Wir wussten wohl, dass es schön wäre, einen guten Charakter zu<br />

haben. Offenbar brauchten wir ihn aber nur zu unserer eigenen<br />

Selbstzufriedenheit. Mit der richtigen Zurschaustellung von<br />

Ehrlichkeit und Moral glaubten wir das zu erreichen, was wir haben<br />

wollten. Hatten wir aber die Wahl zwischen der Arbeit an uns selbst<br />

und unserer Bequemlichkeit, gingen wir bei der Jagd nach dem,<br />

was wir unter Glück verstanden, den bequemeren Weg. Selten<br />

strebten wir unsere Charakterbildung ohne Hintergedanken an.<br />

Niemals dachten wir daran, Ehrlichkeit, Toleranz und wirkliche Liebe<br />

zu Menschen und Gott zur täglichen Grundlage unseres Lebens zu<br />

machen.<br />

Dieses Fehlen einer echten Beziehung zu dauerhaften Werten und<br />

diese Blindheit gegenüber dem wahren Sinn unseres Lebens<br />

führten noch zu einem anderen schlechten Ergebnis: Solange wir<br />

überzeugt waren, wir könnten ausschließlich aus eigener Kraft und<br />

Intelligenz leben, so lange war uns ein wirksamer Glaube an eine<br />

Höhere Macht versperrt. Das traf auch dann noch zu, wenn wir an<br />

die Existenz Gottes glaubten. Selbst wenn wir tatsächlich eine<br />

religiöse Überzeugung hatten, blieb sie unfruchtbar, weil wir immer<br />

noch selbst Gott spielen wollten.


Solange wir die eigene Kraft an die erste Stelle setzten, war an ein<br />

echtes Vertrauen in eine Höhere Macht überhaupt nicht zu denken.<br />

Es fehlte der wichtigste Bestandteil der Demut: Gottes Willen zu<br />

erkennen und ihn auszuführen.<br />

Für uns war es unglaublich mühevoll, eine neue Richtung zu<br />

erkennen. Nur durch wiederholte Demütigungen wurden wir<br />

gezwungen, etwas über Demut zu lernen. Erst am Ende eines<br />

langen Weges, markiert mit vielen Niederlagen und Demütigungen,<br />

und nach der Zerstörung unserer eigenen Überheblichkeit ahnten<br />

wir, dass Demut etwas anders ist als ein Zustand kriecherischer<br />

Verzweiflung. Jedem Neuen wird bei den Anonymen Alkoholikern<br />

gesagt - und er stellt es bald fest -, dass sein demütiges<br />

Eingeständnis der Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol der erste<br />

<strong>Schritt</strong> zur Befreiung aus dem würgenden Griff ist.<br />

So sehen wir zum ersten Mal die Demut als eine Notwendigkeit.<br />

Aber das ist nur der Anfang. Viele brauchen lange, bis sie ihren<br />

Widerstand gegen die Demut völlig aufgeben, bis sie in der Demut<br />

den wahren Weg zur Freiheit des menschlichen Geistes sehen und<br />

bis sie merken, dass Demut erstrebenswert ist. Ein ganzes Leben,<br />

das nur auf Egozentrik ausgerichtet war, kann nicht mit einem Griff<br />

umgestellt werden. Anfangs tun wir uns mit jedem <strong>Schritt</strong> schwer.<br />

Wenn wir schließlich ohne Einschränkungen zugegeben haben,<br />

dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind, atmen wir befreit<br />

auf und sagen: „Gott sei Dank, das ist vorbei. Das brauche ich nicht<br />

wieder durchzumachen." Zu unserer Bestürzung lernen wir dann,<br />

dass dies nur der erste Meilenstein auf unserem neuen Wege ist.<br />

Notgedrungen und widerstrebend gehen wir daran, die schlimmsten<br />

Charakterfehler, die mit Ursache für unser Trinken waren, zu<br />

beseitigen. Sie müssen überwunden werden, damit wir nicht in den<br />

Alkoholismus zurückfallen.<br />

Einige dieser Fehler möchten wir loswerden, doch manchmal<br />

scheuen wir uns vor dieser Arbeit. Und an andere Fehler, die<br />

genauso unser inneres Gleichgewicht bedrohen, klammern wir uns<br />

hartnäckig, weil wir sie noch zu sehr genießen. Wie können wir<br />

unter diesen Umständen bereit und willig werden, solchen<br />

übermächtigen Versuchungen zu widerstehen?<br />

Und wieder werden wir angespornt durch die unwiderlegbaren<br />

Erfahrungen der AA, dass wir es wirklich mit ganzer Willenskraft


versuchen müssen, wenn wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben<br />

wollen. In diesem Stadium unserer Entwicklung stehen wir unter<br />

starkem Druck und Zwang, das Richtige zu tun. Wir müssen wählen<br />

zwischen mühsamen Anstrengungen und den unausbleiblichen<br />

Folgen, wenn wir nichts tun. Diesen ersten <strong>Schritt</strong> auf dem neuen<br />

Wege gehen wir wider willig, doch wir gehen ihn.<br />

Wir mögen zwar immer noch keine hohe Meinung von der Demut<br />

als erstrebenswerter Tugend haben, doch wir haben eingesehen,<br />

dass Demut für uns zum Überleben notwendig ist.<br />

Haben wir einige unserer Charakterfehler ehrlich betrachtet, sie mit<br />

einem anderen besprochen, und wurden wir bereit, sie beseitigen<br />

zu lassen, dann wird unser Verständnis für die Demut umfassender.<br />

Jetzt haben wir höchstwahrscheinlich schon eine fühlbare Befreiung<br />

von den drückendsten Fehlern erlangt. Es gibt bereits Augenblicke,<br />

in denen wir wirklich inneren Frieden empfinden. Für diejenigen von<br />

uns, die bisher nur Aufregung, Depression oder Angst gekannt<br />

haben - mit anderen Worten für alle von uns -, bedeutet dieser<br />

neugefundene innere Friede ein unschätzbares Geschenk. Ganz<br />

sicher ist etwas Neues in unser Leben getreten. Während wir uns<br />

früher unter Demut nur ein Zu-Kreuze-Kriechen vorstellten, bedeutet<br />

sie uns jetzt eine Kraftquelle für unsere Gelassenheit.<br />

Mit diesem besseren Verständnis für die Demut wird eine<br />

umwälzende Veränderung unserer Lebensauffassung eingeleitet.<br />

Wir bekommen einen neuen Blick für die unendlichen Werte, die<br />

aus dem schmerzhaften Eingriff in unser Ego erwachsen. Bis jetzt<br />

war unser Leben meist nur eine Flucht vor Menschen und<br />

Schwierigkeiten. Wir flohen vor ihnen wie vor der Pest. Mit Leiden<br />

wollten wir nichts zu tun haben. <strong>Der</strong> Fluchtweg über die Flasche war<br />

immer unsere Lösung. Charakterformung durch Leiden mochte<br />

etwas für Heilige sein, doch gewiss nichts für uns.<br />

Dann haben wir uns bei den AA umgeschaut und zugehört. Um uns<br />

herum sahen wir, wie durch Demut Fehlhaltungen und Elend in<br />

unschätzbares Vermögen umgewandelt wurden. Aus zahllosen<br />

Geschichten erfuhren wir, wie durch Demut Schwäche zu Kraft<br />

wurde. In jedem Fall war Leid der Eintrittspreis in das neue Leben.<br />

Aber mit diesem Eintrittspreis konnten wir mehr erwerben, als zu<br />

erwarten war. Er brachte uns das Maß an Demut, das wir zu


unserer Genesung brauchten. Wir fürchteten die Mühe immer<br />

weniger und wünschten, demütiger zu werden.<br />

<strong>Der</strong> wertvollste Gewinn aus diesem Lernprozess über die Demut<br />

war unsere veränderte Einstellung zu Gott. Und sie veränderte sich<br />

wirklich, ob wir gläubig oder ungläubig waren. Wir lösten uns von<br />

dem Gedanken, die Höhere Macht sei eine Art Ersatzmann, den<br />

man nur im Notfall ins Spiel nimmt. Die Ansicht, wir könnten unser<br />

Leben aus eigener Kraft meistern, wenn Gott uns ab und zu helfen<br />

würde, verschwand allmählich. Viele, die sich für religiös hielten,<br />

erkannten, wie unvollkommen diese Einstellung war. Da wir Gott<br />

nicht an die erste Stelle setzen wollten, blieb uns Seine Hilfe<br />

versagt. Jetzt konnten wir das Bibelwort „Aus mir selbst bin ich<br />

nichts, der Vater ist es, der die Werke tut" als Versprechen und<br />

Zusage verstehen.<br />

Wir sahen ein, dass es nicht immer notwendig ist, in die Demut<br />

geprügelt zu werden. Wir konnten sie ebenso durch freiwilliges<br />

Suchen wie durch ständiges Leiden erlangen. Es war ein<br />

Wendepunkt in unserem Leben, als wir die Demut suchten, weil wir<br />

sie begehrten, und nicht, weil wir sie unbedingt haben mussten.<br />

Jetzt endlich verstanden wir die volle Bedeutung des Siebten<br />

<strong>Schritt</strong>es: „Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu<br />

nehmen."<br />

Wenn wir nun anfangen, den Siebten <strong>Schritt</strong> wirklich zu praktizieren,<br />

mag es für uns AA angebracht sein, unsere eigentlichen Ziele noch<br />

einmal zu erforschen. Jeder von uns möchte in Frieden mit sich und<br />

seinen Mitmenschen leben. Wir möchten sicher sein, dass Gottes<br />

Gnade für uns das tut, was wir selbst nicht können. Wir haben<br />

erkannt, dass Charakterfehler, die aus kurzsichtigen und<br />

unbescheidenen Wünschen erwachsen, Hindernisse auf dem Wege<br />

zu jenen Zielen sind. Wir sehen jetzt ganz klar, dass wir unbillige<br />

Forderungen an uns, an andere und an Gott gestellt haben. Die<br />

Haupttriebkraft unserer Charakterfehler war egoistische Furcht,<br />

Furcht, etwas zu verlieren, was wir bereits besaßen, oder etwas<br />

nicht zu bekommen, was wir uns wünschten. Wir lebten mit<br />

unerfüllbaren Forderungen. Wir waren in einem Zustand ständiger<br />

Verwirrung und Enttäuschung. Darum konnten wir keinen Frieden<br />

finden, ehe wir nicht den Weg entdeckt hatten, diese Forderungen


abzubauen. <strong>Der</strong> Unterschied zwischen einer Forderung und einem<br />

einfachen Wunsch ist jedem klar.<br />

Mit dem Siebten <strong>Schritt</strong> ändern wir unsere Einstellung. Mit Hilfe der<br />

Demut treten wir aus der Enge unseres Ichs hin zu den anderen<br />

und hin zu Gott. Die Betonung des Siebten <strong>Schritt</strong>es liegt auf<br />

Demut. Es wird uns klar gesagt, dass wir bei der Überwindung<br />

unserer anderen Fehler mit derselben inneren Bereitschaft die<br />

Demut erproben, mit der wir damals zugaben, dass wir dem Alkohol<br />

gegenüber machtlos waren und zu dem Glauben gelangten, dass<br />

nur eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige<br />

Gesundheit wiedergeben kann. Wenn wir durch dieses Maß der<br />

Demut die Gnade fanden, unsere tödliche Sucht zum Stillstand zu<br />

bringen, dann muss es auch Hoffnung geben, durch die Demut alle<br />

anderen möglichen Schwierigkeiten zu überwinden.


<strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong><br />

“Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden<br />

zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gut zu<br />

machen.“<br />

Beim Achten und beim Neunten <strong>Schritt</strong> geht es um mitmenschliche<br />

Beziehungen. Zuerst schauen wir zurück und versuchen<br />

festzustellen, wo wir Fehler gemacht haben. Als nächstes bemühen<br />

wir uns, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Und<br />

drittens überlegen wir, nachdem wir den Scherbenhaufen der<br />

Vergangenheit beseitigt haben, wie wir mit der neugewonnenen<br />

Erkenntnis über uns selbst am besten mit unseren Mitmenschen<br />

zurechtkommen können.<br />

Das ist ein sehr großes Vorhaben, bei dessen Durchführung wir<br />

immer geübter werden. Aber fertig werden wir damit nie. Es ist ein<br />

aufregendes und spannendes Abenteuer zu lernen, wie man mit<br />

allen Menschen in Frieden, Partnerschaft und Brüderlichkeit leben<br />

kann. Jeder Anonyme Alkoholiker hat erfahren, dass er wenig<br />

vorankommt, bevor er nicht Rückschau hält und eine genaue und<br />

schonungslose Übersicht über sein menschliches Versagen<br />

gewinnt.<br />

Bis zu einem gewissen Grad hat er das schon bei seiner inneren<br />

Inventur gemacht, doch jetzt ist es an der Zeit, seine Anstrengungen<br />

zu verdoppeln, um herauszufinden, in welchem Umfang und auf<br />

welche Weise er anderen Menschen geschadet hat. Dieses<br />

Wiederaufreißen seelischer Wunden, von denen manche alt,<br />

manche vergessen sind, andere noch schmerzen, erscheint auf den<br />

ersten Blick wie eine sinn- und zwecklose Operation. Wenn der<br />

Anfang aber gemacht ist, werden sich die großen Vorzüge dieses<br />

<strong>Schritt</strong>es bald zeigen.<br />

<strong>Der</strong> Schmerz lässt nach, wenn ein Hindernis nach dem anderen<br />

beiseite geräumt wird.<br />

Diese Hindernisse sind tatsächlich vorhanden. Das erste und<br />

eigentlich das schwierigste hat mit Vergebung zu tun. Wenn wir<br />

über eine gestörte oder zerbrochene Beziehung zu einem anderen<br />

Menschen nachdenken, gehen unsere Gefühle in Abwehr. Wir<br />

vermeiden den Rückblick auf das, was wir einem anderen angetan


haben: stattdessen stellen wir übelnehmerisch sein Fehlverhalten<br />

uns gegenüber in den Vordergrund. Das geschieht vor allem dann,<br />

wenn der andere sich uns gegenüber wirklich schlecht benommen<br />

hat.<br />

Triumphierend messen wir uns an seinem schlechten Benehmen<br />

und haben eine perfekte Entschuldigung, um unser eigenes<br />

Verhalten zu verniedlichen oder zu vergessen.<br />

An diesem Punkt müssen wir uns schwer zusammenreißen. Es<br />

bringt nichts, wenn ein Esel den anderen Langohr nennt. Wir dürfen<br />

nicht vergessen, dass Alkoholiker nicht die einzigen Menschen mit<br />

einem gestörten Innenleben sind. Darüber hinaus ist es eine<br />

Tatsache, dass durch unser Trinken die Fehler anderer schlimmer<br />

geworden sind. Wir haben wiederholt die Geduld unserer Freunde<br />

auf eine Zerreißprobe gestellt und haben sogar Leute provoziert,<br />

denen wir im Grunde genommen gleichgültig waren. In manchen<br />

Fällen hatten wir es wirklich mit kranken Menschen zu tun, deren<br />

Leid wir noch verschlimmerten. Wenn wir jetzt bereit sind, für uns<br />

um Vergebung zu bitten, warum sollten wir nicht damit beginnen,<br />

anderen zu verzeihen?<br />

Wenn wir die Namen der Menschen aufschreiben, die wir gekränkt<br />

haben, baut sich ein anderes großes Hindernis vor uns auf. Wir<br />

bekamen einen ziemlichen Schock bei dem Gedanken, vor<br />

Menschen, die wir gekränkt hatten, unser Fehlverhalten<br />

eingestehen zu müssen. Es war schon peinlich genug, als wir Gott,<br />

uns selbst und einem anderen Menschen unverhüllt diese Dinge<br />

eingestanden. <strong>Der</strong> Gedanke aber, dass wir die betroffenen<br />

Menschen auch selbst besuchen oder ihnen sogar schreiben<br />

sollten, machte uns schwer zu schaffen, besonders wenn wir daran<br />

dachten, wie schlecht die meisten auf uns zu sprechen waren. Es<br />

gab auch Fälle, wo wir andere geschädigt hatten, die<br />

glücklicherweise noch nichts davon wussten. Warum sollten wir die<br />

Vergangenheit nicht ruhen lassen? Warum sollten wir überhaupt an<br />

diese Menschen denken? Auf diese Weise hinderte uns Furcht,<br />

vermischt mit Stolz, alle Menschen auf die Liste zu setzen, denen<br />

wir Schaden zugefügt hatten.<br />

Einige sind aber noch über ein anderes Hindernis gestolpert. Wir<br />

klammerten uns daran, dass unser Trinken nur uns selbst<br />

geschadet hat. Unsere Familien hatten nicht zu leiden, weil wir


immer die Rechnungen bezahlten und selten daheim tranken.<br />

Unsere Chefs und Arbeitskollegen sind nicht benachteiligt worden,<br />

denn wir waren meistens da. Unser Ruf hatte nach unserer Ansicht<br />

nicht gelitten, weil wir überzeugt waren, dass nur wenige von<br />

unserem Trinken wussten. Und die über uns Bescheid wussten,<br />

sagten: Wer niemals einen Rausch gehabt, das ist kein rechter<br />

Mann. Was hatten wir denn schon angerichtet?<br />

Nicht viel mehr, als wir mit einigen gelegentlichen Entschuldigungen<br />

leicht wiedergutmachen konnten.<br />

Diese Haltung ist natürlich das Endergebnis eines vorsätzlichen<br />

Vergessens. Sie ändert sich erst, wenn wir unsere Motive und<br />

Handlungen gründlich und ehrlich untersuchen.<br />

Obwohl in manchen Fällen Wiedergutmachung unmöglich ist und in<br />

anderen Fällen aufgeschoben werden muss, sollten wir trotzdem<br />

einen genauen und wirklich erschöpfenden Rückblick über unsere<br />

Vergangenheit gewinnen, soweit wir anderen Menschen Schaden<br />

zugefügt haben. Dabei werden wir manchmal feststellen, dass der<br />

Schaden, den wir anderen zugefügt haben, nicht so groß war wie<br />

der seelische Schaden, den wir uns selbst antaten. In unserem<br />

Unterbewusstsein wirken sehr tief, manchmal längst vergessen,<br />

schwerwiegende seelische Konflikte weiter. Diese Vorkommnisse<br />

haben in unserem Gefühlsleben möglicherweise eine gewaltsame<br />

Störung hervorgerufen, so dass unsere Persönlichkeit entstellt<br />

wurde und sich unser Leben zum Schlechten gewendet hat.<br />

Wenn es auch unser Ziel bleiben muss, bei anderen Menschen<br />

wieder gut zu machen, so ist es ebenso notwendig, aus einer<br />

gründlichen Erforschung unserer persönlichen Beziehungen so<br />

viele Erkenntnisse wie möglich über uns selbst und unsere größten<br />

Schwierigkeiten zu gewinnen. Da gestörte mitmenschliche<br />

Beziehungen fast immer die Ursache unseres Elends einschließlich<br />

unserer Alkoholkrankheit waren, kann die Erforschung keines<br />

Gebietes uns wichtigere und wertvollere Aufschlüsse bringen als<br />

dieses. Ruhiges und besinnliches Überdenken unserer persönlichen<br />

Beziehungen kann unsere Einsicht vertiefen.<br />

Wir können dann viel tiefer in das eindringen, was bei uns nicht in<br />

Ordnung ist. Wir können die Schwächen im Fundament unseres<br />

Charakters ausfindig machen, die oft den ganzen Ablauf unseres


Lebens bestimmt haben. So viel wissen wir schon: Gründlichkeit<br />

zahlt sich aus - und das nicht schlecht.<br />

Vielleicht fragen wir uns als nächstes: Was meinen wir, wenn wir<br />

sagen, wir hätten anderen Menschen Schaden zugefügt? Wie<br />

schädigen sich Menschen eigentlich gegenseitig? Um den Begriff<br />

„einander Schaden zufügen" konkret zu definieren, wollen wir ihn<br />

als das Ergebnis eines gestörten Gefühlslebens betrachten, das<br />

beim Menschen körperliches, spirituelles und seelisches<br />

Fehlverhalten hervorruft. Wenn wir ständig schlecht gelaunt sind,<br />

verärgern wir andere. Wenn wir lügen oder betrügen, nehmen wir<br />

anderen nicht nur materielle Dinge ab, sondern bringen sie<br />

ebenfalls um ihre innere Sicherheit und seelische Ausgeglichenheit.<br />

Wir fordern sie geradezu heraus, geringschätzig von uns zu denken<br />

und sich an uns zu rächen. Wenn unser sexuelles Verhalten<br />

egoistisch ist, kann das Eifersucht, Kummer und den starken<br />

Wunsch nach Vergeltung erwecken.<br />

Diese Aufzählung groben Fehlverhaltens ist keineswegs eine<br />

vollständige Liste der Schäden, die wir angerichtet haben. Wir<br />

wollen einmal an die kleineren Verfehlungen denken, die manchmal<br />

genau so viel Schaden verursachen können. Angenommen, wir sind<br />

unserer Familie gegenüber geizig, verantwortungslos oder<br />

gefühlskalt. Angenommen, wir sind launisch, nörglerisch,<br />

ungeduldig und humorlos. Angenommen, wir verwöhnen ein<br />

Mitglied der Familie ganz besonders und vernachlässigen dabei die<br />

anderen. Was geschieht, wenn wir versuchen, die gesamte Familie<br />

zu tyrannisieren entweder durch ein eisernes Regiment oder durch<br />

ständiges Erteilen von Anweisungen, was unsere Angehörigen zu<br />

jeder Stunde zu tun haben? Was geschieht, wenn wir uns in<br />

Depressionen wälzen und uns das Selbstmitleid aus allen Poren<br />

trieft, so dass alle Menschen unserer Umgebung darunter leiden?<br />

Eine derartige Aufzählung von Unrecht, das wir anderen angetan<br />

haben und das ihnen das tägliche Zusammenleben mit einem<br />

trinkenden Alkoholiker so schwer und unerträglich gemacht hat,<br />

könnte beliebig erweitert werden. Nehmen wir diese Fehlhaltungen<br />

mit in unser berufliches oder gesellschaftliches Leben, so können<br />

sie dort fast ebensoviel Schaden anrichten wie zu Hause.<br />

Nachdem wir sorgfältig unsere mitmenschlichen Beziehungen<br />

erforscht und genau die Charaktereigenschaften bei uns festgestellt


haben, durch die wir andere kränkten und schädigten, können wir<br />

jetzt in unserem Gedächtnis nach Menschen stöbern, die wir<br />

verletzt haben. Es dürfte nicht schwer sein, den Finger auf ganz<br />

frische und ganz tiefe Wunden zu legen. Dann können wir Jahr um<br />

Jahr, soweit die Erinnerung reicht, in unserem Leben zurückgehen<br />

und werden ganz sicher eine lange Liste derer<br />

zusammenbekommen, die wir mehr oder weniger geschädigt<br />

haben. Natürlich sollten wir jedes Vorkommnis sorgfältig<br />

überdenken und abwägen. Wir sollten versuchen, uns dabei an die<br />

Regel zu halten, dass wir das, was wir anderen angetan haben,<br />

zugeben, dass wir aber gleichzeitig alles Unrecht, das wir wirklich<br />

oder vermeintlich erlitten haben, vergeben. Wir sollten mit uns<br />

selbst und anderen nicht zu streng ins Gericht gehen. Wir dürfen<br />

weder unsere noch ihre Fehler übertrieben sehen. Unser ständiges<br />

Bemühen sollte dabei eine ruhige und objektive Betrachtung sein.<br />

Und sollte unsere Hand beim Schreiben zittern, können wir aus dem<br />

Gedanken neue Kraft schöpfen, was andere Anonyme Alkoholiker<br />

aus diesem <strong>Schritt</strong> erfahren haben. <strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang<br />

vom Ende unserer Isolation von unseren Mitmenschen und von<br />

Gott.


<strong>Der</strong> neunte <strong>Schritt</strong><br />

"Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut, wo immer<br />

es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder<br />

andere verletzt."<br />

Gutes Beurteilungsvermögen, das Gefühl für den richtigen<br />

Zeitpunkt, Mut und Klugheit sind die Eigenschaften, die wir für den<br />

Neunten <strong>Schritt</strong> brauchen. Nachdem wir eine Liste der Personen,<br />

denen wir Schaden zugefügt hatten, aufgestellt und jedes<br />

Vorkommnis sorgfältig abgewogen haben, versuchen wir, zu der<br />

richtigen Einstellung für unsere weiteres Vorgehen zu kommen.<br />

Dann werden wir sehen, dass wir bei der Wiedergutmachung<br />

Unterschiede machen müssen. Da sind zunächst diejenigen, an die<br />

wir uns sofort wenden sollten, sobald wir einigermaßen sicher sind,<br />

dass wir unsere Nüchternheit behalten.<br />

Dann gibt es diejenigen, bei denen wir nur einiges<br />

wiedergutmachen können, weil eine vollkommene Offenheit ihnen<br />

oder anderen mehr schaden als gut tun würde. In anderen Fällen<br />

sollten wir den <strong>Schritt</strong> auf später verschieben. Bei anderen wieder<br />

werden wir durch die besondere Art der Umstände niemals zu einer<br />

persönlichen Kontaktaufnahme kommen.<br />

Die meisten beginnen bereits mit einer gewissen Art von<br />

Wiedergutmachung am ersten Tag, an dem sie Anonymen<br />

Alkoholikern begegnet sind. Das fängt damit an, dass wir mit<br />

unseren Angehörigen über unseren ernsthaften Versuch mit dem<br />

AA-Programm sprechen. In diesem Kreis spielen Vorsicht oder der<br />

richtige Zeitpunkt kaum eine Rolle. Am liebsten würden wir die gute<br />

Nachricht laut verkünden. nach unserem ersten AA-Meeting oder<br />

nachdem wir das Buch "Anonyme Alkoholiker" gelesen haben,<br />

möchten wir uns am liebsten mit jemandem aus unserer Familie<br />

zusammensetzen und ihm bereitwillig den Schaden eingestehen,<br />

den wir durch unsere Trinken angerichtet haben. Fast immer<br />

möchten wir noch weitergehen und andere Fehler zugeben, die das<br />

Zusammenleben mit uns so schwierig gemacht haben. Solche<br />

Gespräche stehen in scharfem Gegensatz zu unserem früheren<br />

Verhalten, wenn wir morgens in Katerstimmung entweder uns selbst<br />

beschimpft oder der Familie und allen anderen Vorwürfe wegen<br />

unserer Schwierigkeiten gemacht haben. Bei diesem ersten ruhigen<br />

Gespräch sollten wir unsere Fehler nur allgemein eingestehen. Es


kann unklug sein, schon zu diesem Zeitpunkt bestimmte<br />

schreckliche Episoden auszugraben. Wenn wir gut abwägen,<br />

werden wir feststellen, dass wir uns Zeit lassen müssen. Selbst<br />

wenn wir wirklich bereit sind, sogar das Schlimmste einzugestehen,<br />

müssen wir unbedingt daran denken, dass wir unsere innere Ruhe<br />

nicht auf Kosten anderer erkaufen können.<br />

Ähnlich werden wir auch an unserem Arbeitsplatz vorgehen. Da<br />

werden uns sofort einige Menschen einfallen, die über unser<br />

Trinken Bescheid wissen und die darunter am meisten zu leiden<br />

hatten. Aber selbst bei ihnen sollten wir zurückhaltender als in der<br />

Familie sein. Es ist vielleicht angebracht, in den ersten Wochen<br />

oder Monaten gar nichts zu sagen. Wir möchten zuerst<br />

einigermaßen sicher sein, dass wir bei AA auf dem richtigen Weg<br />

sind. Wenn wir so weit sind, können wir auf diese Menschen<br />

zugehen, ihnen von der Gemeinschaft der AA und von unseren<br />

Absichten erzählen. Auf dieser Basis können wir freimütig den<br />

angerichteten Schaden eingestehen und um Entschuldigung bitten.<br />

Bei finanziellen oder anderen Verpflichtungen können wir unsere<br />

Schulden bezahlen oder Wiedergutmachung versprechen. Die<br />

großzügige Reaktion der meisten Menschen über unsere ruhige<br />

Aufrichtigkeit wird uns oft erstaunen. Selbst unsere schärfsten<br />

Kritiker, die im Recht waren, werden uns häufig mehr als auf<br />

halbem Weg entgegenkommen.<br />

Weil wir Geschmack daran finden, könnte diese Atmosphäre von<br />

Zustimmung und Lob uns leicht in eine solche Begeisterung<br />

versetzen, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten. Oder unsere<br />

Gefühle schlagen ins Gegenteil um, wenn wir kühl und<br />

zurückhaltend empfangen werden, was zwar selten vorkommt. Das<br />

kann uns dazu verleiten, andere mit unserer beharrlichen<br />

Diskussionsfreudigkeit zu nerven oder in Mutlosigkeit und<br />

Pessimismus zu verfallen. Wenn wir uns aber gut vorbereitet haben,<br />

werden uns solche Reaktionen nicht von unserem festen und<br />

geraden Weg abhalten.<br />

Nach diesen ersten Versuchen, uns zu entschuldigen, überkommt<br />

uns vielleicht ein so großes Gefühl der Erleichterung, dass wir<br />

meinen, unser Ziel sei erreicht. Wir würden uns gern auf unseren<br />

Lorbeeren ausruhen. Die Versuchung ist groß, den noch<br />

bevorstehenden Aussprachen, die demütigender und


unangenehmer sind, einfach auszuweichen. Wir leben uns oft<br />

plausible Ausreden zurecht, um uns vor dem Unangenehmen zu<br />

drücken. Oder wir schieben unangenehme Dinge einfach auf und<br />

reden uns ein, die Zeit sei noch nicht reif, während wir in<br />

Wirklichkeit schon viele günstige Gelegenheiten verpasst haben,<br />

schweres Unrecht wiederzuzumachen. Wir können nicht von<br />

Vorsicht sprechen, wenn wir in Wirklichkeit ausweichen.<br />

Sobald wir uns auf unserem neuen Lebensweg sicherer fühlen und<br />

durch unsere Verhalten und Beispiel unsere Umgebung davon<br />

überzeugt haben, dass wir uns zum Besseren ändern, ist es an der<br />

Zeit, ganz offen mit denen zu sprechen, denen wir ernsthaften<br />

Schaden zugefügt hatten. Unter ihnen mögen sogar einige sein, die<br />

nur kaum oder überhaupt nicht gemerkt haben, was wir ihnen<br />

angetan hatten. Ausnahmen machen wir nur dann, wenn unser<br />

Eingeständnis Schaden anrichtet. Wir können Gespräche dieser Art<br />

ganz beiläufig und natürlich beginnen. Wenn sich dazu keine<br />

Gelegenheit bietet, sollten wir irgendwann unseren ganzen Mut<br />

zusammennehmen und direkt auf den Menschen zugehen, mit dem<br />

wir sprechen wollen, und unsere Karten auf den Tisch legen.<br />

Wir müssen nicht unbedingt den reumütigen Sünder bei denen<br />

hervorkehren, die wir geschädigt haben. Doch unsere<br />

Wiedergutmachung sollte aufrichtig und großherzig sein.<br />

Bei dem Wunsch, den von uns angerichteten Schaden in aller<br />

Ehrlichkeit offen zuzugeben, ist eine Überlegung wichtig. Es kann<br />

gelegentlich vorkommen, dass wir durch unsere vollständige<br />

Enthüllung gerade dem Menschen ernsthaft wehtun, bei dem wir<br />

wiedergutmachen sollen. Durch unangebrachte Offenheit können<br />

wir selbst Dritten Schaden zufügen. Wir dürfen zum Beispiel nicht<br />

eine ausführliche Schilderung unserer außerehelichen Abenteuer<br />

auf die Schultern unseres ahnungslosen Ehepartners laden. Selbst<br />

wenn wir über diese Dinge sprechen müssen, wollen wir doch<br />

vermeiden, Dritte zu verletzen, ganz gleich, um wen es sich dabei<br />

handelt. Unsere eigene Last wird nicht dadurch leichter, dass wir<br />

rücksichtslos bei anderen abladen.<br />

Manch heikle Frage kann sich auch aus einem anderen<br />

Lebensbereich ergeben, wo wir es genauso machen sollten.<br />

Angenommen, wir haben Firmengeld versoffen; entweder haben wir<br />

es uns "entliehen", oder wir haben bei unseren Spesenrechnungen


gemogelt. Vielleicht würde nichts herauskommen, wenn wir<br />

schweigen. Sollten wir sofort der Firma gegenüber unsere<br />

Unregelmäßigkeiten zugeben, wenn die sichere Aussicht besteht,<br />

dass wir entlassen und arbeitslos werden? Sollen wir bei unseren<br />

Wiedergutmachungen so peinlich genau vorgehen, dass es uns<br />

gleich ist, was aus unserer Familie und unserem Heim wird? Oder<br />

sollten wir uns nicht zuerst mit denen beraten, die die Folgen am<br />

schwersten zu spüren bekommen? Sollten wir die Sache nicht am<br />

besten mit unserem Sponsor oder einem anderen Vertrauten<br />

besprechen, und sollten wir nicht in erster Linie Gott ernsthaft um<br />

Hilfe und Führung bitten und inzwischen unseren Entschluss<br />

festigen, das Richtige dann zu tun, wenn wir klarer sehen -<br />

ungeachtet der Folgen. Es gibt natürlich keine Patentlösung auf<br />

diese heiklen Fragen. Aber alle verlangen die völlige Bereitschaft,<br />

so schnell und so gründlich wie nur möglich wieder gut zu machen,<br />

sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.<br />

Darüber hinaus sollten wir völlig sicher sein, dass wir nichts aus<br />

Angst hinausschieben. Die Bereitschaft, zu unserer Vergangenheit<br />

zu stehen, die Konsequenzen zu ziehen und dabei das Wohl der<br />

anderen nicht aus den Augen zu verlieren: das ist der wahre Grund<br />

des Neunten <strong>Schritt</strong>es.


<strong>Der</strong> zehnte <strong>Schritt</strong><br />

„Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht<br />

hatten, gaben wir es sofort zu.“<br />

In den ersten neun <strong>Schritt</strong>en bereiten wir uns auf das Abenteuer<br />

eines neuen Lebens vor. <strong>Der</strong> Zehnte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang, unseren<br />

Lebensweg mit den Anonymen Alkoholikern in die Praxis<br />

umzusetzen, und zwar Tag für Tag, ob es regnet oder ob die Sonne<br />

scheint. Dann kommt der Bewährungstest: Können wir nüchtern<br />

bleiben? Können wir unser inneres Gleichgewicht behalten? Bleiben<br />

wir in allen Situationen unserem gesteckten Ziel treu?<br />

Die ständige Betrachtung unserer Soll- und Habenseite und der<br />

ehrliche Wunsch, daraus zu lernen und daran zu wachsen, sind<br />

lebensnotwendig für uns. Wir Alkoholiker mussten durch die harte<br />

Schule gehen. Menschen mit größerer Erfahrung haben schon<br />

immer und überall schonungslos Selbstkritik geübt. Weise<br />

Menschen haben schon immer gewusst, dass niemand ohne<br />

ständige Selbstkontrolle etwas aus seinem Leben machen kann,<br />

bevor er das, was er findet, nicht zulässt und annimmt, und solange<br />

er nicht geduldig immer wieder versucht, seine Fehler zu<br />

korrigieren.<br />

Wen ein Trinker einen scheußlichen Kater hat, weil er gestern<br />

schwer getrunken hat, fühlt er sich heute elend. Es gibt noch eine<br />

andere Art Kater, den wir alle kennen, ob wir trinken oder nicht. Das<br />

ist der seelische Kater, eine direkte Folge unserer negativen<br />

Gefühlsausbrüche von gestern, manchmal auch von heute. Dazu<br />

zählen wir Wut, Furcht, Eifersucht. Wenn wir heute und morgen<br />

ausgeglichen sein wollen, müssen wir solche Katerstimmungen<br />

überwinden. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in unserer<br />

Vergangenheit herumzuwühlen brauchen. Wichtig ist, jetzt unsere<br />

Fehler einzugestehen und sie zu korrigieren. Durch unsere Inventur<br />

werden wir mit unserer Vergangenheit fertig. Wir können sie getrost<br />

hinter uns lassen. Wenn wir unsere Inventur sorgfältig gemacht<br />

haben und im Frieden mit uns leben, sind wir sicher, dass wir uns<br />

den Problemen von morgen stellen können, so wie sie auf uns<br />

zukommen werden.


Grundsätzlich sind alle Inventuren gleich, nur der Zeitpunkt ist<br />

verschieden. Da gibt es zum Beispiel die Sofort-Inventur, die wir zu<br />

jeder Tageszeit machen können, wenn wir uns in einem inneren<br />

Zwiespalt befinden. Eine andere machen wir am Ende des Tages,<br />

wenn wir einen Rückblick halten auf die vergangenen Stunden. Wir<br />

erstellen unseren Tagesauszug. Auf die Guthabenseite schreiben<br />

wir, was wir richtig gemacht haben, auf die Sollseite unsere Fehler.<br />

Schließlich gibt es noch die Inventuren, die wir von Zeit zu Zeit<br />

allein, mit unserem Sponsor oder einem anderen Vertrauten<br />

machen und bei denen wir sorgfältig die Fortschritte überdenken,<br />

die wir seit der letzten Inventur gemacht haben. Viele Anonyme<br />

Alkoholiker machen jährlich oder halbjährlich einen gründlichen<br />

Hausputz. Viele von uns ziehen sich gern einen oder mehrere Tage<br />

in die Stille zurück, um ungestört die Ruhe für eine<br />

Selbsterforschung und Selbstbesinnung zu finden.<br />

Sind solche Übungen nicht Freudetöter und Zeitverschwender?<br />

Müssen Anonyme Alkoholiker die meiste Zeit des Tages damit<br />

verbringen, trübselig nach Versäumnissen oder Fehlern zu suchen?<br />

Wohl kaum. <strong>Der</strong> auf die Inventur gelegte Nachdruck erscheint uns<br />

nur darum so schwer, weil sehr viele von uns sich niemals an eine<br />

gründliche Selbsterforschung gewöhnt haben. Ist sie einmal zum<br />

festen Bestandteil geworden, finden wir sie so interessant und<br />

vorteilhaft, dass uns die dafür aufgewandte Zeit nicht leid tut. Denn<br />

durch diese Minuten, manchmal auch Stunden der<br />

Selbsterforschung werden alle anderen Stunden des Tages besser<br />

und schöner. Auf die Dauer gesehen wird unsere Inventur fester<br />

Bestandteil des täglichen Lebens und ist nichts Außergewöhnliches<br />

oder Besonderes mehr.<br />

Bevor wir fragen, was der Begriff "Sofort-Inventur" bedeutet, wollen<br />

wir zeigen, wann sie angebracht ist.<br />

Es ist eine Tatsache, dass immer dann, wenn wir eine innere<br />

Unruhe verspüren, mit uns etwas nicht in Ordnung ist. Wenn uns<br />

jemand verletzt und wir uns dadurch gekränkt fühlen, sind auch wir<br />

im Unrecht. Gibt es denn keine Ausnahme von dieser Regel? Gibt<br />

es nicht einen "berechtigten" Zorn? Wenn uns jemand betrügt,<br />

dürfen wir dann nicht verärgert sein? Können wir uns nicht einmal<br />

über selbstgerechte Menschen aufregen? Für uns Anonyme<br />

Alkoholiker wären das gefährliche Ausnahmen. Wir haben erfahren,


dass wir berechtigten Zorn den Leuten überlassen sollten, die<br />

besser damit umgehen können.<br />

Keiner leidet mehr unter Stimmungen als gerade wir Alkoholiker.<br />

Dabei spielt es keine Rolle, ob unsere Gereiztheit berechtigt ist oder<br />

nicht. Ein Wutausbruch kann uns den ganzen Tag verderben. Ein<br />

Groll, den wir noch schüren, lähmt unsere Aktivitäten. Wir haben nie<br />

gelernt, zwischen berechtigtem und unberechtigtem Zorn zu<br />

unterscheiden. Nach unserer Ansicht waren wir immer im Recht. Ein<br />

Wutausbruch, den sich ausgeglichene Menschen als gelegentlichen<br />

Luxus leisten können, würde bei uns einen seelischen Knacks<br />

bewirken. Dieser Trockenrausch kann sehr schnell wieder zur<br />

Flasche führen. Das gleiche kann bei anderen seelischen<br />

Störungen wie Eifersucht, Neid, Selbsthilfe und verletztem Stolz<br />

passieren.<br />

Wenn wir mitten in solch einem Gefühltem eine Sofort-Inventur<br />

machen, spüren wir, wie unser innerer Aufruhr abklingt. Eine Sofort<br />

kann in jeder Situation des täglichen Lebens gemacht werden.<br />

Länger andauerndem Schwierigkeiten sollten wir besser<br />

zurückstellen, bis wir eine ruhige Stunde der Besinnung haben, um<br />

uns damit zu beschäftigen. Die Sofort-Inventur ist für das tägliche<br />

Auf und Ab unserer Stimmungen geeignet, besonders Dann, wenn<br />

Menschen oder besondere Ereignisse uns aus dem Gleichgewicht<br />

werfen und zu Fehlern verleiten.<br />

In all diesen Situationen brauchen wir Selbstbeherrschung und<br />

klaren Überblick, die Bereitschaft zuzugeben, wenn die Schuld bei<br />

uns liegt, und die gleiche Bereitschaft zu vergeben, wenn die<br />

Schuld bei anderen liegt. Wir brauchen nicht entmutigt zu sein,<br />

wenn wir wieder in alte Fehler zurückfallen, denn diese Tugenden<br />

sind nicht leicht. Wir sollen uns um Fortschritt, nicht um Perfektion<br />

bemühen.<br />

Unser erstes Ziel ist, Selbstbeherrschung zu erlernen. Das sollte an<br />

oberster Stelle stehen. Wenn wir hastig oder unüberlegt reden oder<br />

handeln, verlieren wir Übersicht und Toleranz. Eine unfreundliche<br />

Bemerkung oder ein eigensinniges schnippisches Urteil können<br />

unsere Beziehung zu einem anderen Menschen einen ganzen Tag,<br />

vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang trüben. Nichts zahlt sich so aus<br />

wie die Beherrschung von Zunge und Feder. Wir müssen


aufbrausende Kritik und wütende Schimpfkanonaden vermeiden.<br />

Das gleiche gilt für trotziges Gekränktsein und für schweigende<br />

Verachtung. Das sind heimtückische Fallen für unser Gefühlsleben.<br />

Die Köder sind Stolz und Rachsucht. Als erstes sollten wir<br />

versuchen, diese Fallen zu umgehen. Wir sollten uns so weit in den<br />

Griff bekommen, dass wir anhalten und nachdenken können, sobald<br />

uns der Köder lockt. Denn wir können nicht positiv denken oder<br />

handeln, bevor wir nicht automatisch unsere Selbstbeherrschung<br />

einsetzen.<br />

Nicht allein unangenehme oder unerwartete Schwierigkeiten sind<br />

es, die von uns Selbstbeherrschung fordern. Wir brauchen sie<br />

ebenso nötig, wenn wir auf dem Weg zu Anerkennung und<br />

materiellem Erfolg sind. Niemand hat persönliche Triumphe mehr<br />

genossen als wir. Wie Wein haben wir den Erfolg getrunken, der<br />

uns einen Glücksrausch brachte. Hatten wir vorübergehend einmal<br />

Glück, dann schwelgten wir in unseren Phantasien von noch<br />

größerer Macht über Menschen und Dinge. Durch hochmütige<br />

Überschätzung geblendet spielten wir den großen Mann. Die<br />

anderen wandten sich natürlich von uns ab, gelangweilt oder<br />

verletzt.<br />

Obwohl wir jetzt zu der AA-Gemeinschaft gehören und nüchtern<br />

sind und die Achtung unserer Freunde und Mitarbeiter<br />

zurückgewinnen, müssen wir immer noch besonders wachsam sein.<br />

Die beste Versicherung gegen Grosstuerei ist eine Selbstprüfung,<br />

bei der wir uns erinnern, dass wir heute nur durch die Gnade Gottes<br />

nüchtern sind und dass gelegentlicher Erfolg weit mehr Sein als<br />

unser Verdienst ist.<br />

Schließlich kommen wir zu der Erkenntnis, dass alle Menschen,<br />

auch wir selbst, irgendwie seelisch gestört und oft im Irrtum sind.<br />

Das bringt uns wahrer Toleranz näher, und wir erkennen echte<br />

Liebe zu unseren Mitmenschen. Je weiter wir in unserer<br />

persönlichen Entwicklung vorwärtskommen, desto klarer wird uns,<br />

wie sinnlos es ist, sich zu ärgern oder sich verletzten zu lassen<br />

durch Menschen, die genau wie wir unter den Schmerzen des<br />

Erwachsenwerdens leiden.<br />

Solch ein radikaler Wandel in unserer Einstellung braucht Zeit,<br />

vielleicht lange Zeit. Kaum jemand kann von sich behaupten, dass


er jeden liebt. Die meisten von uns müssen zugeben, dass sie nur<br />

wenige Menschen je wirklich geliebt haben. Die meisten waren uns<br />

ziemlich gleichgültig, solange sie uns in Ruhe ließen. Und der Rest<br />

war uns unsympathisch oder verhasst. Wenn solch eine Einstellung<br />

auch allgemein verbreitet ist, so brauchen wir AA andere Maßstäbe,<br />

um unser Gleichgewicht zu halten. Wir verlieren die Balance, wenn<br />

wir tief hassen. Wir sollten wenigstens schrittweise mit dem Irrtum<br />

aufräumen, wir könnten wenige besitzergreifend lieben, die übrigen<br />

ignorieren oder überhaupt jemanden fürchten oder hassen.<br />

Wir wollen versuchen, keine unvernünftigen Forderungen mehr an<br />

die Menschen zu stellen, die wir lieben. Wir können versuchen,<br />

freundlich zu sein, wo wir bisher unfreundlich waren. Wir können<br />

damit anfangen, höflich und gerecht denen gegenüber zu sein, die<br />

wir nicht mögen, indem wir uns besonders bemühen, sie zu<br />

verstehen oder ihnen zu helfen.<br />

Wenn wir uns diesen Menschen gegenüber falsch verhalten,<br />

können wir es sofort zugeben - uns selbst gegenüber immer, den<br />

Betroffenen gegenüber auch, wenn dieses Eingeständnis nicht<br />

schadet. Höflichkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe sind<br />

Voraussetzungen für ein harmonisches Verhältnis mit allen<br />

Menschen. Sind wir im Zweifel, sollten wir einen Moment innehalten<br />

und sagen: "Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!" Und wir<br />

können uns auch fragen: "Verhalte ich mich heute anderen<br />

gegenüber so, wie ich es von ihnen mir gegenüber erwarte?"<br />

Am Abend, vielleicht vor dem Einschlafen, ziehen viele von uns eine<br />

Tagesbilanz. Das ist eine Gelegenheit, sich zu erinnern, dass eine<br />

Bilanz nicht nur rote Zahlen aufweisen muss. Das wäre in der Tat<br />

ein armer Tag, an dem wir nicht wenigstens etwas Positives<br />

zustande gebracht hätten. In Wirklichkeit sind alle wachen Stunden<br />

mit konstruktiven Dingen ausgefüllt. Gute Vorsätze, gute Gedanken<br />

und gute Taten werden uns nun bewusst. Selbst wenn wir uns viel<br />

vorgenommen und doch nicht alles geschafft haben, können wir uns<br />

ein Plus aufschreiben. So kann Negatives in Gewinn umgewandelt<br />

werden. Das gibt uns Kraft für unseren weiteren Weg. Jemand, der<br />

genau wusste, was er sagte, bemerkte einmal, dass Schmerz der<br />

Prüfstein allen spirituellen Fortschritts ist. Wir AA können ihm aus<br />

ganzem Herzen beipflichten, denn wir wissen, dass wir erst den<br />

Leidensweg des Alkoholikers gehen mussten, ehe wir die


Nüchternheit erlangten, dass wir zuerst die seelische Zerrissenheit<br />

durchmachen mussten, ehe wir Gelassenheit fanden.<br />

Wenn wir auf die Minusseite unserer Tagesbilanz schauen, wollten<br />

wir sorgfältig unsere Beweggründe für falsche Gedankengänge<br />

oder Handlungen untersuchen. In den meisten Fällen ist es nicht<br />

schwer die Beweggründe zu erkennen und zu verstehen. Waren wir<br />

stolz, wütend, eifersüchtig, ängstlich, furchtsam, dann handelten wir<br />

entsprechend. Das sind die Tatsachen. Hier brauchen wir nur<br />

festzuhalten, dass wir schlecht gehandelt oder gedacht haben. Wir<br />

versuchen, uns vorzustellen, wie wir es hätten besser machen<br />

können. Wir beschließen, mit Gottes Hilfe die Lehren, die wir daraus<br />

gezogen haben, morgen anzuwenden und wieder gut zu machen,<br />

was noch offen steht.<br />

In anderen Fällen müssen wir tief forschen, um unsere wahren<br />

Beweggründe herauszufinden. Das sind die Fälle, in denen sich<br />

unsere alte Gewohnheit, das Erfinden von Ausreden, wider<br />

einschlich und unser wirklich falsches Verhalten rechtfertigte. Immer<br />

waren wir versucht, unserem Handeln gute Beweggründe<br />

unterzuschieben. Hier lag der Irrtum.<br />

Wir bildeten uns ein, wir hätten jemanden "konstruktiv kritisiert", der<br />

es nötig hatte. Unser wirkliches Motiv war jedoch, einen schwachen<br />

Standpunkt zu überspielen. Ein anderer Fall: Es wird über einen<br />

Menschen gesprochen, der nicht anwesend ist. Wir geben vor,<br />

anderen seine Art verständlich zu machen. In Wirklichkeit geht es<br />

uns darum, dem Abwesenden überlegen zu sein, indem wir ihn<br />

abwerten. Manchmal verletzen wir die, die wir lieben, weil wir "es<br />

ihnen mal zeigen wollen". Unser wirkliches Motiv jedoch ist, sie zu<br />

bestrafen. Wir waren deprimiert und klagten, dass es uns schlecht<br />

gehe. In Wirklichkeit suchten wir hauptsächlich Sympathie und<br />

Beachtung. Diese sonderbare Art unseres Verstandes und unseres<br />

Gefühls, dieser merkwürdige Wunsch, ein schlechtes Motiv hinter<br />

einem guten zu verstecken, zieht sich durch alle Bereiche des<br />

menschlichen Lebens. Diese kaum wahrnehmbare und<br />

unerklärliche Art der Selbstgerechtigkeit kann hinter dem<br />

nebensächlichsten Denken und Tun versteckt sein. Das Wichtigste<br />

für die Persönlichkeitsbildung und für ein sinnvolles Leben ist,<br />

täglich Fehler zu entdecken, zuzugeben und zu verbessern.<br />

Aufrichtiges Bedauern über den Schaden, den wir angerichtet


haben, und die Bereitschaft, es morgen besser zu machen - das<br />

sind die dauerhaften Werte, die wir anstreben.<br />

Haben wir so unseren Tag betrachtet und nicht versäumt, unsere<br />

guten Taten zu zählen, und haben wir furchtlos in unserem Inneren<br />

geforscht, dann können wir Gott aufrichtig für die Segnungen des<br />

heutigen Tages danken und mit gutem Gewissen schlafen


<strong>Der</strong> Elfte <strong>Schritt</strong><br />

“Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste<br />

Verbindung zu Gott - wie wir ihn verstanden - zu vertiefen. Wir<br />

baten Ihn nur, uns seinen Willen erkennbar werden zu lassen<br />

und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.“<br />

Für eine bewusste Verbindung zu Gott sind Gebet und Besinnung<br />

das Wichtigste.<br />

Wir Anonymen Alkoholiker sind aktive Leute. Wir erfreuen uns,<br />

vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben, an alltäglichen Dingen,<br />

und darum bemühen wir uns auch, dem Hilfe suchenden Alkoholiker<br />

mit unserer ganzen Kraft beizustehen. Kein Wunder, dass wir oft<br />

dazu neigen, ernste Besinnung und Gebete zu vernachlässigen.<br />

Gewiss, wir spüren, dass wir dadurch in Notlagen Hilfe finden, doch<br />

zunächst sehen wir Gebet und Besinnung als eine etwas<br />

geheimnisvolle Fertigkeit der Geistlichen an, von der wir uns<br />

höchstens einen Nutzen aus zweiter Hand versprechen. Oder<br />

vielleicht glauben wir überhaupt nicht an diese Dinge.<br />

Einigen neuen Freunden und einstigen Agnostikern, die sich noch<br />

an die AA-Gruppe als ihre Höhere Macht klammern, erscheint die<br />

Kraft des Gebetes trotz aller Logik und Erfahrung immer noch wenig<br />

überzeugend oder sogar zweifelhaft. Wer von uns früher ebenso<br />

dachte, hat sicher dafür Verständnis und Sympathie. Wir erinnern<br />

uns noch gut daran, wie etwas tief in uns bei dem Gedanken<br />

rebellierte, uns vor irgendeinem Gott zu beugen. Viele konnten mit<br />

starken logischen Argumenten "beweisen", dass es überhaupt<br />

keinen Gott gab. Wie ist es mit all den Unfällen, Krankheiten,<br />

Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten in der Welt? Wie ist es mit all<br />

diesen bedauernswerten Menschen, die als Behinderte geboren<br />

oder durch unglückliche Umstände dazu wurden? Sicher kann es in<br />

der Ordnung dieser Dinge keine Gerechtigkeit und darum auch<br />

keinen Gott geben.<br />

Manchmal gingen unsere Gedanken auch andere Wege. Freilich,<br />

sagten wir uns, war wahrscheinlich zuerst die Henne und dann das<br />

Ei da. Zweifellos hat das Universum eine Art Ursprung, vielleicht<br />

den "Gott des Atoms", mal heiß, mal kalt, mit Eiszeiten und<br />

Hitzeperioden. Es gab keinen Beweis für die Existenz eines Gottes,<br />

der etwas von den Menschen wusste oder sich um ihre Belange


kümmerte. Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker fanden wir<br />

gut und waren sofort bereit, zuzugeben, dass durch sie Wunder<br />

geschehen. Doch vor Gebet und Besinnung schreckten wir genau<br />

so hartnäckig zurück wie der Wissenschaftler, der sich weigert, ein<br />

Experiment durchzuführen aus Furcht, seine Lieblings-Theorie<br />

könnte sich als falsch erweisen. Schließlich wagten wir uns doch an<br />

das Experiment. Zeigten sich unerwartete Erfolge, änderte sich<br />

unsere Einstellung, jetzt wussten wir tatsächlich, dass alles anders<br />

war. So fanden wir den Weg zu Gebet und Besinnung. Das kann<br />

jedem anderen Menschen genau so ergehen, wenn er es nur<br />

versucht. Es steckt viel Wahrheit in dem Satz: Wer über das Gebet<br />

spottet, hat es noch nie richtig ausprobiert.<br />

Wer sich an regelmäßiges Beten gewöhnt hat, kann darauf ebenso<br />

wenig wie auf Luft, Nahrung und Sonne verzichten, und zwar aus<br />

dem gleichen Grund. Unser Körper leidet, wenn wir ihm Licht, Luft<br />

und Nahrung vorenthalten. Und ebenso entziehen wir unserer<br />

Seele, unserem Gefühl und unserem Geist lebensnotwendige Kraft,<br />

wenn wir uns von Gebet und Besinnung abwenden. Die Seele<br />

erkrankt genauso aus Mangel an Nahrung wie der Körper. Wir alle<br />

brauchen das Licht göttlicher Existenz, Seinen Kraftquell und den<br />

Einfluss Seiner Gnade. Diese zeitlose ewige Wahrheit wird durch<br />

erstaunliche Tatsachen aus dem Leben Anonymer Alkoholiker<br />

bestätigt.<br />

Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Selbsterforschung,<br />

Besinnung und Gebet. Selbst wenn wir sie getrennt praktizieren,<br />

können sie große Erleichterung bringen und von Nutzen sein.<br />

Stellen wir diese Übungen in logischen Bezug und verflechten sie<br />

miteinander, dann werden sie zur unerschütterlichen Grundlage des<br />

Lebens. Hin und wieder wird uns vielleicht ein Blick in die<br />

unendliche Wirklichkeit geschenkt, in das Reich Gottes. Und wir<br />

werden erleichtert sein und die Gewissheit haben, dass unser<br />

eigenes Schicksal dort so lange sicher aufgehoben ist, wie wir uns<br />

trotz aller Unsicherheiten ernsthaft bemühen, den Willen unseres<br />

Schöpfers zu erkennen und ihn auszuführen.<br />

Wie wir bereits wissen, ist Selbsterforschung das Mittel, durch das<br />

wir neuen Einblick, Tatkraft und Gnade erlangen, um die dunkle und<br />

negative Seite unserer Persönlichkeit annehmen zu können. Die<br />

Selbsterforschung ist ein <strong>Schritt</strong>, die Demut zu entfalten, die uns für


Gottes Hilfe aufnahmebereit macht. Noch ist das nur ein <strong>Schritt</strong>,<br />

aber wir wollen weitergehen. Wir möchten, dass das Gute, das in<br />

uns allen steckt, selbst im Schlechtesten, wächst und blüht. Ganz<br />

gewiss brauchen wir dazu eine gesunde Luft und eine Menge<br />

Nahrung. Vor allem brauchen wir die Sonne, denn im Dunkeln<br />

gedeiht nicht viel. Die Meditation führt uns in die Sonne. Doch wie<br />

können wir meditieren?<br />

Im Laufe der Jahrhunderte wurden natürlich reiche Erfahrungen auf<br />

dem Gebiet von Meditation und Gebet gesammelt. Die Bibliotheken<br />

der Welt und die Stätten der Gottesverehrung sind Schatzkammern<br />

für alle Suchenden. Es ist zu hoffen, dass sich jeder AA, der einer<br />

Religion angehört, die sich auf Meditation stützt, dieser Verbindung<br />

wieder zuwendet und sie besser praktiziert als zuvor. Doch wie<br />

steht es mit uns anderen, die nicht in dieser glücklichen Lage sind<br />

und nicht einmal wissen, wie und wo sie anfangen sollen?<br />

Nun, vielleicht beginnen wir so. Zuerst suchen wir ein wirklich gutes<br />

Gebet. Wir brauchen nicht lange zu suchen: Die großen Männer<br />

und Frauen aller Religionen haben uns davon ein wundervolles<br />

Angebot hinterlassen. Nehmen wir ein klassisches Beispiel. Sein<br />

Verfasser war ein Mann, der seit Jahrhunderten als Heiliger gilt.<br />

Diese Tatsache sollte uns nicht voreingenommen machen und<br />

abschrecken. Auch wenn er kein Alkoholiker war, durchlitt er genau<br />

wie wir seelische Qualen. Nach all seinen schmerzhaften<br />

Erfahrungen wurde dieses Gebet der Ausdruck dessen, was er<br />

dann erkennen und fühlen konnte, und wie er werden wollte.<br />

"HERR, mach mich zum Werkzeug Deines Friedens!<br />

Wo Hass herrscht, lass mich Liebe bringen,<br />

Wo Kränkung - Vergebung,<br />

Wo Zwietracht - Versöhnung,<br />

Wo Irrtum - Wahrheit,<br />

Wo Zweifel - den Glauben,<br />

Wo Verzweiflung - die Hoffnung,<br />

Wo Finsternis - Licht,<br />

Wo Traurigkeit - Freude!<br />

O, Herr, lass mich immer mehr danach verlangen,<br />

Andere zu trösten, als selbst getröstet zu werden,<br />

Andere zu verstehen, als selbst verstanden zu werden,<br />

Denn: Nur im Geben liegt wahrer Gewinn.


Im Selbstvergessen der Friede,<br />

Im Verzeihen Vergebung,<br />

Und nur im Sterben erwachen wir<br />

Zum Ewigen Leben.<br />

Amen."<br />

(Franz v. Assisi)<br />

Da wir noch keine Erfahrung mit der Meditation haben, sollten wir<br />

nun dieses Gebet mehrere Male ganz langsam lesen, jedes Wort in<br />

uns aufnehmen und versuchen, die tiefe Bedeutung jedes Satzes<br />

und jedes Gedankens zu erfassen. Es wird uns helfen, wenn wir<br />

uns nicht innerlich gegen das, was unser Freund sagt, sträuben. In<br />

der Meditation hat die Debatte keinen Platz. Wir verweilen ruhig bei<br />

den Gedanken dieses weisen Mannes, damit wir Erfahrung<br />

sammeln und daraus lernen können.<br />

Wir wollen uns so entspannen, als ob wir am Strand in der Sonne<br />

lägen; wir wollen die spirituelle Atmosphäre, die aus diesem Gebet<br />

strömt, tief in uns aufnehmen. Bereitwillig wollen wir an der<br />

spirituellen Kraft, Schönheit und Liebe dieser herrlichen Worte<br />

teilhaben und uns daran stärken und aufrichten. Nun wollen wir das<br />

Meer betrachten und über sein Geheimnis nachdenken. Dann<br />

richten wir unseren Blick auf den fernen Horizont mit all seinen<br />

unsichtbaren Wundern, die wir suchen.<br />

"So ein Unsinn", wirft jemand ein, "das ist doch nicht realistisch".<br />

Wenn solche Gedanken aufkommen, sollten wir ein wenig reumütig<br />

daran zurückdenken, welche Phantasie wir aufbrachten, um uns mit<br />

Hilfe der Flasche eine Wirklichkeit vorzutäuschen. Das war doch<br />

unsere Art zu denken, nicht wahr? Und fallen wir heute nicht immer<br />

wieder, obwohl wir nüchtern sind, in die alte Denkweise zurück?<br />

Vielleicht lag unsere Schwierigkeit darin, dass wir unsere Phantasie<br />

nicht benutzten. Vielleicht war unsere wirkliche Schwierigkeit aber<br />

die totale Unfähigkeit, unsere Phantasie auf die richtigen Ziele zu<br />

lenken. Gegen produktive Phantasie ist nichts einzuwenden. Darauf<br />

beruht schließlich jeder gesunde Fortschritt. Niemand kann ein<br />

Haus bauen, ohne dass er sich vorher eine Vorstellung davon<br />

gemacht hat. Ähnlich ist es mit der Meditation. Durch sie bekommen<br />

wir eine innere Vorstellung von unseren spirituellen Zielen, bevor wir<br />

uns darum bemühen.


Jetzt wollen wir noch einmal zurückkehren zu dem Sonnenstrand -<br />

zu den Ebenen oder zu den Bergen, wenn dir das lieber ist.<br />

Nachdem wir uns mit diesen einfachen Hilfsmitteln eingestimmt<br />

haben, und uns so ungestört auf unsere konstruktiven<br />

Vorstellungen konzentrieren, können wir Folgendes tun: Wir lesen<br />

unser Gebet noch einmal und versuchen, seine wahre Bedeutung<br />

zu erkennen. Dann denken wir über den Mann nach, der es zuerst<br />

gebetet hat. Vor allem wollte er ein Werkzeug Gottes werden. Dann<br />

bat er um die Gnade, jedem Menschen Liebe, Vergebung,<br />

Harmonie, Wahrheit, Glauben, Hoffnung, Licht und Freude zu<br />

bringen, soweit ihm das möglich war. Dann brachte er seine<br />

Sehnsucht und seine Hoffnung für sich selbst zum Ausdruck. Er<br />

hoffte, mit Gottes Willen auch einige dieser Segnungen zu finden.<br />

Er wollte es durch Selbst-Vergessen versuchen. Was meinte er mit<br />

Selbst-Vergessen, und wie konnte man dies seiner Ansicht nach<br />

erreichen?<br />

Er meinte, es sei besser, Trost zu spenden als zu empfangen, es<br />

sei besser, zu verstehen als verstanden zu werden, es sei besser,<br />

zu vergeben als Vergebung zu finden. Das könnte ein kleiner Teil<br />

der Meditation sein, vielleicht unser erster Versuche in einer<br />

besonderen Stimmung, ein Einblick in spirituelle Bereiche. Darauf<br />

sollte ein fester Blick auf unseren Standpunkt folgen, ein weiterer<br />

auf das, was in unserem Leben geschehen könnte, wenn wir uns<br />

dem Ideal nähern, von dem wir jetzt eine winzige Vorstellung haben.<br />

Die Meditation kann immer weiter ausgebaut werden. Ihr sind in<br />

keiner Richtung Grenzen gesetzt. Angeregt durch Erfahrung und<br />

Beispiel anderer bleibt die Meditation dennoch ein persönliches<br />

Erlebnis, etwas, was jeder auf seine eigene Weise verarbeitet. Das<br />

Ziel ist jedoch immer das gleiche: Unsere bewusste Verbindung zu<br />

Gott, zu Seiner Gnade, Weisheit und Liebe zu vertiefen. Wir wollen<br />

immer daran denken, dass die Meditation tatsächlich sehr lohnend<br />

ist.<br />

Als erstes wird sich innere Ausgeglichenheit einstellen. Dadurch<br />

können wir die Verbindung zwischen uns und Gott, wie wir Ihn<br />

verstehen, erweitern und vertiefen. Was ist über das Gebet zu<br />

sagen? Im Gebet wenden wir Herz und Seele Gott zu, und so<br />

gesehen ist die Meditation mit eingeschlossen. Wie sollen wir das<br />

machen? Und wie vereinbart es sich mit der Meditation? Unter


Beten versteht man im allgemeinen, Gott um etwas zu bitten. Erst<br />

stellen wir die Verbindung zu Gott her, so gut wir können. Dann<br />

versuchen wir, um die rechten Dinge zu bitten, die wir und andere<br />

am dringendsten brauchen. Wir sind der Meinung, dass alle unsere<br />

Bedürfnisse in dem Teil des Elften <strong>Schritt</strong>es erklärt sind, der lautet:<br />

"...Wir baten ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen<br />

und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen".<br />

Am Morgen denken wir an die vor uns liegenden Stunden. Vielleicht<br />

denken wir an unsere tägliche Arbeit und an die Möglichkeiten,<br />

nützlich und hilfreich zu sein, oder wir denken an eine besondere<br />

Schwierigkeit, die sich im Laufe des Tages ergeben kann.<br />

Möglicherweise erleben wir heute die Fortsetzung eines ernsten und<br />

noch ungelösten Problems von gestern. Sofort überkommt uns die<br />

Versuchung, um bestimmte Lösungen für bestimmte Probleme zu<br />

bitten und um die Fähigkeit, anderen Menschen so helfen zu<br />

können, wie wir es uns bereits vorgestellt hatten. In diesem Fall<br />

bitten wir Gott, unseren Willen auszuführen. Deshalb sollten wir jede<br />

Bitte sorgfältig auf ihren wahren Inhalt hin prüfen. Selbst wenn wir<br />

besondere Anliegen haben, sollten wir jeder Bitte diese<br />

Einschränkung hinzufügen: "...wenn es Dein Wille ist". Wir bitten<br />

ganz einfach darum, dass wir während des ganzen Tages<br />

verstehen mögen, was Gottes Wille ist und dass wir die Gnade<br />

erhalten, Seinen Willen auszuführen.<br />

Wenn wir im Laufe des Tages vor Situationen gestellt werden, in<br />

denen wir Entscheidungen treffen müssen, sollten wir uns einen<br />

Moment besinnen und einfach die Bitte wiederholen: "Dein Wille<br />

geschehe, nicht meiner!" Ist in kritischen Situationen unsere innere<br />

Erregung besonders groß, stellen wir unser seelisches<br />

Gleichgewicht wieder her, wenn wir uns ein bestimmtes Gebet oder<br />

einen bestimmten Satz aus unserer Literatur oder aus der<br />

Meditation ins Gedächtnis zurückrufen. Ständiges Wiederholen wird<br />

uns oft den Weg öffnen, der durch Ärger und Angst, durch<br />

Aufregungen und Missverständnisse versperrt war. Das führt uns<br />

dorthin zurück, wo wir am sichersten Hilfe finden: In schwierigen<br />

Situationen zu versuchen, den Willen Gottes zu erkennen, nicht<br />

unseren. Wenn wir uns in kritischen Augenblicken daran erinnern,<br />

dass "es besser ist zu trösten als getröstet zu werden, zu lieben als<br />

geliebt zu werden", dann handeln wir im Sinne des elften <strong>Schritt</strong>es.


Natürlich ist die häufige Frage vernünftig und verständlich: "Warum<br />

können wir nicht ein bestimmtes und uns besonders<br />

beunruhigendes Problem Gott direkt vortragen und im Gebet eine<br />

sichere und definitive Antwort auf unser Bitten erhoffen?"<br />

Das kann man tun, doch ist es ein Risiko. Es gibt Anonyme<br />

Alkoholiker, die mit großem Ernst und Glauben Gott um ganz<br />

besondere Führung in vielerlei Dingen gebeten haben, ob es sich<br />

dabei um zerrüttete häusliche oder finanzielle Verhältnisse oder um<br />

die Beseitigung eines kleineren persönlichen Fehlverhaltens, wie<br />

Unentschlossenheit, handelte. Sehr oft sind jedoch Gedanken, die<br />

von Gott zu kommen scheinen, überhaupt keine Antworten. Sie sind<br />

unsere bewussten Ausreden, wenngleich wir die besten Absichten<br />

haben. Anonyme Alkoholiker oder andere, die mit dieser Art Gebet<br />

ihr Leben zu meistern versuchen, indem sie von Gott Antworten auf<br />

egoistische Forderungen erwarten, sind auf dem Holzweg. Jeder<br />

Frage oder Kritik anderer halten sie sofort entgegen, dass sie sich in<br />

allen kleinen und großen Dingen des Lebens auf das Gebet um die<br />

richtige Führung verlassen. Vielleicht denken sie gar nicht daran,<br />

dass eigenes Wunschdenken und die menschliche Neigung, sich<br />

herauszureden, ihre sogenannte Führung verzerren. In bester<br />

Absicht versuchen sie, ihren eigenen Willen in allen Situationen und<br />

bei allen Schwierigkeiten durchzusetzen mit der bequemen<br />

Behauptung, sie handelten im Sinne Gottes. Mit dieser irrigen<br />

Auffassung können sie Verwirrung stiften, ohne es im geringsten zu<br />

beabsichtigen.<br />

Wir können noch einer anderen, ähnlichen Versuchung erliegen.<br />

Wir machen uns unsere eigene Vorstellung, wie Gottes Absicht für<br />

andere Menschen aussehen könnte. Wir sagen: "Dieser Mensch<br />

müsste von seiner schlimmen Krankheit geheilt, der andere sollte<br />

von seinem Gemütsleiden befreit werden..." - und wir beten für<br />

diese speziellen Dinge. Solche Gebete sind im Grunde etwas<br />

Gutes, doch oft beruhen sie auf der Annahme, dass wir Gottes<br />

Absicht für die Menschen kennen, für die wir beten. Das bedeutet,<br />

dass selbst in einem ernsthaften Gebet ein gewisses Maß von<br />

Selbstgefälligkeit und Anmaßung nicht völlig ausgeschlossen<br />

werden kann. Anonyme Alkoholiker haben gelernt, in solchen Fällen<br />

ganz besonders darum zu bitten, dass Gottes Wille - wie er auch<br />

sein mag - für andere wie auch für uns geschehe.


Wir AA wissen aus Erfahrung, dass es über die guten Ergebnisse<br />

des Gebetes keine Zweifel gibt. Durch beharrliches Beten fanden<br />

wir mehr Kraft als wir selbst aufbringen konnten. Wir fanden<br />

Weisheit, die unsere eigenen spirituellen Fähigkeiten übertraf. Wir<br />

fanden zunehmend inneren Frieden, der uns auch unter<br />

schwierigen Umständen einen sicheren Halt gibt. Wir entdecken,<br />

dass unser Leben von dem Zeitpunkt an von Gott gelenkt wird, an<br />

dem wir aufhören, Ihm Forderungen und Bedingungen zu stellen.<br />

Fast jeder erfahrene AA kann von sich berichten, wie für ihn die<br />

Dinge eine merkliche und unerwartete Wendung zum Besseren<br />

genommen haben, nachdem er versucht hatte, die bewusste<br />

Verbindung zu Gott zu vertiefen. Aus jedem seelischen Tief, wenn<br />

Gott nach seiner Ansicht hart oder gar ungerecht mit ihm verfahren<br />

war, konnte er neue Wahrheiten über sich entdecken. Er fand<br />

neuen Mut und kam schließlich unausweichlich zu der<br />

Überzeugung, dass Gott "tatsächlich auf unerforschliche Weise<br />

Seine Wunder an uns vollbringt".<br />

Das alles sollte doch diejenigen ermutigen, die vor dem Gebet<br />

zurückschrecken, weil sie nicht daran glauben oder weil sie sich von<br />

Gottes Hilfe und Seiner Führung abgeschnitten fühlen. Wir alle<br />

machen ohne Ausnahme Zeiten durch, in denen wir nur mit größter<br />

Willensanstrengung beten können. Manchmal geht selbst das nicht.<br />

Wir sind so krank vor innerer Auflehnung, dass wir einfach nicht<br />

beten wollen. Wenn das der Fall ist, sollten wir nicht zu negativ über<br />

uns denken. Sobald wir können, sollten wir wieder zu beten<br />

versuchen und das tun, was nach unserer Erfahrung gut für uns ist.<br />

Vielleicht ist der größte Gewinn, den wir aus Gebet und Meditation<br />

ziehen, das Gefühl des Dazugehörens. Wir leben nun nicht mehr in<br />

einer völlig feindseligen Welt. Wir sind nicht mehr verloren,<br />

verängstigt, ziellos. Von dem Augenblick an, wo wir Gottes Absicht<br />

verspüren, wo wir Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe als die<br />

wirklichen und ewigen Dinge im Dasein erkannt haben, sind wir<br />

nicht mehr so tief erschüttert über das scheinbare Gegenteil, von<br />

dem wir im normalen Leben umgeben sind. Wir wissen, dass Gottes<br />

Liebe wohl über uns wacht. Wir wissen, dass mit uns im Diesseits<br />

und im Jenseits alles gut gehen wird, wenn wir uns Ihm zuwenden.


<strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong><br />

„Nachdem wir durch diese <strong>Schritt</strong>e ein spirituelles Erwachen<br />

erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker<br />

weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen<br />

Grundsätzen auszurichten.“<br />

Lebensfreude ist das Thema des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es der Anonymen<br />

Alkoholiker, und das Schlüsselwort heißt Handeln. Jetzt wenden wir<br />

uns den Menschen zu, die noch unter der Alkoholkrankheit leiden.<br />

Hier erleben wir, dass Geben seliger ist als Nehmen. Von jetzt ab<br />

beginnen wir, alle zwölf <strong>Schritt</strong>e des Programms in unserem<br />

täglichen Leben anzuwenden, sodass wir und die Menschen in<br />

unserer Umgebung innere Zufriedenheit finden. <strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong><br />

in seiner vollen Bedeutung behandelt das, was unter selbstloser<br />

Liebe zu verstehen ist.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong> spricht auch davon, dass wir durch die<br />

Anwendung aller vorhergehenden <strong>Schritt</strong>e etwas gefunden haben,<br />

das wir als spirituelles Erwachen bezeichnen. Neuen scheint dies<br />

oft ein recht zweifelhafter und unwahrscheinlicher Vorgang zu sein.<br />

"Was versteht ihr unter spirituellem Erwachen?" fragen sie.<br />

Vielleicht gibt es ebenso viele Definitionen über spirituelles<br />

Erwachen wie es Menschen gibt, die es erfahren haben. Aber sicher<br />

hat jedes echte Erlebnis dieser Art etwas mit allen anderen<br />

gemeinsam. Und das, was sie alle gemeinsam haben, ist nicht so<br />

schwer zu verstehen. Wenn ein Mann oder eine Frau ein spirituelles<br />

Erwachen erlebt hat, bedeutet das in erster Linie, dass sie fühlen<br />

oder glauben können, was vorher ohne Hilfe und aus eigener Kraft<br />

nicht möglich war. Ihnen wurde das Geschenk eines neuen<br />

Bewusstseins und Lebens zuteil. Sie befinden sich jetzt auf einem<br />

Weg, von dem sie wissen, dass er zu einem Ziel führt; ihr Leben<br />

endet nicht mehr in einer Sackgasse, es ist auch nicht etwas das<br />

man erdulden oder sich erkämpfen muss. Sie sind im wahrsten<br />

Sinne des Wortes umgewandelt, denn sie haben eine Kraftquelle<br />

gefunden, der sie bis jetzt aus dem Weg gegangen waren. Sie<br />

besitzen jetzt mehr Ehrlichkeit, Toleranz, Selbstlosigkeit, innere<br />

Ausgeglichenheit und Liebe, als sie sich je erträumt hatten. Was sie<br />

erhalten haben ist ein kostenloses Geschenk. Um es annehmen zu<br />

können, haben sie sich bis zu einem bestimmten Grad darauf


vorbereiten müssen.<br />

Die Vorbereitung auf dieses Geschenk heißt für uns Anonyme<br />

Alkoholiker, die Zwölf <strong>Schritt</strong>e unseres Programms täglich zu leben.<br />

Darum wollen wir noch einmal kurz zusammenfassen wie weit wir<br />

bis jetzt gekommen sind.<br />

<strong>Der</strong> Erste <strong>Schritt</strong> machte uns mit einem erstaunlichen Widersinn<br />

bekannt: Wir stellten fest, dass wir total unfähig waren, von der<br />

Alkoholbesessenheit loszukommen, bevor wir nicht zugegeben<br />

hatten, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos waren. Im<br />

Zweiten <strong>Schritt</strong> erkannten wir, dass wir allein unsere geistige<br />

Gesundheit nicht wiederherstellen konnten. Um zu überleben,<br />

brauchten wir eine Höhere Macht. Darum haben wir im Dritten<br />

<strong>Schritt</strong> unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes, wie wir<br />

Ihn Verstanden, anvertraut. Zu dem Zeitpunkt entdeckten Atheisten<br />

oder Agnostiker, dass unsere eigene Gruppe oder die<br />

Gemeinschaft der AA als Ganzes als Höhere Macht ausreichen<br />

würden. Beim Vierten <strong>Schritt</strong> angelangt, begann die Suche in<br />

unserem Inneren nach den Gründen für unseren körperlichen,<br />

moralischen und seelischen Bankrott. Wir machten gründlich und<br />

furchtlos Inventur in unserem Innern. Als wir uns mit dem Fünften<br />

<strong>Schritt</strong> befassten, wurde uns klar, dass die allein gemachte Inventur<br />

nicht ausreicht. Wir mussten dem gefährlichen Zustand, mit unseren<br />

Konflikten allein zu leben, ein Ende machen, indem wir sie aufrichtig<br />

Gott und einem anderen Menschen anvertrauten.<br />

Vor dem Sechsten <strong>Schritt</strong> sind viele von uns zurückgeschreckt aus<br />

dem einfachen Grunde, weil wir nicht alle Charakterfehler loswerden<br />

wollten. An einigen hingen wir noch viel zu sehr. Und doch wussten<br />

wir, dass wir mit den Grundgedanken des Sechsten <strong>Schritt</strong>es<br />

irgendwie zurechtkommen mussten. Obwohl wir einige<br />

Charaktermängel noch nicht abstellen konnten, beschlossen wir<br />

jetzt, nicht mehr so stur und widerspenstig daran festzuhalten. Wir<br />

sagten uns: "Vielleicht kann ich es heute noch nicht, aber ich höre<br />

auf 'nein, niemals' zu sagen." Im Siebten <strong>Schritt</strong> baten wir Gott<br />

demütig, unsere Mängel von uns zu nehmen, wobei Er den<br />

Zeitpunkt dafür bestimmen sollte. Im Achten <strong>Schritt</strong> setzten wir<br />

unseren Hausputz fort, denn wir erkannten, dass wir nicht nur mit<br />

uns selbst in Konflikt lebten, sondern auch mit anderen<br />

Menschen und überhaupt mit unserer Umwelt. Wir mussten


anfangen, Frieden mit uns selbst zu schließen. Wir machten eine<br />

Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und<br />

wurden willig, die Dinge in Ordnung zu bringen. Das setzte sich im<br />

Neunten <strong>Schritt</strong> fort. Wir machten bei diesen Menschen alles wider<br />

gut, wo immer es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie<br />

oder andere verletzt. Mittlerweile, beim Zehnten <strong>Schritt</strong> angelangt,<br />

hatten wir schon eine Grundlage für unser tägliches Leben<br />

gefunden. Wir erkannten die Notwendigkeit, die Inventur bei uns<br />

fortzusetzen, und wenn wir Unrecht hatten, es sofort zuzugeben.<br />

Wenn eine Höhere Macht uns unsere geistige Gesundheit<br />

wiedergegeben hat und wir durch sie eine gewisse innere<br />

Ausgeglichenheit erlangt hatten, um in dieser unruhigen Welt leben<br />

zu können, dann lernten wir durch den Elften <strong>Schritt</strong>, dass es sich<br />

lohnte, durch einen möglichst engen Kontakt eine tiefere Erkenntnis<br />

von dieser Höheren Macht zu erlangen. Durch beharrliches Beten<br />

und durch Meditation festigte sich die Verbindung zu Gott. Wo<br />

früher ein Bach floss, strömt jetzt ein Fluss, der uns Kraft und<br />

schützende Führung von Gott bringt, den wir immer besser<br />

verstehen.<br />

Nachdem wir diese Zwölf <strong>Schritt</strong>e auf unser tägliches Leben<br />

angewandt hatten, erlebten wir ein spürbares Erwachen, über das<br />

es letztlich keine Zweifel mehr gibt. Wir können bei denen, die am<br />

Anfang des Weges stehen oder noch an sich selbst zweifeln, bereits<br />

eine Veränderung erkennen. Wir können aus unserer Erfahrung<br />

vorhersagen, dass auch der Zweifler, der behauptet, er verstehe die<br />

geistige Seite nicht, und der immer noch seine AA-Gruppe als die<br />

Höhere Macht ansieht, mit der Zeit Gott lieben und Ihn bei Seinem<br />

Namen nennen wird. Wie steht es nun mit dem Rest des <strong>Zwölfte</strong>n<br />

<strong>Schritt</strong>es? <strong>Der</strong> wundervolle Kraftquell dieses <strong>Schritt</strong>es und die<br />

tatkräftige Weitergabe der Botschaft an noch leidende Alkoholiker,<br />

die Stärke, mit der schließlich alle zwölf <strong>Schritt</strong>e in all unseren<br />

Lebenslagen angewandt werden, sind der wahre Lohn und die<br />

großartige Wirklichkeit des AA-Programms.<br />

Selbst jemand, der ganz neu in der Gemeinschaft ist, sieht sich<br />

unerwartet dadurch belohnt, dass er bereits einem anderen<br />

Alkoholiker helfen kann, dem es noch schlechter geht als ihm. Dies<br />

ist wirklich ein Geben, ohne Gegenleistung zu erwarten. Er erwartet<br />

von dem Hilfesuchenden keine Bezahlung, nicht einmal, dass er ihn<br />

gern hat. Und dann entdeckt er, dass er durch diese selbstlose Art


zu geben bereits belohnt wurde, gleichgültig ob der andere Hilfe<br />

gefunden hat oder nicht. Er selbst mag noch ernsthafte<br />

Charaktermängel haben, doch irgendwie erkennt er, dass Gott ihm<br />

hilft, einen guten Anfang zu machen, und er spürt, dass er vor<br />

neuen Geheimnissen, Freuden und Erfahrungen steht, die er sich<br />

niemals hätte träumen lassen.<br />

Jeder AA berichtet, dass es wirklich keine tiefere Freude geben<br />

kann, als im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es zu helfen. Wir betrachten<br />

die Augen von Männern<br />

und Frauen, die sich mit Staunen öffnen, wenn sie aus der<br />

Dunkelheit ins Licht treten. Wir sehen, wie ihr Leben schnell einen<br />

neuen Sinn und neue Ziele bekommt. Wir erleben, wie sich ganze<br />

Familien wieder vereinen. Wir sehen, wie ein ausgestoßener<br />

Alkoholiker wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wird.<br />

Darüber hinaus erkennen wir, wie diese Menschen die Gegenwart<br />

eines liebenden Gottes in ihrem Leben wahrnehmen. Diese<br />

Erlebnisse sind die Gegenwerte, die wir empfangen, wenn wir die<br />

Botschaft der AA an andere Alkoholiker weitergeben.<br />

Das ist aber nicht alles, was wir im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tun können. Wir<br />

sitzen in AA-Meetings und hören zu, nicht nur um für uns selbst<br />

etwas zu empfangen, sondern auch um durch unsere Anwesenheit<br />

Beispiel und Unterstützung zu sein. Wenn wir in einem Meeting<br />

sprechen, versuchen wir ebenfalls, die AA-Botschaft weiterzugeben.<br />

Ob uns nur einer zuhört oder viele, es ist immer Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n<br />

<strong>Schritt</strong>. Es gibt viele Gelegenheiten, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu sein,<br />

selbst für die, die zu schüchtern sind, im Meeting zu sprechen, und<br />

auch für die, die sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht<br />

um einzelne Alkoholiker kümmern können. Sie könnten die<br />

nebensächlichen und doch wichtigen Dinge übernehmen, die zum<br />

Gelingen des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es beitragen, vielleicht für Getränke<br />

und Atmosphäre sorgen. Schon manch skeptischer und zweifelnder<br />

Neuer hat in gelockerter Unterhaltung Vertrauen gefunden und<br />

begonnen, sich in unserem Kreis wohl zu fühlen. Dies ist im besten<br />

Sinn des Wortes Mitarbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>. "Umsonst habt ihr es<br />

empfangen, umsonst sollt ihr geben..." Das ist der Kern dieses Teils<br />

des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es.<br />

Es kann vorkommen, dass wir durch den <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> Dinge<br />

erleben, die uns scheinbar zeitweise aus dem Gleichgewicht


ingen. Wenn wir darin auch zunächst schwere Rückschläge<br />

sehen, so werden sie sich später als Startpunkt zu besseren Dingen<br />

erweisen. Wir versuchen zum Beispiel mit ganzem Herzen, einer<br />

bestimmten Person zur Nüchternheit zu verhelfen. Nachdem wir<br />

monatelang unser Bestes getan haben, erleben wir ihren Rückfall.<br />

Vielleicht geschieht dies sogar mehrmals hintereinander, und wir<br />

verlieren den Mut und trauen uns nicht mehr zu, die AA-Botschaft<br />

weiterzutragen. Oder die umgekehrte Situation tritt ein: Wir geraten<br />

in Hochstimmung, weil wir offensichtlich erfolgreich waren. Wir sind<br />

versucht, den Neuen zu beherrschen. Vielleicht wollen wir ihm in<br />

seinen Angelegenheiten Ratschläge<br />

geben, für die wir nicht kompetent sind. Wir sind verletzt und<br />

beleidigt, wenn unsere Ratschläge zurückgewiesen werden,<br />

ebenso, wenn sie befolgt werden und noch größeres Durcheinander<br />

anrichten. Mit glühendem Eifer stürzen wir uns auf die Aufgaben es<br />

<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es und bringen die Botschaft so vielen Alkoholikern,<br />

dass man uns auf ein Podest stellt. -Angenommen, sie machen uns<br />

zum Gruppensprecher. Hier geraten wir wieder in Versuchung, alles<br />

zu übertreiben, und oft kommt es dann zu Rückschlägen und<br />

Folgen, die schwer zu ertragen sind. Auf lange Sicht erkennen wir<br />

aber klar, dass die eben genannten Beispiele nur<br />

Wachstumsschmerzen sind. Wir können daraus nur Nutzen ziehen,<br />

wenn wir die Antworten in allen zwölf <strong>Schritt</strong>en suchen.<br />

Nun kommt die größte Frage. Wie können wir unsere tägliches<br />

Leben nach diesen Grundsätzen ausrichten? Sind wir von unserer<br />

neuen Lebensgestaltung genauso begeistert wie in den Zeiten, in<br />

denen wir versuchten, anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu<br />

verhelfen? Können wir die gleiche Liebe und Toleranz, die wir für<br />

die AA-Gruppe empfinden, unseren verzweifelten Familien<br />

entgegenbringen? Können wir die gleiche Art von Vertrauen und<br />

Glauben, die wir zu unserem Sponsor haben, auch den Menschen<br />

schenken, die durch unsere Krankheit gelitten haben und schwer<br />

geschädigt wurden? Können wir den Geist des AA-Programms auf<br />

unser tägliches Leben übertragen? Können wir die Verantwortung<br />

unserer Umwelt gegenüber, die uns jetzt bewusst geworden ist,<br />

übernehmen? Haben wir zu der Religion, der wir angehören, nun<br />

eine neue Beziehung? Können wir neue Lebensfreude dadurch<br />

finden, dass wir versuchen, auf allen Gebieten unsere Bestes zu<br />

tun?


Wie kommen wir außerdem mit scheinbarem Versagen oder Erfolg<br />

zurecht? Können wir jetzt beides hinnehmen und uns hineinfügen<br />

ohne Verzweiflung oder Überheblichkeit? Können wir Armut,<br />

Krankheit, Einsamkeit und schmerzliche Verluste mit Mut und<br />

Gelassenheit hinnehmen? Können wir uns mit bescheidenen, doch<br />

manchmal dauerhafteren Ergebnissen zufrieden heben, wenn uns<br />

glanzvolle Erfolge versagt bleiben?<br />

Unsere Antwort auf die Lebensfrage heißt: "Ja, das alles ist<br />

möglich." Wir haben bei denen, die versucht haben, die Zwölf<br />

<strong>Schritt</strong>e der AA zu praktizieren, gesehen, wie sich Einsamkeit,<br />

Schmerzen und sogar Unglück zum Guten gewandt haben. Wenn<br />

das Tatsachen aus dem Leben vieler durch die AA genesener<br />

Alkoholiker sind, dann können andere Menschen diese Tatsachen<br />

ebenfalls erfahren.<br />

Natürlich haben wir alle AA, auch nicht die besten, einen stets<br />

gleichbleibenden Erfolg. Auch ohne ein erstes Glas getrunken zu<br />

haben, kommen wir oft ins Schleudern. Mit der Gleichgültigkeit<br />

beginnen oft unsere Schwierigkeiten. Wir sind nüchtern und<br />

zufrieden im Kreis der AA-Gemeinschaft. Zu Hause und im Beruf ist<br />

alles in Ordnung. Wir beglückwünschen uns zu etwas, was sich<br />

später als eine viel zu leichtfertige und oberflächliche<br />

Betrachtungsweise herausstellt. Zeitweise tritt bei uns ein Stillstand<br />

ein, denn wir fühlen uns zufrieden und glauben, dass wir für uns<br />

nicht alle zwölf <strong>Schritt</strong>e brauchen. Wenige <strong>Schritt</strong>e genügen uns zu<br />

einem guten Leben. Möglicherweise reichen uns zwei <strong>Schritt</strong>e, der<br />

Erste und der Teil des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es, in dem wir die Botschaft<br />

weitergeben. Im AA-Sprachgebraucht nennt man diesen<br />

euphorischen Zustand: Two-Stepping. Das kann Jahre dauern.<br />

Selbst Anonyme Alkoholiker mit besten Absichten können der<br />

"Zwei-<strong>Schritt</strong>e-Illusion" erliegen. Früher oder später segeln die<br />

rosaroten Wolken davon, und die Dinge entwickeln sich<br />

enttäuschend trübselig. <strong>Der</strong> Gedanke kommt auf, dass die<br />

Gemeinschaft der AA auch nicht das richtige ist. Wir geraten<br />

durcheinander und werden entmutigt.<br />

Wie es nun manchmal im Leben ist, bekommen wir plötzlich einen<br />

dicken Brocken vorgesetzt, den wir kaum schlucken, geschweige<br />

dann verdauen können. Vielleicht werden wir nicht befördert, oder


verlieren die gute Arbeitsstelle. Vielleicht haben wir in der Familie<br />

oder in einer privaten Beziehung ernste Schwierigkeiten. Vielleicht<br />

wird der Sohn, den wir unter Gottes besonderem Schutz glaubten,<br />

Opfer eines Unfalls. Was dann? Besitzen wir Alkoholiker die<br />

Kraftquelle oder können wir sie in der Gemeinschaft der AA finden,<br />

die wir zu Bewältigung dieser großen Schwierigkeiten brauchen, mit<br />

denen viele von uns zu kämpfen haben? Mit solchen<br />

Schicksalsschlägen konnten wir früher nicht fertig werden. Können<br />

wir jetzt mit ihnen mit der Hilfe Gottes, wie wir Ihn verstehen, so gut<br />

und tapfer fertig werden wie unsere Freunde, die keine Alkoholiker<br />

sind? Können wir diese Schwierigkeiten in Gewinn umwandeln, in<br />

Wachstum und in Trost für uns und unsere Angehörigen? Gewiss<br />

haben wir eine Chance, wenn wir nicht nur zwei <strong>Schritt</strong>e<br />

praktizieren, sondern uns mit allen zwölf <strong>Schritt</strong>en befassen, und<br />

wenn wir bereit sind, die Gnade Gottes zu empfangen, die uns bei<br />

jeder Katastrophe stützen und stärken kann.<br />

Im Grunde genommen haben wir alle die gleichen Probleme, doch<br />

bei ehrlichem Bemühen, "diese Prinzipien in allen unseren täglichen<br />

Angelegenheiten anzuwenden", haben überzeugte AA offensichtlich<br />

die Fähigkeit mit Gottes Gnade diese Schwierigkeiten zu bewältigen<br />

und sie so in ein Zeugnis ihres Glaubens umzuwandeln. Wir haben<br />

Anonyme Alkoholiker erlebt, die langwierige Leiden und schlimme<br />

Krankheit fast ohne Klage und oft mit guter Laune ertragen haben.<br />

Manchmal erlebten wir Familien, die durch Missverständnisse,<br />

Spannungen oder tatsächliche Untreue zerbrochen waren und die<br />

durch das Leben im AA-Programm wieder zueinander fanden.<br />

Wenn auch die meisten Anonymen Alkoholiker im Geldverdienen<br />

ziemlich erfolgreich sind, gibt es einige die finanziell nicht auf die<br />

Beine kommen, und andere, die in materieller Hinsicht starke<br />

Rückschläge erleben. Im Allgemeinen werde diese Situationen mit<br />

Stärke und Glauben ertragen.<br />

Wie die meisten Menschen schlucken wir die dicken Brocken, wie<br />

sie kommen. Aber genau wie die anderen tun wir uns schwerer mit<br />

den vielen kleinen und immer wiederkehrenden Scherereien im<br />

Leben. Unsere Antwort darauf heißt, spirituell noch weiter zu<br />

wachsen. Nur so können wir unsere Aussichten auf ein wirklich<br />

zufriedenes und sinnvolles Leben verbessern. Bei unserem<br />

spirituellem Wachstum wird uns klar, dass unsere alte Einstellung


zu unserem Gefühlsleben gründlich überprüft werden muss. Unser<br />

Verlangen nach seelischer Geborgenheit, nach Wohlstand,<br />

persönlichem Ansehen und Macht, nach Glück und einem<br />

zufriedenen Familienleben, all das muss wohlabgewogen und in<br />

eine andere Richtung gelenkt werde. Wir haben gelernt, dass die<br />

Befriedigung unserer natürlichen Triebe nicht allein Sinn und Zweck<br />

unseres Lebens sein kann. Wenn wir unsere natürlichen Triebe an<br />

die erste Stelle setzen, haben wir den Karren vor das Pferd<br />

gespannt; wir erleben die alten Enttäuschungen. Wenn wir jedoch<br />

bereit sind, das geistige Wachstum an die erste Stelle zu setzen,<br />

dann und nur dann haben wir eine reelle Chance.<br />

Nachdem wir uns der Gemeinschaft der AA angeschlossen haben<br />

und wenn wir dort gewachsen sind, ändern sich unsere Einstellung<br />

und Handlungsweise in unserem Streben nach Sicherheit<br />

grundlegend, und zuwar sowohl nach innerer als auch nach<br />

materieller Sicherheit. Unser ichbezogener Drang nach<br />

Geborgenheit führte zu gestörten Beziehungen zu allen anderen<br />

Menschen. Obwohl uns das manchmal gar nicht bewusst war, kam<br />

es am Ende immer auf dasselbe hinaus. Entweder hatten wir<br />

versucht, Gott zu spielen und über unsere Mitmenschen zu<br />

herrschen, oder wir hatten uns im Übermaß von ihnen abhängig<br />

gemacht. Dort wo wir zeitweise einen solchen Einfluss auf das<br />

Leben anderer Menschen hatten, als wären sie noch Kinder, fühlten<br />

wir uns sicher und zufrieden. Wenn sie sich aber schließlich<br />

widersetzten oder wegliefen, waren wir sehr verletzt und bitter<br />

enttäuscht. Wir machten ihnen Vorwürfe und konnten gar nicht<br />

begreifen, dass unsere unvernünftigen Forderungen der Grund<br />

waren.<br />

Wenn wir den entgegengesetzten Weg gingen und darauf<br />

bestanden, dass andere uns beschützen und für uns sorgen sollten,<br />

als wären wir selbst noch Kinder oder als ob die Welt uns unseren<br />

Lebensunterhalt schulde, war das Ergebnis ebenso<br />

niederschmetternd. Durch unsere Verhalten wurden wir von den<br />

Menschen, die wir am meisten liebten, beiseite geschoben und im<br />

Stich gelassen. Unsere Enttäuschung war kaum zu ertragen. Wir<br />

konnten nicht verstehen, wie Menschen so mit uns umgehen<br />

konnten, Wir konnten nicht erkennen, dass wir, obwohl erwachsen<br />

an Jahren, uns immer noch kindisch benahmen und versuchten,<br />

jeden - Freund, Ehefrau, Ehemann, ja die ganze Umwelt - zu


unserem Beschützer zu machen. Wir weigerten uns, die schwierige<br />

Lektion zu lernen, dass zu große Abhängigkeit von anderen<br />

Menschen zu nichts führt. weil alle Menschen Fehler machen und<br />

selbst die besten von uns manchmal enttäuschen, besonders wenn<br />

unsere Forderungen nach Aufmerksamkeit unvernünftig werden.<br />

Nachdem wir in unserem spirituellen Wachstum Fortschritte<br />

gemacht hatten, durchschauten wir solche Torheiten. Wir sahen ein,<br />

dass wir unsere Leben auf Geben und Nehmen einrichten mussten,<br />

wenn wir uns unter Erwachsenen innerlich sicher fühlen wollten. Wir<br />

mussten den Sinn für Partnerschaft oder Brüderlichkeit mit unseren<br />

Mitmenschen entwickeln. Wir erkannten, das wir stets etwas geben<br />

mussten, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Als wir uns<br />

das zur Angewohnheit gemacht hatten, merkten wir, dass wir<br />

unseren Mitmenschen sympathischer waren als vorher. Selbst wenn<br />

sie uns enttäuschten, hatten wir Verständnis und waren nicht all zu<br />

sehr verletzt. Mit fortschreitender Nüchternheit spürten wir, dass<br />

Gott selbst die beste Kraftquelle für unsere innere Festigkeit war.<br />

Wir erfuhren, dass es uns gut tat, uns auf Seine vollkommene<br />

Gerechtigkeit, Vergebung und Liebe zu verlassen. Hier fanden wir<br />

Hilfe, wo nichts anderes half. Wenn wir uns vollkommen auf Gott<br />

verließen, konnten wir schwerlich unseren Mitmenschen gegenüber<br />

Gott spielen, und es drängte uns auch nicht mehr, uns alleine auf<br />

den Schutz anderer Menschen zu verlassen. Diese neue<br />

Einstellung ab uns innere Kraft und Seelenfrieden, die weder durch<br />

Fehler anderer noch durch unverschuldetes Unglück erschüttert<br />

werden konnten.<br />

Diese neue Haltung, das lernten wir bald, war besonders für uns<br />

Alkoholiker dringend notwendig. <strong>Der</strong> Alkoholismus brachte uns<br />

Einsamkeit, auch wenn wir von Menschen umgeben waren, die uns<br />

liebten. Wenn wir durch unsere Eigenwilligkeit alle aus unserer<br />

Umgebung vertrieben hatten und unsere Isolation vollkommen war,<br />

mussten wir in billigen Kneipen den großen Mann spielen, um<br />

anschließend alleine durch die Strassen zu wanken und auf das<br />

Mitgefühl der Passanten zu rechnen. Wir suchten immer noch<br />

seelische Geborgenheit dadurch, dass wir andere beherrschten<br />

oder uns von ihnen abhängig machten. Selbst als wir noch Geld<br />

hatten, standen wir allein in der Welt und suchten vergeblich<br />

Sicherheit, indem wir andere beherrschen wollten oder uns ihnen<br />

unterwarfen. Für alle, die das durchgemacht haben, bekam die


Gemeinschaft der AA eine ganz besondere Bedeutung, und hier<br />

bekamen wir echte Beziehungen zu Menschen, die uns verstanden;<br />

wir brauchten nicht mehr allein zu sein.<br />

Die meisten Verheirateten unter uns führen ein glückliches<br />

Familienleben. Es ist erstaunlich, wie viel Schaden aus der<br />

Trinkerzeit wieder repariert wurde. Wie andere Menschen auch,<br />

haben wir sexuelle und eheliche Probleme, und oftmals sind sie<br />

sehr ernst. Jedoch sind Ehescheidungen und Trennungen bei<br />

Anonymen Alkoholikern gar nicht so häufig. Unsere größte<br />

Schwierigkeit besteht nicht darin, die Ehe aufrechtzuerhalten,<br />

sondern in ihr glücklicher zu werden, indem wir schwere<br />

Gefühlsstörungen abbauen, deren Ursache in unserer Krankheit<br />

liegt.<br />

Fast jeder Mensch verspürt irgendwann in seinem Leben den<br />

starken Wunsch, einen Partner des anderen Geschlechts zu finden,<br />

mit dem er so harmonisch wie möglich in spiritueller, seelischer,<br />

gefühlsmäßiger und körperlicher Gemeinschaft leben kann. Dieser<br />

mächtige Drang ist die Wurzel des menschlichen Daseins, eine<br />

schöpferische Energiequelle, die einen großen Einfluss auf unser<br />

Leben hat. Gott hat uns so geschaffen. Unsere Frage sollte deshalb<br />

lauten: Missbrauchen wir dieses Gottesgeschenk, indem wir uns<br />

selbst zerstören, sei es durch Unwissenheit, Triebhaftigkeit und<br />

Selbstsucht? Wir Anonymen Alkoholiker können uns nicht<br />

anmaßen, klare Antworten auf diese uralten Menschheitsprobleme<br />

zu geben, doch einiges wissen wir aus eigener Erfahrung zu<br />

berichten.<br />

Bei einem trinkenden Alkoholiker entstehen Verhältnisse, die sich<br />

zum Nachteil einer ehelichen Gemeinschaft und eines erträglichen<br />

Zusammenlebens auswirken. Trinkt der Ehemann, wird die Frau<br />

zum Familienoberhaupt und muss häufig auch den Unterhalt<br />

verdienen. Je mehr sich die Dinge verschlechtern, um so mehr wird<br />

der Mann wie ein krankes, unmündiges Kind gehütet, das man<br />

ständig aus Klemmen und Sackgassen herausholen muss. Ganz<br />

allmählich und meist unbewusst wird die Frau in die Rolle der Mutter<br />

eines ungezogenen Jungen gepresst. Ist bei ihr der Mutterinstinkt<br />

von Natur aus stark ausgeprägt, wird die Sache noch schlimmer.<br />

Die meisten Partnerschaften halten das nicht aus. Die Ehefrau<br />

meint immer noch, alles richtig zu machen, doch der Alkoholiker


eginnt, die mütterliche Fürsorge wechselweise zu<br />

lieben und zu hassen. Hier wird ein Verhaltensmuster entwickelt,<br />

das später nur mit großer Mühe abgebaut werden kann. Trotz allem<br />

werden unter dem Einfluss der Zwölf <strong>Schritt</strong>e solche Verhältnisse oft<br />

wieder in Ordnung gebracht.<br />

Ist die Partnerschaft stark gestört, dann ist eine lange Zeit<br />

geduldigen Bemühens erforderlich. Nachdem der Ehemann sich<br />

den Anonymen Alkoholikern angeschlossen hat, wird die Frau<br />

vielleicht unzufrieden, ja, sie nimmt den Anonymen Alkoholikern<br />

sogar übel, dass sie fertig bringen, was ihre Liebe und Hingabe in<br />

vielen Jahren nicht geschafft hat. Ihr Ehepartner betätigt sich<br />

vielleicht bei AA und wird bei seinen neuen Freunden so aktiv, dass<br />

er rücksichtslos von zu Hause fortbleibt, weit mehr als in seiner<br />

Trinkerzeit. Wenn er sieht, wie unglücklich sie ist, empfiehlt er ihr<br />

die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA und versucht, ihr beizubringen, wie sie zu<br />

leben hat. Sie weiß natürlich, dass sie jahrelang das Leben besser<br />

gemeistert hat als er. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe und<br />

fragen sich, ob ihre Ehe jemals wieder glücklich wird. Vielleicht<br />

zweifeln sie daran, ob sie es überhaupt jemals war.<br />

Die partnerschaftlichen Beziehungen können schon so schwer<br />

geschädigt sein, dass eine Trennung notwendig wird. Das sind<br />

jedoch Ausnahmen. Wenn der Alkoholiker erkennt, was seine Frau<br />

durchlitten hat und wie viel Leid er ihr und seinen Kindern zugefügt<br />

hat, übernimmt er gern wieder seine familiäre Verantwortung. Er<br />

versucht, gutzumachen, was ihm möglich ist und hinzunehmen, was<br />

nicht zu ändern ist. Er versucht, auch zu Hause nach den Zwölf<br />

<strong>Schritt</strong>en zu leben, was allen zugute kommt. Er beginnt,<br />

entschlossen und doch behutsam, sich wie ein Partner und nicht<br />

wie ein ungezogener Junge zu benehmen. Schließlich ist er<br />

überzeugt, dass unbekümmerte und romantische Schwärmereien<br />

für ihn nicht die richtige Lebensart sind.<br />

Bei den Anonymen Alkoholikern sind viele Alleinstehende, die gern<br />

heiraten möchten und die dazu auch in der Lage wären. Mancher<br />

findet einen Ehepartner innerhalb der Gemeinschaft. Was wird aus<br />

solchen Ehen? Im allgemeinen werden sie gut. Gemeinsames<br />

Leiden als Trinker, gemeinsames Interesse an der Gemeinschaft<br />

der AA und an spirituellen Dingen vertiefen solche Partnerschaften.<br />

Schwierigkeiten können dann entstehen, wenn sich bei einem AA-


Treffen Mann und Frau auf den ersten Blick verlieben. Wenn zwei<br />

Anonyme Alkoholiker heiraten wollen, sollte ihre Nüchternheit eine<br />

solide Grundlage haben. Sie sollten sich lange genug kennen, um<br />

zu wissen, dass ihre Übereinstimmung auf spiritueller und<br />

emotioneller Ebene eine Tatsache und kein Wunschdenken ist. Sie<br />

müssen ganz sicher sein, dass weder bei dem einen<br />

noch bei dem anderen tiefliegende Gefühlsstörungen vorhanden<br />

sind, die sich bei späterer Belastung möglicherweise auswachsen<br />

und die Partnerschaft zerstören können. Diese Überlegungen gelten<br />

genau so für die Anonymen Alkoholiker, die einen Partner<br />

außerhalb unserer Gemeinschaft heiraten wollen. Klare Überlegung<br />

und reife Einstellung sind in jedem Fall die Grundlage einer<br />

glücklichen Ehe.<br />

Wie steht es nun mit den Anonymen Alkoholikern, die aus den<br />

verschiedensten Gründen keine Familie haben? Zunächst fühlen<br />

sich viele von ihnen einsam und es tut ihnen weh, wenn sie um sich<br />

herum glückliche Familien sehen. Wenn ihnen dieses Glück nicht<br />

vergönnt ist, kann ihnen die Gemeinschaft ein zufriedenes Leben<br />

von ähnlichem Wert und ähnlicher Dauer bieten?<br />

Selbstverständlich, aber sie müssen sich selbst große Mühe geben,<br />

es zu suchen. Diese Einzelgänger berichten, dass sie sich inmitten<br />

so vieler Freunde der Gemeinschaft nicht mehr allein fühlen.<br />

Zusammen mit anderen Männern und Frauen haben sie die<br />

Möglichkeit, sich unzähligen geistigen Interessen, anderen<br />

Menschen und konstruktiven Plänen zu widmen. Frei von familiären<br />

Verpflichtungen können sie sich an vielen Unternehmungen<br />

beteiligen, die Familienvätern und -müttern vorenthalten sind. Wir<br />

erleben täglich, was sie alles bei den AA leisten und wie viel Freude<br />

sie dadurch empfangen.<br />

In Geldsachen und anderen materiellen Dingen hat sich unsere<br />

Einstellung grundlegend gewandelt. Mit wenigen Ausnahmen waren<br />

wir früher alle Verschwender. Wir warfen unser Geld mit vollen<br />

Händen hinaus, um uns zu bestätigen und andere zu beeindrucken.<br />

Als wir noch tranken, benahmen wir uns so, als sei unsere<br />

Geldquelle unerschöpflich, doch in Katerstimmung verfielen wir oft<br />

auch ins andere Extrem und wurden meistens geizig. Unbewusst<br />

sparten wir bereits für die nächste Zechtour. Geld war für uns nur<br />

Mittel für Vergnügen und zur Selbstbestätigung. Als unser Trinken<br />

immer schlimmer wurde, war Geld eine dringende Notwendigkeit,


weil wir uns damit<br />

das nächste Glas und zeitweiliges Vergessen kaufen konnten.<br />

In der Gemeinschaft nüchtern geworden, ändert sich diese Haltung<br />

- oft viel zu krass - ins Gegenteil. Die Erinnerung an unsere<br />

jahrelange Verschwendung versetzte uns in Panik. Wir glaubten, wir<br />

hätten einfach nicht mehr genug Zeit, unsere Verluste<br />

auszugleichen. Wie würden wir je aus diesen drückenden Schulden<br />

herauskommen? Wie sollten wir es fertig bringen, uns ein<br />

angenehmes Zuhause zu schaffen, die Kinder auszubilden und<br />

außerdem noch etwas für das Alter zurücklegen? Es ging uns nicht<br />

mehr darum, mit Geld anzugeben, jetzt war materielle Sicherheit<br />

unser Ziel.<br />

Existenzielle Sorgen peinigten uns auch noch, als wir beruflich<br />

wieder gesichert waren. Wir wurden Geizhälse und Pfennigfuchser.<br />

Wir mussten finanziell voll abgesichert sein, sonst... Wir vergaßen,<br />

dass die meisten nüchternen Anonymen Alkoholiker<br />

Verdienstmöglichkeiten haben, die über dem Durchschnitt liegen.<br />

Wir vergasen die Unterstützung unserer Freunde, die uns bessere<br />

Arbeitsplätze anboten, wenn sie uns für fähig hielten. Wir dachten<br />

überhaupt nicht an die tatsächliche oder mögliche finanzielle<br />

Unsicherheit, mit der jeder Mensch leben muss. Das schlimmste<br />

aber war, dass wir Gott vergaßen. In Geldangelegenheiten setzten<br />

wir nur Vertrauen in uns selbst, und davon hatten wir nicht all zu<br />

viel.<br />

Das alles zeigte uns natürlich, dass wir noch lange nicht im<br />

Gleichgewicht waren. Wenn wir in unserem Beruf nur ein Mittel zum<br />

Geldverdienen und nicht das Mittel zum Dienen sahen, wenn uns<br />

das Geld für finanzielle Unabhängigkeit wichtiger war als die richtig<br />

verstandene Abhängigkeit von Gott, waren wir immer noch Opfer<br />

unbegründeter Furcht. Und diese Furcht machte ein zufriedenes<br />

und nützliches Dasein, ganz gleich auf welcher finanziellen Ebene,<br />

unmöglich.<br />

Aber im Laufe der Zeit konnten wir mit Hilfe der Zwölf <strong>Schritt</strong>e der<br />

AA diese Angst überwinden, unabhängig von unseren materiellen<br />

Aussichten. Wir konnten fröhlich einfache Arbeiten verrichten ohne<br />

Angst vor morgen. Als sich unsere Verhältnisse besserten, verloren<br />

wir die Angst vor Krisen, denn wir hatten gelernt, dass alle


Schwierigkeiten sich in wertvolle Erfahrung umwandeln können.<br />

Unsere materielle Lage spielte keine Rolle, wichtig war unsere<br />

geistige Verfassung. Allmählich wurde das Geld Mittel zum Zweck;<br />

es beherrschte uns nicht mehr. Wir konnten damit Freude bereiten<br />

und Hilfe geben. Wenn wir so mit Gottes Hilfe gelassen unser<br />

Schicksal hinnahmen, konnten wir in Frieden mit uns leben und<br />

anderen, die noch unter den gleichen Ängsten litten, zeigen, dass<br />

auch sie damit fertig würden. Wir fanden heraus, dass Freisein von<br />

Angst viel wichtiger ist als Freisein von Not.<br />

Noch ein Wort zu unserer gewandelten Einstellung zu persönlicher<br />

Geltung, Einfluss, Ehrgeiz und Führungsanspruch. Dies waren die<br />

Klippen, an denen manche während ihrer Trinkerzeit Schiffbruch<br />

erlitten haben.<br />

Fast jeder Junge in den Vereinigten Staaten träumt davon,<br />

Präsident zu werden. Er möchte der erste Mann seines Landes<br />

sein. Wenn er älter wird und einsieht, dass das unmöglich ist, kann<br />

er nur noch milde über seinen Kindheitstraum lächeln. Er erkennt in<br />

seinem späteren Leben, dass wahres Glück nicht darin liegt, der<br />

erste Mann zu sein oder der Sieger in dem gnadenlosen Kampf um<br />

Geld, Liebe und Selbstbestätigung. Er lernt, dass er zufrieden sein<br />

kann, solange er die Karten richtig ausspielt, die ihm das Leben<br />

zuteilt. Er ist immer noch strebsam, aber nicht übertrieben ehrgeizig,<br />

weil er die Realität erkennen und akzeptieren kann. Er ist bereit,<br />

sich anzupassen.<br />

Alkoholiker sind anders. Als die Gemeinschaft der Anonymen<br />

Alkoholiker noch jung war, machten bedeutende Psychologen und<br />

Ärzte eine umfangreiche Studie an einer großen Gruppe<br />

sogenannter Problemtrinker. Die Wissenschaftler wollten nicht<br />

herausfinden, wie verschieden wir voneinander waren, sie wollten<br />

vielmehr die charakteristischen Persönlichkeitsmerkmale, falls<br />

überhaupt vorhanden, ausfindig machen, die allen Alkoholikern<br />

gemeinsam waren. Sie kamen zu einer Schlussfolgerung, die die<br />

Anonymen Alkoholiker jener Zeit schockierte. Diese studierten<br />

Leute hatten den Nerv zu behaupten, die meisten Alkoholiker seien<br />

noch kindlich, gefühlsmäßig überempfindlich und großspurig.<br />

Wir Alkoholiker regten uns fürchterlich darüber auf. Wir wollten nicht<br />

wahrhaben, dass unsere Erwachsenenträume oft wirklich kindlich


waren. Und wenn wir uns vorstellten, wie hart das Leben uns<br />

mitgespielt hatte, war es doch ganz natürlich, dass wir empfindlich<br />

waren. Von Großsprecherei konnte keine Rede sein, meinten wir,<br />

denn wir hätten nur den berechtigten Ehrgeiz, den Lebenskampf zu<br />

bestehen. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Inzwischen sind die<br />

meisten von uns mit den Wissenschaftlern einer Meinung. Wir<br />

haben uns selbst und die Menschen unserer Umgebung kritischer<br />

betrachtet. Wir haben erkannt, dass unbegründete Ängste uns dazu<br />

bringen, das Leben als ein Geschäft anzusehen, aus dem man<br />

Ruhm, Geld und das, was wir für Machtpositionen hielten,<br />

herausholen kann. So wurde falscher Stolz die Rückseite des<br />

Falschgeldes der Marke Furcht. Wir mussten einfach eine<br />

Hauptrolle spielen, um unsere tiefliegenden Komplexe zu<br />

überdecken. Bei Zufallserfolgen prahlten wir von zukünftigen noch<br />

größeren Taten, bei Rückschlägen wurden wir verbittert. Erreichten<br />

wir nichts Außergewöhnliches, wurden wir deprimiert und feige.<br />

Dann wurden wir natürlich als miese Typen bezeichnet. Aber jetzt<br />

wissen wir, dass wir alle aus einem Holz geschnitzt sind. Im Grunde<br />

genommen waren wir alle krankhaft ängstlich. Es spielte keine<br />

Rolle, ob wir am Rande des Lebens gesessen und uns ins<br />

Vergessen hineingetrunken hatten, oder ob wir uns tollkühn und<br />

kopflos hineinstürzten, ohne unser Maß zu kennen. Das Ergebnis<br />

war immer gleich - fast alle wären wir beinahe in den Fluten des<br />

Alkohols ertrunken.<br />

Diese gestörten Lebenstriebe sind heute bei nüchternen Anonymen<br />

Alkoholikern wieder in die normale Richtung geleitet worden, damit<br />

sie ihren wahren Zweck erfüllen. Wir geben uns keine Mühe mehr,<br />

andere zu beherrschen, um uns Geltung zu verschaffen. Wir<br />

streben nicht mehr nach Ruhm und Ehre, um gelobt zu werden.<br />

Wenn wir unsere Verpflichtungen gegenüber der Familie, den<br />

Freunden, unserer Arbeit und der Gesellschaft erfüllen und dadurch<br />

Zuneigung gewinnen und wenn uns mehr Verantwortung und<br />

Vertrauen geschenkt wird, dann wollen wir in Demut dafür dankbar<br />

sein und unsere Aufgaben nach den Grundsätzen der Liebe und<br />

des Dienens ausrichten. Denn wir wissen, dass echte Autorität<br />

darauf beruht, Vorbild zu sein und nicht auf eitler Zurschaustellung<br />

von Macht und Ruhm.<br />

Noch schöner ist das Gefühl, dass wir uns innerhalb unserer<br />

Gemeinschaft nicht besonders auszeichnen müssen, um uns


nützlich und glücklich zu fühlen. Nicht viele von uns sind<br />

Führerpersönlichkeiten. Die meisten wollen es gar nicht sein.<br />

Bereitwillig geleisteter Dienst, Erfüllung unserer Pflichten, geduldig<br />

ertragene oder mit Gottes Hilfe gelöste Schwierigkeiten, das<br />

Bewusstsein in der Familie und im täglichen Leben Partner bei<br />

einem gemeinsamen Ziel zu sein, die Erkenntnis, dass in Gottes<br />

Augen jeder einzelne Mensch wichtig ist, der Beweis, dass<br />

selbstlose Liebe sich voll auszahlt, die Gewissheit, dass wir nicht<br />

länger isoliert sind in selbstgebauten Gefängnissen, das sichere<br />

Gefühl, nach Gottes Absicht auf den rechten Platz gestellt worden<br />

zu sein - das alles verstehen wir unter dauerhafter Zufriedenheit<br />

eines richtigen Lebens. Kein Glanz und vergängliches Glück, keine<br />

riesigen finanziellen Besitztümer können uns das auch nur<br />

annähernd ersetzen. Wahrer Ehrgeiz - nicht das, was wir früher<br />

darunter verstanden - ist der ehrliche Wunsch, in Demut mit Gottes<br />

Gnade ein zweckerfülltes Leben zu führen.<br />

Soweit unsere Betrachtungen zu den Zwölf <strong>Schritt</strong>en der Anonymen<br />

Alkoholiker. Wir haben so viele Probleme angeschnitten, dass es<br />

den Anschein erweckt, als ob das AA-Programm hauptsächlich in<br />

der Überwindung schwerwiegender Probleme besteht. Bis zu einem<br />

gewissen Grad stimmt das auch. Wir haben über Probleme<br />

gesprochen, weil wir problematische Leute sind, die einen Weg aus<br />

ihren Schwierigkeiten gefunden haben, und wir wollen unsere<br />

Erkenntnis über diesen Weg mit anderen teilen. Nur, indem wir<br />

unser Problem annehmen und zu lösen versuchen, können wir mit<br />

uns selbst und mit unserer Umwelt auskommen und mit Ihm, der<br />

über uns allen steht. Das richtige Verstehen ist der Schlüssel zu<br />

richtigen Grundsätzen und zu richtigem Verhalten, das richtige<br />

Handeln ist der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben. <strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong><br />

<strong>Schritt</strong> der Anonymen Alkoholiker spricht von der Freude an einem<br />

rechtschaffenen Leben.<br />

Wir bemühen uns, jeden Tag die tiefe Bedeutung unseres einfachen<br />

Gelassenheitsspruches mehr zu erfassen<br />

Gott, gebe mir die Gelassenheit,<br />

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,<br />

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,<br />

und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.


Die Erste Tradition<br />

"Unser gemeinsames Wohlergehen sollte an erster Stelle<br />

stehen; die Genesung des Einzelnen beruht auf der Einigkeit<br />

der Anonymen Alkoholiker".<br />

Die Einigkeit der Anonymen Alkoholiker stellt den größten Wert<br />

unserer Gemeinschaft dar. Unser Leben und das Leben aller, die<br />

noch zu uns kommen, hängen davon ab. Entweder stehen wir als<br />

ein Ganzes zusammen, oder die Gemeinschaft geht zugrunde.<br />

Ohne Einigkeit würde das Herz der AA aufhören zu schlagen, die<br />

Adern unserer Gemeinschaft, die die ganze Welt durchziehen,<br />

könnten die Leben spendende Gnade Gottes nicht weitertragen;<br />

Seine Gabe wäre zwecklos vertan. Die Alkoholiker würden sich<br />

isolieren und uns den Vorwurf machen: "Wie großartig hätte die<br />

Gemeinschaft der AA doch sein können!"<br />

"Bedeutet das", wird manch einer ängstlich fragen, "dass bei den<br />

AA der Einzelne nicht viel zählt? Soll er von der Gruppe beherrscht<br />

werden und unbeachtet bleiben?"<br />

Diese Fragen können wir mit einem klaren Nein beantworten.<br />

Wir glauben, dass es auf der Welt keine andere Gemeinschaft gibt,<br />

die sich mehr mit den Einzelnen befasst. Sicherlich gibt es keine<br />

Gemeinschaft, die eifersüchtiger über das Recht des Einzelnen<br />

wacht, zu denken, zu reden und zu handeln, wie er will.<br />

Kein anonymer Alkoholiker kann einen anderen zu etwas zwingen;<br />

niemand kann bestraft oder ausgestoßen werden.<br />

Unsere Zwölf <strong>Schritt</strong>e zur Genesung sind Empfehlungen; die Zwölf<br />

Traditionen, die die Einigkeit der Gemeinschaft der AA<br />

gewährleisten, enthalten kein einziges Verbot. In allen Traditionen<br />

wiederholt sich "Wir sollten" ...nirgendwo steht " Ihr müsst".<br />

Das könnte zu der Ansicht führen, soviel Freiheit für den Einzelnen<br />

käme reiner Anarchie gleich. Jeder Neue, jeder Freund, der die<br />

Gemeinschaft kennen lernt, steht vor einem großen Rätsel. Sie<br />

sehen eine grenzenlose Freiheit, sie sehen aber auch, dass die


Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker eine unwiderstehliche<br />

Kraft im Wollen und Handeln hat. Sie denken sich: "Was kann solch<br />

ein Verein von Anarchisten schon zustande bringen? Wie bringen<br />

sie es fertig, ihr gemeinsames Wohlergehen an die erste Stelle zu<br />

setzen? Was, in Gottes Namen, hält sie zusammen?"<br />

Wer sich näher damit befasst, findet bald den Schlüssel zu diesem<br />

seltsamen Widerspruch. Ein Anonymer Alkoholiker muss sich an<br />

die Grundsätze der Genesung halten. Sein Leben hängt wirklich<br />

von der Beachtung der geistigen Grundsätze ab. Weicht er zu weit<br />

von ihnen ab, folgt die Strafe sicher und rasch; er wird krank und<br />

stirbt. Am Anfang fügt er sich, weil er muss. Später jedoch entdeckt<br />

er für sich einen Lebensweg, den er freudig annimmt. Außerdem<br />

wird ihm klar, dass er dieses kostbare Geschenk nicht behalten<br />

kann, wenn er es nicht weitergibt. Weder er noch sonst jemand<br />

kann überleben, wenn er die Botschaft der AA nicht an andere<br />

weitergibt.<br />

Ohne Gruppe ist Genesung für den Einzelnen kaum möglich. Die<br />

Wirklichkeit zeigt, dass der Einzelne nur ein kleines Rädchen im<br />

großen Getriebe ist und dass für die Erhaltung der Gemeinschaft<br />

kein persönliches Opfer zu groß ist. Er lernt, dass er seine inneren<br />

drängenden Wünsche und seinen Ehrgeiz zu unterdrücken hat,<br />

wenn sie der Gruppe schädlich werden könnten. Klar ist, dass die<br />

Gruppe überleben muss, sonst geht der Einzelne zugrunde.<br />

So steht am Anfang die Grundfrage: Wie können Alkoholiker als<br />

Gruppe am besten zusammenleben und zusammenwirken?<br />

Wir habe n es erlebt, wie einzelne ganze Völker vernichteten.<br />

Kampf um Reichtum, Macht und Prestige riss die Menschheit<br />

auseinander wie nie zuvor. Wenn schon große Persönlichkeiten bei<br />

ihrer Suche nach Frieden und Harmonie gescheitert sind, was sollte<br />

dann erst aus diesem zusammengewürfelten Haufen von<br />

Alkoholikern werden? So wie einst jeder um seine Genesung<br />

gerungen und gebetet hat, so befassten wir uns jetzt ernsthaft mit<br />

den Grundsätzen, nach denen die Gemeinschaft der AA als Ganzes


am Leben bleibt. Das Gerüst unserer Gemeinschaft ist auf dem<br />

Amboss der Erfahrung gehämmert worden.<br />

Schon oft haben wir die Geschichte von Eddie Rickenbacker und<br />

seinen mutigen Kameraden erzählt: Ihr Flugzeug war über dem<br />

Pazifischen Ozean abgestürzt. Auch sie waren zunächst dem Tod<br />

entronnen, doch noch trieben sie dem gefährlichen Meer. Sie<br />

erkannten ihrem Glück, dass ihr gemeinsames Wohl an erster Stelle<br />

zu stehen hatte. Keiner verlangte mehr Trinkwasser oder Brot, als<br />

ihm zustand. Jeder musste auf die Anderen Rücksicht nehmen und<br />

alle wussten, dass sie ihre Kraft im unerschütterlichen Glauben<br />

finden mussten. Und sie bekamen die Kraft, mit der sie alle Mängel<br />

ihres zerbrechlichen Bootes, alle Phasen der Mutlosigkeit und<br />

Verzweiflung, alle Schmerzen und Ängste, ja sogar den Tod eines<br />

ihrer Kameraden überwinden konnten.<br />

Dieses Beispiel können wir auch auf unsere Gemeinschaft<br />

übertragen. In unserem Glauben und in unseren Taten konnten wir<br />

uns auf eine unglaubliche Erfahrung stützen. Diese Erfahrungen<br />

leben bis heute fort in den Zwölf Traditionen der Anonymen<br />

Alkoholiker, die, so Gott will, in Einigkeit zusammenhalten.


Die Zweite Tradition<br />

"Für den Sinn und Zweck unserer Gruppe gibt es nur eine<br />

höchste Autorität -einen liebenden Gott, wie Er sich in dem<br />

Gewissen unserer Gruppe zu erkennen gibt. Unsere<br />

Vertrauensleute sind nur betraute Diener; sie herrschen nicht".<br />

Wer erteilt den Anonymen Alkoholikern Weisungen? Wer leitet die<br />

Gemeinschaft? Auch dies sind Rätsel für jeden, besonders für den<br />

Neuen. man ihnen sagt, dass unsere Gemeinschaft keinen<br />

Präsidenten mit irgendwelchen Vollmachten hat, keinen<br />

Schatzmeister, der Mitgliedsbeiträge eintreibt, keinen Vorstand, der<br />

über den Ausschluss irgendeines Mitglieds verfügen kann, dass<br />

überhaupt kein AA einem anderen eine Weisung erteilen oder<br />

Unterordnung erzwingen kann, rufen unsere Freunde überrascht<br />

aus: "Das ist doch einfach unmöglich. Irgendwo muss da ein Haken<br />

sein."<br />

Diese Realisten brauchen nur unsere Zweite Tradition zu lesen, um<br />

zu erkennen, dass es in der Gemeinschaft der nur eine höchste<br />

Autorität gibt, einen liebenden Gott, wie Er sich in dem Gewissen<br />

unserer Gruppe zu erkennen gibt. Zweifelnd fragen sie einen<br />

erfahrenen AA, ob das tatsächlich funktioniert. <strong>Der</strong> Angesprochene,<br />

der einen ganz vernünftigen Eindruck macht, antwortet prompt: "Ja,<br />

das funktioniert wirklich". Trotzdem erscheint den Freunden das<br />

noch reichlich unklar, verschwommen und naiv. Sie fangen an, uns<br />

kritisch zu beobachten, hören ein Stück aus der Geschichte<br />

unserer Gemeinschaft und bald verfügen sie über unwiderlegbare<br />

Tatsachen.<br />

Welche Tatsachen in der Entstehungsgeschichte der Anonymen<br />

Alkoholiker führten dazu, dass dieser anscheinend undurchführbare<br />

Grundsatz aufgestellt wurde?<br />

Angenommen, John D., ein guter AA, zieht nach Middletown. Dort<br />

ist er nun allein. Er überlegt sich, dass er nicht nüchtern bleiben,<br />

nicht einmal überleben kann, wenn er nicht an andere Alkoholiker<br />

weitergibt, was ihm großzügig geschenkt wurde. Er spürt einen


geistigen und sittlichen Auftrag, weil es vielleicht Hunderte von<br />

leidenden Alkoholikern in seiner Nähe gibt, denen er helfen könnte.<br />

Außerdem fehlt ihm seine Heimatgruppe. Er braucht andere<br />

Alkoholiker ebenso sehr wie sie ihn brauchen. Er nimmt Kontakt auf<br />

zu Geistlichen, Ärzten, Redakteuren, Polizisten, Kellnern ... mit dem<br />

Ergebnis, dass Middletown jetzt eine Gruppe hat - und er ist ihr<br />

Gründer.<br />

Da er der Gründer ist, ist er zunächst auch der Chef. Wer sollte es<br />

sonst sein? Sehr bald jedoch teilt er die Aufgaben, die er zunächst<br />

allein übernommen hat, mit den ersten Alkoholikern, denen er<br />

helfen konnte. Von diesem Zeitpunkt an wird aus dem fürsorglichen<br />

"Diktator" der Sprecher einer Gruppe, die aus seinen Freunden<br />

besteht. So wächst die Gruppenhierarchie der Vertrauensleute.<br />

Natürlich haben sie sich selbst gewählt, weil dies anders nicht<br />

möglich war. Schon nach einigen Monaten hat die Gemeinschaft<br />

der AA in dieser Stadt einen prächtigen Aufschwung genommen.<br />

<strong>Der</strong> Gründer der Gruppe und seine Freunde tragen die Botschaft<br />

weiter. Sie mieten Räume, nehmen Verbindungen zu<br />

Krankenhäusern auf. Sie bitten ihre Frauen, für den Kaffee zu<br />

sorgen. Es ist nur allzu menschlich, dass der Gründer und seine<br />

Freunde zunächst den Erfolg ein bisschen genießen. "Vielleicht<br />

wäre es ganz richtig sagen sie", dass wir die Gemeinschaft der AA<br />

in unserer Stadt fest in der Hand behalten. Letzten Endes sind wir<br />

doch erfahren. Außerdem wisst ihr, wie viel Gutes wir für die Trinker<br />

getan haben. Sie sollten dankbar sein. Ganz bestimmt sind<br />

manchmal Gruppengründer und ihre Freunde weiser und demütiger<br />

als diese hier. Doch größtenteils sind sie in diesem<br />

Entwicklungsstadium noch nicht so weit.<br />

Die Gruppe leidet unter Wachstumsschmerzen. Die Lauten drängen<br />

sich vor, die Leisen ziehen sich zurück. Die Gruppe wird<br />

lawinenartig mit Problemen überrollt. Was noch wichtig ist, die<br />

Missfallensäußerungen über die Gruppenhierarchie werden immer<br />

lauter und eines Tages ist es nicht mehr zu überhören: "Glauben<br />

denn diese Alten, sie könnten die Gruppe ewig regieren? Wir wollen


wählen!" Nun sind der Gründer und seine Freunde verletzt und<br />

niedergeschlagen. Sie stürzen von einer Krise in die andere, sie<br />

verteidigen sich, aber es ist zwecklos: Die Revolte ist im Gange.<br />

Das Gruppengewissen ist dabei, die Sache in die Hand zu nehmen.<br />

So kommt es zur Wahl. Wenn der Gründer und seine Freunde gute<br />

Arbeit geleistet haben, werden sie vielleicht zu ihrer eigenen<br />

Überraschung für eine gewisse Zeit wiedergewählt. Wenn sie sich<br />

aber ständig undemokratisch verhalten haben, werden sie alle<br />

abgewählt. In jedem Fall wählt die Gruppe nun einen Ausschuss<br />

betrauter Diener, die sich in ihren Funktionen abwechseln. Die<br />

Befugnisse dieses Ausschusses sind scharf abgegrenzt. Die<br />

Mitglieder können die Gruppe weder regieren noch ihr Vorschriften<br />

machen. Sie sind betraute Diener. Sie haben manchmal die<br />

undankbare Aufgabe, die nebensächlichsten Arbeiten in der Gruppe<br />

zu verrichten. Sie haben einen Gruppensprecher. Sie halten die<br />

Verbindung zur Öffentlichkeit und setzen die Meetings an. Ihr<br />

verantwortlicher Kassierer nimmt das Geld aus der Hutsammlung,<br />

verwaltet es, bezahlt die Miete und andere Rechnungen und legt<br />

regelmäßig einen Finanzbericht bei den Arbeitsmeetings vor. <strong>Der</strong><br />

Gruppensekretär sorgt für Literatur, für die Beantwortung der<br />

Telefonanrufe, beantwortet die Post und verschickt Einladungen zu<br />

den Meetings. Durch diese einfachen Dienste kann die Gruppe<br />

funktionieren.<br />

Dieser Arbeitsausschuss hat keine spirituellen Aufgaben, fällt kein<br />

persönliches Urteil und erteilt keine Weisungen. Wenn das einer<br />

versucht, kann er bei der nächsten Wahl wieder abgewählt werden.<br />

Dann wird ihm klar, dass alle wirklich nur betraute Diener und keine<br />

Herrscher sind. Das sind allgemeine Erfahrungen. So schreibt<br />

innerhalb unserer Gemeinschaft das Gruppengewissen die<br />

Bestimmungenvor, an die sich die gewählten Diener zu halten<br />

haben. Damit stehen wir vor der Frage: "Hat die Gemeinschaft der<br />

AA tatsächlich eine Führung? Diese Frage kann ausdrücklich mit Ja<br />

beantwortet werden, wenn es auch so scheint, als gäbe es keine.


Wenden wir uns noch einmal dem abgewählten Gruppengründer<br />

und seinen Freunden zu. Was wird aus ihnen? Wenn sie sich<br />

wieder beruhigt haben, ändert sich allmählich bei ihnen einiges.<br />

Entweder zählen sie zur Gruppe "Oldtimer", der gestandenen AA,<br />

oder zu denen, die sich nur schwer von ihrem Amt trennen können<br />

und die man in Amerika "blutende Diakone" nennt.<br />

<strong>Der</strong> Oldtimer ist einer, der die Weisheit der Gruppenentscheidung<br />

respektiert, der nicht darüber gekränkt ist, dass man ihn abgewählt<br />

hat. Er hat ein gesundes Urteilsvermögen, das auf beträchtlicher<br />

Erfahrung basiert -und er ist bereit, still in einem Meeting zu sitzen<br />

und die weitere Entwicklung abzuwarten.<br />

<strong>Der</strong> blutende Diakon ist fest davon überzeugt, dass die Gruppe<br />

ohne ihn nicht existieren kann. Deshalb kämpft er dauernd darum,<br />

wiedergewählt zu werden -und er verzehrt sich in Selbstmitleid.<br />

Einige bluten so aus; dass bei ihnen der Geist und die Prinzipien<br />

der AA versiegen -und sie trinken wieder. Zeitweise scheint die AA-<br />

Landschaft mit solch blutenden Herzen übersät zu sein. Fast jeder<br />

ältere AA hat diesen Zustand in einer gewissen Weise erlebt.<br />

Glücklicherweise kommen die meisten darüber hinweg und werden<br />

vernünftig denkende Oldtimer. Sie werden zum wahren und<br />

beständigen Rückgrat der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker.<br />

Ihre ruhig vorgetragene Meinung, ihre fundierten Kenntnisse und ihr<br />

demütiges Beispiel helfen Schwierigkeiten zu lösen . Wenn die<br />

Gruppe in einer verworrenen Situation steckt, wird sie sich mit<br />

Sicherheit ihres Rates bedienen. Sie werden die Stimme des<br />

Gruppengewissens; sie sind die eigentliche Stimme der Anonymen<br />

Alkoholiker. Sie führen nicht, weil sie einen Auftrag dazu haben,<br />

sondern sie führen durch ihr Vorbild. Diese Erfahrung hat uns zu der<br />

Überzeugung gebracht, dass unser Gruppengewissen, fest gestützt<br />

auf den Rat unserer Älteren, auf lange Sicht weiser sein wird als<br />

irgendein einzelner Führer.<br />

Als die Gemeinschaft der AA erst drei Jahre bestand, ereignete sich<br />

etwas, das alles dies bestätigt. Einer der ersten Anonymen<br />

Alkoholiker wurde gegen seinen Willen gezwungen, sich der


Gruppenmeinung unterzuordnen. Hier sind seine eigen en Worte:<br />

"Eines Tages besuchte ich ein Krankenhaus in New York, weil ich<br />

die Botschaft im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es weitergeben wollte.<br />

<strong>Der</strong> Chef der Klinik, Charlie, bat mich in sein Büro. Er sagte: 'Bill, ich<br />

meine, es ist ein Jammer, dass es dir finanziell so schlecht geht.<br />

Allen Säufern in deiner Umgebung geht es gut und sie verdienen<br />

Geld, aber du hilfst ihnen Tag und Nacht und bist selbst pleite. Das<br />

finde ich nicht richtig.'<br />

Charlie suchte in seinem Schreibtisch und zog einen alten<br />

Finanzbericht des Krankenhauses hervor. Er reichte ihn mir und<br />

fuhr fort: ' Hier siehst du, wie viel das Krankenhaus in den<br />

zwanziger Jahren verdient hat. Tausende von Dollar in einem Jahr.<br />

Es könnte jetzt eben so gut dastehen, wenn du uns helfen würdest.<br />

Warum kannst du deine Arbeit nicht nach hier verlegen? Ich werde<br />

dir ein Büro einrichten, ein laufendes Konto eröffnen und dir einen<br />

angemessenen Teil unseres Verdienstes<br />

überweisen. Als vor drei Jahren unser Chefarzt, Dr. Silkworth, mir<br />

erzählte, dass man Trinkern durch seelische und spirituelle Hilfe<br />

beistehen könnte, hielt ich ihn für verrückt. Doch jetzt bin ich<br />

anderer Meinung. Eines Tages wird diese Gruppe ehemaliger<br />

Trinker Madison Square Garden füllen und ich sehe nicht ein,<br />

warum du inzwischen hungern sollst. <strong>Der</strong> Vorschlag ist sauber und<br />

einwandfrei. Du kannst hier als Laientherapeut arbeiten und wirst<br />

dabei erfolgreicher sein als sonst irgendeiner in diesem Geschäft.'<br />

Ich war verwirrt. Ich hatte zwar Gewissensbisse, doch dann sah ich<br />

ein, dass Charlies Angebot wirklich einwandfrei war. Es lag doch<br />

nichts Unrechtes darin, Laientherapeut zu werden. Ich dachte an<br />

Lois, wie sie jeden Tag erschöpft von ihrer Arbeit in einem<br />

Warenhaus zurückkehrte, um dann noch das Abendessen für ein<br />

Haus voller Trinker zu kochen, die nicht einmal Kostgeld zahlten.<br />

Ich dachte an die große Summe, die ich immer noch meinen<br />

Gläubigern in der Wall Street schuldete. Ich dachte an einige meiner<br />

Freunde unter den Alkoholikern, die genau so viel verdienten wie<br />

vorher. Warum sollte es mir nicht genau so gut gehen wie ihnen?


Ich bat Charlie um Bedenkzeit, doch ich hatte mich bereits schon<br />

dafür entschieden. Während ich mit der U-Bahn nach Brooklyn<br />

zurück fuhr, sah ich im Geist etwas wie eine göttliche Fügung. Sie<br />

bestand nur in einem einzigen Satz. Er war sehr überzeugend. Er<br />

stammte sogar aus der Bibel. Eine innere Stimme sagte mir ständig<br />

'Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert'. Als ich heimkam, fand ich Lois<br />

wie üblich in der Küche beim Kochen. Drei Alkoholiker sahen ihr<br />

hungrig durch die Küchentür zu. Ich nahm meine Frau beiseite und<br />

erzählte ihr die großartige Neuigkeit. Sie hörte interessiert zu, aber<br />

sie war nicht so begeistert, wie ich gehofft hatte.<br />

Am Abend hatten wir ein Meeting. Keiner der Alkoholiker, die wir<br />

aufgenommen hatten, schien nüchtern zu werden. Doch es gab<br />

nüchterne Alkoholiker. Sie kamen mit ihren Frauen und unser<br />

Wohnzimmer im Erdgeschoss war überfüllt. Sofort platzte ich mit<br />

der Geschichte meines wunderbaren Angebotes heraus. Niemals<br />

werde ich ihre teilnahmslosen Gesichter und ihre forschenden<br />

Blicke vergessen. Mein Enthusiasmus schwand immer mehr, bis ich<br />

mit meiner Geschichte am Ende war. Eine lange Stille trat ein.<br />

Fast schüchtern begann einer meiner Freunde zu sprechen: 'Bill, wir<br />

wissen, wie schlecht es dir geht. Das bedrückt uns sehr, Wir haben<br />

uns oft gefragt, was wir dagegen tun könnten. Aber ich nehme an,<br />

dass ich hier für jeden spreche, wenn ich sage, dass dein Vorschlag<br />

uns noch viel mehr bedrückt.'<br />

Die Stimme des Sprechers wurde überzeugter. 'Siehst du denn<br />

nicht ein ', fuhr er fort, 'dass du niemals ein Professioneller werden<br />

kannst? So entgegenkommend Charlie uns gegenüber gewesen ist,<br />

verstehst du denn nicht, dass wir unsere Sache niemals von diesem<br />

oder irgendeinem anderen Krankenhaus abhängig machen<br />

können? Du sagst uns, Charlies Angebot sei sauber und<br />

einwandfrei. Das ist es sicherlich. Was wir bereits haben, beruht<br />

aber nicht nur auf sauberen und einwandfreien Grundsätzen, es<br />

muss schon mehr sein. Sicherlich ist Charlies Idee gut, doch sie ist<br />

nicht gut genug. Hier geht es um Leben oder Tod, Bill -und nur das<br />

Beste kann uns gut genug sein.' Meine Freunde blickten mich


herausfordernd an, als ihr Sprecher fortfuhr: 'Bill, hast du nicht oft<br />

hier in diesem Meeting gesagt, dass das Bessere oft der Feind des<br />

Guten ist? Hier haben wir einen solchen Fall. Das kannst du uns<br />

nicht antun!'<br />

Das Gruppengewissen hatte also gesprochen. Die Gruppe hatte<br />

recht -und ich hatte unrecht. Die Stimme in der U-Bahn war nicht die<br />

Stimme Gottes. Hier hörte ich die wahre Stimme -und sie strömte<br />

aus meinen Freunden zu mir herüber. Ich hörte zu -und Gott sei<br />

Dank gehorchte ich ihr."


Die Dritte Tradition<br />

"Die einzige Voraussetzung für die AA-Zugehörigkeit ist der<br />

Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören"<br />

Diese Tradition hat ein besonderes Gewicht. Denn die Anonymen<br />

Alkoholiker sagen jedem, der ein schwerwiegendes Alkoholproblem<br />

hat: "Du gehörst zu den AA, wenn du dich dafür entscheidest. Über<br />

deine Aufnahme in die Gemeinschaft bestimmst du allein; niemand<br />

kann sie dir verwehren. Ganz gleich, wer du bist, wie tief du<br />

gesunken bist, wie schwierig deine seelische Verfassung ist, selbst<br />

wenn du Straftaten begangen hast, wir Anonymen Alkoholiker<br />

können dich auch dann nicht zurückweisen. Wir wollen dich nicht<br />

ausschließen. Wir haben überhaupt keine Angst, dass du uns<br />

schaden kannst, wie verdreht oder aggressiv du auch sein magst.<br />

Wir wollen nur sicher sein, dass du dieselbe große Chance zur<br />

Nüchternheit bekommst, die wir hatten. Darum gehörst du von dem<br />

Augenblick an zu den AA, in dem du dich zu ihnen bekennst."<br />

Dieser Grundsatz für die Zugehörigkeit ist das Ergebnis jahrelanger<br />

qualvoller Erfahrungen. In den Anfangsjahren schien nichts so<br />

empfindlich und zerbrechlich zu sein wie eine AA-Gruppe. Kaum ein<br />

Alkoholiker, dem wir uns zuwandten, schenkte uns Beachtung. Die<br />

meisten, die dann doch zu uns kamen, waren wie flackernde Kerzen<br />

im Wind. Immer wieder verlöschte flackerndes Licht und konnte<br />

nicht wieder angezündet werden. Obwohl wir alle nicht darüber<br />

sprachen, dachten wir ständig: Wer von uns wird wohl der Nächste<br />

sein?<br />

Ein älterer Anonymer Alkoholiker gibt uns einen lebendigen Einblick<br />

in jene Tage. "Damals", berichtet er, "hatte jede AA-Gruppe viele<br />

Regeln für die Aufnahme von Alkoholikern. Alle hatten große Sorge,<br />

dass irgendjemand oder irgendetwas unser Rettungsboot zum<br />

Kentern und uns wieder zum Trinken bringen würde. Unsere erste<br />

Dienststelle verlangte von jeder Gruppe eine Liste ihrer<br />

'Schutzbestimmungen'. Die gesamte Liste war länger als eine Meile.<br />

Wären alle dies e Bestimmungen überall durchgesetzt worden,<br />

hätte wahrscheinlich niemand der Gemeinschaft der AA beitreten


können, so groß waren unsere Befürchtungen und Ängste. Wir<br />

hatten beschlossen, in unsere Gemeinschaft niemand anders als<br />

die nach unserer Vorstellung reinen Alkoholiker aufzunehmen.<br />

Außer ihrem Trinken und seinen schlimmen Folgen durften sie<br />

keine anderen Schwierigkeiten haben.<br />

Bettler, Landstreicher, Patienten aus Nervenkliniken,<br />

Strafgefangene, Homosexuelle, Verrückte und gefallene Mädchen<br />

waren völlig ausgeschlossen. Ja, Herrschaften, unsere<br />

Gemeinschaft wollte sich nur um den reinen und ehrenwerten<br />

Alkoholiker kümmern. Alle anderen würden sicherlich dazu<br />

beitragen, dass sich die Gemeinschaft wieder auflöst. Außerdem:<br />

Wenn wir dieses Gesindel aufnehmen würden, was würden<br />

anständige Leute über uns sagen? Wir bauten einen feinmaschigen<br />

Zaun um unsere Gemeinschaft.<br />

Vielleicht klingt dies heute komisch. Vielleicht meint ihr, wir Alten<br />

wären doch sehr unduldsam gewesen. Aber ich kann euch sagen,<br />

damals fanden wir nichts Lustiges an der Sache. Wir waren<br />

verbittert, weil wir wussten, dass unser Leben und unsere Familien<br />

in Gefahr waren -und das war wirklich kein Spaß. 'Unduldsam',<br />

werdet ihr sagen, wenn schon; wir hatten Angst. Natürlich handelten<br />

wir wie fast alle Menschen, die Angst haben. Ist nicht Angst letzten<br />

Endes die Wurzel der Unduldsamkeit? Ja, wir waren intolerant. Wie<br />

konnten wir damals auch nur vermuten, dass alle diese<br />

Befürchtungen sich als grundlos herausstellen würden? Wie<br />

konnten wir wissen, dass Tausende dieser manchmal grässlichen<br />

Menschen eine erstaunliche Genesung durchmachen und sich zu<br />

unseren besten Mitarbeitern und intimsten Freunden entwickeln<br />

würden? Konnte man glauben,<br />

dass bei Anonymen Alkoholikern die Zahl der Ehescheidungen weit<br />

unter dem Durchschnitt liegen würde? Konnten wir damals<br />

voraussehen, dass derart schwierige Leute unsere besten Lehrer in<br />

Geduld und Toleranz werden würden? Konnte man sich damals<br />

eine Gesellschaft vorstellen, in der sich Menschen aller möglichen<br />

Charaktere zusammenfinden und mit Leichtigkeit alle Schranken


von Rasse, Religion, Politik und Sprachen einreißen würden?<br />

Warum hat die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker schließlich<br />

alle Statuten über Mitgliedschaft aufgehoben? Warum überließen<br />

wir es jedem Neuen, selbst zu entscheiden ob er Alkoholiker ist und<br />

ob er zu uns gehören wollte? Warum wagten wir zu sagen, ganz im<br />

Gegensatz zu den Erfahrungen von Staat und Gesellschaft, dass<br />

wir niemanden bestrafen oder aus der Gemeinschaft ausschließen<br />

würden, dass wir niemanden zwingen dürfen, etwas zu bezahlen,<br />

etwas zu glauben oder unserer Meinung zu sein.<br />

Die Entwicklung, die wir jetzt in der Dritten Tradition erkennen, war<br />

einfach. Schließlich haben wir die Erfahrung gemacht: Für einen<br />

Alkoholiker kann es endloses Leid oder den Tod bedeuten, wenn<br />

man ihm diese Chance verwehrt. Wer wollte es auf sich nehmen,<br />

Geschworener, Richter und Henker seines eigenen kranken<br />

Bruders zu sein? Als dann eine Gruppe nach der anderen diese<br />

Problematik erkannte, gaben schließlich alle ihre Vorschriften über<br />

die Mitgliedschaft auf. Ein dramatisches Ereignis nach dem anderen<br />

bestärkte uns in diesem Beschluss, der schließlich zu unserer<br />

allgemein gültigen Tradition wurde.<br />

Hier bringen wir zwei Beispiele:<br />

Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker bestand seit zwei<br />

Jahren. Damals gab es nur zwei namenlose, um ihre Existenz<br />

ringende Gruppen von Alkoholikern, die nicht aufgaben.<br />

Ein Neuer erschien bei ein er dieser Gruppen, klopfte an und bat<br />

um Einlass. Er sprach ganz offen mit dem, der am längsten zur<br />

Gruppe gehörte. Es stellte sich bald heraus, dass der Neue in einer<br />

verzweifelten Lage war, dass er aber vor allem gesund werden<br />

wollte. Er fragte: "Wollt ihr mich in eurer Gruppe aufnehmen? Da ich<br />

noch ein anderes Laster habe, das einen noch schlimmeren Ruf als<br />

Alkoholismus hat, wollt ihr mich vielleicht gar nicht in eurer Gruppe<br />

haben. Oder darf ich hier bleiben?"<br />

Wir gerieten in einen Zwiespalt. Wie sollte sich die Gruppe<br />

entscheiden? <strong>Der</strong> Gruppenälteste zog zwei andere zu Rate und


unterbreitete ihnen im Vertrauen diesen kritischen Fall. Er fragte:<br />

"Wie sollen wir uns entscheiden? Wenn wir diesen Mann abweisen,<br />

wird er bald zugrunde gehen. Nehmen wir ihn auf, dann weiß Gott<br />

allein, in welche Schwierigkeiten uns dieser Mann noch bringen<br />

wird. Wie lautet eure Antwort: ja oder nein?"<br />

Zunächst fanden sie nur Gründe, die gegen eine Aufnahme in die<br />

Gruppe sprachen. Sie sagten: "Wir befassen uns mit Alkoholikern.<br />

Sollten wir nicht diesen einen im Interesse aller anderen fallen<br />

lassen"? So ging die Diskussion hin und her, während das<br />

Schicksal des Neu en in der Schwebe hing.<br />

Dann sprach einer der drei plötzlich in einem ganz anderen Ton.<br />

"Was wir wirklich befürchten", sagte er, "ist nur der Verlust unseres<br />

guten Rufs. Wir haben mehr Angst vor dem, was andere Leute über<br />

uns sagen könnten, als vor den Schwierigkeiten, die dieser neue<br />

Alkoholiker uns machen könnte. Im Laufe dieses ganzen<br />

Gespräches kamen mir immer wieder vier Worte in den Sinn und<br />

etwas in mir wiederholte ständig diese Worte: 'Was würde ER tun?'"<br />

Kein weiteres Wort wurde mehr gesprochen. Was hätte auch noch<br />

mehr gesagt werden können?<br />

Überglücklich machte sich der Neue daran, die Botschaft im Sinne<br />

des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es weiterzugeben. Unermüdlich berichtete er<br />

vielen Menschen von unserer Gemeinschaft. Und da dies wirklich<br />

eine der allerersten Gruppen war, hat sein Weitergeben unserer<br />

Botschaft im Laufe der Jahre viele Tausende erreicht. Unser Freund<br />

belästigte niemals jemanden mit seinem anderen Problem. Das war<br />

damals der erste <strong>Schritt</strong> zur Festlegung der Dritten Tradition.<br />

Nicht lange, nachdem der doppelt belastete Mann um Aufnahme<br />

gebeten hatte, schloss sich ein Vertreter, den wir Ed nennen wollen,<br />

einer anderen AA-Gruppe an. Er war voller Energie, aufdringlich<br />

und redegewandt, wie Vertreter sein können. In jeder Minute hatte<br />

er mindestens eine neue Idee, wie man die Gemeinschaft der<br />

Anonymen Alkoholiker verbessern könnte. Diese Ideen verkaufte er<br />

AA mit derselben glühenden Begeisterung, mit der er seine<br />

Autopolitur an den Mann brachte. Aber eine Idee hatte er, die sich


nicht so leicht verkaufte. Ed war Atheist. Seine Lieblingstheorie war,<br />

dass AA ohne den "Gott-Unsinn" viel besser zurechtkommen würde.<br />

Er schüchterte jeden ein und alle rechneten mit seinem baldigen<br />

Rückfall, denn damals war die Gemeinschaft der AA sehr fromm.<br />

Man dachte, auf Gotteslästerung stehe eine schwere Strafe. Zu<br />

unserem Ärger blieb Ed nüchtern.<br />

Nach einiger Zeit sollte er in einem Meeting sprechen. Wir<br />

schauderten, denn wir wussten, was kommen würde. Ed hielt<br />

Lobrede auf die Gemeinschaft; er berichtete, dass seine Familie<br />

wieder vereint war, er pries die Tugend der Ehrlichkeit und er<br />

erinnerte an die Freude, mit der er im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig war.<br />

Damit endeten auch seine Lobgesänge. Er platzte schließlich<br />

heraus: .Diesen Kram mit Gott kann ich nicht ausstehen! Dieser<br />

Blödsinn ist etwas für Schwächlinge. Diese Gruppe braucht das<br />

nicht -und ich will nichts mehr damit zu tun haben. Zum Teufel<br />

damit!"<br />

Eine Woge von Zorn und Empörung schlug über den Anwesenden<br />

zusammen und sie kamen zu einem einstimmigen Beschluss: .Jetzt<br />

muss er raus!"<br />

Die Älteren nahmen Ed beiseite. Mit Nachdruck sagten sie: "Hier<br />

kannst du so nicht reden. Entweder du hörst damit auf oder du<br />

gehst!"<br />

Höhnisch erwiderte Ed: "Ist das wirklich euer Ernst?" Aus dem<br />

Bücherregal nahm er einige Schriften. Obenauf lag das Vorwort zu<br />

dem Buch "Anonyme Alkoholiker", das in Vorbereitung war. Er las<br />

laut vor: "Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der<br />

Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören." Unerbittlich fuhr Ed fort: "Als<br />

ihr damals diesen Satz geschrieben habt, war es euch Burschen<br />

ernst damit oder nicht?"<br />

Bestürzt schauten sich die Älteren an, denn sie wussten, Ed hatte<br />

sie geschlagen. Ed blieb. Er blieb nicht nur in der Gruppe, er blieb<br />

auch nüchtern, einen Monat nach dem anderen. Je länger er<br />

nüchtern blieb, umso lauter redete er gegen Gott. Die Gruppe war


so zerrissen, dass es keine echte Freundschaft mehr gab. Alle<br />

stöhnten: " Wann wird dieser Mensch endlich saufen"!<br />

Einige Zeit später übernahm Ed eine Stellung außerhalb unserer<br />

Stadt. Schon nach wenigen Tagen hörten wir die ersten<br />

Nachrichten über ihn. Er hatte telegrafisch um Geld gebeten -und<br />

jeder wusste, was das bedeutete. Dann rief er selbst an.<br />

Wir gingen damals noch überall hin, wenn wir um Hilfe gerufen<br />

wurden, selbst wenn es aussichtslos erschien. Doch in diesem Fall<br />

rührte sich niemand. "Lasst ihn in Ruhe. Lasst ihn selbst damit fertig<br />

werden. Vielleicht wird er etwas daraus lernen."<br />

Ungefähr zwei Wochen später schlich sich Ed nachts in das Haus<br />

eines Anonymen Alkoholikers und legte sich ohne Wissen der<br />

Familie ins Bett. Als der Hauseigentümer am nächsten Morgen mit<br />

einem Freund beim Frühstück saß, hörten sie Geräusche auf der<br />

Treppe.<br />

Zu ihrer Überraschung erschien Ed. Grinsend sagte er: "Na,<br />

Jungens, seid ihr gerade mit eurer Morgenmeditation fertig?"<br />

Schnell wurde ihnen klar, dass es ihm ernst war. In Bruchstücken<br />

kam seine Geschichte heraus. In einem benachbarten Staat war Ed<br />

in einem billigen Hotel abgestiegen. Nachdem alle seine Hilferufe<br />

ohne Echo blieben, tönten in seinem fiebrigen Kopf die Worte: "Sie<br />

haben mich verlassen; meine eigenen Freunde haben mich<br />

verlassen. Das ist das Ende. Jetzt ist es aus."<br />

Ais er ins Bett sank, streifte seine Hand über den Nachttisch. Sie<br />

berührte ein Buch. Er öffnete es und las darin. Es war eine Bibel. Ed<br />

hat nie jemandem gesagt, was in dem Hotelzimmer in ihm<br />

vorgegangen ist. Das war im Jahre 1938. Er hat seitdem keinen<br />

Schluck Alkohol mehr getrunken.<br />

Wenn heute ältere AA, die Ed noch kannten, über ihn sprechen,<br />

sagen sie: "Was wäre geschehen, wenn wir Ed damals wegen<br />

seiner Gotteslästerung hinausgeworfen hätten? Was wäre dann aus<br />

ihm geworden und den vielen, denen er später geholfen hat?"


So gab uns die Vorsehung schon sehr früh ein Zeichen, dass jeder<br />

Alkoholiker zu unserer Gemeinschaft gehört, der sich selbst dazu<br />

bekennt.


Die Vierte Tradition<br />

"Jede Gruppe sollte selbstständig außer in Dingen, die andere<br />

Gruppen oder die Gemeinschaft der AA als Ganzes angehen".<br />

Selbstständigkeit ist ein wertvoller Begriff. Auf uns bezogen<br />

bedeutet er ganz einfach, dass jede Gruppe ihre Angelegenheiten<br />

genau so regeln kann, wie sie es für richtig hält, es sei denn, der<br />

Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker als Ganzes würde<br />

Schaden drohen. Nun taucht die gleiche Frage wie in der Ersten<br />

Tradition wieder auf: Verleitet uns so viel Freiheit nicht zu unklugem<br />

und gefährlichem Handeln?<br />

Im Laufe der Jahre ist jede erdenkliche Abweichung von den Zwölf<br />

Traditionen ausprobiert worden. Das konnte gar nicht anders sein,<br />

weil sich unsere Gemeinschaft aus ichbezogenen Einzelwesen<br />

zusammensetzt. Wir, Kinder des Chaos, haben keck mit jeder Art<br />

von Feuer gespielt. Wir sind jedoch mit heiler Haut davon<br />

gekommen und -wie wir glauben klüger geworden. Gerade diese<br />

Abweichungen von den <strong>Schritt</strong>en und Traditionen waren ein langer<br />

Weg von Versuch und Irrtum, der uns durch die Gnade Gottes dahin<br />

führte, wo wir heute stehen.<br />

Als die Traditionen der Anonymen Alkoholiker 1945 zum erste n Mal<br />

veröffentlicht wurden, waren wir überzeugt, dass eine AA-Gruppe<br />

den meisten Belastungen standhält. Nach unserer Ansicht musste<br />

sich die Gruppe genau wie jeder Einzelne den erprobten<br />

Grundsätzen anpassen, die das Überleben garantieren. Es ist uns<br />

klar geworden, dass die vollkommene Sicherheit im dauernden<br />

Lernen aus Fehlern liegt.<br />

Wir vertrauten dieser Erkenntnis so sehr, dass die ursprüngliche<br />

Fassung der AA-Traditionen diesen bedeutungsvollen Satz<br />

enthalten konnte: "Wenn zwei oder drei Alkoholiker<br />

zusammenkommen, um nüchtern zu werden und zu bleiben,<br />

können sie sich als AA-Gruppe bezeichnen, vorausgesetzt, dass sie<br />

keine anderen Bindungen eingehen."


Das zeigte, dass wir den Mut hatten, jede AA-Gruppe als<br />

eigenständig zu sehen, deren Handeln allein durch das<br />

Gruppengewissen bestimmt wird.<br />

Bei dem hohen Maß an Freiheit, das den Gruppen zugestanden<br />

wurde, hielten wir es doch für notwendig, zwei Warnsignale zu<br />

setzen: Eine Gruppe sollte niemals etwas tun, was der<br />

Gemeinschaft der AA als Ganzes großen Schaden zufügen könnte.<br />

Sie sollte niemals eine Verbindung mit Außenstehenden eingehen.<br />

Es wäre wirklich sehr gefährlich, wenn wir anfangen würden, die<br />

Gruppen "nass oder trocken, republikanisch oder kommunistisch,<br />

katholisch oder protestantisch" zu nennen. Die AA-Gruppe muss auf<br />

ihrem Kurs bleiben, andernfalls ist sie hoffnungslos verloren.<br />

Nüchternheit ist ihr einziges Ziel. Im Übrigen hat sie völlige Willensund<br />

Handlungsfreiheit. Jede Gruppe hat das Recht, Fehler zu<br />

machen.<br />

In den Anfangsjahren wurden Gruppen mit großer Begeisterung<br />

gegründet. In einer Stadt, sagen wir Middletown, machte sich ein<br />

Teufelskerl an die Arbeit. Die Einwohner waren hellauf begeistert.<br />

Sie schwärmten von umwälzenden Neuerungen. Sie waren der<br />

Meinung, die Stadt brauche ein großes Zentrum für Alkoholiker,<br />

eine Art Modell, das andere AA-Gruppen kopieren könnten. Im<br />

Erdgeschoss wollten sie einen Club einrichten. In der ersten Etage<br />

sollten die Alkoholiker ausgenüchtert werden. Dort würde man ihnen<br />

auch Geld geben, um ihre Schulden zu bezahlen.<br />

Für die nächste Etage war ein Schulungszentrum vorgesehen.<br />

Natürlich gab es nie Einwände. In ihrer Phantasie bauten sie noch<br />

weitere Stockwerke, doch für den Anfang würden wohl drei Etagen<br />

genügen. Das 'würde eine Menge Geld kosten -das Geld anderer<br />

Leute.<br />

So unglaublich es klingt, reiche Bürger begeisterten sich für diese<br />

Sache. Einige Konservative unter den Alkoholikern dachten jedoch<br />

anders. Sie schrieben an das Gemeinsame Dienstbüro der AA in<br />

New York und wollten etwas über diese Strömung erfahren. Sie<br />

fürchteten, dass jene Schwärmer ihr Anliegen durch eine offizielle


Genehmigung des Dienstbüros untermauern wollten. Die<br />

Konservativen waren verstört und skeptisch.<br />

Natürlich hatte dieses Unternehmen einen Antreiber, sogar einen<br />

Superantreiber. Durch seine Beredsamkeit räumte er alle<br />

Befürchtungen aus, obgleich das Gemeinsame Dienstbüro der AA<br />

es abgelehnt hatte, die gewünschte Genehmigung zu erteilen. Die<br />

Ablehnung erfolgte mit der Begründung, dass alle Vorhaben, bei<br />

denen sich eine AA-Gruppe in Fragen der medizinischen<br />

Behandlung und Aufklärung über Alkoholismus einmischt, überall<br />

gescheitert sind.<br />

Um ganz sicherzugehen, gründete der Antreiber drei<br />

Gesellschaften, deren Vorsitz er übernahm. Frisch gestrichen<br />

strahlte das neue Zentrum. Die ganze Stadt war davon angetan. Im<br />

Innern herrschte geschäftiges Treiben. Um einen sicheren und<br />

geordneten Ablauf zu gewährleisten, wurden 61 Vorschriften und<br />

Bestimmungen erlassen.<br />

Es dauerte nicht lange, da fiel schon ein Schatten auf dieses<br />

hoffnungsvolle Werk. Statt Gelassenheit machte sich Verwirrung<br />

breit. Es stellte sich heraus, dass einige Trinker etwas für die<br />

Aufklärung über Alkoholismus tun wollten, jedoch daran zweifelten,<br />

selbst Alkoholiker zu sein. Andere dachten, sie könnten ihre<br />

Charakterfehler durch Darlehen beseitigen. Manche gingen gern in<br />

den Club. Sie suchten jedoch nur etwas für ihr einsames Herz.<br />

Einige bewarben sich sogar gleich für alle drei Etagen. Manche<br />

fingen im oberen Stockwerk an und nahmen unterwegs alles mit, bis<br />

sie dann im Erdgeschoss Clubmitglieder wurden. Andere fingen im<br />

Club an, betranken sich dort, wurden in die Krankenabteilung<br />

gebracht und landeten schließlich im Schulungszentrum im dritten<br />

Stock,<br />

Es ging wie in einem Bienenstock zu. Doch im Gegensatz zu einem<br />

Bienenstock gab es nur wirres Durcheinander.<br />

Eine AA-Gruppe konnte einfach ein derartiges Vorhaben nicht<br />

durchführen, Viel zu spät kam man zu dieser Erkenntnis. Es kam zu


der unvermeidlichen Explosion so etwa wie damals, als in der<br />

Fassdaubenfabrik Wombley der Dampfkessel explodierte, Über die<br />

Gruppe legte sich ein kalter Schwaden von Angst und<br />

Enttäuschung.<br />

Als sich dieser zerstreute, geschah etwas Wunderbares. <strong>Der</strong><br />

Anstifter dieses Vorhabens schrieb an das Dienstbüro. Er wünschte,<br />

er hätte der Erfahrung der AA mehr Beachtung geschenkt. Dann tat<br />

er noch etwas, das in die Geschichte unserer Gemeinschaft einging.<br />

Alles war auf einer kleinen Karte gedruckt, die nicht größer als ein<br />

Golfloch war. Auf der Außenseite stand: "Middletown Gruppe Nr. 1<br />

Vorschrift Nr. 62", Wenn man die Karte herumdrehte, einem nur ein<br />

Satz in die Augen: "Nimm dich doch nicht so verdammt wichtig!"<br />

Damit hatte nach unserer Vierten Tradition eine AA-Gruppe ihr<br />

Recht ausgeübt, auch einmal etwas Falsches zu tun. Außerdem<br />

hatte sie den Anonymen Alkoholikern einen großen Dienst<br />

erwiesen, da sie demütig bereit war, die Lehre, die sie daraus<br />

gezogen hatte, anzuwenden. Es wurde mit einem Lachen abgetan<br />

und dann ging man zu besseren Dingen über. Selbst der<br />

Chefarchitekt, der in den Trümmern seines Traumhauses stand,<br />

konnte über sich selbst lachen und das ist wirklich der Gipfel der<br />

Demut.


Die Fünfte Tradition<br />

"Die Hauptaufgabe jeder Gruppe ist, unsere AA-Botschaft zu<br />

Alkoholikern zu bringen, die noch leiden".<br />

"Schuster, bleib bei deinem Leisten" ... besser, eine Sache<br />

wohlgetan, als viele Dinge schlecht. Das ist das Hauptthema dieser<br />

Tradition. Auch in unserer Gesellschaft herrschte Einigkeit, wenn<br />

sich jeder dieser These bediente. Die Lebensfähigkeit unserer<br />

Gemeinschaft steht und fällt mit diesem Prinzip.<br />

Die Anonymen Alkoholiker können mit einer Ärztegruppe verglichen<br />

werden, die in der Krebsforschung tätig ist und von deren<br />

Gemeinschaftsarbeit es abhängt, dass den Krebskranken geholfen<br />

werden kann. Sicher ist jeder dieser Ärzte ein Fachmann und<br />

möchte manchmal lieber auf seinem Gebiet arbeiten als in der<br />

Gemeinschaft. Gesetzt den Fall. diese Ärzte hätten eine<br />

erfolgreiche Therapie gefunden, die sie auch nur gemeinsam<br />

anwenden könnten, dann würden sich doch alle verpflichtet fühlen,<br />

gemeinsam in der Krebsbekämpfung weiterzuarbeiten. Von dieser<br />

wunderbaren Entdeckung beeindruckt würde jeder Arzt seinen<br />

persönlichen Ehrgeiz zurückstellen, ganz gleich, was und wie viel er<br />

dafür aufgeben müsste.<br />

Genauso aufeinander angewiesen sind die Anonymen Alkoholiker.<br />

Sie haben gezeigt, dass sie Alkoholikern besser helfen können als<br />

irgendjemand anderer. Die besondere Fähigkeit eines jeden<br />

Anonymen Alkoholikers, sich mit einem Neuen zu identifizieren und<br />

ihm zur Genesung zu verhelfen hängt nicht von seiner Bildung,<br />

seiner Beredsamkeit oder von irgendeiner anderen Begabung ab.<br />

Das Einzige, was zählt, ist die Tatsache, dass er ein Alkoholiker ist,<br />

der den Schlüssel zur Nüchternheit gefunden hat. Diese Erfahrung<br />

von Krankheit und Genesung kann unter Alkoholikern leicht von<br />

einem zum anderen weitergegeben werden. Das ist unser<br />

Geschenk Gottes. Es an Alkoholkranke weiterzugeben, ist heute<br />

das einzige Ziel aller Anonymen Alkoholiker in der ganzen Welt.<br />

Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb wir ausschließlich


dieses Ziel verfolgen. Es ist eigentlich ein Widerspruch, dass wir<br />

Anonymen Alkoholiker dieses kostbare Geschenk der Nüchternheit<br />

uns kaum selbst erhalten können, wenn wir es nicht an andere<br />

weitergeben. Ein Ärzteteam, das eine Krebstherapie entwickelt hat,<br />

würde in Gewissenskonflikte geraten, wenn es aus egoistischen<br />

Gründen dieses Wissen nicht weitergäbe. Eine solche Unterlassung<br />

hätte aber keinen Einfluss auf das persönliche Wohlergehen des<br />

einzelnen Arztes. Wenn wir uns aber nicht um diejenigen kümmern,<br />

die noch krank sind, besteht eine ständige Gefahr für unser eigenes<br />

Leben und unsere geistige Gesundheit. Diese Mischung aus<br />

Selbsterhaltungstrieb, Pflichtgefühl und Nächstenliebe macht es<br />

nicht verwunderlich, dass unsere Gemeinschaft zu dem Schluss<br />

kam: Wir haben nur einen Hauptzweck -die Botschaft der AA denen<br />

zu überbringen, die noch nicht wissen, dass es einen Weg aus dem<br />

Elend gibt.<br />

Die nachfolgende Geschichte eines Anonymen Alkoholikers<br />

beleuchtet, wie weise es ist, nur einen Hauptzweck zu haben:<br />

"Eines Tages war ich sehr unruhig und ich dachte, ich sollte mich im<br />

<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> betätigen. Vielleicht wollte ich mich dadurch gegen<br />

einen Rückfall schützen. Doch zunächst musste ich einen Trinker<br />

finden, mit dem ich sprechen konnte.<br />

Ich setzte mich in die U-Bahn und fuhr zum Stadtkrankenhaus. Ich<br />

fragte Dr. Silkworth, ob er einen Patienten habe, mit dem ich<br />

sprechen könne. 'Nichts Vielversprechendes', sagte der kleine<br />

Doktor, 'da liegt ein Mann im dritten Stock, mit dem man vielleicht<br />

reden könnte. Er ist aber ein schrecklich zäher Ire. Ich habe noch<br />

nie einen so widerspenstigen Kerl gesehen. Er tönt überall herum,<br />

wenn seine Geschäftspartner ihn besser behandeln und seine Frau<br />

ihn in Ruhe lassen würde, hätte er sein Alkoholproblem schon<br />

längst gelöst. Er hat gerade ein schlimmes Delirium hinter sich und<br />

ist noch ziemlich benommen. Er misstraut jedem. Das klingt wohl<br />

nicht sehr ermutigend, nicht wahr? Doch wenn du mit ihm sprechen<br />

willst, würdest du etwas für dich tun. Warum gehst du nicht einfach<br />

hin?'


Bald saß ich neben einem ungehobelten Kerl. Er starrte mich<br />

unfreundlich mit zusammengekniffenen Augen aus einem roten,<br />

geschwollenen Gesicht an. Ich musste dem Arzt recht geben; er sah<br />

wirklich nicht gut aus. Ich erzählte ihm zunächst meine Geschichte.<br />

Ich setzte ihm auseinander, wie wunderbar unsere Gemeinschaft<br />

sei lind wie gut wir einander verstünden. Mit besonderem<br />

Nachdruck schilderte ich ihm die hoffnungslose Lage eines Trinkers.<br />

Ich hob hervor, dass nur wenige Trinker es aus eigener Kraft<br />

schaffen konnten, dass wir in unseren Gruppen jedoch das fertig<br />

bringen, was ein Einzelner allein nicht schafft.<br />

Höhnisch unterbrach er mich und meinte, er würde seine Frau,<br />

seinen Partner und seinen Alkoholismus schon allein in den Griff<br />

bekommen.<br />

Sarkastisch fragte er: 'Wie teuer ist denn eure Behandlung?' Ich war<br />

dankbar, dass ich ihm sagen konnte: 'Das kostet überhaupt nichts.'<br />

Seine nächste Frage war: 'Und was kriegst du dafür?'<br />

Natürlich war meine Antwort: 'Nur meine eigene Nüchternheit und<br />

ein sehr, sehr glückliches Leben.' Immer noch zweifelnd, fragte er<br />

weiter: 'Willst du damit sagen. dass du nur hier bist, um mir und dir<br />

selbst zu helfen?'<br />

Ja', sagte ich, 'das ist wirklich alles, sonst steckt nichts dahinter'.<br />

Dann sprach ich zögernd von der spirituellen Seite unseres<br />

Programms. Eisige Verachtung schlug mir entgegen. Kaum hatte<br />

ich das Wort spirituell ausgesprochen, brach es aus ihm heraus:<br />

'Oh', sagte er, 'jetzt weiß ich, was los ist. Du willst mich wohl für<br />

irgendeine religiöse Sekte gewinnen? Wie kannst du behaupten, es<br />

steckt nichts dahinter? Ich gehöre einer großen Kirche an, die alles<br />

für mich bedeutet. Und du hast den Nerv und willst mir etwas von<br />

Religion erzählen!'<br />

Gott sei Dank fiel mir darauf die richtige Antwort ein. Ich brauchte<br />

nur über den Hauptzweck unserer Gemeinschaft zu reden.


Ich sagte: 'Sicher hast du einen Glauben, vielleicht sogar einen<br />

tieferen als ich. Zweifellos kennst du dich in religiösen Dingen<br />

besser aus als ich. Darum kann ich dir über Religion gar nichts<br />

sagen. Ich will es auch nicht einmal versuchen. Ich möchte wetten,<br />

dass du mir eine haargenaue Erklärung von Demut geben könntest.<br />

Aber aus dem, was du mir über dich und deine Probleme erzählt<br />

hast und wie du sie in den Griff bekommen willst, glaube ich zu<br />

wissen, wo du dich irrst.'<br />

'Okay', sagte er, 'nun leg mal los!'<br />

'Also', begann ich, 'du bist ein fanatischer Ire, der glaubt, er könne<br />

alles allein machen.'<br />

Das versetzte ihm einen Schlag.<br />

Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, begann er mir zuzuhören.<br />

Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass Demut der Hauptschlüsse!<br />

zur Nüchternheit sei. Schließlich sah er ein, dass ich gar nicht<br />

versuchte, seine religiösen Ansichten zu ändern. Nach meiner<br />

Meinung sollte er in seiner Religion die Gnade finden, die ihn zur<br />

Genesung verhelfen würde. Von diesem Moment an verstanden wir<br />

uns."<br />

Zum Abschluss sagte der Oldtimer: "Nun stellt euch mal vor, ich<br />

hätte dem Mann von unserer Gemeinschaft sagen müssen, wir<br />

wären religiös gebunden, wir brauchten viel Geld, wir kümmerten<br />

uns um Alkoholismus-Aufklärung und um den Betrieb von<br />

Krankenhäusern und Entziehungsstätten.<br />

Oder ich hätte mich bereit erklärt, seine familiären oder<br />

geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. Was wäre wohl dabei<br />

herausgekommen? Es wäre sicher ein Fehlschlag gewesen!"<br />

Jahre später erzählte dieser hartgesottene Ire manchmal: "Mein<br />

Sponsor konnte mir nur Nüchternheit verkaufen und zu der Zeit<br />

hätte ich ihm auch nicht mehr abnehmen können."


Die Sechste Tradition<br />

"Eine AA-Gruppe sollte niemals irgendein außenstehendes<br />

Unternehmen unterstützen, finanzieren oder mit dem<br />

AA-Namen decken, damit uns nicht Geld-, Besitz-und<br />

Prestigeprobleme von unserem eigentlichen Zweck ablenken".<br />

In dem Augenblick, als wir erkannten, dass wir eine Antwort auf<br />

Alkoholismus hatten, war es nur folgerichtig (seinerzeit erschien es<br />

uns jedenfalls so), dass wir auch die Antwort auf viele andere<br />

Fragen hätten.<br />

Viele dachten, die Gruppen der Anonymen Alkoholiker könnten sich<br />

geschäftlich betätigen und Unternehmungen auf dem großen Gebiet<br />

des Alkoholismus finanzieren. Wir fühlten uns tatsächlich<br />

verpflichtet, jeder guten Sache den wirkungsvollen Namen der AA<br />

zur Verfügung zu stellen.<br />

Es folgen einige Beispiele unserer Wunschvorstellungen:<br />

Alkoholiker waren in Krankenhäusern unbeliebt. Darum trugen wir<br />

uns mit dem Gedanken, eine eigene Krankenhauskette zu errichten.<br />

Die Leute mussten über Alkoholismus aufgeklärt werden. Wir<br />

wollten die Aufklärung der Öffentlichkeit übernehmen und sogar<br />

Lehrbücher für Schulen und Medizin neu schreiben. Wir wollten die<br />

Heruntergekommenen aus der Gosse auflesen, diejenigen<br />

aussondern, die vielleicht allein zurechtkommen konnten und die<br />

übrigen in einem geschlossenen Heim unterbringen, wo sie auch<br />

ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Vielleicht würden solche<br />

Häuser noch Profit bringen, mit dem wir andere gute Werke<br />

finanzieren könnten.<br />

Wir dachten ernsthaft daran, die Gesetze unseres Landes zu<br />

ändern. Es sollte fest gelegt werden, dass Alkoholiker kranke<br />

Menschen sind. Kein Alkoholiker sollte mehr ins Gefängnis<br />

kommen. Die Richter sollten sie uns auf Bewährung übergeben. Wir<br />

wollten die Gemeinschaft der AA auch auf die Rauschgiftszene und<br />

die Kriminalität ausdehnen. Wir wollten Gruppen für Depressive und<br />

Paranoide bilden -und je schlimmer die Neurose, um so lieber


waren uns die Kranken. Es hörte sich ganz vernünftig an: Wenn<br />

man mit dem Alkoholismus fertig werden könnte, dann auch mit<br />

anderen Problemen.<br />

Wir dachten daran, in Fabriken zu gehen um zu predigen, dass<br />

Arbeiter und Kapitalisten einander lieben sollten. Unsere<br />

kompromisslose Ehrlichkeit würde auch die Politik säubern. Einen<br />

Arm auf der Schulter der Religion, den anderen auf der Schulter der<br />

Medizin, würden wir deren Differenzen beilegen. Da wir gelernt<br />

hatten, glücklich zu leben, wollten wir auch anderen zeigen, wie<br />

man das macht. Warum konnte unsere Gemeinschaft der<br />

Anonymen Alkoholiker nicht der Vorläufer einer neuen geistigen<br />

Bewegung sein! Wir könnten die Welt verändern!<br />

Ja, wir AA hatten wirklich solche Träume. Das war doch ganz<br />

natürlich. Sind nicht die meisten Alkoholiker bankrotte Idealisten?<br />

Fast jeder von uns hatte gewünscht, etwas außergewöhnlich Gutes<br />

zu tun, große Taten zu vollbringen und Ideale zu verkörpern. Wir<br />

alle streben nach Perfektionismus. Weil wir versagten, verfielen wir<br />

in das andere Extrem, nahmen die Flasche und rannten vor der<br />

Wirklichkeit davon. Die Vorsehung brachte uns mit Hilfe der AA<br />

wieder in den Bereich unserer früheren höchsten Erwartungen<br />

zurück. Warum sollten wir also nicht unsere Art zu leben jedem<br />

anderen zugänglich machen?<br />

Daraufhin versuchten wir es mit AA-Krankenhäusern. Das wurden<br />

Fehlschläge, denn man kann eine AA-Gruppe keine Geschäfte<br />

machen lassen. Viele Köche verderben den Brei. AA-Gruppen<br />

stürzten sich in die Aufklärungsarbeit –und als sie anfingen, in der<br />

Öffentlichkeit die Vorzüge dieser oder jener Methode anzupreisen,<br />

waren die Leute verwirrt. Wollten die Anonymen Alkoholiker<br />

Trinkern helfen oder wollten sie die Welt verbessern? Waren sie<br />

eine geistige oder eine medizinische Bewegung? Wollten sie<br />

reformieren? Beunruhigt stellten wir fest, dass wir mit allen<br />

möglichen guten oder weniger guten Unternehmungen verheiratet<br />

waren. Als wir sahen, dass Alkoholiker so mir nichts dir nichts in<br />

Gefängnisse oder Irrenanstalten gesteckt wurden, riefen wir laut:


"Da muss ein neues Gesetz her!" Anonyme Alkoholiker pochten<br />

beim Gesetzgeber auf Reformen. Das brachte Schlagzeilen, sonst<br />

aber nichts. Wir sahen uns in den Sumpf der Politik hinein gezogen.<br />

Selbst in unserer Gemeinschaft setzte sich die Ansicht durch, dass<br />

der Name AA von Clubhäusern und Heimen, die Alkoholiker<br />

aufnahmen, zu entfernen sei.<br />

Diese Abenteuer überzeugten uns nachhaltig, dass wir unter keinen<br />

Umständen unseren Namen irgendeinem auf dem Gebiet des<br />

Alkoholismus tätigen Unternehmen geben dürften, ganz gleich, wie<br />

gut es war. Wir Anonymen Alkoholiker konnten nicht allen<br />

Menschen gerecht werden und sollten es gar nicht versuchen.<br />

Vor Jahren wurde das Prinzip, dass wir andere nicht unterstützen,<br />

auf eine harte Probe gestellt. Einige große Spirituosenhersteller<br />

wollten sich auf dem Gebiet der Aufklärung über Alkohol betätigen.<br />

Sie meinten, dass es für den Schnapshandel gut sei, der<br />

Öffentlichkeit gegenüber einen Sinn für Verantwortung zu zeigen.<br />

Sie wollten sagen, Alkohol solle genossen, aber nicht missbraucht<br />

werden; starke Trinker sollten sich mäßigen -und Problemtrinker,<br />

also Alkoholiker, sollten überhaupt nicht trinken.<br />

Bei einem dieser großen Konzerne tauchte die Frage auf, wie dieser<br />

Werbefeldzug zu organisieren sei. Sie würden sich natürlich der<br />

öffentlichen Medien Rundfunk, Presse und Film bedienen. Doch wer<br />

sollte eine solche Sache leiten? Sofort dachten sie an die<br />

Anonymen Alkoholiker. Wenn sie in unseren Reihen einen<br />

ausgezeichneten Werbefachmann finden würden, wäre das doch<br />

ideal. Er würde natürlich das Problem kennen, seine Verbindung zu<br />

den AA wäre wertvoll, weil die Gemeinschaft in der Öffentlichkeit<br />

einen angesehenen Namen besaß und kaum Feinde hatte.<br />

Bald hatten sie auch ihren Mann entdeckt, einen AA mit der<br />

notwendigen Erfahrung. Dieser fuhr sofort zum Dienstbüro der AA<br />

nach New York und fragte: "Steht in unserer Tradition etwas<br />

darüber, dass ich eine solche Stelle nicht annehmen darf? Mir<br />

erscheint diese Art von Aufklärung gut, denn sie wird kaum<br />

Widerspruch herausfordern. Seht ihr von der Dienststelle einen


Haken dabei? " Auf den ersten Blick sah die Sache wirklich gut aus.<br />

Dann kamen Zweifel auf. Dieser Konzern wollte den vollen Namen<br />

des AA-Freundes in allen Anzeigen verwenden; er sollte gleichzeitig<br />

als Werbeleiter und als Anonymer Alkoholiker vorgestellt werden.<br />

Natürlich war nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass ein<br />

Konzern einen Anonymen Alkoholiker nur deswegen einstellte, weil<br />

er ein guter Werbefachmann war und sich auf dem Gebiet des<br />

Alkoholismus auskannte. Das war aber nicht die ganze Geschichte.<br />

In diesem Fall sollte ein AA nicht nur in der Öffentlichkeit seine<br />

Anonymität aufgeben; er sollte auch in den Köpfen von Millionen<br />

den Namen der Anonymen Alkoholiker mit diesem speziellen<br />

Aufklärungsprojekt verbinden. Es musste zwangsläufig so<br />

aussehen, als würde die Gemeinschaft der AA eine Aufklärung<br />

unterstützen –im Sinne der Spirituosenindustrie.<br />

Als wir diese Gefahr in ihrem vollen Ausmaß erkannten, fragten wir<br />

den betreffenden Werbefachmann, wie er jetzt darüber denke. "Das<br />

sind schwere Geschütze!" sagte er. Natürlich kann ich die Stelle<br />

nicht annehmen. Die Druckerschwärze auf der ersten Anzeige wäre<br />

noch nicht trocken. käme schon ein Sturm der Entrüstung aus dem<br />

Lager der Abstinenzler. Sie würden sich mit Laternen auf die Suche<br />

nach einem ehrlichen AA machen, den sie für ihre Art von<br />

Aufklärung einspannen könnten. Die Anonymen Alkoholiker würden<br />

genau in der Mitte einer Auseinandersetzung zwischen Gegnern<br />

und Befürwortern des Alkoholverbots landen. Die eine Hälfte der<br />

Menschen in diesem Lande würde glauben, dass wir für -und die<br />

andere, dass wir gegen ein Alkoholverbot wären. Welch ein Durch'.<br />

einander! " sagten wir."<br />

Dennoch steht dir das Recht zu, die Stelle anzunehmen." "Ich weiß<br />

es", sagte er, "aber hier geht es nicht um meine Rechte. Die<br />

Anonymen Alkoholiker haben mir das Leben gerettet -und für mich<br />

stehen sie an erster Stelle. Ich will wirklich nicht der sein, der die<br />

Gemeinschaft in große Schwierigkeiten bringt. Und die würden<br />

sicher kommen."


Damit hatte unser Freund alles zum Thema Einmischung und<br />

Unterstützung gesagt. Wie nie zuvor sahen wir jetzt deutlich, dass<br />

wir den Namen AA zu keinem anderen Zweck als zu unserem<br />

eigenen hergeben dürfen.


Die Siebte Tradition<br />

"Jede AA-Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen<br />

kommende Unterstützungen ablehnen".<br />

Alkoholiker erhalten sich selbst? Wer hat je so etwas gehört? Nach<br />

unserer Meinung muss das aber so sein. Dieser Grundsatz zeigt<br />

von der tiefen Veränderung, die wir durch die Anonymen Alkoholiker<br />

erfahren haben. Jeder weiß, dass trinkende Alkoholiker jammern,<br />

ihre Schwierigkeiten könnten nur mit Geld überwunden werden.<br />

Ständig hatten wir die Hand ausgestreckt. Viel länger, als unsere<br />

Erinnerung reicht, waren wir von irgendjemand abhängig,<br />

gewöhnlich in finanzieller Hinsicht. Wenn eine Gemeinschaft, die<br />

nur aus Alkoholikern besteht, sagt, dass sie ihre Rechnungen selbst<br />

bezahlen will, dann klingt das wirklich ganz neu.<br />

Wahrscheinlich hat keine Tradition der AA uns so viele<br />

Schwierigkeiten bereitet wie gerade diese. Früher waren wir ständig<br />

pleite. Zu dieser Tatsache kommt noch die allgemeine Auffassung,<br />

dass man Alkoholikern Geld geben sollte, damit sie nüchtern<br />

bleiben. Nur so ist es zu verstehen, dass uns nach unserer Meinung<br />

eine Menge Geld zustand. Welche großartigen Dinge könnten die<br />

Anonymen Alkoholiker damit tun! Doch merkwürdigerweise dachten<br />

Leute, die Geld hatten, ganz anders. Es wäre höchste Zeit, meinten<br />

sie, dass wir als nüchterne Menschen unsere Rechnungen selbst<br />

bezahlten. Darum ist unsere Gemeinschaft arm geblieben, weil es<br />

so sein musste.<br />

Es gab noch einen zweiten Grund für unsere Armut. Es wurde bald<br />

klar, dass Alkoholiker freigebig waren, wenn es darum ging,<br />

anderen zur Nüchternheit zu verhelfen. Sie hatten jedoch eine<br />

große Abneigung dagegen, Geld für Gruppenzwecke in den Hut zu<br />

werfen. Zu unserer Verblüffung stellten wir fest, dass die Münze so<br />

fest in unserer Tasche klebte wie die Rinde am Baum. So hat die<br />

Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker mit leeren Kassen<br />

begonnen -und daran hat sich nichts geändert, während es dem<br />

einzelnen AA finanziell immer besser ging.


Alkoholiker sind Alles-oder-Nichts-Menschen. Das zeigt sich auch in<br />

Geldfragen. Im Laufe der Entwicklung unserer Gemeinschaft von<br />

den Anfängen bis zur Reife veränderte sich unsere Auffassung vom<br />

Geld ins Gegenteil. Zuerst benötigten wir große Summen,<br />

schließlich waren wir davon überzeugt, dass wir überhaupt kein<br />

Geld brauchten. Alle sprachen davon, dass man die AA-<br />

Gemeinschaft und Geld auseinanderhalten sollte. Wir sollten<br />

Spirituelles und Materielles voneinander trennen. Wir schlugen<br />

diesen neuen harten Weg ein, weil hier und da Anonyme<br />

Alkoholiker versucht hatten, aus ihren Beziehungen zu der<br />

Gemeinschaft Geld zu schlagen. Wir befürchteten ausgenutzt zu<br />

werden. Gelegentlich wurden Clubhäuser von dankbaren<br />

Wohltätern finanziert.<br />

Dabei kam es gelegentlich auch zu Einmischungen in unsere<br />

internen Angelegenheiten. Man hatte uns ein Krankenhaus<br />

geschenkt und gleich darauf wurde der Sohn des Stifters unser<br />

wichtigster Patient und sollte auch noch Direktor werden. Eine AA-<br />

Gruppe hatte fünftausend Dollar erhalten und konnte darüber frei<br />

verfügen. <strong>Der</strong> Streit um diesen Batzen Geld hatte jahrelang<br />

verheerende Auswirkungen. Erschrocken über diese<br />

Komplikationen wollten viele Gruppen überhaupt kein Geld mehr in<br />

der Kasse haben.<br />

Trotz dieser Missstände mussten wir einsehen, dass die<br />

Gemeinschaft zu funktionieren hatte. Meetingsräume kosten Geld.<br />

Um die Arbeit in größeren Gebieten zu gewährleisten, wurden<br />

kleine Büros eingerichtet, die ein Telefon und einen hauptamtlichen<br />

Mitarbeiter hatten. Trotz vieler Proteste wurden diese Einrichtungen<br />

geschaffen. Wir erkannten, dass wir ohne diese Stellen<br />

Ratsuchenden nicht helfen konnten. Diese kleinen Dienste kosteten<br />

nicht viel und wir konnten und wollten das Geld dafür aufbringen.<br />

Schließlich pendelte sich alles ein und wurde zur Grundlage der<br />

Siebten Tradition, wie sie heute noch Gültigkeit hat.<br />

In diesem Zusammenhang erzählt Bill gern die folgende treffende<br />

Geschichte. Er schildert, wie 1941 Jack Alexanders Artikel in der


"Saturday Evening Post" erschien und der Briefkasten unserer<br />

Dienststelle in New York mit Tausenden von erschütternden<br />

Hilferufen verzweifelter Alkoholiker und ihrer Familien überlief.<br />

"Unser Büropersonal bestand damals aus zwei Personen", sagt Bill,<br />

"einer guten Sekretärin und mir. Wie konnten wir mit dieser Lawine<br />

von Hilferufen fertig werden? Wir brauchten unbedingt mehr<br />

Personal. Darum baten wir die AA-Gruppen um freiwillige Spenden.<br />

Ob sie uns wohl für jeden einen Betrag von einem Dollar pro Jahr<br />

schicken würden? Andernfalls mussten diese Hilferufe<br />

unbeantwortet bleiben.<br />

Zu meiner Überraschung antworteten die Gruppen nur zögernd.<br />

Das machte mich sehr traurig. Als ich eines Morgens einen Berg<br />

von Briefen im Büro sah, lief ich auf und ab und schimpfte darüber,<br />

wie unverantwortlich und geizig meine Freunde waren. In diesem<br />

Augenblick steckte ein alter Freund seinen zerzausten und<br />

schmerzenden Kopf durch die Tür. Es war unser Dauerrückfälliger.<br />

Ich merkte dass er einen fürchterlichen Kater hatte. Ich sah mein<br />

Spiegelbild und war voller Anteilnahme. Ich zog ihn in das<br />

Hinterzimmer und gab ihm einen Fünfdollarschein. Da mein<br />

Einkommen damals dreißig Dollar in der Woche betrug, war das ein<br />

großes Geschenk. Meine Frau Lois brauchte das Geld dringend für<br />

Lebensmittel, aber das konnte mich nicht hindern. Die sichtbare<br />

Erleichterung meines Freundes machte mich froh. Ich fühlte mich<br />

besonders tugendhaft, wenn ich an all die Extrinker dachte, die<br />

nicht einmal bereit waren, einen Dollar pro Nase an die Dienststelle<br />

zu schicken. Und hier war ich, der mit Freuden bereit war, einem<br />

Alkoholiker mit fünf Dollar über seinen Katzenjammer<br />

hinwegzuhelfen.<br />

Am gleichen Abend war ein Meeting im alten Clubhaus in der 24.<br />

Straße in New York. Während der Pause machte der Kassenwart<br />

einen schüchternen Versuch, über die miese finanzielle Lage des<br />

Clubs zu sprechen. (Und das zu einer Zeit, in der es hieß, wir<br />

sollten AA und Geld auseinanderhalten!) Am Schluss kam er mit der<br />

Wahrheit heraus: Wir würden hier hinausfliegen, wenn wir keine


Miete bezahlten. 'Nun Leute', sagte er, 'heute Abend werft ihr mal<br />

etwas mehr in den Hut, nicht wahr?'<br />

Ich hörte alles ganz deutlich, während ich fromm einen Neuen, der<br />

neben mir saß, zu bekehren versuchte. <strong>Der</strong> Hut kam auch zu mir<br />

und ich griff in meine Tasche. Immer noch mit dem Neuen<br />

beschäftigt, fischte ich ein 50-CentStück heraus. Irgendwie kam es<br />

mir zu groß vor. Ich steckte es schnell wieder ein und zog ein<br />

10 Cent-Stück aus der Tasche, das recht dünn klang, als ich es in<br />

den Hut warf.<br />

Damals warf niemand Papiergeld in den Hut. Dann kam ich zur<br />

Besinnung. Heute Morgen war ich noch stolz auf meine<br />

Freigebigkeit. Jetzt war ich in meiner eigenen Gruppe geiziger als<br />

die Alkoholiker im Lande, die vergessen hatten, der Dienststelle<br />

ihren Dollar zu schicken.<br />

Es wurde mir klar, dass meine Fünf-Dollar-Spende an den Trinker<br />

nur mein Ego aufblähte. Schlimm für ihn und schlimm für mich.<br />

Einen Platz gab es in der Gemeinschaft, wo das Geistige und das<br />

Geld sich miteinander vertrugen -und das war der Hut! "<br />

Es gibt noch eine andere Geschichte über Geld. An einem Abend<br />

im Jahr 1948 hatten die Vertrauensleute der AA ihr vierteljährliches<br />

Treffen. Auf der Tagesordnung stand eine sehr wichtige Sache.<br />

Eine Frau war verstorben. Sie hatte in ihrem letzten Willen den<br />

Anonymen Alkoholikern eine Summe von 10.000 Dollar vermacht<br />

und bestimmt, dass die Dienststelle über das Geld verfügen sollte.<br />

Es erhob sich die Frage, ob die Gemeinschaft der AA dieses<br />

Vermächtnis annehmen sollte.<br />

Was gab es für Debatten! Gerade zu der Zeit war die Gemeinschaft<br />

in großen Geldschwierigkeiten; die Gruppen sandten nicht genug<br />

Geld, um die Dienststelle zu unterhalten. Wir verbrauchten alle<br />

Überschüsse aus dem Literaturverkauf -und nicht einmal das<br />

reichte. Unsere Reserve schmolz wie der Schnee im Frühling. Wir<br />

brauchten diese 10.000 Dollar. "Vielleicht", meinten einige, "werden<br />

die Gruppen die Kosten des Büros nie tragen. Wir können es aber


auch nicht schließen, es ist zu lebenswichtig. Ja, wir sollten das<br />

Geld annehmen, denn wir werden es brauchen."<br />

Dann kam die Opposition. Sie wies darauf hin, dass die<br />

Vertrauensleute bereits jetzt wussten, dass in Testamenten von<br />

Leuten, die noch lebten, eine halbe Million Dollar für die<br />

Gemeinschaft der AA bestimmt war. Gott allein wusste, wie viel<br />

noch für uns vorgesehen war, von dem wir bis jetzt noch nichts<br />

ahnten. Wenn derartige Spenden von außen nicht abgelehnt<br />

wurden -und zwar bedingungslos –würde die Gemeinschaft eines<br />

Tages sehr reich sein. Außerdem brauchten unsere Vertrauensleute<br />

in der Öffentlichkeit nur die leiseste Andeutung zu machen, dass wir<br />

Geld benötigten -und es würden uns große Geldbeträge zufließen.<br />

Verglichen mit diesen Aussichten waren die 10.000 Dollar nicht der<br />

Rede wert.<br />

Würden wir sie aber annehmen, so würde bei uns, ähnlich wie bei<br />

dem Alkoholiker, der das erste Glas trinkt, eine verhängnisvolle<br />

Kettenreaktion einsetzen. Wohin würde uns das bringen?<br />

Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird. Und wenn die<br />

Gemeinschaft der AA Geld von außen annehmen würde, könnten<br />

die Vertrauensleute in Versuchung geraten, Entscheidungen zu<br />

treffen, die dem Wohle unserer Gemeinschaft entgegenstehen. Frei<br />

von jeder Verantwortung würde der einzelne Alkoholiker mit der<br />

Achsel zucken und sagen: "Die Gemeinschaft ist ja reich, warum<br />

soll ich mir noch Gedanken machen?" Unter dem Gewicht eines<br />

großen Vermögens würden die Vertrauensleute in Versuchung<br />

kommen, mit einer Vielzahl von Vorhaben Gutes zu tun und so den<br />

Hauptzweck der Anonymen Alkoholiker vergessen. Und wenn das<br />

passierte, wäre unser Vertrauen in die Gemeinschaft erschüttert.<br />

Die Vertrauensleute würden sich isolieren und heftiger Kritik sowohl<br />

von Seiten der Anonymen Alkoholiker als auch der Öffentlichkeit<br />

ausgesetzt sein. So prallten die Meinungen aufeinander.<br />

Damals haben unsere Vertrauensleute eine bedeutungsvolle Seite<br />

in der Geschichte der Anonymen Alkoholiker geschrieben. Sie<br />

erklärten zum Grundsatz, dass die Gemeinschaft der AA immer arm


leiben muss. In Zukunft sollten die Finanzen so verwendet werden:<br />

Deckung der laufenden Ausgaben zuzüglich einer vernünftigen<br />

Reserve.<br />

So schwer es ihnen auch fiel, sie lehnten die 10.000 Dollar offiziell<br />

ab, fassten einen formellen, nach allen Seiten abgesicherten<br />

Entschluss, solche Schenkungen auch in Zukunft in gleicher Weise<br />

abzulehnen. Von diesem Zeitpunkt an, glauben wir, war der<br />

Grundsatz der gemeinsamen Besitzlosigkeit fest und endgültig in<br />

der AA-Tradition verankert.<br />

Das Echo auf die Veröffentlichung dieses Beschlusses war lebhaft.<br />

Für Menschen, die sich an endlose Sammelaktionen für karitative<br />

Zwecke gewöhnt hatten, war die Gemeinschaft der AA etwas ganz<br />

Neues und Erfrischendes. Anerkennende Zeitungsartikel weit und<br />

breit lösten eine Welle von Vertrauen in die Rechtschaffenheit der<br />

Anonymen Alkoholiker aus. Sie hoben hervor, dass<br />

Verantwortungslose zu Verantwortlichen wurden und dass die<br />

Anonymen Alkoholiker durch ihre Tradition der finanziellen<br />

Unabhängigkeit wieder ein Ideal wachgerufen hätten, das in<br />

unserem Zeitalter fast vergessen war.


Die Achte Tradition<br />

"Die Tätigkeit bei den Anonymen Alkoholikern sollte immer<br />

ehrenamtlich bleiben, jedoch dürfen unsere zentralen<br />

Dienststellen Angestellte beschäftigen".<br />

"Anonym er Alkoholiker" wird niemals ein Beruf sein. Wir haben<br />

mittlerweile begriffen, was die Worte bedeuten, "umsonst habt ihr<br />

empfangen, umsonst sollt ihr geben".<br />

Uns ist klar geworden, dass sich die spirituelle und die finanzielle<br />

Seite nicht miteinander vereinbaren lassen, wenn wir unsere<br />

Tätigkeit innerhalb der Gemeinschaft als Beruf ansehe n. Selbst<br />

Koryphäen auf medizinischem und religiösem Gebiet haben in der<br />

ganzen Welt bis heute kaum Erfolg bei der Heilung vom<br />

Alkoholismus gehabt. Mit dieser Feststellung möchten wir<br />

keineswegs die Tätigkeit dieser Berufe auf anderen Gebieten<br />

herabsetzen, aber wir müssen die nüchterne Tatsache hin nehmen,<br />

dass ihre Tätigkeit in unserem Bereich nicht hilft. Jedes Mal, wenn<br />

wir versuchten, die Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zum Beruf zu machen,<br />

war das Ergebnis dasselbe: Wir verloren unser Hauptziel aus den<br />

Augen.<br />

Alkoholiker hören einfach nicht auf einen Menschen, der für seine<br />

Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> bezahlt wird. Wir kamen schnell dahinter,<br />

dass persönlicher Kontakt zum Alkoholiker, der noch trinkt, nur<br />

durch den Wunsch zustande kommt, ihm zu helfen und dadurch<br />

selbst Hilfe zu finden.<br />

Wenn ein Anonymer Alkoholiker gegen Bezahlung als Sprecher in<br />

einem Meeting auftritt oder sich um einen Einzelnen kümmert, kann<br />

das für ihn selbst sehr schädlich werden. Seine finanziellen<br />

Beweggründe stellen ihn bloß und alles, was er sagt und tut,<br />

geschieht in Erwartung seines eigenen Vorteils.<br />

Das war schon immer so klar, dass nur wenige Anonyme<br />

Alkoholiker sich ihre Tätigkeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> bezahlen lassen.<br />

Dennoch sind wenige Dinge innerhalb unserer Gemeinschaft


so umstritten wie bezahlte Tätigkeiten. Hausmeister, welche die<br />

Böden reinigen, Köche, die unsere Hamburger braten, Sekretäre in<br />

den Büros, Autoren, die Bücher schreiben -sie alle werden immer<br />

wieder scharf angegriffen, weil sie, wie ihnen ihre Kritiker ärgerlich<br />

vorwerfen, durch die Gemeinschaft der AA Geld verdienen. Ohne<br />

daran zu denken, dass diese Tätigkeiten überhaupt nichts mit dem<br />

<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zu tun haben, greifen die Kritiker die Angestellten<br />

der AA an, die oft und undankbare Aufgaben nur erledigen, weil<br />

kein anderer sie tun kann oder will.<br />

Noch größerer Ärger entstand, wenn Anonyme Alkoholiker<br />

Entziehungs-oder Erholungsheime leiteten, wenn sie in<br />

Personalbüros großer Firmen angestellt wurden, um sich um<br />

alkoholkranke Mitarbeiter in der Industrie zu kümmern, wenn sie<br />

Pfleger in psychiatrischen Krankenhäusern wurden oder wenn sie<br />

sich auf dem Gebiet der Aufklärung über Alkoholismus betätigten. In<br />

diesen und vielen anderen Fällen wurde behauptet: hier verkaufen<br />

Anonyme Alkoholiker Erkenntnis und Erfahrung der Gemeinschaft<br />

gegen Geld, also nutzen sie ihre Krankheit beruflich.<br />

Schließlich konnte man jedoch eine klare Linie zwischen Beruf und<br />

Ehrenamt ziehen. Als wir uns darüber klar wurden, dass die Arbeit<br />

im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> nicht gegen Bezahlung getan werden konnte,<br />

waren wir klüger geworden. Seinerzeit, als wir festgelegt hatten,<br />

unsere Gemeinschaft dürfe keine bezahlten Angestellten haben und<br />

Anonyme Alkoholiker dürften die bei uns gewonnenen Erkenntnisse<br />

nicht auf andere Gebiete übertragen, war Furcht unser Ratgeber<br />

gewesen. Heute ist diese Furcht durch die inzwischen gemachten<br />

Erfahrungen weithin behoben.<br />

Nehmen wir einmal das Beispiel einer größeren Kontaktstelle und<br />

der dort Tätigen. Wenn die KontaktsteIle funktionieren soll, muss sie<br />

gemütlich und sauber sein. Wir versuchten es mit Freiwilligen, aber<br />

nach kurzer Zeit waren sie es leid, sieben Tage in der Woche<br />

sauberzumachen und Kaffee zu kochen. Sie blieben einfach weg.<br />

Und was noch wichtiger ist: in einer unbesetzten Kontaktsteile<br />

konnten keine Telefongespräche angenommen werden. Es war


geradezu eine Einladung für einen Rückfälligen, der zufällig noch<br />

einen Haustürschlüssel besaß, sich dort häuslich niederzulassen Es<br />

musste einfach jemand hauptberuflich die Kontaktsteile betreuen.<br />

Und wenn wir dafür einen Alkoholiker einstellten, würde dieser die<br />

gleiche Bezahlung erhalten, die auch ein Nichtalkoholiker für die<br />

gleiche Arbeit bekommen würde. Es war nicht seine Aufgabe, selbst<br />

im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu werden, sondern durch seine Arbeit den<br />

<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> möglich zu machen. Er hatte eine Dienstleistung zu<br />

vollbringen, nichts weiter.<br />

Ohne hauptberufliche Angestellte konnte die Gemeinschaft der AA<br />

nicht funktionieren. Im Gemeinsamen Dienstbüro und in den<br />

Intergruppenbüros konnten wir keine Nichtalkoholiker als Mitarbeiter<br />

beschäftigen. Wir brauchten Menschen, die auf den Ton der AA<br />

eingestimmt waren. In dem Moment, als wir AA-Freunde einstellten,<br />

schrien die Erzkonservativen und Ängstlichen: "Jetzt machen sie mit<br />

ihrer Krankheit Geld!" Es hat eine Zeit gegeben, in der die Situation<br />

dieser treuen An gestellten unerträglich wurde. In den Meetings ließ<br />

man sie nicht mehr sprechen, da sie ja "durch die Gemeinschaft<br />

Geld verdienten". Manchmal wurden sie sogar von anderen aus der<br />

Gruppe geradezu beleidigt. Und selbst die Toleranten nahmen sie<br />

als notwendiges Übel hin. Die für die Anstellung Verantwortlichen<br />

machten sich das zunutze und drückten die Gehälter. Nach deren<br />

Auffassung konnten die hauptamtlichen Angestellten ihre Tugend<br />

zurückgewinnen. indem sie für die AA billig arbeiteten. So ging es<br />

jahrelang.<br />

Schließlich mussten wir aber doch einsehen, dass man eine schwer<br />

arbeitende Sekretärin nicht als professionelle AA bezeichnen<br />

konnte, wenn sie Dutzende von Telefonanrufen beantwortete,<br />

täglich mindestens zwanzig jammernde Frauen anhörte, zehn<br />

Plätze in Krankenhäusern besorgte, jedem den nötigen Sponsor<br />

vermittelte und dann noch einem Angetrunkenen gegenüber<br />

vernünftig und diplomatisch sein musste, der sich über ihre Arbeit<br />

beschwerte und ihr vorwarf, sie sei überbezahlt.


Sie machte aus dem <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> keinen Beruf. Durch ihre Arbeit<br />

wurde er erst möglich. Sie sorgte dafür, dass jeder die Hilfe bekam,<br />

die er dringend brauchte. Dazu waren freiwillige Helfer willkommen,<br />

aber es konnte nicht von ihnen erwartet werden, diese schwere Last<br />

tagein, tagaus auf sich zu nehmen.<br />

Beim amerikanischen Dienstbüro, dem GSO (General Service<br />

Office), war es nicht anders. Acht Tonnen Bücher und Literatur im<br />

Monat verpacken sich nicht von selbst und finden auch nicht allein<br />

ihren Weg in die ganze Welt. Säcke voller Briefe mit allen nur<br />

denkbaren AA-Problemen, angefangen von dem einsamen Eskimo,<br />

der Hilfe braucht, bis zu den Wachstumsschwierigkeiten Tausender<br />

Gruppen, müssen von Menschen beantwortet werden, die wissen,<br />

um was es geht. Die Kontakte mit aller Welt müssen in richtiger<br />

Form aufrechterhalten werden. Jederzeit muss Hilfe geleistet<br />

werden können. Darum stellen wir Mitarbeiter ein.<br />

Wir bezahlen sie gut. Sie bekommen, was ihnen zusteht. Sie üben<br />

ihren Beruf aus, aber sie sind sicher keine berufsmäßigen<br />

Anonymen Alkoholiker. Vielleicht wird immer im Innern eines jeden<br />

AA die Furcht lauern, dass unser Name eines Tages von irgend<br />

jemand für Geldgeschäfte missbraucht werden könnte. Wenn<br />

einmal nur die leiseste Möglichkeit dazu auftaucht, bricht ein wahrer<br />

Proteststurm aus. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass solche<br />

Stürme unberechenbar sind und mit derselben Heftigkeit Gerechte<br />

und Ungerechte treffen.<br />

Niemand wurde mehr angegriffen als die Anonymen Alkoholiker, die<br />

kühn genug waren, eine Anstellung bei außenstehenden<br />

Institutionen anzunehmen, die sich mit dem Alkoholismus befassen.<br />

Eine Universität suchte einen Anonymen Alkoholiker, der die<br />

Öffentlichkeit über Alkoholismus aufklären sollte. Eine größere<br />

Firma wollte einen Mitarbeiter für das Personalbüro, der mit der<br />

Sache vertraut war. Ein staatliches Alkoholismus-Zentrum suchte<br />

einen Sachbearbeiter, der mit Trinkern umgehen konnte. Eine<br />

Stadtverwaltung brauchte einen erfahrenen Sozialarbeiter, der<br />

wusste, welches Elend der Alkoholismus in Familien anrichtete.


Eine vom Staat eingesetzte Arbeitsgruppe suchte einen bezahlten<br />

Angestellten für ihre Forschungen. Das sind nur einige der Stellen,<br />

die einzelnen AA angeboten wurden. Hin und wieder kauften<br />

Anonyme Alkoholiker Entzugs-und Kurheime, in denen<br />

heruntergekommene Süchtige die notwendige Betreuung fanden.<br />

Die Frage war -sie ist es manchmal heute noch: ist eine derartige<br />

Betätigung als geschäftsmäßige Ausnutzung der AA im Sinne<br />

dieser Tradition zu verurteilen?<br />

Die Antwort ist: "Nein. Anonyme Alkoholiker, die einen Beruf auf<br />

diesem Gebiet wählen, werden nicht dafür bezahlt, dass sie sich im<br />

Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es unseres Programms betätigen." <strong>Der</strong><br />

Weg zu dieser Erkenntnis war lang und steinig. Am Anfang konnten<br />

wir nicht sehen, worum es wirklich ging. Wenn sich damals ein AA<br />

in solchen Unternehmungen betätigte, lag die Versuchung nahe,<br />

den Namen "Anonyme Alkoholiker" für Werbung und Einnahmequellen<br />

zu nutzen. Kliniken für Alkoholiker, Beratungsstellen,<br />

staatliche Dienststellen und sonstige Verbände gaben öffentlich<br />

bekannt, dass Anonyme Alkoholiker bei ihnen beschäftigt waren.<br />

Ohne sich etwas dabei zu denken, haben AA in solchen Positionen<br />

ihre Anonymität gebrochen, um die Werbetrommel für ihren<br />

Arbeitgeber zu rühren. Aus diesem Grund wurden einige sehr gute<br />

Sachen und alles, was damit zusammenhing, ungerechtfertigt von<br />

AA-Gruppen kritisiert. Häufig wurden die Angegriffenen auch AA-<br />

Profis genannt: "Da ist jemand, der aus seiner AA-Zugehörigkeit<br />

Geld schlägt." Doch nicht ein Einziger von ihnen war dazu angestellt<br />

worden, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zu arbeiten. Die Verletzung der AA-<br />

Grundsätze lag nicht im Professionalismus, sondern im Bruch der<br />

Anonymität. <strong>Der</strong> Name Anonyme Alkoholiker war missbraucht,<br />

unser Hauptzweck verfehlt.<br />

Es ist bemerkenswert, dass diese Befürchtungen heutzutage fast<br />

aus geräumt sind, denn es bricht kaum noch ein AA seine<br />

Anonymität in der Öffentlichkeit. Wir haben weder das Recht noch<br />

die Pflicht, Anonyme Alkoholiker zu entmutigen, wenn sie auf einem<br />

dieser sozialen Gebiete arbeiten wollen. Es wäre unsozial, wenn wir<br />

es ihnen verbieten wollten. Wir können unsere Gemeinschaft nicht


zu einem Geheimbund machen und unsere Kenntnisse und<br />

Erfahrungen für uns behalten.<br />

Wenn ein Anonymer Alkoholiker die Möglichkeit der freien<br />

Berufswahl hat und ein besserer Forscher, Erzieher oder<br />

Personalchef werden kann, warum nicht? Jeder profitiert davon -<br />

und uns entsteht kein Schaden. Zugegeben, manche Projekte, an<br />

denen Anonyme Alkoholiker mitarbeiteten, waren falsch<br />

aufgezogen, aber davon wird der Grundsatz, um den es sich hier<br />

handelt, nicht im Geringsten berührt.<br />

Bis schließlich die Tradition, dass unser Wirken innerhalb unserer<br />

Gemeinschaft ehrenamtlich bleiben soll, feststand, hatte es schon<br />

einige Aufregung gegeben. Für die Tätigkeit im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n<br />

<strong>Schritt</strong>es wird niemals etwas bezahlt, wer aber in unseren Diensten<br />

beschäftigt ist, soll angemessen entlohnt werden .


Die Neunte Tradition<br />

"Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden.<br />

Jedoch dürfen wir Dienstausschüsse und -komitees bilden, die<br />

denjenigen verantwortlich sind, welchen sie dienen".<br />

Die erste Fassung der Neunten Tradition lautete: "Die Gemeinschaft<br />

der Anonymen Alkoholiker sollte so wenig wie möglich organisiert<br />

sein". Im Laufe der Zeit hat sich aber unsere Ansicht etwas<br />

geändert. Heute sind wir fest davon überzeugt, dass die Anonymen<br />

Alkoholiker -die Gemeinschaft als Ganzes überhaupt nicht<br />

organisiert sein sollten. Im Widerspruch dazu steht scheinbar, dass<br />

besondere Dienstausschüsse und -komitees gebildet werden, die in<br />

sich selbst organisiert sind. Wie ist es möglich, dass wir eine<br />

unorganisierte Gemeinschaft sein wollen, die dennoch organisierte<br />

Dienststellen für sich arbeiten lässt? Die Leute stehen vor einem<br />

Rätsel. "Was versteht ihr darunter, nicht organisiert zu sein?"<br />

Wir wollen das näher betrachten. Hat man je von einem Staat, einer<br />

Kirche, einer politischen Partei oder einem Wohltätigkeitsverein<br />

gehört, in denen es keine Statuten für die Mitglieder gibt? Hat man<br />

je von einer Gesellschaft gehört, die nicht durch einzuhaltende<br />

Vorschriften und Anordnungen für Disziplin unter den Mitgliedern<br />

sorgte? Gibt es nicht in jeder Gesellschaftsordnung auf der Welt<br />

einige Menschen mit Führungspositionen, die den übrigen<br />

Gehorsam abverlangen können und die die Macht haben,<br />

diejenigen, die sich nicht an die Vorschriften halten, zu bestrafen<br />

oder sie auszustoßen? Darum braucht jeder Staat, ja sogar jede Art<br />

von Gemeinschaft eine Führung, die von Menschen ausgeübt wird.<br />

Die Macht zu lenken und zu regieren ist das Wesen einer jeden<br />

Organisation überall in der Welt.<br />

Die Gemeinschaft der AA macht jedoch eine Ausnahme. Sie passt<br />

nicht in dieses Schema. Weder die Gemeinsame Dienstkonferenz,<br />

das Gemeinsame Dienstbüro noch der kleinste Ausschuss können<br />

einem AA Anweisungen geben, die er zu befolgen hat, geschweige<br />

denn, ihn bestrafen. Versucht wurde es schon öfter, doch es ging<br />

immer schief. Gruppen haben versucht, AA auszuschließen, doch


die gleichen Leute setzten sich wieder ins Meeting und sagten: "Das<br />

ist für uns lebensnotwendig, ihr könnt uns hier nicht hinauswerfen".<br />

Manchen AA wurde durch irgendein Komitee nahegelegt, nicht<br />

ständig hinter chronisch Rückfälligen herzulaufen. Doch die Antwort<br />

war: "Wie ich im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> arbeite, ist meine eigene<br />

Angelegenheit. Wer seid ihr denn, dass ihr Urteile fällt"?<br />

Das bedeutet nicht, dass ein Anonymer Alkoholiker keinen Rat oder<br />

Vorschlag von Leuten mit mehr Erfahrung annimmt. Ganz sicher<br />

aber nimmt er keinen Befehl an. Wer ist wohl unbeliebter als ein<br />

weiser Oldtimer, der in eine andere Gegend zieht und dort der<br />

Gruppe beibringen will, wie es richtig gemacht wird? Er und alle, die<br />

gleich ihm "mit Sorge das Beste für die AA im Auge haben", stoßen<br />

auf hartnäckigen Widerstand oder, was noch schlimmer ist, sie<br />

werden ausgelacht.<br />

Mancher könnte mein en, dass das AA-Dienstbüro in New York eine<br />

Ausnahme bildet. Natürlich hätten die Leute dort gern eine gewisse<br />

Autorität. Doch seit langem schon haben die Vertrauensleute und<br />

die Mitarbeiter gemeinsam festgelegt, dass sie nur vorsichtig<br />

Anregungen geben können.<br />

Sie haben einige Standardsätze formuliert, die in fast jedem Brief<br />

erscheinen. "Natürlich steht es euch völlig frei, über diese<br />

Angelegenheit selbst zu entscheiden. Die meisten Gruppen der AA<br />

haben jedoch in solchen Fällen die Erfahrung gemacht, dass ..." Da<br />

es so gehandhabt wird, kann wohl kaum von einem Diktat einer<br />

zentralen Stelle gesprochen werden. Wir wissen, dass man keinem<br />

Alkoholiker Vorschriften machen kann -weder einem einzelnen noch<br />

der Gesamtheit.<br />

Wenn das ein Theologe hört, wird er bestimmt sagen: "Diese Leute<br />

machen aus Ungehorsam eine Tugend." Die gleiche Meinung wird<br />

ein Psychiater vertreten: "Trotzige Kinder' Sie wollen nie erwachsen<br />

und nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden." <strong>Der</strong> Mann auf<br />

der Straße sagt: "Das verstehe ich nicht, die müssen verrückt sein."


Doch alle diese Kritiker haben etwas Einzigartiges übersehen, das<br />

es nur bei den Anonymen Alkoholikern gibt. Wenn ein AA sich nicht<br />

mit aller Kraft bemüht, nach den von uns empfohlenen Zwölf<br />

<strong>Schritt</strong>en zu leben, ist ihm sein Todesurteil fast sicher. Ein neuer<br />

Rückfall mit allen Konsequenzen ist keine Strafe, die ihm von<br />

Autoritätspersonen auferlegt wurde, sondern das Ergebnis der<br />

Nichtbeachtung der geistigen Grundsätze.<br />

Auch die Gruppe ist der gleichen Gefahr ausgesetzt. Wenn sie sich<br />

nicht nach den Zwölf Traditionen der AA richtet, zerfallt sie und löst<br />

sich auf. Darum beachten wir Anonymen Alkoholiker die spirituellen<br />

Grundsätze, weil es für uns lebensnotwendig ist und weil wir die Art<br />

zu leben lieben, die nur durch Annehmen des Programms möglich<br />

ist. Großes Leid und große Liebe sind unsere Lehrmeister, andere<br />

brauchen wir nicht.<br />

Jetzt ist klar, warum wir keine Vorstände brauchen, die uns<br />

regieren. Aber es ist ebenso klar, dass wir mit Autorität<br />

ausgestattete Angestellte brauchen, die uns dienen. Hier<br />

unterscheidet sich der Geist festgefügter Autorität vom Geist des<br />

Dienens, zwei Auffassungen, die einander manchmal polar<br />

entgegenstehen. Dieser Geist des Dienens bestimmt in den<br />

Gruppen die Wahl der mit zeitlich begrenzten Aufgaben betrauten<br />

Vertrauensleute, der Verantwortlichen auf regionaler Ebene und der<br />

Delegierten für die Gemeinsame Dienstkonferenz. So wie<br />

persönliche Nüchternheit das Ziel jedes einzelnen AA-Mitgliedes ist,<br />

so ist es das Ziel des Dienstes innerhalb unserer Gemeinschaft,<br />

Nüchternheit überall dorthin zu bringen, wo sie gewünscht wird.<br />

Wenn keiner die Kleinarbeit in den Gruppen erledigt, wenn niemand<br />

die Kontakttelefone bedient , wenn niemand die Post beantwortet,<br />

dann würde die AA-Gemeinschaft nicht mehr wachsen. Unsere<br />

Verbindung zu denen, die Hilfe brauchen, wäre unterbrochen.<br />

Die Gemeinschaft der AA muss funktionieren, aber sie muss<br />

gleichzeitig auch jene Gefahren vermeiden, welche andere<br />

Gesellschaften notwendigerweise bedrohen: großen Reichtum und<br />

eine auf Macht begründete Autorität. Obwohl sich die Neunte


Tradition auf den ersten Blick nur mit einer rein praktischen Sache<br />

zu befassen scheint, so offenbart sie jedoch in ihrer tatsächlichen<br />

Auswirkung eine Gesellschaft, die ohne feste Organisation nur<br />

durch den Geist des Dienens belebt wird -eine wahre Gemeinschaft.


Die Zehnte Tradition<br />

"Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu Fragen<br />

außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der AA-<br />

Name niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt werden".<br />

Noch nie ist es innerhalb unserer Gemeinschaft wegen<br />

unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zu einer Spaltung<br />

gekommen. Auch hat unsere Gemeinschaft noch niemals öffentlich<br />

für eine Sache in dieser zerstrittenen Welt Partei ergriffen. Wir<br />

sollten uns das aber nicht als Verdienst anrechnen. Man könnte<br />

eher sagen, dass uns diese Tugend angeboren ist. Wir stimmen<br />

dem Oldtimer völlig zu, der einmal gesagt hat: "Praktisch habe ich<br />

noch nie einen Streit über religiöse oder politische Fragen unter AA-<br />

Zugehörigen miterlebt. Solange wir uns über diese Dinge nicht<br />

untereinander streiten, ist es klar, dass wir es nicht öffentlich tun ."<br />

Von Anfang an haben wir Anonymen Alkoholiker instinktiv gewusst,<br />

dass wir niemals in irgendeiner Streitfrage öffentlich Partei ergreifen<br />

dürften, selbst wenn wir noch so sehr herausgefordert werden oder<br />

wenn es sich um wichtige Grundsatzfragen handelt. Die<br />

Weltgeschichte wimmelt von Beispielen von kämpfenden Nationen<br />

oder Gruppen, die meist völlig auseinandergerissen wurden, weil sie<br />

ihrer Anlage oder ihrem Hang zum Streit erlegen sind. Andere<br />

scheiterten und gingen unter, weil sie aus reiner Selbstherrlichkeit<br />

ihren Mitmenschen ein Paradies auf Erden nach eigenem Muster<br />

aufzwingen wollten. Wir selbst haben es erlebt und erleben es noch,<br />

dass Millionen Menschen durch Kriege sterben, die aus politischen,<br />

wirtschaftlichen, religiösen oder rassischen Gründen geführt<br />

werden. Wir leben mit der drohenden Möglichkeit neuer<br />

Massenmorde, die entscheiden werden, von welchem System wir<br />

regiert werden und wie die Produkte der Natur und der<br />

menschlichen Arbeit unter den Völkern zu verteilen sind. In diesem<br />

geistigen Klima ist die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker<br />

entstanden und lebt und wirkt trotzdem durch die Gnade Gottes.<br />

Wir möchten nochmals betonen, dass wir es nicht als eine<br />

besondere Tugend betrachten, wenn wir Streit innerhalb und


außerhalb unserer Gemeinschaft aus dem Wege gehen -und wir<br />

fühlen uns deswegen nicht anderen Menschen überlegen. Das soll<br />

aber nicht heißen, dass Anonyme Alkoholiker, die wieder wie<br />

normale Bürger leben , sich vor ihrer persönlichen Verantwortung<br />

drücken dürfen; sie sollen bei strittigen Fragen im täglichen Leben<br />

so handeln, wie sie es für richtig halten . Wenn es sich aber um die<br />

Gemeinschaft der AA als Ganzes handelt, liegen die Dinge anders.<br />

Als Anonyme Alkoholiker beteiligen wir uns niemals an öffentlichen<br />

Kontroversen, weil wir wissen, dass unsere Gemeinschaft sonst<br />

zugrunde gehen würde. Das Weiterleben und Wachsen der AA ist<br />

viel wichtiger als die Bedeutung, die eine Sache gegebenenfalls<br />

durch unsere Stellungnahme bekommen könnte. Da die Genesung<br />

vom Alkoholismus für uns Leben bedeutet, haben wir die<br />

Verpflichtung, unsere Mittel und Wege zum Überleben zu erhalten.<br />

Vielleicht klingt das so, als ob Anonyme Alkoholiker plötzlich<br />

friedfertig und eine große glückliche Familie geworden wären. So ist<br />

das natürlich nicht. Wir sind alle Menschen und streiten gelegentlich<br />

auch untereinander. Ehe wir eine gemeinsame Linie hatten, sah es<br />

zumindest an der Oberfläche so aus, als ob unsere Gemeinschaft<br />

nur aus Streithähnen bestand.<br />

Es konnte passieren, dass ein Direktor, der am selben Tage noch in<br />

seiner Firma eine Ausgabe von hunderttausend Dollar befürwortet<br />

hatte, zu einem Arbeitsmeeting der AA erschien und sich hier<br />

fürchterlich über fünfundzwanzig Dollar für Papier aufregte. Andere<br />

spielten sich als Führer auf; daraufhin kam die Hälfte nicht mehr und<br />

gründete eine neue AA-Gruppe. Sogenannte Oldtimer entwickelten<br />

sich manchmal zu Pharisäern und zogen sich schmollend zurück.<br />

Leute, bei denen man vermutete, dass sie sich aus noch anderen<br />

Gründen einer Gruppe anschlossen, wurden scharf angegriffen.<br />

Dennoch haben alle diese mehr oder weniger ernsthaften<br />

Streitereien unserer Gemeinschaft nicht im Geringsten geschadet.<br />

Sie waren notwendig, damit wir lernen konnten, miteinander zu<br />

leben. Zu guter Letzt ist festzuhalten, dass es fast immer darum<br />

ging, Wege zu finden, die Gemeinschaft der AA noch wirksamer zu


machen, um möglichst viel Gutes für möglichst viele Alkoholiker zu<br />

tun.<br />

Die "Washington-Gesellschaft", eine Bewegung, die vor hundert<br />

Jahren in Baltimore gegründet wurde, hätte beinahe die Lösung des<br />

Alkoholproblems entdeckt. Anfangs setzte sich diese Vereinigung<br />

nur aus Alkoholikern zusammen, die einander zu helfen versuchten.<br />

Die ersten Mitglieder waren weitsichtig genug, sich nur ein großes<br />

Ziel zu setzen.<br />

Die damalige Washington-Gesellschaft und unsere heutige<br />

Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker hatten vieles gemeinsam.<br />

Sie hatten über hunderttausend Mitglieder. Wären sie ohne<br />

Einmischung von außen ihrem einzigen Ziel treu geblieben, dann<br />

hätten sie gewiss noch den Rest der Lösung des Alkoholproblems<br />

gefunden. Doch es kam anders. Die Washington-Gesellschaft ließ<br />

sich von Politikern. Reformern, Alkoholikern und Nichtalkoholikern<br />

jeweils vor deren Karren spannen. Damals war zum Beispiel die<br />

Abschaffung der Sklaverei eine große politische Streitfrage.<br />

Sprecher der Washington-Gesellschaft nahmen öffentlich und in<br />

sehr scharfer Form zu diesem Problem Steilung. Vielleicht hätte die<br />

Gesellschaft den Kampf um die Abschaffung der Sklaverei noch<br />

überleben können, aber bei ihrem Versuch, die Trinksitten in<br />

Amerika zu reformieren, hatte sie keine Chance mehr. Von dem<br />

Augenblick an, da die Washington-Gesellschaft ihren Kreuzzug für<br />

Abstinenz startete, verlor sie in wenigen Jahren alle Möglichkeiten,<br />

Alkoholikern zu helfen.<br />

Die Anonymen Alkoholiker haben aus den Erfahrungen der<br />

Washington-Gesellschaft gelernt. Sie sahen sich genau an, was von<br />

dieser Bewegung noch übrig geblieben war und beschlossen dann,<br />

unsere Gemeinschaft aus öffentlichen Auseinandersetzungen<br />

vollkommen herauszuhalten. So wurde der Grundstein der Zehnten<br />

Tradition gelegt: Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu<br />

Fragen außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der<br />

Name AA niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt werden.


Die Elfte Tradition<br />

"Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr auf<br />

Anziehung als auf Werbung. Deshalb sollten wir auch<br />

gegenüber Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen stets unsere<br />

persönliche Anonymität wahren".<br />

Ohne ihre unzähligen guten Freunde hätte die Gemeinschaft der<br />

Anonymen Alkoholiker nicht so schnell wachsen können. Weil die<br />

öffentlichen Medien in der ganzen Welt die AA ausführlich und<br />

positiv dargestellt haben, kamen viele Alkoholiker zu uns. In Dienstund<br />

Kontaktstellen der AA wie auch in Privatwohnungen läutete<br />

ständig das Telefon. Einer sagt: "Ich hab e einen Artikel in der<br />

Zeitung gelesen .,", ein anderer : "Wir hörten eine Sendung im<br />

Radio ...ein dritter: "Wir haben einen Film über Alkoholismus<br />

gesehen ...oder: "Ich habe im Fernsehen eine Sendung über AA<br />

gesehen ...Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass die<br />

Hälfte der Anonymen Alkoholiker durch solche Kanäle uns<br />

zugeleitet worden sind.<br />

Es rufen nicht nur Alkoholiker oder deren Angehörige an. Ärzte<br />

haben in eine m medizinischen Fachblatt etwas über die<br />

Gemeinschaft der AA gelesen und bitten um weitere Informationen.<br />

Wenn in irgendeinem Kirchenblatt ein Artikel über Alkoholismus<br />

erscheint, rufen Geistliche bei uns an. Arbeitgebern ist bekannt,<br />

dass große Konzerne Vertrauen zu uns haben -und sie wollen<br />

herausfinden, was sie in ihren eigenen Firmen gegen Alkoholismus<br />

tun können.<br />

Wir hatten deshalb eine große Verantwortung, als wir uns mit den<br />

Empfehlungen für unsere Öffentlichkeitsarbeit befassten. Nachdem<br />

wir manch schmerzliche Erfahrung machen mussten, glauben wir<br />

nun, die richtige Einstellung gefunden zu haben. Meist tun wir<br />

genau das Gegenteil von dem, was in der Werbung üblich ist. Wir<br />

haben heraus gefunden, dass wir uns mehr auf Anziehungskraft als<br />

auf Werbung stützen sollten.


Wir wollen jetzt die beiden gegensätzlichen Ideen –Anziehung und<br />

Werbung -näher betrachten. Wenn eine politische Partei eine Wahl<br />

gewinnen will, macht sie Reklame für die klugen Köpfe der<br />

Parteiführung, um Stimmen zu gewinnen. Wenn eine renommierte<br />

Hilfsorganisation um Spenden bittet, werden im Briefkopf die<br />

Namen aller Persönlichkeiten genannt, die man für diese Sache<br />

gewinnen konnte. Es hängt sehr viel im politischen, religiösen und<br />

wirtschaftlichen Leben in der Welt davon ab, wie die leitenden<br />

Persönlichkeiten werbewirksam dargestellt werden. Es besteht ein<br />

tiefes menschliches Bedürfnis nach Symbolgestalten für eine große<br />

Sache oder eine große Idee.<br />

Wir Anonymen Alkoholiker bezweifeln das nicht. Aber wir müssen<br />

nüchtern die Tatsache betrachten, dass es gefährlich ist, besonders<br />

für uns, wenn wir im Blickpunkt stehen. Je nach Temperament ist<br />

fast jeder von uns schon einmal die Triebfeder für irgendeine Sache<br />

gewesen -und deshalb könnte uns schon allein der Gedanke an<br />

eine Gemeinschaft von Werbetrommlern erschrecken. Im Hinblick<br />

auf diesen Zündstoff mussten wir einfach Zurückhaltung üben.<br />

Wir waren selbst überrascht, wie sich diese Zurückhaltung bezahlt<br />

gemacht hat. Es zeigte sich, dass die Öffentlichkeit von sich aus<br />

eine bessere Werbung für die Anonymen Alkoholiker machte, als<br />

uns dies mit Hilfe der ideenreichsten Pressefachleute möglich<br />

gewesen wäre. Natürlich musste unsere Gemeinschaft irgendwie<br />

der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden -und wir dachten, dass<br />

es für uns viel besser wäre, wenn unsere Freunde diese Aufgabe<br />

übernähmen.<br />

Unsere Annahme traf in einem beinahe unglaublichen Ausmaß zu.<br />

Ausgefuchste Presseleute, von Natur aus skeptisch, haben ihr<br />

Bestes getan, um die Botschaft der weiterzugeben. In ihren Augen<br />

haben wir mehr zu bieten als nur ein paar interessante Geschichten.<br />

Im gesamten Zeitungswesen haben Pressemänner und -frauen sich<br />

uns als Freunde angeschlossen. Zuerst konnte die Presse nicht<br />

verstehen, warum wir gegen Namensnennung von einzelnen AA<br />

waren. Sie war wirklich enttäuscht, dass wir so hartnäckig auf


Wahrung der Anonymität bestanden. Doch schließlich begriffen die<br />

Journalisten: Hier handelt es sich um etwas ganz Seltenes, um eine<br />

Gemeinschaft, die nur die Veröffentlichung ihrer Grundsätze und<br />

Taten wünscht, nicht aber die Nennung der Namen und ihrer<br />

Mitglieder. Die Presse war von dieser Einstellung begeistert -und<br />

von da an berichteten unsere Freunde so enthusiastisch über die<br />

AA, wie es selbst die am meisten Begeisterten von uns nicht besser<br />

machen konnten.<br />

Es gab sogar eine Zeit, in der in Amerika selbst die Presse die<br />

Anonymität für uns viel höher bewertete als manche unserer<br />

eigenen Leute. Eines Tages gaben etwa hundert Anonyme<br />

Alkoholiker ihre Anonymität in der Öffentlichkeit auf. Mit der besten<br />

Absicht erklärten sie, das Prinzip der Anonymität sei veraltet und<br />

stamme noch aus der Pionierzeit der AA, als man noch mit Pferd<br />

und Kutsche fuhr. Sie waren davon überzeugt, wir würden mit<br />

moderner Werbung viel schneller und besser vorwärtskommen. Sie<br />

wiesen darauf hin, dass viele Persönlichkeiten mit berühmten<br />

Namen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene der<br />

Gemeinschaft der AA angehörten, Wenn diese damit einverstanden<br />

wären -und viele waren dazu bereit -, dann könnte man doch der<br />

Öffentlichkeit mitteilen, dass sie zu den Anonymen Alkoholikern<br />

gehörten -und dadurch würden andere ermutigt, sich uns<br />

anzuschließen. Das waren ganz plausible Gründe, aber<br />

glücklicherweise waren unsere Freunde, die Journalisten, damit<br />

nicht einverstanden.<br />

Damals schrieb das Dienstbüro in New York an fast jede<br />

Nachrichtenagentur in Nordamerika. In den Briefen wurde erklärt.<br />

warum wir mehr durch Anziehung als durch Werbung wirken und<br />

warum die persönliche Anonymität der größte Schutz der<br />

Gemeinschaft der AA ist. Seit der Zeit haben Redakteure und<br />

Lektoren wiederholt Namen und Fotos aus AA-Berichten entfernt -<br />

und häufig waren sie diejenigen, die eitle Anonyme Alkoholiker über<br />

die Grundsätze der Anonymität aufklärten. Ihre tatkräftige Mitarbeit<br />

war gewiss eine große Hilfe für unsere Gemeinschaft. Es gibt nur


sehr wenige Anonyme Alkoholiker, die ihre Anonymität in der<br />

Öffentlichkeit gebrochen haben.<br />

Dies ist eine kurze Zusammenfassung über den Aufbau der Elften<br />

Tradition. Für uns bedeutet sie viel mehr als nur eine Empfehlung<br />

für den Umgang mit der Öffentlichkeit. Diese Tradition ist eine<br />

ständige Mahnung, dass persönlicher Ehrgeiz innerhalb der<br />

Gemeinschaft der AA auszuschalten ist. Durch diese Tradition wird<br />

jeder Anonyme Alkoholiker zu einem aktiven Hüter unserer<br />

Gemeinschaft.


Die <strong>Zwölfte</strong> Tradition<br />

"Anonymität ist die spirituelle Grundlage aller unserer<br />

Traditionen, die uns immer daran erinnern soll, Prinzipien über<br />

Personen zu stellen".<br />

Anonymität bedeutet Opfer. Weil wir in den Zwölf Traditionen der<br />

Anonymen Alkoholiker immer wieder aufgefordert werden, unsere<br />

persönlichen Wünsche dem gemeinsamen Wohlergehen<br />

unterzuordnen, erkennen wir, dass der Opfergeist, symbolisiert<br />

durch die Anonymität, die Grundlage aller Traditionen ist. Anonyme<br />

Alkoholiker haben bewiesen, dass sie bereit sind, Opfer zu bringen<br />

– und darum haben auch andere großes Vertrauen in unsere<br />

Zukunft.<br />

In der Anfangszeit entsprang die Anonymität nicht einem Vertrauen,<br />

sondern war ein Kind unserer frühen Ängste. Unsere ersten<br />

namenlosen AA-Gruppen waren Geheimbünde. Neue, die sich uns<br />

anschließen wollten, konnten uns nur durch wenige vertraute<br />

Freunde finden. Schon der Gedanke, an die Öffentlichkeit zu treten,<br />

selbst wenn es nur um unsere Arbeit ging, schockte uns. Obwohl<br />

wir nicht mehr tranken, dachten wir immer noch, wir müssten uns<br />

vor dem Misstrauen und der Verachtung der Öffentlichkeit<br />

verbergen.<br />

Als das Big Book 1939 erschien, nannten wir es "Anonyme<br />

Alkoholiker". Sehr aufschlussreich war in dem Vorwort zu lesen: .Es<br />

ist wichtig, dass wir anonym bleiben, denn wir sind noch zu wenige,<br />

um die vielleicht überwältigende Zahl von Hilferufen beantworten zu<br />

können, die nach der Veröffentlichung dieses Buches auf uns<br />

zukommen werden. Da die meisten von uns selbstständig oder<br />

angestellt sind, würde ihre berufliche Tätigkeit darunter leiden."<br />

Zwischen den Zeilen liest man, dass wir Angst vor den vielen Neuen<br />

hatten, weil wir damit den häufigen Bruch unserer Anonymität<br />

fürchteten.<br />

So wie sich die Zahl der AA-Gruppen vervielfachte, so wuchsen<br />

auch die Schwierigkeiten mit der Anonymität. Manchmal waren wir


so begeistert von dem wunderbaren Weg. der einen anderen<br />

Alkoholiker zur Nüchternheit führte, dass wir intime und<br />

erschütternde Ereignisse aus dessen Leben, die nur für seinen<br />

Sponsor bestimmt waren, miteinander besprachen. Das verärgerte<br />

Opfer solcher Indiskretion erklärte dann mit vollem Recht, dass wir<br />

sein Vertrauen missbraucht hätten. Als solche Geschichten auch<br />

außerhalb der Gemeinschaft der AA bekannt wurden, war unser<br />

Anonymitätsversprechen unglaubwürdig geworden. Manche hielten<br />

sich deshalb von uns fern. Eines war doch klar, der Name jedes<br />

einzelnen AA und auch seine Geschichte mussten vertraulich<br />

bleiben, falls er das wünschte. Das war unsere erste Lektion in der<br />

praktischen Anwendung der Anonymität.<br />

Ungehemmt, wie es für viele von uns so charakteristisch ist,<br />

missachteten Neue die Vertraulichkeit. Sie wollten die AA-Botschaft<br />

von den Dächern herab verkünden. Sie taten es auch. Alkoholiker,<br />

die kaum trocken waren, liefen mit leuchtenden Augen herum und<br />

hielten jeden fest, um ihre Geschichte zu erzählen. Andere stellten<br />

sich sehr schnell vor Mikrofone und Kameras. Oft betranken sie sich<br />

anschließend fürchterlich und brachten ihrer Gruppe einen bösen<br />

Rückschlag. Sie hatten sich von Anonymen Alkoholikern in mehr<br />

oder weniger anonyme Angeber verwandelt.<br />

Mit diesem widersprüchlichen Phänomen mussten wir uns<br />

auseinandersetzen. Es ging hier eindeutig um die Frage: "Wie<br />

anonym sollte ein AA sein?" Aus unserem Wachstum wurde uns<br />

klar, dass wir nicht länger ein Geheimbund bleiben konnten, aber<br />

genauso klar war es, dass wir kein Wanderzirkus waren. Es<br />

brauchte eine lange Zeit, bis wir einen sicheren Weg zwischen<br />

diesen beiden Extremen abstecken konnten.<br />

Gewöhnlich wollte jeder Neue seine Familie über seinen Versuch<br />

informieren. Er wollte auch mit anderen darüber sprechen, die bis<br />

jetzt versucht hatten, ihm zu helfen –seinem Arzt, seinem Pastor<br />

und seinen engsten Freunden. Je mehr Selbstvertrauen er bekam,<br />

um so mehr lag ihm daran, mit seinem Arbeitgeber oder seinen<br />

Geschäftsfreunden über seinen neuen Lebensweg zu reden. Hatte


er Gelegenheit, anderen zu helfen, fiel es ihm schon leicht, über AA<br />

zu sprechen. Diese ruhigen Gespräche erleichterten es ihm, seine<br />

Furcht vor dem Stigma Alkoholismus zu verlieren und die Nachricht<br />

von der Existenz unserer Gemeinschaft zu verbreiten.<br />

Durch solche Gespräche sind viele Männer und Frauen zu den AA<br />

gekommen. Unterhaltungen dieser Art waren vielleicht nicht immer<br />

nach den Buchstaben des Anonymitätsgebots, wohl aber nach<br />

dessen Sinn.<br />

Doch es zeigte sich, dass wir nur einen bestimmten Personenkreis<br />

erreichten, wenn wir die Botschaft durch eigene Erzählungen<br />

mündlich weitergaben. Unser Werk musste einer breiteren<br />

Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. AA-Gruppen sollten so<br />

schnell wie möglich viele verzweifelte Alkoholiker erreichen.<br />

Infolgedessen begannen einige Gruppen, Meetings abzuhalten, die<br />

für interessierte Freunde und die Öffentlichkeit offen waren, so dass<br />

jeder Bürger sich von der Gemeinschaft der AA ein Bild machen<br />

konnte. Die Reaktion auf diese Meetings war freundlich und<br />

zustimmend. Bald erhielten AA-Gruppen Anfragen nach Rednern<br />

aus den Reihen der AA, die vor privaten Organisationen, kirchlichen<br />

Gruppen und medizinischen Gesellschaften sprechen sollten.<br />

Wenn bei diesen Vorträgen die Anonymität gewahrt werden konnte<br />

und die anwesenden Reporter gebeten wurden, keine Namen und<br />

Fotos zu veröffentlichen, dann waren die Ergebnisse<br />

ausgezeichnet.<br />

Dann kam en unsere ersten Ausflüge in die breitere Öffentlichkeit<br />

und wir gerieten außer Atem. Durch Artikel über uns die in der<br />

Cleveland-Zeitung Plain Dealer erschienen, kamen über Nacht<br />

einige hundert Neue zu uns. Die Reportagen über das Essen, das<br />

Mr. RockefeIler zu Ehren der AA gab, bewirkten eine Verdoppelung<br />

unserer Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres. <strong>Der</strong> berühmte<br />

Leitartikel von Jack Alexander in der Saturday Evening Post<br />

machte die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker zu einer<br />

nationalen Institution. Anerkennungen wie diese führten zu<br />

weiteren günstige n Gelegenheiten, noch mehr Aufmerksamkeit


geschenkt zu bekommen. Weitere Zeitungen und Illustrierten<br />

wollten Geschichten von Anonymen Alkoholikern,<br />

Filmgesellschaften wollten uns filmen, Radio und Fernsehen<br />

überhäuften uns mit Auftrittsangeboten. Was sollten wir tun?<br />

Als diese Woge öffentlicher Anerkennung über uns hereinbrach,<br />

wurde uns klar, dass sie uns entweder etwas unvorstellbar Gutes<br />

oder schweren Schaden bringen würde. Alles hing davon ab, in<br />

welche Kanäle sie geleitet wurde. Wir konnten nicht das Risiko<br />

eingehen, die Gemeinschaft der AA vor der Öffentlichkeit durch<br />

Leute präsentieren zu lassen, die sich als Messias fühlten. Dieser<br />

Missionarstrieb hätte uns den Untergang bringen können. Wenn nur<br />

einer von diesen Leuten sich in der Öffentlichkeit betrank oder sich<br />

dazu verleiten ließ, den Namen AA für eigene Interessen zu<br />

missbrauchen, würde der Schaden nicht wieder gutzumachen sein.<br />

Auf dieser Ebene von Presse, Radio, Film und Fernsehen war<br />

Anonymität -und zwar hundertprozentige Anonymität -die einzig<br />

mögliche Antwort. Wir mussten ohne Ausnahme Prinzipien über<br />

Personen stellen. Aus diesen Erfahrungen haben wir gelernt, dass<br />

Anonymität aktive Demut ist. Anonymität ist eine alles<br />

durchdringende spirituelle Grundhaltung, die heute überall das<br />

Leben in unserer Gemeinschaft bestimmt. In diesem Geist der<br />

Anonymität versuchen wir, unsere natürlichen Wünsche nach<br />

persönlicher Anerkennung als AA aufzugeben und zwar sowohl vor<br />

den anderen Zugehörigen unserer Gruppe als auch vor der<br />

Öffentlichkeit. Wenn wir diesen allzu menschlichen Drang nach<br />

persönlicher Geltung überwinden, tun wir es in dem Glauben, dass<br />

jeder von uns an dem schützenden Mantel webt, der unsere ganze<br />

Gemeinschaft umhüllt und unter dem wir in Einigkeit wachsen und<br />

wirken.<br />

Wir sind sicher, dass Demut, die sich in der Anonymität ausdrückt,<br />

der mächtigste Schutz ist, den Anonyme Alkoholiker je haben<br />

können.

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