Der Zwölfte Schritt
Der Zwölfte Schritt
Der Zwölfte Schritt
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Zwölf<br />
<strong>Schritt</strong>e und<br />
ZWÖLF<br />
TRADITIONEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe:<br />
"Twelve Steps and Twelve Traditions':"<br />
Copyright © 1952, 1953 by<br />
The A.A. Grapevine, Inc. and Alcoholics Anonymous Publishing<br />
(now known as Alcoholics Anonymous World Services, Inc.)<br />
New York, N Y, USA<br />
First printing April 1953<br />
Dies ist von der<br />
Amerikanischen General Service Conference der AA<br />
und der deutschen GDK (Gemeinsame Dienstkonferenz)<br />
anerkannte Literatur<br />
Übersetzt aus dem Englischen und hergestellt mit der Genehmigung<br />
von Alcoholics Anonymous World Services,Inc.,New York, NY, USA (A.A.WS.)<br />
A.A.WS. ist auch Inhaber der englischen Version dieses Werkes.<br />
Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form in jeglicher Sprache<br />
ohne schriftliche Genehmigung von A.A.WS. vervielfältigt<br />
werden.<br />
Herausgeber und © 2004 :<br />
Anonyme Alkoholiker Interessengemeinschaft e.V.<br />
Postfach 46 02 27, D-8091O München,<br />
www.anonyme-alkoholiker.de<br />
Übersetzung und Bearbeitung durch<br />
deutschsprachige Anonyme Alkoholiker<br />
Printed in Germany by<br />
Schnitzer Druck, D-87616 Marktoberdorf
Vorwort<br />
DIE ZWÖLF SCHRITTE<br />
Erster <strong>Schritt</strong><br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind -und unser Leben<br />
nicht mehr meistern konnten.<br />
Wer mag schon seine völlige Niederlage eingestehen? Das Eingeständnis der<br />
Machtlosigkeit ist der erste <strong>Schritt</strong> zur Befreiung. Verhältnis von Demut zu<br />
Nüchternheit. Geistige Besessenheit verbunden mit körperlicher Allergie. Warum<br />
muss jeder Anonyme Alkoholiker seinen Tiefpunkt erreichen?<br />
Zweiter <strong>Schritt</strong><br />
Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere<br />
geistige Gesundheit wiedergeben kann.<br />
Woran können wir glauben? AA verlangt keinen Glauben. Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e sind nur<br />
Empfehlungen. Die Wichtigkeit, geistig offen zu sein. Vielzahl der Wege zum<br />
Glauben. AA als Ersatz für eine Höhere Macht. Die Zwangslage der Enttäuschten .<br />
Gleichgültigkeit und Voreingenommenheit als Hindernisse. Verschütteter Glaube in<br />
AA wiedergefunden. Probleme durch geistigen Hochmut und Selbstzufriedenheit.<br />
Negatives und positives Denken. Selbstgerechtigkeit. Trotz ist eine hervorstechende<br />
Eigenschaft der Alkoholiker. <strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong> ist der Sammelpunkt, der zur<br />
geistigen Gesundheit führt. Die richtige Beziehung zu Gott.<br />
Dritter <strong>Schritt</strong><br />
Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes -wie<br />
wir Ihn verstanden anzuvertrauen.<br />
<strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong> ist dem Öffnen einer verschlossenen Tür vergleichbar. Wie können<br />
wir Gott in unser Leben eintreten lassen? Bereitwilligkeit ist der Schlüssel.<br />
Abhängigkeit als Hilfe zur Selbständigkeit. Gefahren der Selbstzufriedenheit.<br />
Übergabe unseres Willens an die Höhere Macht. Missbrauch der Willenskraft.<br />
Nachhaltiges, persönliches Bemühen, sich dem Willen Gottes zu fügen.<br />
Vierter <strong>Schritt</strong><br />
Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
Wie Instinkte über ihre normale Funktion hinauswuchern können. <strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong><br />
ist das Bemühen, unsere Verpflichtungen zu erkennen. Das Grundproblem extremer<br />
Triebkräfte. Missverstandene innere Inventur kann zu Schuldgefühlen und<br />
Größenwahn führen oder dazu, bei anderen die Schuld zu suchen. Neben den<br />
Minuspunkten sollten auch die Pluspunkte berücksichtigt werden. Ausreden sind<br />
gefährlich. Bereitwilligkeit zur Inventur bringt Klarheit und neues Vertrauen. <strong>Der</strong><br />
Vierte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang einer lebenslangen Gewohnheit. Allgemeine Symptome<br />
gefühlsmäßiger Unsicherheit sind Sorge, Ärger, Selbstmitleid und<br />
Niedergeschlagenheit. Die Inventur bringt klare Einsicht in unsere Beziehungen. Die<br />
Bedeutung der Gründlichkeit.<br />
Fünfter <strong>Schritt</strong><br />
Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt<br />
unsere Fehler zu.<br />
Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e lassen das Ego kleiner werden. <strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong> ist schwierig,<br />
aber für die Nüchternheit und den Seelenfrieden notwendig. Die Beichte ist eine<br />
uralte Disziplin. Ohne das furchtlose Eingeständnis von Fehlern konnten nur wenige<br />
nüchtern bleiben. Welchen Nutzen ziehen wir aus dem Fünften <strong>Schritt</strong>? Beginn einer<br />
wahren Verbundenheit mit Mensch und Gott. Wir verlieren das Gefühl der Isolation,<br />
erhalten Vergebung und können selbst verzeihen, lernen Demut, erreichen<br />
Ehrlichkeit und eine realistische Einschätzung unserer selbst. Absolute Ehrlichkeit ist<br />
notwendig. Die Gefahr, Probleme mit dem Verstand zu lösen. Wie man die Person<br />
seines Vertrauens wählt. Ergebnis ist innere Ruhe und sich Gott bewusst sein. Das<br />
Eins-sein mit Gott und Mensch bereitet uns auf die folgenden <strong>Schritt</strong>e vor.<br />
Sechster <strong>Schritt</strong><br />
Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.<br />
<strong>Der</strong> Sechste <strong>Schritt</strong> ist für das spirituelle Wachstum notwendig. <strong>Der</strong> Anfang einer<br />
lebenslangen Aufgabe. Erkenntnis, dass zwischen dem Streben nach einem<br />
spirituellen Ziel und Vollkommenheit ein Unterschied besteht. Warum wir es immer<br />
wieder versuchen müssen. Bereitsein ist von größter Wichtigkeit. Die Notwendigkeit,<br />
aktiv zu werden. Aufschieben ist gefährlich. Auflehnung kann tödlich sein. <strong>Der</strong><br />
Punkt, an dem wir selbst gesteckte Ziele aufgeben und uns auf das zubewegen, was<br />
Gott mit uns vorhat.<br />
Siebter <strong>Schritt</strong><br />
Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.
Was ist Demut? Was kann sie uns bedeuten? <strong>Der</strong> Weg zur wahren Freiheit des<br />
menschlichen Geistes. Eine zum Überleben notwendige Hilfe. Wert des Ego-<br />
Abbaus. Versagen und Elend durch Demut verwandelt. Stärke, die aus Schwäche<br />
erwächst. Schmerz ist der Eintrittspreis in ein neues Leben. Egozentrische Angst ist<br />
der Motor für Fehlhaltungen. <strong>Der</strong> Siebte <strong>Schritt</strong> ist eine Änderung der<br />
Geisteshaltung, die uns aus unserem Selbst heraushebt und uns Gott näher bringt.<br />
Achter <strong>Schritt</strong><br />
Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten, und<br />
wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.<br />
Dieser <strong>Schritt</strong> wie auch die beiden folgenden beschäftigen sich mit persönlichen<br />
Beziehungen. Lernen, mit anderen zu leben, ist ein faszinierendes Abenteuer.<br />
Hindernisse: das Zögern, anderen zu vergeben; Fehler anderen gegenüber nicht<br />
zugeben zu wollen; zweckdienliche Vergesslichkeit. Notwendigkeit, die eigene<br />
Vergangenheit zu durchforschen. Tiefere Einsicht erwächst aus Gründlichkeit. Auf<br />
welche Art wir andere geschädigt haben. Vermeidung extremer Beurteilung.<br />
Objektive Haltung. <strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong> leitet das Ende unserer Isolation ein.<br />
Neunter <strong>Schritt</strong><br />
Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut wo immer es möglich war -, es<br />
sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.<br />
Innere Ruhe ist die erste Voraussetzung für eine richtige Beurteilung. <strong>Der</strong> rechte<br />
Zeitpunkt ist für die Wiedergutmachung wichtig. Was ist Mut? Mit Besonnenheit ein<br />
kalkulierbares Risiko eingehen. Wiedergutmachung beginnt, wenn wir uns den AA<br />
anschließen. Seelenfrieden kann nicht auf Kosten anderer erkauft werden.<br />
Notwendigkeit sorgfältigen Abwägens. Bereitschaft, die Folgen unserer<br />
Vergangenheit zu tragen und Verantwortung für das Wohl anderer zu übernehmen<br />
ist das Wesen des Neunten <strong>Schritt</strong>es.<br />
Zehnter <strong>Schritt</strong><br />
Wir setzen die Inventur bei uns fort und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort<br />
zu.<br />
Können wir unter allen Umständen nüchtern und gefühlsmäßig im Gleichgewicht<br />
bleiben? Selbsterforschung wird zur ständigen Gewohnheit. Zugeben, hinnehmen<br />
und geduldig Fehler korrigieren. "Kater" im Gefühlsbereich. Wenn wir mit der<br />
Vergangenheit im Reinen sind, können wir uns den Herausforderungen der<br />
Gegenwart stellen. Mannigfaltigkeit der Inventur. Ärger, Groll, Eifersucht, Neid,<br />
Selbstmitleid, verletzter Stolz -alle diese Gefühle führten zur Flasche.
Selbstbeherrschung ist das vorrangige Ziel. Versicherung gegen Großmannssucht.<br />
Neben den Soll-auch unsere Habenposten berücksichtigen. Prüfung der Motive.<br />
EIfter <strong>Schritt</strong><br />
Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott - wie wir<br />
Ihn verstanden - zu vertiefen. Wir baten Ihn nur; uns Seinen Willen erkennbar<br />
werden zulassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.<br />
Meditation und Gebet sind der Zugang zur Höheren Macht. Verbindung zwischen<br />
Selbsterforschung und Meditation und Gebet. Ein unerschütterliches Fundament für<br />
das Leben. Wie sollen wir meditieren? Meditation hat keine Grenzen. Ein<br />
persönliches Abenteuer. Erstes Resultat ist die Ausgeglichenheit der Gefühle. Wie<br />
steht es um das Gebet? Täglich es Bitten, den Willen Gottes zu erkennen und um<br />
die Gnade, ihn auszuführen. Die Wirksamkeit des Gebets ist unbestritten. Lohn der<br />
Meditation und des Gebets.<br />
<strong>Zwölfte</strong>r <strong>Schritt</strong><br />
Nachdem wir durch diese <strong>Schritt</strong>e ein spirituelles Erwachen erlebt haben,<br />
versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches<br />
Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.<br />
Lebensfreude ist das Leitmotiv des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es, Tätig sein die Losung.<br />
Geben, ohne nach Lohn zu fragen. Liebe, die keinen Preis hat. Was ist spirituelles<br />
Erwachen? Ein neues Lebensgefühl wird als Geschenk empfangen. Die<br />
Bereitschaft, diese Gabe zu empfangen, liegt in der Anwendung der Zwölf <strong>Schritt</strong>e.<br />
Die großartige Realität. Belohnung für die anderen Alkoholikern gebrachte Hilfe.<br />
Verschiedene Arten, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu sein. Probleme bei der Arbeit im<br />
<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>. Wie steht es mit der Anwendung dieser Grundsätze in allen<br />
unseren Lebensbereichen? Eintönigkeit, Schmerz und Elend in Nutzen verwandelt<br />
durch die Anwendung der <strong>Schritt</strong>e. Schwierigkeiten ihrer Anwendung. "Two-<br />
Stepper". Umschalten auf alle Zwölf <strong>Schritt</strong>e und Vorleben des Glaubens.<br />
Spirituelles Wachstum ist die Antwort auf unsere Probleme und sollte an erster<br />
Stelle stehen. Beherrschende Kräfte und übermäßige Abhängigkeit. Unser Leben<br />
auf die Grundlage des Gebens und Nehmens stellen. Gottvertrauen ist für die<br />
Genesung des Alkoholikers notwendig. Anwendung dieser Grundsätze in allen<br />
unseren Angelegenheiten. Familiäre Beziehungen. Die Einstellung zu materiellen<br />
Dingen ändert sich. Ebenso die Gefühle über die eigene Bedeutung. Triebe auf den<br />
wirklichen Sinn zurückführen, Verstehen ist der Schlüssel zur richtigen Einstellung,<br />
die richtige Handlungsweise der Schlüssel zu einem erfüllten Leben.
DIE ZWÖLF TRADITIONEN<br />
Erste Tradition<br />
Unser gemeinsames Wohlergehen sollte an erster Stelle stehen; die Genesung des<br />
Einzelnen beruht auf der Einigkeit der Anonymen Alkoholiker.<br />
Ohne Einigkeit stirbt die Gemeinschaft der AA. Individuelle Freiheit, jedoch große<br />
Einigkeit. Lösung des Widerspruchs: Das Leben eines jeden AA ist abhängig von<br />
Gehorsam gegenüber spirituellen Prinzipien. Die Gruppe muss überleben, oder der<br />
Einzelne wird untergehen. In erster Linie geht es um das gemeinsame Wohl. Wie<br />
das Leben und die Zusammenarbeit in Gruppen am besten funktioniert.<br />
Zweite Tradition<br />
Für den Sinn und Zweck unserer Gruppe gibt es nur eine höchste Autorität -einen<br />
liebenden Gott, wie Er sich in dem Gewissen unserer Gruppe zu erkennen gibt.<br />
Unsere Vertrauensleute sind nur betraute Diener; sie herrschen nicht.<br />
Woher bekommt die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker ihre Weisungen?<br />
Einzige Autorität der AA ist der liebende Gott, der sich im Gruppengewissen zu<br />
erkennen gibt. Gründung einer Gruppe. Wachstumsschmerzen. Regelmäßiger<br />
Wechsel in den dienenden Ämtern. Diese Leute herrschen nicht, sie dienen. Haben<br />
die AA eine richtige Führung? "Oldtimer" und "blutende Diakone". Das<br />
Gruppengewissen spricht.<br />
Dritte Tradition<br />
Die einzige Voraussetzung für die AA-Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem<br />
Trinken aufzuhören.<br />
Intoleranz in frühen Tagen basierte auf Angst. Einem Alkoholiker die Chance in der<br />
Gruppe zu verwehren, kam manchmal einem Todesurteil gleich. Vorschriften für die<br />
Zugehörigkeit wurden aufgehoben. Zwei Erfahrungsbeispiele. Zugehörig zu den AA<br />
ist, wer dies von sich sagt.<br />
Vierte Tradition<br />
Jede Gruppe sollte selbstständig sein, außer in Dingen, die andere Gruppen oder<br />
die Gemeinschaft der AA als Ganzes angehen.<br />
Jede Gruppe regelt ihre Angelegenheiten nach eigenem Ermessen, es sei denn, die<br />
Gemeinschaft als Ganzes wird da durch betroffen. Ist solche Freiheit gefährlich? Die<br />
Gruppe wie auch der Einzelne muss letzten Endes mit den Prinzipien konform<br />
gehen, die das Überleben gewährleisten. Zwei Sturmwarnungen: eine Gruppe sollte
nichts tun, was den AA schaden könnte, noch sollte sie sich mit Zielen außerhalb<br />
der Gemeinschaft verbinden. Beispiel: das "AA-Zentrum" , das nicht funktionierte.<br />
Fünfte Tradition<br />
Die Hauptaufgabe jeder Gruppe ist, unsere AA-Botschaft zu Alkoholikern zu bringen,<br />
die noch leiden.<br />
Besser ist es, eine Sache gut als viele Dinge schlecht zu tun. Das Leben unserer<br />
Gesellschaft hängt von diesem Grundsatz ab. Die Fähigkeit eines jeden AA, sich mit<br />
einem Neuling zu identifizieren und ihm zur Genesung zu verhelfen, ist eine Gabe<br />
Gottes. Diese Gabe an andere weiterzureichen, ist unser Ziel. Nüchternheit kann<br />
nicht gewahrt bleiben, wenn sie nicht weiterverschenkt wird.<br />
Sechste Tradition<br />
Eine AA-Gruppe sollte niemals irgendein außenstehendes Unternehmen<br />
unterstützen, finanzieren oder mit dem AA-Namen decken, damit uns nicht Geld-,<br />
Besitz- und Prestigeprobleme von unserem eigentlichen Zweck ablenken.<br />
Die Erfahrung hat gelehrt, dass wir kein verwandtes Unternehmen -und sei es noch<br />
so gut - unterstützen dürfen. Wir konnten nicht allen Menschen alles sein. Wir<br />
merkten, dass wir den Namen AA für keine außerhalb unserer Gemeinschaft<br />
stattfindenden Aktivitäten herleihen konnten.<br />
Siebte Tradition<br />
Jede AA-Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen kommende<br />
Unterstützungen ablehnen.<br />
Keine AA-Tradition hatte derartige Geburtswehen wie diese. Kollektive Armut war<br />
anfangs Notwendigkeit. Die Angst, ausgenutzt zu werden. Erfordernis, das Geistige<br />
vom Materiellen zu trennen. Entscheidung, sich lediglich von freiwilligen Spenden<br />
der AA-Zugehörigen zu erhalten, Verantwortung für den Unterhalt des Zentralbüros<br />
wurde den AA-Zugehörigen direkt übertragen. Dessen Politik sind die reinen<br />
Betriebskosten plus einer Sicherheitsreserve.<br />
Achte Tradition<br />
Die Tätigkeit bei den Anonymen Alkoholikern sollte immer ehrenamtlich bleiben,<br />
jedoch dürfen unsere zentralen Dienststellen Angestellte beschäftigen.<br />
Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> hat nichts mit zu Geld tun. Scharfe Trennung zwischen<br />
Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> und bezahlten Dienstleistungen. Ohne bezahlte Mitarbeiter<br />
könnten die Dienste der AA-Gemeinschaft nicht funktionieren. Hauptberuflich
Angestellte sind keine "Berufs-AA". Beziehungen der AA zu Wirtschaft,<br />
Bildungswesen usw. Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>ll <strong>Schritt</strong> wird niemals bezahlt, wer jedoch für<br />
uns arbeitet, muss seinen Lohn erhalten.<br />
Neunte Tradition<br />
Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden. Jedoch dürfen wir Dienst-<br />
Ausschüsse und -Komitees bilden, die denjenigen verantwortlich sind, denen sie<br />
dienen.<br />
Besondere Dienstausschüsse und Komitees. Die Gemeinsame Dienstkonferenz. der<br />
Gemeinsame Dienstausschuss und Gruppen-Komitees können AA-Mitgliedern oder<br />
Gruppen keine Weisungen erteilen. AA lassen sich weder einzeln noch kollektiv ein<br />
Diktat aufzwingen. Diese Zwanglosigkeit funktioniert; denn wenn ein AA die<br />
empfohlenen <strong>Schritt</strong>e zur Genesung nicht befolgt, unterschreibt er sein eigenes<br />
Todesurteil. Gleiches gilt für die Gruppe. Leiden und Liebe sind die Lehrmeister bei<br />
den AA. Unterschied zwischen autoritärer Haltung und dem Geist des Dienstes,<br />
Sinn und Zweck unserer Dienste ist, jedem, der danach strebt, die Nüchternheit<br />
nahe zu bringen.<br />
Zehnte Tradition<br />
Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu Fragenaußerhalb ihrer<br />
Gemeinschaft; deshalbsollte auch der AA-Name niemals in öffentliche Streitfragen<br />
verwickelt werden.<br />
AA nehmen nicht Stellung zu öffentlichen Streitfragen. Mangelnder Kampfgeist ist<br />
jedoch keine besondere Tugend. Überleben und Verbreiten sind unsere Hauptziele.<br />
Aus dem Beispiel der "Washington-Gesellschaft" gezogene Lehren.<br />
Elfte Tradition<br />
Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr auf Anziehung als auf<br />
Werbung. Deshalb sollten wir auch. gegenüber Presse, Rundfunk. Film und<br />
Fernsehen stets unsere persönliche Anonymität wahren.<br />
Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig für die AA. Gute Aufklärung rettet Leben. Wir<br />
wünschen Veröffentlichungen über die AA-Prinzipien, aber nicht über die AA-<br />
Mitglieder. Die Presse war kooperativ. Persönliche Anonymität ist der Eckpfeiler<br />
unserer Öffentlichkeitsarbeit. Die Elfte Tradition soll ständig daran erinnern, dass<br />
persönlicher Ehrgeiz bei den AA keinen Raum hat. Jeder einzelne AA wird zum<br />
tätigen Hüter unserer Gemeinschaft.
<strong>Zwölfte</strong> Tradition<br />
Anonymität ist die spirituelle Grundlage aller unserer Traditionen, die uns immer<br />
daran erinnern soll, Prinzipien über Personen zu stellen.<br />
Opfer ist die spirituelle Substanz der Anonymität. Das Wesentliche aller zwölf<br />
Traditionen ist die Unterordnung persönlicher Interessen unter das gemeinsame<br />
Wohl. Warum die AA nicht eine geheime Gesellschaft bleiben konnten. Prinzipien<br />
stehen über Personen. Hundertprozentige Anonymität gegenüber der Öffentlichkeit.<br />
Anonymität ist wahre Demut.<br />
Zwölf Traditionen (Langfassung)
Vorwort<br />
Die Anonymen Alkoholiker sind eine weltweite Gemeinschaft von<br />
ca. 2,2 Millionen Alkoholikern (Stand 2002), Männern und Frauen,<br />
die sich zusammengefunden haben, um ihre gemeinsamen<br />
Schwierigkeiten zu lösen und anderen Alkoholikern zu helfen, von<br />
dieser seit Jahrhunderten herrschenden, fürchterlichen Krankheit,<br />
dem Alkoholismus, zu genesen.<br />
Dieses Buch behandelt die "Zwölf <strong>Schritt</strong>e und ZwölfTraditionen"<br />
der Anonymen Alkoholiker. Es ist eine eingehende Darstellung der<br />
Grundsätze, durch die Anonyme Alkoholiker genesen und nach<br />
denen ihre Gemeinschaft wirkt.<br />
Die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA sind Grundsätze spiritueller Art. Werden<br />
sie im täglichen Leben verwirklicht, nehmen sie den Zwang zum<br />
Trinken und helfen dem Kranken, ein zufriedener und nützlicher<br />
Mensch zu werden.<br />
Die Zwölf Traditionen der AA gelten nur für das Leben innerhalb der<br />
Gemeinschaft. Sie beschreiben Mittel und Wege zur<br />
Aufrechterhaltung ihrer Einigkeit und ihrer Beziehungen zur Umwelt.<br />
Sie regeln Leben und Wachstum der Gemeinschaft.<br />
Obwohl die folgenden Betrachtungen ursprünglich für Anonyme<br />
Alkoholiker geschrieben wurden, waren außenstehende Freunde<br />
der Gemeinschaft der Meinung, diese Gedanken könnten auch<br />
außerhalb der AA Interesse wecken und von Nutzen sein. Viele<br />
Nichtalkoholiker berichten, dass durch die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA mit<br />
anderen Lebensproblemen fertig geworden sind. Sie glauben, dass<br />
die Zwölf <strong>Schritt</strong>e mehr bewirken können als Nüchternheit für<br />
Problemtrinker. Sie sehen darin für viele Menschen, ob Alkoholiker<br />
oder nicht, einen Weg zu einem zufriedenen und erfolgreichen<br />
Leben.<br />
Auch an den Zwölf Traditionen der AA besteht wachsendes<br />
Interesse. Leute, die sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen<br />
befassen, wundern sich, wie und warum die Gemeinschaft der<br />
Anonymen Alkoholiker funktioniert.
Wie kommt es, fragen sie, dass in dieser Gemeinschaft niemand<br />
persönliche Autorität über einen anderen besitzt und dass man<br />
nirgends eine Art zentraler Leitung aufdecken kann?<br />
Wie kann ein Dutzend traditioneller Grundsätze ohne Gesetzeskraft<br />
die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker in Einigkeit und<br />
Wirksamkeit zusammenhalten?<br />
Solchen Fragestellern wird der zweite Teil dieses Buches, der<br />
eigentlich nur für AA-Mitglieder bestimmt ist, erstmalig einen<br />
Einblick in das interne Leben der Gemeinschaft geben.<br />
Die Gemeinschaft der AA entstand im Jahre 1935 in Akron, Ohio,<br />
aus einer Begegnung zwischen einem bekannten Chirurgen und ein<br />
m New Yorker Börsenmakler, Beide litten schwer unter der<br />
Krankheit Alkoholismus. Sie waren vom Schicksal dazu<br />
ausersehen, die Gründer der Gemeinschaft der AA zu werden.<br />
Die wichtigsten Grundsätze der AA, wie sie heute bekannt sind,<br />
wurden aus den Bereichen der Religion und Medizin übernommen.<br />
Einige Prinzipien jedoch, von denen letztlich der Erfolg abhing,<br />
entstanden, indem man auf das Verhalten und die Bedürfnisse der<br />
AA-Gemeinschaft selbst achtete und sie auswertete.<br />
Nach drei Jahren Versuch und Irrtum bei der Auswahl der<br />
geeigneten Grundsätze für den Aufbau der Gemeinschaft und nach<br />
zahlreichen Fehlschlägen bei dem Bemühen, Alkoholikern zur<br />
Genesung zu verhelfen, gab es schließlich drei erfolgreiche<br />
Gruppen: die erste in Akron, die zweite in New York und die dritte in<br />
Cleveland. Dennoch hatten diese drei Gruppen nicht einmal vierzig<br />
trockene Alkoholiker aufzuweisen.<br />
Obwohl die Gemeinschaft noch in ihren Kinderschuhen steckte,<br />
entschloss man sich, die Erfahrungen in einem Buch<br />
zusammenzufassen. Dieses Buch wurde schließlich im April 1939<br />
veröffentlicht. Damals zählte die Gemeinschaft etwa 100 nüchterne<br />
Alkoholiker. <strong>Der</strong> Buchtitel war "Alcoholics Anonymous" (Anonyme<br />
Alkoholiker) -und daher hat die Gemeinschaft ihren Namen.
In dem Buch wurde der Alkoholismus aus der Sicht des Alkoholikers<br />
beschrieben.' Das spirituelle Gedankengut der Gemeinschaft wurde<br />
zum ersten Mal in den Zwölf <strong>Schritt</strong>en zusammengefasst und es<br />
wurde klar dargestellt, wie diese <strong>Schritt</strong>e in der ausweglosen Lage<br />
des Alkoholikers anzuwenden sind.<br />
<strong>Der</strong> zweite Teil des Buches enthielt dreißig Lebensgeschichten oder<br />
Berichte von Alkoholikern, die über ihre Erfahrungen mit dem<br />
Alkohol und ihre Genesung berichteten. Damit konnte sich der<br />
Leser, der ein Problem mit dem Alkohol hatte identifizieren und er<br />
bekam den Beweis, dass das unmöglich Scheinende nun möglich<br />
geworden war. Das .Anonyme Alkoholiker" wurde zur Grundlage<br />
der Gemeinschaft und ist es noch immer. Die vorliegende Schrift will<br />
nur das Verständnis für die Zwölf <strong>Schritt</strong>e, wie sie in dem genannten<br />
Buch zuerst beschrieben wurden, erweitern und vertiefen.<br />
Mit der Veröffentlichung des Buches "Anonyme Alkoholiker" im<br />
Jahre 1939 endete die Pionierzeit. Es setzte eine ungeheure<br />
Kettenreaktion ein, als die nüchtern gewordenen Alkoholiker<br />
begannen, ihre Botschaft an andere Alkoholiker weiterzugeben.<br />
Zehntausende von Alkoholikern strömten in den folgenden Jahren<br />
zu den AA, zumeist als Folge von immer wieder erscheinenden<br />
guten Berichten, die gern von Zeitschriften und Zeitungen in der<br />
ganzen Welt verbreitet wurden. Seelsorger und Ärzte scharten sich<br />
um die neue Bewegung und gaben ihr uneingeschränkt Hilfe und<br />
Unterstützung.<br />
Diese überraschende Ausbreitung brachte sehr ernste<br />
Wachstumsschwierigkeiten mit sich. <strong>Der</strong> Beweis, dass Alkoholiker<br />
genesen können, war erbracht. Es war jedoch keineswegs sicher,<br />
dass so viele noch unausgeglichene Menschen harmonisch und<br />
erfolgreich zusammenleben und zusammenarbeiten konnten.<br />
Überall tauchten bedrohliche Probleme auf, die um Mitgliedschaft,<br />
Geld , persönliche Beziehungen, um das Verhältnis zur<br />
Öffentlichkeit, die Leitung von Gruppen und Clubs und um andere<br />
Schwierigkeiten kreisten. Aus diesen Wirren und Spannungen
formten sich die Zwölf Traditionen der AA. Sie wurden zunächst im<br />
Jahre 1946 veröffentlicht und später auf der Ersten Internationalen<br />
Konferenz der AA, die 1950 in Cleveland stattfand, bestätigt. Die<br />
Kapitel über die Traditionen im zweiten Teil dieses Buches geben<br />
durch Schilderung von Einzelheiten ein getreues Abbild der<br />
Erfahrung, die schließlich zu den Zwölf Traditionen geführt hat.<br />
So erhielt die Gemeinschaft der AA ihre gegenwärtige Gestalt, ihre<br />
Substanz und ihre Einigkeit. Nach und nach wuchs die<br />
Gemeinschaft und besteht jetzt in ca. 150 Ländern (Stand 2002).<br />
Es ist zu hoffen, dass dieses Buch allen, die es lesen, einen klaren<br />
Einblick in Grundsätze und Kräfte vermittelt, die die Anonymen<br />
Alkoholiker zu dem gemacht haben, was sie sind.
<strong>Der</strong> Erste <strong>Schritt</strong><br />
“Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind -<br />
und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“<br />
Wer gesteht schon gern seine vollständige Niederlage ein'?<br />
Selbstverständlich niemand. <strong>Der</strong> natürliche Instinkt wehrt sich gegen<br />
das Eingeständnis persönlicher Machtlosigkeit. Es ist in der Tat<br />
schrecklich, wenn wir zugeben müssen: Wir selbst haben durch das<br />
Glas in unserer Hand unser Denken und unser inneres Wesen in die<br />
Sucht des zerstörerischen Trinkens getrieben, so dass uns nur noch<br />
das Wirken der Vorsehung daraus befreien kann.<br />
Keine andere Art von Bankrott gleicht diesen. <strong>Der</strong> Alkohol ist jetzt zum<br />
erpresserischen Gläubiger geworden. Er presst jedes Selbstvertrauen<br />
aus uns heraus und bricht jeden Willen, uns seinen Forderungen zu<br />
widersetzen. Haben wir diese furchtbare Tatsache einmal eingesehen,<br />
dann ist unser Bankrott als Mensch vollständig.<br />
Nachdem wir uns aber den Anonymen Alkoholikern angeschlossen<br />
haben, sehen wir bald diese absolute Demütigung mit anderen Augen.<br />
Wir erkennen. dass wir nur durch eine völlige Niederlage unsere<br />
ersten <strong>Schritt</strong>e auf dem Weg zur Befreiung und Stärke tun können.<br />
Das Eingeständnis unserer persönlichen Machtlosigkeit wird<br />
schließlich zum Fundament, auf dem ein zufriedenes und sinnvolles<br />
Leben aufgebaut werden kann.<br />
Wir wissen, dass jeder Alkoholiker. der sich den AA angeschlossen<br />
hat, ohne Chancen ist, wenn er nicht zuerst seine zerstörerische<br />
Schwäche mit allen Konsequenzen akzeptiert hat. Solange er nicht<br />
demütig wird, wird seine Nüchternheit wenn er sie überhaupt erlangt -.<br />
nicht von Dauer sein. Er wird auch kein wirkliches Glück finden. Das<br />
ist eine der Wahrheiten, die ohne Frage durch vielfältige Erfahrung in<br />
unserer Gemeinschaft bewiesen ist. Die Tatsache, dass wir nicht auf
Dauer standhaft bleiben können. wenn wir nicht zuerst unsere<br />
vollständige Niederlage eingestehen, ist die Wurzel des Baumes, aus<br />
der unsere Gemeinschaft wuchs und blühte.<br />
Als wir erstmals aufgefordert wurden, unsere Niederlage zuzugeben,<br />
revoltierten die meisten von uns dagegen. Wir hatten uns den AA<br />
angeschlossen in der Erwartung, dass man uns Selbstvertrauen<br />
beibringen würde. Nun sagte man uns, dass Selbstvertrauen als Waffe<br />
gegen den Alkohol überhaupt nichts taugte. In Wahrheit war es eine<br />
totale Unterwerfung. Die nüchternen AA erklärten uns, wir seien die<br />
Opfer einer krankhaften Besessenheit, die so mächtig ist, dass kein<br />
noch so großer Aufwand an menschlicher Willenskraft sie brechen<br />
kann. Sie behaupteten, eine Überwindung dieses Zwanges durch<br />
eigene Willenskraft sei ohne fremde Hilfe nicht möglich. Unablässig<br />
brachten uns unsere AA-Freunde zu einer immer tieferen Einsicht in<br />
unsere ausweglose Lage. Sie erklärten uns unsere wachsende<br />
Empfindlichkeit gegenüber dem Alkohol als Allergie. <strong>Der</strong> Tyrann<br />
Alkohol schwang sein zweischneidiges Schwert über uns: Erst wurden<br />
wir von dem irrsinnigen Zwang befallen weiterzutrinken - und<br />
schließlich würde uns diese körperliche Allergie völlig zerstören. Es<br />
gab wirklich nur wenige, die den Kampf diesem Feind gegenüber allein<br />
und aus eigener Kraft gewonnen hatten. Es ist statistisch erwiesen.<br />
dass Alkoholiker fast niemals aus eigener Kraft genesen sind. Und das<br />
ist mit Sicherheit so, seit der Mensch zum<br />
ersten Mal Trauben gekeltert hat.<br />
In der Pionierzeit der AA brachten es nur völlig Verzweifelte fertig<br />
diese bittere Wahrheit zu schlucken und zu verdauen. Selbst diese<br />
heruntergekommenen Menschen hatten es oft schwer einzusehen, wie<br />
hoffnungslos sie wirklich waren. Immerhin taten es einige von ihnen.<br />
Wenn sie sich an die Grundsätze der AA mit dem Mut der<br />
Verzweiflung klammerten, mit dem ein Ertrinkender nach dem<br />
Rettungsring greift, ging es ihnen fast ausnahmslos besser. Darum<br />
enthielt die erste Ausgabe des Buches ,,Anonyme Alkoholiker", das<br />
erschien, als wir noch wenige waren, nur Geschichten von total<br />
heruntergekommenen Alkoholikern. Viele, die noch nicht am Abgrund<br />
angelangt waren, suchten Hilfe in der Gemeinschaft. aber sie waren<br />
erfolglos, weil sie ihre Hoffnungslosigkeit nicht eingestehen konnten.
Es ist wirklich erfreulich festzustellen, dass sich das in den folgenden<br />
Jahren geändert hat. Alkoholiker, die noch ihre Gesundheit besaßen,<br />
ihre Familien, ihren Beruf und selbst zwei Autos in der Garage,<br />
begannen, sich zu ihrer Krankheit zu bekennen. Im Zuge dieser<br />
Entwicklung schlossen sich auch junge Leute, Alkoholiker im<br />
Frühstadium gewissermaßen, der Gemeinschaft der AA an. Ihnen<br />
blieben die letzten zehn oder fünfzehn Jahre einer buchstäblichen<br />
Hölle erspart. durch die wir anderen gegangen waren. Wie konnten<br />
diese Menschen diesen <strong>Schritt</strong> tun. der unser Eingeständnis verlangt,<br />
unser Leben nicht mehr meistern zu können?<br />
Es war offenbar nötig, den Tiefpunkt. den wir übrigen erlebt hatten, bis<br />
zu dem Punkt anzuheben, an dem diese jungen Leute selbst standen.<br />
AIs wir auf die Geschichten unseres eigenen Trinkens zurückblickten,<br />
konnten wir aufzeigen, dass unser Trinken schon Jahre bevor wir den<br />
Kontrollverlust hatten, kein Gewohnheitstrinken mehr war. Es war<br />
wirklich schon der Anfang zu einem verhängnisvollen Abstieg. Zu den<br />
Zweifelnden konnten wir sagen: „Es ist durchaus möglich, dass du<br />
kein Alkoholiker bist. Warum versuchst du nicht. kontrolliert<br />
weiterzutrinken und dabei immer daran zu denken. was wir dir über<br />
Alkoholismus gesagt haben?“<br />
Diese Einstellung hatte unmittelbar praktische Folgen. Es stellte sich<br />
heraus. dass ein Alkoholiker, der über die wahre Art der Krankheit<br />
Bescheid wusste, nicht mehr derselbe Mensch war wie vorher. Nach<br />
jedem Rausch musste er sich sagen: „Vielleicht hatten diese AA doch<br />
recht ..." Nach einigen bösen Erfahrungen, oft Jahre vor dem Auftreten<br />
äußerster Schwierigkeiten, kehrte er offensichtlich überzeugt zu uns<br />
zurück. Er hatte seinen Tiefpunkt genauso erreicht wie jeder andere<br />
von uns. <strong>Der</strong> Teufel Alkohol selbst hatte ihn so weit gebracht.<br />
Warum wird beharrlich die Ansicht vertreten, jeder AA müsse erst<br />
seinen Tiefpunkt erreicht haben? Die Antwort darauf ist, dass nur<br />
wenige ernsthaft versuchen. das AA Programm zu leben, ehe sie nicht<br />
ihren Tiefpunkt hatten. Um die übrigen elf <strong>Schritt</strong>e der AA zu<br />
praktizieren, muss man sich nämlich Ansichten und Tätigkeiten<br />
aneignen. An die ein noch trinkender Alkoholiker im Traum nicht denkt.
Wer will wirklich ehrlich und tolerant sein'? Wer will einem anderen<br />
gegenüber Fehler eingestehen und angerichteten Schaden wieder<br />
gutmachen'? Wer kümmer1 sich um eine Höhere Macht, geschweige<br />
denn um Besinnung und Gebet'? Wer denkt daran, Zeit und Kraft zu<br />
opfern bei dem Versuch, die AA-Botschaft einem anderen Alkoholiker<br />
weiterzugeben'? Im Allgemeinen hat der Alkoholiker, dessen Interesse<br />
sich allein um sich selbst dreht kein Motiv für ein solches Umdenken<br />
bis er diese Dinge einfach tun muss um zu überleben.<br />
Die Geißel des Alkoholismus trieb uns zu den Anonymen Alkoholikern<br />
- und hier erst entdeckten wir, wie verhängnisvoll unsere Lage war.<br />
Dann und nur dann werden wir aufnahmebereit und können zuhören<br />
wie jemand, der den Tod vor Augen hat. Wir sind bereit, alles zu tun<br />
was uns von dieser unbarmherzigen Sucht frei macht.
<strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong><br />
“Wir kamen zu dem Glauben, daß eine Macht, größer als wir<br />
selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.“<br />
Die meisten Neuen bei den Anonymen Alkoholikern geraten beim<br />
Lesen des Zweiten <strong>Schritt</strong>s in einen inneren Zwiespalt, der ziemlich<br />
ernst sein kann. Wie oft hören wir von ihnen: "Schaut, was ihr uns<br />
angetan habt! Ihr habt uns überzeugt, daß wir Alkoholiker sind und<br />
unser Leben nicht mehr meistern können. Nachdem ihr uns in den<br />
Zustand völliger Hilflosigkeit heruntergedrückt habt, erklärt ihr uns<br />
nun, daß nur eine Höhere Macht uns von unserer Sucht befreien<br />
kann. Einige von uns wollen nicht an Gott glauben, andere können<br />
es nicht. Wieder andere, die glauben, daß Gott existiert, vertrauen<br />
nicht darauf, daß Er dieses Wunder vollbringen kann. Ja, ihr habt<br />
uns aus dem Sumpf gezogen, das stimmt, aber wie soll der Weg<br />
nun weitergehen?"<br />
Wir wollen zuerst den Fall des Streitlustigen betrachten, der sagt,<br />
daß er nicht glauben will. Seine Geisteshaltung kann nur als<br />
rebellisch bezeichnet werden. Seine Lebensanschauung, auf die er<br />
so stolz war, ist bedroht. Für ihn ist es schon schlimm genug,<br />
zugeben zu müssen, daß der Alkohol ihn in der Gewalt hat. Doch<br />
jetzt, da ihn sein Eingeständnis noch schmerzt, sieht er sich einer<br />
weiteren unmöglichen Zumutung gegenüber. Wie sehr hängt er an<br />
dem Gedanken, daß der Mensch, so majestätisch aus einer<br />
einzigen Zelle im Urschlamm emporgestiegen, die Krönung der<br />
Entwicklung ist und darum auch der einzige Gott, den seine<br />
Anschauung vom Weltall anerkennt. Muß er sich hiervon lossagen,<br />
um sich selbst zu retten?<br />
An dieser Stelle lächelt sein Sponsor meistens. Das ist der letzte<br />
Tropfen, denkt der Neue: Jetzt läuft das Faß über. Das ist der<br />
Anfang vom Ende. Und so ist es auch: <strong>Der</strong> Anfang vom Ende<br />
seines alten Lebens und der Aufbruch in ein neues Leben. Sein<br />
Sponsor wird wahrscheinlich sagen: "Mach dir's nicht so schwer.<br />
<strong>Der</strong> Reifen, durch den du springen mußt, ist größer als du glaubst.<br />
Ich jedenfalls empfand es so. Ebenso mein Freund, seinerzeit<br />
Vizepräsident der 'Amerikanischen Atheistischen Gesellschaft'. Aber<br />
auch er kam hindurch, und es blieb noch viel Platz übrig."
"Also gut", sagt der Neue, "ich weiß, daß du mir die Wahrheit sagst.<br />
Es ist zweifellos richtig, daß in der AA-Gemeinschaft viele sind, die<br />
einst dieselbe Einstellung hatten wie ich. Wie geht das: 'Mach dir's<br />
nicht so schwer'? Das möchte ich gern wissen."<br />
<strong>Der</strong> Sponsor stimmt ihm zu: "Ich glaube, ich kann dir sagen, wie du<br />
es dir leichter machen kannst. Du brauchst dich nicht einmal sehr zu<br />
plagen. Wenn du willst, kannst du dir drei Feststellungen anhören:<br />
1. Die Anonymen Alkoholiker verlangen nicht, daß du<br />
irgendetwas glaubst. Diese Zwölf <strong>Schritt</strong>e sind nur<br />
Empfehlungen.<br />
2. Um nüchtern zu werden und nüchtern zu bleiben, brauchst<br />
du den Zweiten <strong>Schritt</strong> nicht auf einmal zu machen.<br />
Zurückblickend stelle ich fest, daß ich ihn nach und nach<br />
verstanden habe.<br />
3. Alles was du brauchst, ist Bereitschaft. Tritt einfach aus<br />
deinem Diskussionsklub aus und quäle dich nicht mit so<br />
tiefgehenden Fragen, ob zuerst die Henne da war oder das Ei.<br />
Ich sage es dir noch einmal: Alles, was du brauchst, ist<br />
Bereitschaft."<br />
<strong>Der</strong> Sponsor fährt nun fort: "Nimm meinen eigenen Fall als Beispiel.<br />
Ich hatte eine wissenschaftliche Ausbildung. Natürlich achtete ich<br />
die Wissenschaft, verehrte sie, betete sie sogar an. Ich habe auch<br />
heute noch eine hohe Meinung von der Wissenschaft, aber ich bete<br />
sie nicht mehr an. Nach und nach haben mir meine Lehrer das<br />
Grundprinzip allen wissenschaftlichen Fortschritts eingeprägt:<br />
Suchen und Forschen - unaufhörlich, immer mit klarem Verstand.<br />
Als ich mich zuerst mit dem Programm der AA befaßte, war meine<br />
Reaktion genau wie deine. Diese AA-Sache, so dachte ich, ist völlig<br />
unwissenschaftlich. Das kann ich nicht schlucken. Über solch einen<br />
Unsinn will ich einfach nicht nachdenken.<br />
Dann wurde ich wach. Ich mußte zugeben, daß die Gemeinschaft<br />
der AA Erfolge aufzuweisen hatte, erstaunliche Erfolge. Ich merkte,<br />
daß meine Einstellung diesen Erfolgen gegenüber alles andere als<br />
wissenschaftlich gewesen war. Es waren nicht die AA, die engstirnig<br />
waren, ich selbst war es. In dem Moment, als ich keine Einwände<br />
mehr machte, war ich fähig, zu sehen und zu fühlen. Gleichzeitig<br />
drang der Sinn des Zweiten <strong>Schritt</strong>es ganz allmählich in mein Leben<br />
ein. Ich kann nicht sagen, bei welcher Gelegenheit oder an
welchem Tage ich zu dem Glauben an eine Höhere Macht kam,<br />
aber jetzt habe ich diesen Glauben ganz sicher. Um ihn zu<br />
erlangen, mußte ich nur aufhören zu kämpfen und versuchen, das<br />
übrige AA-Programm zu leben.<br />
Dies ist nur die Meinung eines einzelnen, die selbstverständlich auf<br />
dessen eigener Erfahrung beruht. Ich möchte noch ergänzen, daß<br />
Anonyme Alkoholiker bei ihrer Suche nach dem Glauben zahllose<br />
Wege gehen. Wenn dir der von mir vorgeschlagene nicht zusagt,<br />
wirst du sicher einen anderen entdecken, der dir besser gefällt,<br />
wenn du nur beobachtest und zuhörst. Manch einer wie du hat zu<br />
Anfang das Problem gelöst, indem er für die Höhere Macht einen<br />
Ersatzbegriff wählte. Wenn du willst, kannst du die Gemeinschaft<br />
der AA als deine Höhere Macht betrachten. Das sind viele<br />
Menschen, die ihr Alkoholproblem gelöst haben. In dieser Hinsicht<br />
sind sie wirklich eine Macht größer als du, denn du bist nicht einmal<br />
einer Lösung nähergekommen. Du kannst ihnen unbedingt<br />
vertrauen. Selbst dieses Minimum an Glauben wird dir zunächst<br />
genügen. Du wirst viele AA finden, die die Schwelle auf diese Weise<br />
überschritten haben. Sie alle werden dir bestätigen, daß sich ihr<br />
Glaube danach festigte und vertiefte; sie wurden vom Zwang ihrer<br />
Sucht befreit. Ihr Leben verwandelte sich auf eine unerklärliche<br />
Weise. Sie kamen zum Glauben an eine Höhere Macht, und die<br />
meisten von ihnen begannen von Gott zu sprechen."<br />
Betrachten wir nun die Not derer, die einst einen Glauben hatten,<br />
ihn jedoch verloren haben. Unter ihnen sind viele, die sich in<br />
Gleichgültigkeit treiben ließen, und andere, die von sich selbst so<br />
überzeugt waren, daß sie sich vom Glauben lösten. Wieder andere<br />
waren voller Vorurteile gegen die Religion, und noch andere zürnten<br />
Gott, weil Er ihre Wünsche nicht erfüllen wollte. Können die AA aus<br />
ihrer Erfahrung allen diesen Menschen sagen, daß sie einen<br />
Glauben finden können, der ihnen hilft?<br />
Manchmal wird der AA-Weg für jene Menschen schwieriger, die<br />
ihren Glauben verloren oder verworfen haben, als für die, die nie<br />
einen Glauben hatten. Denn sie sind der Meinung, sie hätten den<br />
Glauben ausprobiert und er habe versagt. Sie sind ihren Weg<br />
zunächst mit einem Glauben und dann ohne einen Glauben<br />
gegangen. Da sich beide Wege als bittere Enttäuschung erwiesen<br />
haben, sind sie zu dem Schluß gekommen, daß es für sie
überhaupt kein Ziel mehr gibt. Für sie sind Gleichgültigkeit,<br />
eingebildete Selbstherrlichkeit, Vorurteile und Trotz stärkere und<br />
bedrohlichere Hindernisse als die, die von glaubenslosen<br />
Agnostikern oder selbst kämpferischen Atheisten errichtet wurden.<br />
Die Theologie sagt: Die Existenz Gottes kann bewiesen werden. Da<br />
muß doch der Sucher nach dem Glauben in große Verwirrung<br />
geraten. Er merkt, daß keine dieser Theorien ihm helfen kann, da er<br />
nicht den Bruchteil der Sicherheit erreicht, die der Gläubige, der<br />
Ungläubige oder der Atheist besitzt. Er hat allen Halt verloren.<br />
Es gibt viele Anonyme Alkoholiker, die dem Nichtglaubenden sagen<br />
können: ja, wir waren auch von unserem Kindheitsglauben<br />
abgefallen. Das blinde Vertrauen der Jugendzeit wurde uns zuviel.<br />
Natürlich waren wir froh, daß uns ein gutes Elternhaus und eine<br />
religiöse Erziehung gewisse Werte gegeben hatten. Es war uns klar,<br />
daß wir einigermaßen ehrlich, tolerant und gerecht sein sollten,<br />
ehrgeizig und arbeitsam.<br />
Wir kamen zu der Überzeugung, daß solche einfachen<br />
Lebensregeln von Sitte und Anstand ausreichen würden. Nachdem<br />
sich bei uns materieller Erfolg allein aufgrund dieses normalen<br />
Verhaltens eingestellt hatte, glaubten wir, das Leben meistern zu<br />
können. Das war aufregend; es machte uns glücklich. Warum<br />
sollten wir uns um theologische Abhandlungen und religiöse<br />
Pflichten kümmern oder um den Zustand unserer Seelen im<br />
Diesseits und Jenseits? Das Hier und Heute genügte uns. <strong>Der</strong> Wille<br />
zu gewinnen würde uns schon weiterbringen. Aber dann trat der<br />
Alkohol in unser Leben. Als wir schließlich keine Trümpfe mehr in<br />
der Hand hatten, erkannten wir, daß wir bei der nächsten Runde<br />
aus dem Spiel waren. Wir mußten nach unserem verlorenen<br />
Glauben suchen. Bei den AA haben wir ihn wiedergefunden. Und<br />
das kannst du auch."<br />
Wir kommen nun zu einem Problemtyp: Das ist der intellektuelle<br />
selbstzufriedene Mensch, ob Mann oder Frau. Diesem können viele<br />
AA nur sagen: ja, wir waren genauso, viel schlauer als uns guttat.<br />
Wir hatten es gern, wenn die Leute uns Wunderkinder nannten. Wir<br />
benutzten unsere Schulbildung, um uns aufzublasen, und meinten,<br />
die anderen würden es nicht merken. Insgeheim glaubten wir, wir<br />
könnten allein mit unserer Intelligenz alle anderen überflügeln. <strong>Der</strong><br />
wissenschaftliche Fortschritt zeigte uns, daß es nichts gab, was
Menschen nicht vollbringen konnten. Wissen war Macht. <strong>Der</strong><br />
Intellekt konnte die Natur bezwingen. Da wir uns gescheiter als die<br />
meisten Menschen dünkten, meinten wir, mit dem Verstand alles<br />
schaffen zu können. <strong>Der</strong> Gott des Intellekts ersetzte den Gott<br />
unserer Väter. Doch wieder trat König Alkohol dazwischen. Wir, die<br />
wir so elegant auf der ganzen Linie gesiegt hatten, verwandelten<br />
uns in ständige Verlierer. Uns wurde klar, daß wir umdenken<br />
mußten oder untergehen würden. Wir fanden bei AA viele, die<br />
früher so gedacht hatten wie wir; sie halfen uns, indem sie uns auf<br />
die richtige Größe zurechtstutzten. Durch ihr Beispiel zeigten sie<br />
uns, daß Demut und Intellekt miteinander vereinbar sind,<br />
vorausgesetzt, daß wir die Demut an die erste Stelle setzten. Als wir<br />
das versuchten, empfingen wir das Geschenk des Glaubens, eines<br />
wirksamen Glaubens. Dieser Glaube ist auch für dich da."<br />
Wieder andere AA sagen: "Uns hat die Religion und alles, was<br />
damit zusammenhängt, einfach abgestoßen. Nach unserer Meinung<br />
enthielt die Bibel viel Unsinn; wir konnten zwar Kapitel und Verse<br />
daraus zitieren, aber vor lauter Skandalgeschichten und<br />
Gleichnissen hatten wir die Bergpredigt mit ihren Seligpreisungen<br />
nicht verstanden. Stellenweise schien uns der moralische Anspruch<br />
unwahrscheinlich hoch, anderes wiederum stieß uns ab.<br />
Doch es war mehr die Moral der Frömmler, die uns störte. Wir<br />
weideten uns an der Heuchelei, dem Fanatismus und der<br />
überheblichen Selbstgerechtigkeit, die so viele 'Gläubige' in ihren<br />
Sonntagskleidern zur Schau trugen. Mit welcher Freude haben wir<br />
die schlimme Wahrheit hinausposaunt, daß Millionen 'religiöser<br />
Menschen' sich immer noch gegenseitig im Namen Gottes<br />
umbringen. Das alles bedeutete natürlich, daß unser Denken<br />
negativ statt positiv war. Nachdem wir zu den AA gekommen waren,<br />
mußten wir erkennen, daß wir mit dieser Denkweise nur unser<br />
eigenes Ich genährt hatten. Solange wir die Sünden anderer<br />
frommer Menschen anprangerten, konnten wir uns allen überlegen<br />
fühlen. Mehr noch, wir kamen so nicht dazu, unsere eigenen Fehler<br />
zu sehen.<br />
Gerade die Selbstgerechtigkeit, die wir bei anderen verachteten,<br />
war einer unserer größten Fehler. Dieses lautstarke Herausstellen<br />
unserer eigenen Achtbarkeit war unser Unglück - soweit es den<br />
Glauben betraf. Erst bei den Anonymen Alkoholikern besannen wir
uns eines Besseren. Eine gewisse Erwartungshaltung ist, wie<br />
Psychiater häufig beobachtet haben, eine hervorstehende<br />
Eigenschaft vieler Alkoholiker. Darum ist es nicht verwunderlich,<br />
daß viele von uns eines Tages Gott selbst herausforderten.<br />
Manchmal, weil Gott uns nicht die guten Dinge des Lebens<br />
bescherte, die wir uns genauso wünschten wie ein unbescheidenes<br />
Kind, das eine endlose Wunschliste für den Weihnachtsmann<br />
schreibt.<br />
Öfter jedoch brachen größere Schwierigkeiten über uns herein, und<br />
das geschah nach unserer Meinung nur, weil Gott uns verlassen<br />
hatte. Das Mädchen, das wir heiraten wollten, hatte andere<br />
Absichten; wir beteten zu Gott, sie möge es sich anders überlegen,<br />
doch sie tat es nicht. Wir baten Gott um gesunde Kinder, und wir<br />
bekamen kranke oder überhaupt keine. Wir beteten um eine<br />
Beförderung im Beruf, doch sie blieb aus. Geliebte Menschen, an<br />
denen wir mit ganzem Herzen hingen, wurden uns durch höhere<br />
Gewalt entrissen. Dann wurden wir Trinker, und wir baten Gott, uns<br />
zu helfen. Doch nichts geschah. Das war das Schlimmste, was uns<br />
je passiert war. 'Zum Teufel mit dem Glaubenskram', sagten wir.<br />
Nachdem wir uns der Gemeinschaft der AA angeschlossen hatten,<br />
wurde uns unsere ungerechtfertigte Erwartungshaltung bewußt:<br />
Niemals hatten wir nach dem Willen Gottes für uns gefragt; statt<br />
dessen hatten wir Ihm vorgeschrieben, was Er tun solle. Wir sahen<br />
ein, daß kein Mensch an Gott glauben und Ihn gleichzeitig<br />
herausfordern kann. Glaube heißt Vertrauen, nicht Mißtrauen. In der<br />
Gemeinschaft der AA sahen wir die Früchte dieses Glaubens:<br />
Männer und Frauen, die ihrem Untergang durch den Alkohol<br />
entgangen waren. Wir sahen sie zusammen. Wir sahen, wie sie ihre<br />
Nöte und Sorgen überwanden. Wir sahen, wie sie gelassen<br />
Schwierigkeiten hinnahmen und weder versuchten, wegzulaufen<br />
noch sich zu rechtfertigen. Das war kein leerer Glaube, das war ein<br />
Glaube, der sich in jeder Lebenslage bewährte. Daraus folgerten<br />
wir, daß wir für Demut jeden verlangten Preis zahlen würden."<br />
Betrachten wir nun denjenigen, der sehr gläubig ist, doch immer<br />
noch nach Alkohol riecht. Er hält sich für einen frommen Menschen.<br />
Seine religiösen Pflichten erfüllt er gewissenhaft. Er ist davon<br />
überzeugt, daß er an Gott glaubt. Er legt ein Gelübde nach dem<br />
anderen ab. Nicht nur, daß er nach jedem wieder trinkt, er benimmt<br />
sich schlimmer als zuvor. Mutig kämpft er gegen den Alkohol und
erfleht dazu Gottes Hilfe. Doch diese Hilfe bleibt aus. Woran mag<br />
das nur liegen? Für Pfarrer, Ärzte, Freunde und Angehörige ist<br />
solch ein Alkoholiker, der die gute Absicht hat und hart kämpft, ein<br />
erschütterndes Rätsel. Für die meisten Anonymen Alkoholiker ist er<br />
es nicht. Unter uns gibt es zu viele, die so waren wie er und die des<br />
Rätsels Lösung gefunden haben. Diese Lösung liegt eher in der<br />
Qualität des Glaubens als in der Quantität. Hier waren wir mit<br />
Blindheit geschlagen. Wir glaubten, demütig zu sein, waren es aber<br />
nicht. Wir bildeten uns ein, wir hätten unsere religiösen Pflichten<br />
ernst genommen, doch mit der Ehrlichkeit zu uns selbst kam die<br />
Einsicht, daß wir nur oberflächlich waren. Oder, um das andere<br />
Extrem zu nennen, wir schwelgten in Gefühlsduseleien und hielten<br />
das für echtes religiöses Empfinden. In beiden Fällen hatten wir<br />
etwas verlangt, ohne etwas zu geben. In Wirklichkeit hatten wir<br />
noch nicht reinen Tisch gemacht, so daß Gottes Gnade uns nicht<br />
erreichen und die Sucht von uns nehmen konnte. Wir hatten<br />
niemals gründlich und aufrichtig Inventur in unserem Innern<br />
gemacht, niemals die um Verzeihung gebeten, die wir gekränkt<br />
hatten, niemals jemandem etwas geschenkt, ohne eine<br />
Gegenleistung zu erwarten. Wir hatten nicht einmal richtig gebetet.<br />
Wir haben immer gesagt: "Erfülle mir meine Wünsche" statt "Dein<br />
Wille geschehe".<br />
Wir verstanden überhaupt nicht, was Liebe zu Gott und den<br />
Mitmenschen bedeutete. Darum betrogen wir uns weiterhin selbst,<br />
und darum konnten wir nicht genug Gnade erlangen, die zu unserer<br />
geistigen Genesung nötig war.<br />
Es gibt allerdings nur wenige trinkende Alkoholiker, die ahnen, wie<br />
unvernünftig sie sind. Erkennen sie jedoch ihre Unvernunft, können<br />
sie sich nicht damit abfinden. Allenfalls sind sie bereit, sich als<br />
Problemtrinker zu bezeichnen, doch weisen sie den Gedanken weit<br />
von sich, geistig krank zu sein. In ihrer Blindheit werden sie von<br />
einer Welt unterstützt, die den Unterschied zwischen normalem<br />
Trinken und Alkoholismus nicht versteht. Vernunft ist der Ausdruck<br />
geistiger Gesundheit. Kein Alkoholiker kann für sich geistige<br />
Gesundheit in Anspruch nehmen, wenn er nüchtern sein<br />
destruktives Verhalten analysiert, ob er nun die Wohnzimmermöbel<br />
oder seine Moral zerstört hat.
<strong>Der</strong> Zweite <strong>Schritt</strong> ist daher der Sammelpunkt für uns alle. Ob<br />
Agnostiker, Atheist oder jemand, der seinen Glauben verloren hat:<br />
Diesen <strong>Schritt</strong> können wir gemeinsam gehen. Wahre Demut und<br />
Bereitschaft können uns zum Glauben führen, und jedes AA-<br />
Meeting garantiert uns, daß Gott uns unsere geistige Gesundheit<br />
wiedergeben wird, wenn wir uns in der richtigen Weise mit Ihm<br />
verbinden.
<strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong><br />
"Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben<br />
der Sorge Gottes - wie wir Ihn verstanden - anzuvertrauen."<br />
Mit dem Dritten <strong>Schritt</strong> öffnen wir eine Tür, die noch verschlossen<br />
und verriegelt zu sein scheint. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein<br />
Schlüssel und den Entschluss, die Tür zu öffnen. Es gibt nur einen<br />
Schlüssel: er heißt Bereitwilligkeit. Ist die Tür erst einmal so<br />
entriegelt, öffnet sie sich beinahe von selbst.<br />
Wenn wir durch die Tür schauen, sehen wir einen Weg mit dem<br />
Hinweis: „Das ist der Weg zu einem wirksamen Glauben." In den<br />
ersten beiden <strong>Schritt</strong>en haben wir über unsere Lage nachgedacht.<br />
Wir sahen ein, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos waren,<br />
wir erkannten aber auch, dass jeder eine Art von Glauben erlangen<br />
kann, und sei es nur der Glaube an die Gemeinschaft der<br />
Anonymen Alkoholiker. Diese Überlegungen erforderten kein<br />
Handeln, nur Akzeptieren.<br />
Wie die weiteren <strong>Schritt</strong>e verlangt der Dritte bejahendes Handeln.<br />
Nur durch die Tat können wir den Eigensinn überwinden, der bisher<br />
verhinderte, dass Gott - oder wenn du willst, die Höhere Macht -<br />
Zutritt zu unserem Leben bekam. Glaube ist sicher notwendig, aber<br />
der Glaube allein kann nichts ausrichten. Wir können einen Glauben<br />
haben und doch Gott aus unserem Leben fernhalten. Die<br />
Schwierigkeit besteht jetzt darin, wie und auf welchem Wege wir Ihn<br />
in unser Leben eintreten lassen können. <strong>Der</strong> Dritte <strong>Schritt</strong> ist dazu<br />
der erste Versuch.<br />
Tatsächlich steht und fällt die Wirkungskraft des ganzen AA-<br />
Programms damit, wie gut und wie ernsthaft wir versucht haben,<br />
„den Entschluss zu fassen, unseren Willen und unser Leben der<br />
Sorge Gottes, wie wir Ihn verstehen, anzuvertrauen". Jedem<br />
materiell und sachlich denkenden Anfänger kommt dieser <strong>Schritt</strong><br />
schwierig, ja unmöglich vor. Wie kann er, selbst wenn er es gern<br />
möchte, seinen eigenen Willen und sein eigenes Leben der Sorge<br />
Gottes, was er auch darunter verstehen mag, anvertrauen?<br />
Glücklicherweise können wir, die wir es mit denselben Zweifeln<br />
versucht hatten, bezeugen, dass jeder, wirklich jeder, damit<br />
beginnen kann. Wir können noch hinzufügen, dass ein Anfang, sei<br />
er noch so bescheiden, schon genügt. Haben wir einmal den
Schlüssel der Bereitschaft benutzt und die Tür ein wenig geöffnet,<br />
erkennen wir, dass wir sie immer weiter aufmachen können. Obwohl<br />
die Tür durch unseren Eigensinn wieder zuschlagen kann, was<br />
häufig vorkommt, öffnet sie sich sofort wieder, wenn wir zum<br />
Schlüssel der Bereitwilligkeit greifen.<br />
Mag sein, dass dies alles geheimnisvoll und weit hergeholt klingt,<br />
etwa wie Einsteins Relativitätstheorie oder wie ein Lehrsatz aus der<br />
Kernphysik. So ist es aber nicht. Betrachten wir einmal, wie einfach<br />
es tatsächlich ist. Jeder AA, ob Mann oder Frau, der sich der<br />
Gemeinschaft mit der Absicht angeschlossen hat, dabei zu bleiben,<br />
hat unbewusst den Anfang des Dritten <strong>Schritt</strong>es gemacht. Stimmt es<br />
denn nicht, dass jeder, was den Alkohol betrifft, bereit war, sein<br />
Leben der Sorge, dem Schutz und der Führung der Anonymen<br />
Alkoholiker anzuvertrauen? Damit zeigte er schon Bereitwilligkeit,<br />
den eigenen Willen und die eigene Meinung über das<br />
Alkoholproblem aufzugeben und dafür die Empfehlungen der AA<br />
anzunehmen. Jeder Neue, der sich ernsthaft bemüht, ist davon<br />
überzeugt, dass diese Gemeinschaft der einzig sichere Hafen für<br />
das leckgeschlagene Boot ist, in dem er sitzt. Wenn das keine<br />
Hingabe des eigenen Willens und Lebens an eine neu entdeckte<br />
Vorsehung ist, was ist es dann?<br />
Aber angenommen, die innere Einstellung wehrt sich noch<br />
dagegen, und sie wird es tun: „Ja, was den Alkohol angeht, muss<br />
ich wohl von den AA abhängig sein, aber in allen anderen Dingen<br />
muss ich meine Unabhängigkeit noch bewahren. Durch nichts lasse<br />
ich mich zu einer Null degradieren. Wenn ich fortfahre, mein Leben<br />
und meinen Willen der Sorge von 'Irgend etwas' oder von<br />
'Irgendwem' anzuvertrauen, was wird aus mir werden? Ich würde<br />
nichts weiter sein als eine Marionette." Das kommt dabei heraus,<br />
wenn Gefühl und Vernunft das Geltungsbedürfnis steigern und<br />
geistige Entwicklung verhindern. <strong>Der</strong> Haken ist, dass diese<br />
Denkweise den Tatsachen nicht Rechnung trägt. Und die<br />
Tatsachen sind offensichtlich: Je mehr wir bereit werden, uns von<br />
einer Höheren Macht abhängig zu machen, um so unabhängiger<br />
werden wir in Wirklichkeit. Darum bedeutet die Abhängigkeit, wie sie<br />
bei den Anonymen Alkoholikern praktiziert wird, in Wirklichkeit, dass<br />
man die wahre Unabhängigkeit des Geistes erreicht. Lasst uns<br />
einen Augenblick diesen Begriff der Abhängigkeit auf der Ebene<br />
des täglichen Lebens untersuchen. Es ist überraschend, in diesem
Zusammenhang zu entdecken, wie abhängig wir wirklich sind und<br />
wie wenig uns diese Abhängigkeit bewusst ist. Jedes moderne<br />
Haus hat elektrische Anschlüsse, die ihm Energie und Licht<br />
zuführen. Diese Abhängigkeit erfreut uns; wir hoffen, dass nichts<br />
uns jemals von der Stromzufuhr abschneiden wird.<br />
Dadurch, dass wir unsere Abhängigkeit von diesem Wunder der<br />
Wissenschaft akzeptieren, glauben wir, persönlich unabhängiger zu<br />
sein. Wir sind nicht nur unabhängig, wir leben auch bequemer und<br />
sicherer. Energie strömt genau dorthin, wo sie gebraucht wird. Still<br />
und zuverlässig befriedigt die Elektrizität, diese geheimnisvolle<br />
Kraft, die von so wenigen verstanden wird, unsere einfachsten<br />
täglichen Bedürfnisse, aber auch unsere dringlichsten. Frage einen<br />
Poliokranken, der an eine eiserne Lunge angeschlossen ist,<br />
welches unbedingte Vertrauen er in diese Maschine setzt, die<br />
seinen Lebensatem in Gang hält.<br />
In dem Augenblick aber, da es sich um die Unabhängigkeit im<br />
Bereich unseres Denkens und unserer Gefühle handelt, benehmen<br />
wir uns ganz anders. Wie hartnäckig bestehen wir auf dem Recht,<br />
alles selbst zu entscheiden, was wir denken und wie wir handeln<br />
sollen. O ja, wir werden das Für und Wider bei jedem Problem<br />
abwägen. Wir werden denen höflich zuhören, die uns beraten<br />
wollen, doch die Entscheidungen treffen wir allein. Niemand hat sich<br />
in solchen Dingen in unsere persönliche Unabhängigkeit<br />
einzumischen. Außerdem glauben wir, dass wir niemandem wirklich<br />
vertrauen können. Wir sind sicher, dass unsere Intelligenz,<br />
unterstützt durch Willenskraft, unser Innenleben richtig kontrollieren<br />
kann und unseren Erfolg in der Welt, in der wir leben, garantiert.<br />
Diese mutige Lebensanschauung, in der jeder Gott spielt, klingt in<br />
Worten gut, sie muss aber noch die Feuerprobe bestehen: Wie gut<br />
bewährt sie sich in der Praxis? Ein langer Blick in den Spiegel<br />
könnte jedem Alkoholiker darauf die Antwort geben.<br />
Sollte ihn sein eigenes Bild im Spiegel abstoßen - gewöhnlich ist es<br />
so -, dann mag er sich zunächst einmal die Ergebnisse ansehen,<br />
die normale Menschen mit ihrer Überheblichkeit erzielen. Überall<br />
begegnet er Menschen, die voller Zorn und Furcht sind, er sieht, wie<br />
die Gesellschaft in Stücke bricht, wie einer den anderen bekämpft.<br />
Jede Gruppe sagt zur anderen: „Wir haben Recht, und ihr Unrecht."<br />
Jede dieser Machtgruppen zwingt, wenn sie stark genug ist,
selbstherrlich den übrigen ihren Willen auf. Und überall geschieht<br />
dasselbe zwischen einzelnen Menschen. Das Resultat dieses<br />
Kraftaufwandes ist weniger Frieden und weniger Brüderlichkeit als<br />
früher. Diese überhebliche Lebensanschauung zahlt sich nicht aus.<br />
Sie ist wie ein Moloch, dessen Endziel die Zerstörung ist.<br />
Darum können wir Alkoholiker uns wirklich glücklich schätzen. Jeder<br />
von uns hat seinen nahezu tödlichen Zusammenstoß mit dem<br />
Götzenbild des Eigenwillens gehabt und hat genug unter seinem<br />
Druck gelitten, so dass er bereit ist, nach Besserem zu suchen. Es<br />
waren bei uns eher die Umstände als unsere eigenen Verdienste,<br />
die uns zu den AA brachten, wo wir unsere Niederlage<br />
eingestanden haben und anfingen zu glauben. Und nun wollen wir<br />
den Entschluss fassen, unseren Willen und unser Leben einer<br />
Höheren Macht anzuvertrauen.<br />
Wir stellen fest, dass das Wort „Abhängigkeit" vielen Psychiatern<br />
und Psychologen genauso widerwärtig ist wie Alkoholikern. Wie<br />
unseren professionellen Freunden ist auch uns klar, dass es falsche<br />
Arten der Abhängigkeit gibt. Wir haben viele davon erlebt. Kein<br />
Erwachsener, ob Mann oder Frau, sollte beispielsweise mit zu<br />
großer Gefühlsbindung an einem Elternteil hängen. Er sollte schon<br />
lange abgenabelt sein, und wenn das noch nicht geschehen ist,<br />
sollte er sich dieser Tatsache endlich bewusst werden. Gerade aus<br />
dieser Form falscher Abhängigkeit hat mancher rebellische<br />
Alkoholiker gefolgert, dass jede Art von Abhängigkeit unerträglich<br />
und schädlich sein muss. Die Abhängigkeit von einer AA-Gruppe<br />
oder von einer Höheren Macht hat noch keine schlimmen Folgen<br />
gehabt.<br />
Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hatte dieses spirituelle Prinzip<br />
seinen ersten Härtetest. Anonyme Alkoholiker wurden zum<br />
Militärdienst einberufen und über die ganze Welt verstreut. Würden<br />
sie sich einer Disziplin unterordnen können? Würden sie sich im<br />
Feuer bewähren? Würden sie die Eintönigkeit und das Elend des<br />
Krieges aushallen? Würde ihnen die Art der Abhängigkeit, die sie<br />
von den AA kannten, über alles hinweghelfen? Genauso war es. Es<br />
gab bei ihnen weniger Rückfälle und Nervenzusammenbrüche als<br />
bei denen, die zu Hause saßen. Sie hatten genauso viel<br />
Durchhaltevermögen und Mut wie alle anderen Soldaten. Ihre<br />
Abhängigkeit von einer Höheren Macht bewährte sich, ob in Alaska
oder am Brückenkopf von Salerno. Diese Abhängigkeit war bei<br />
weitem keine Schwäche, sie war ihre größte Kraftquelle.<br />
Was kann der Mensch, der bereit ist, seinen Willen und sein Leben<br />
der Höheren Macht anzuvertrauen, tatsächlich weiterhin<br />
unternehmen? Wir haben gesehen, dass er einen Anfang gemacht<br />
hatte, als er sich wegen seines Alkoholproblems der AA-<br />
Gemeinschaft anvertraute. Jetzt aber ist er zu der Überzeugung<br />
gekommen, dass er noch andere Schwierigkeiten als den Alkohol<br />
hat. Einige davon können nicht durch persönliche Entscheidung und<br />
Mut gelöst werden, so sehr er sich auch bemüht; sie wollen einfach<br />
nicht weichen. Sie machen ihn verzweifelt und unglücklich und<br />
bedrohen seine neugewonnene Nüchternheit. Unser Freund ist<br />
noch voll von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, wenn er an<br />
gestern denkt. Verbitterung übermannt ihn, wenn er über die<br />
nachgrübelt, die er beneidet oder hasst. Seine finanzielle<br />
Unsicherheit macht ihn krank vor Sorgen, und er gerät in Panik,<br />
wenn er daran denkt, wie viele Brücken, die ihm Sicherheit gaben,<br />
der Alkohol hinter ihm abgebrochen hat. Und wie soll er jemals<br />
dieses fürchterliche Durcheinander in Ordnung bringen, das ihn die<br />
Zuneigung seiner Familie gekostet und ihn von ihr getrennt hat?<br />
Ohne Hilfe, allein mit seinem Mut und seinem Willen ist nichts zu<br />
schaffen. Auf jeden Fall muss er sich nun auf irgendjemanden oder<br />
auf irgendetwas stützen können.<br />
Zuerst ist dieser „Jemand" wahrscheinlich sein nächster AA-Freund.<br />
Er verlässt sich auf die Zusicherung, dass seine zahlreichen<br />
Schwierigkeiten, die ihm jetzt noch größer erscheinen, weil er sie<br />
nicht mit Alkohol wegspülen kann, auch gelöst werden können.<br />
Natürlich macht ihm der Sponsor klar, dass er sein Leben noch<br />
nicht meistern kann, auch wenn er trocken ist, aber wenigstens<br />
schon ein Anfang im AA-Programm gemacht wurde. Es ist gut für<br />
die Festigung seiner Trockenheit, seine Alkoholkrankheit<br />
zuzugeben und einige Meetings zu besuchen, doch dauerhafte<br />
Nüchternheit und ein zufriedenes, nützliches Leben sind noch weit<br />
entfernt. Nun ist es Zeit, sich mit den übrigen <strong>Schritt</strong>en des AA-<br />
Programms zu befassen. Nur dadurch, dass diese <strong>Schritt</strong>e zu einem<br />
ständigen Lebensweg werden, stellt sich der langersehnte Erfolg<br />
ein. Weiter wird gesagt, dass die übrigen <strong>Schritt</strong>e des AA-<br />
Programms nur dann mit Erfolg praktiziert werden können, wenn<br />
man sich immer wieder entschlossen und beständig mit dem Dritten
<strong>Schritt</strong> befasst. Diese Feststellung mag neue Freunde überraschen,<br />
die immer nur den Verlust ihres Wertgefühls erlebt haben und mehr<br />
und mehr davon überzeugt wurden, dass mit menschlichem Willen<br />
allein nichts zu schaffen ist. Jetzt haben sie endlich begriffen, dass<br />
außer dem Alkoholproblem auch viele andere Schwierigkeiten nicht<br />
im Alleingang und nicht mit einem Frontalangriff gelöst werden<br />
können. Aber es gibt offensichtlich einige Dinge, die nur der<br />
einzelne tun kann. Ganz auf sich gestellt und sich seiner eigenen<br />
Umstände bewusst muss er seine Bereitschaft weiter entwickeln.<br />
Erst wenn er sie erreicht hat, kann er allein entscheiden, wie er sie<br />
anwenden will.<br />
Das Leben mit den Zwölf <strong>Schritt</strong>en erfordert ständigen persönlichen<br />
Einsatz, um die Grundsätze dieser <strong>Schritt</strong>e zu erfüllen und damit,<br />
wie wir hoffen, auch den Willen Gottes.<br />
Erst dann, wenn wir uns bemühen, unseren Willen in Einklang mit<br />
dem Willen Gottes zu bringen, gebrauchen wir ihn richtig. Diese<br />
Entdeckung war für uns alle eine Offenbarung. Unser ganzes<br />
Problem bestand darin, dass wir unsere Willenskraft falsch<br />
einsetzten. Wir hatten versucht, unsere Schwierigkeiten mit<br />
unserem eigenen Willen zu beseitigen, statt zu versuchen, ihn in<br />
Einklang mit Gottes Absicht für uns zu bringen.<br />
Diesem Ziel näher zu kommen ist der Sinn der Zwölf <strong>Schritt</strong>e der<br />
AA, und der Dritte <strong>Schritt</strong> öffnet dazu die Tür. Wenn wir uns einmal<br />
mit diesen Gedanken vertraut gemacht haben, ist es wirklich leicht,<br />
mit dem Dritten <strong>Schritt</strong> anzufangen. Jedes Mal, wenn unser<br />
Gefühlsleben gestört ist oder wir unentschlossen sind, können wir<br />
innehalten, um Ruhe beten und in der Stille einfach sagen: „Gott,<br />
gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht<br />
ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und<br />
die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. - Dein Wille<br />
geschehe, nicht meiner!"
<strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong><br />
“Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in<br />
unserem Inneren.“<br />
Die Schöpfung hat uns unsere Naturtriebe zu einein bestimmten<br />
Zweck gegeben. Ohne sie wären wir keine vollständigen Menschen.<br />
Wenn Männer und Frauen sich nicht um die Sicherheit ihrer eigenen<br />
Person bemühen, nicht für Nahrung sorgen und kein Obdach bauen<br />
würden, gäbe es für sie kein Überleben. Wenn sie sich nicht<br />
vermehren würden, wäre die Erde nicht bevölkert. Hätten sie nicht<br />
den Naturtrieb, miteinander zu leben, gäbe es keine menschliche<br />
Gesellschaft. Darum ist das Begehren nach sexueller Beziehung,<br />
nach materieller Sicherheit, nach seelischer Geborgenheit und nach<br />
Freundschaft bestimmt notwendig und richtig. Es ist gottgegeben.<br />
So wichtig diese Naturtriebe für unser Dasein sind, übersteigen sie<br />
oft das richtige Maß. Mächtig, unbemerkt, oftmals arglistig, treiben<br />
und beherrschen sie uns und bestimmen unser Leben. Unser Drang<br />
nach Sex, nach materieller und innerer Sicherheit und nach einem<br />
wichtigen Platz in der Gesellschaft tyrannisiert uns häufig. Stimmt<br />
das Verhältnis nicht mehr, bereiten die natürlichen Wünsche jedem<br />
Menschen große Schwierigkeiten - wirklich alle Schwierigkeiten, die<br />
es gibt.<br />
Keinem Menschen, ganz gleich, wie gut er ist, bleiben diese<br />
Probleme erspart. Fast jede ernsthafte Störung in unserem<br />
Gefühlsleben kann auf fehlgeleitete Instinkte zurückgeführt werden-<br />
In einem gestörten Gefühlsleben hat sich der Instinkt, unser großes<br />
natürliches Vermögen, in eine Belastung für Körper und Geist<br />
verwandelt.<br />
Im Vierten <strong>Schritt</strong> bemühen wir uns ernsthart und gründlich<br />
herauszufinden, welche Belastungen jeder von uns hatte und noch<br />
hat. Wir wollen genau erkennen, wie, wann und wo unsere<br />
Naturtriebe uns fehlgeleitet haben. Wir wollen offen das Unglück<br />
betrachten, das uns und anderen dadurch geschehen ist. Wenn wir<br />
die Fehler in unserem Gefühlsleben entdecken, können wir sie<br />
korrigieren- Wenn wir uns darum nicht bereitwillig und dauerhaft<br />
bemühen, wird es kaum Nüchternheit oder Zufriedenheit für uns<br />
geben. Die meisten von uns haben erkannt, daß ohne eine
furchtlose, gründliche Inventur in unserem Innern ein Glaube, der<br />
sich im täglichen Leben bewährt, noch in weiter Ferne liegt.<br />
Bevor wir uns mit der Inventur näher befassen, wollen wir zunächst<br />
die Hauptschwierigkeiten angehen. Einfache Beispiele wie die<br />
folgenden gewinnen eine ganz andere Bedeutung, sobald wir<br />
darüber nachdenken. Angenommen, jemand stellt seinen<br />
Sexualtrieb über altes. In diesem Fall kann der ihn beherrschende<br />
Zwang seine Aussichten auf materielle Sicherheit und inneres<br />
Gleichgewicht und seine Stellung in der Gesellschaft zerstören. Ein<br />
anderer entwickelt vielleicht eine ebenso große Besessenheit nach<br />
finanzieller Sicherheit, so daß er nur noch Geld scheffelt. Verfällt er<br />
dabei ins Extrem, kann er ein Geizhals werden oder ein Sonderling,<br />
dem Familie und Freunde gleichgültig werden.<br />
Dieser Drang nach Sicherheit drückt sich aber nicht immer in<br />
Geldwerten aus. Oft sehen wir, wie ein ängstlicher Mensch danach<br />
strebt, sich vollkommen von einer stärkeren Persönlichkeit abhängig<br />
zu machen, die ihn leitet und schützt. Dieser Schwächling, der seine<br />
Aufgabe im Leben nicht aus eigener Kraft erfüllen kann, wird<br />
niemals erwachsen. Enttäuschungen und Hilflosigkeit sind sein Los.<br />
Mit der Zeit ziehen sich seine Beschützer zurück oder sie sterben,<br />
und er ist wieder allein mit seiner Angst.<br />
Wir haben auch Männer und Frauen kennengelernt, die vom<br />
Machthunger besessen waren. Ihr Streben bestand darin, ihre<br />
Mitmenschen zu beherrschen. Das kann so weit gehen, daß sie<br />
dafür geordnete Verhältnisse und ein glückliches Familienleben in<br />
den Wind schlagen. Wenn in einem Menschen das Triebleben<br />
durcheinander gerät, kann es für ihn keinen Frieden geben. Es gibt<br />
aber noch andere Gefahren. Immer, wenn jemand seine Wünsche<br />
gedankenlos anderen aufzwingen will, entstehen Schwierigkeiten.<br />
Wenn bei der Jagd nach Reichtum und Macht die niedergetreten<br />
werden, die einem im Wege stehen, gibt es mit Sicherheit Zorn,<br />
Eifersucht und Rachegefühle. Sexbesessenheit wirkt sich ähnlich<br />
aus. Werden die Forderungen nach Aufmerksamkeit, Schutz und<br />
Liebe zu hoch geschraubt, kann dieses Verlangen bei den<br />
Angesprochenen selbst Herrschsucht oder Ablehnung hervorrufen.<br />
Beide Gefühle sind genauso ungesund wie die Forderungen, die sie<br />
auslösen.
Wenn der Ehrgeiz des einzelnen außer Kontrolle gerät - sei es in<br />
einem Nähkursus oder am internationalen Konferenztisch -, leiden<br />
andere darunter und lehnen sich dagegen auf. Wenn eins zum<br />
anderen kommt, dann kann das alles mögliche hervorrufen, von<br />
kalter Zurückweisung bis zu heftiger Auflehnung. In allen diesen<br />
Fällen befinden wir uns nicht nur im Konflikt mit uns selbst, sondern<br />
auch mit anderen Menschen, die ihr eigenes Gefühlsleben haben.<br />
Gerade Alkoholiker sollten wissen, daß unbeherrschtes Verhalten<br />
der Grund ihres zerstörerischen Trinkens ist. Wir haben getrunken,<br />
um Furcht, Enttäuschung, Schuldgefühl und Niedergeschlagenheit<br />
loszuwerden. Wir haben getrunken, um unseren Leidenscharten zu<br />
entfliehen, und dann haben wir wieder getrunken, um neue<br />
Leidenschaften zu erwecken. Wir haben aus Geltungssucht<br />
getrunken, um unsere törichten Träume von Prunk und Macht noch<br />
mehr zu genießen- Es ist schwer, sich mit dem widersinnigen<br />
Verhalten dieser seelischen Krankheit auseinanderzusetzen.<br />
Unsere durcheinander geratenen Gefühle wehren sich gegen jede<br />
Kontrolle. In dem Augenblick, in dem wir uns ernsthaft bemühen,<br />
diese Gefühle zu durchleuchten, müssen wir auf schlimme<br />
Reaktionen gefaßt sein.<br />
Wenn wir zu Depressionen neigen, versinken wir in Schuldgefühlen<br />
und Abscheu vor uns selbst. Wir wühlen in diesem Sumpf und<br />
entwickeln dabei oft ein unnatürliches und selbstquälerisches<br />
Vergnügen. Wenn wir diese Melancholie krankhaft weitertreiben,<br />
können wir so verzweifeln, dass nur noch völliges Vergessen als<br />
Lösung möglich erscheint. Damit haben wir jeden Überblick<br />
verloren, und das hat auch mit Demut nichts zu tun. Das ist eher<br />
falscher Stolz, bestimmt keine Inventur. Es ist der gleiche Vorgang,<br />
der depressive Menschen oft zur Flasche und Selbstzerstörung<br />
getrieben hat.<br />
Wenn wir jedoch eher selbstgerecht und prahlerisch veranlagt sind,<br />
wird unsere Reaktion genau umgekehrt sein. Wir werden die von<br />
den AA empfohlene Inventur beleidigt ablehnen. Zweifellos werden<br />
wir stolz auf das gute Leben hinweisen, das wir geführt haben,<br />
bevor uns die Flasche in die Knie zwang. Wir werden behaupten,<br />
dass unsere schlimmen Charakterfehler, falls wir überhaupt welche<br />
haben sollten, hauptsächlich auf das exzessive Trinken<br />
zurückzuführen sind. Wenn das so ist, glauben wir logischerweise,<br />
dass wir nur Nüchternheit anstreben müssen - jetzt und immer. Wir
glauben, dass unser ehemals guter Charakter wieder zum<br />
Vorschein kommt, wenn wir den Alkohol meiden. Wir waren im<br />
Grunde genommen, abgesehen vom Trinken, immer ganz nette<br />
Menschen. Wozu brauchen wir eine innere Inventur, da wir Jetzt<br />
nüchtern sind?<br />
Wir klammern uns auch noch an eine andere wunderbare Ausrede,<br />
um einer Inventur zu entgehen. Wir jammern, daß unsere jetzigen<br />
Ängste und Schwierigkeiten durch das Verhalten anderer<br />
hervorgerufen seien, durch Menschen, die wirklich eine innere<br />
Inventur nötig hätten. Wir sind fest davon überzeugt, daß alles in<br />
Ordnung wäre, wenn sie uns besser behandelten. Nach unserer<br />
Meinung sind die Entrüstung ihnen gegenüber berechtigt und<br />
vernünftig und unser Groll völlig in Ordnung. Nicht wir sind die<br />
Schuldigen, die anderen sind es.<br />
Wenn wir an diesem Punkt der Inventur stecken bleiben, hilft uns<br />
unser Sponsor. Er ist dazu in der Lage, da er schon eigene<br />
Erfahrungen mit dem Vierten <strong>Schritt</strong> hat. Er tröstet den<br />
Melancholiker und macht ihm klar, daß sein Fall nichts<br />
Außergewöhnliches ist und daß seine Charakterfehler nicht<br />
zahlreicher und schlimmer sind als die irgendeines anderen AA.<br />
Zum Beweis spricht der Sponsor offen, ehrlich und ohne<br />
Übertreibung über seine eigenen früheren und jetzigen Fehler.<br />
Diese ruhige und realistische Bestandsaufnahme ist ungeheuer<br />
ermutigend. <strong>Der</strong> Sponsor weist vermutlich den Neuen darauf hin,<br />
daß er einiges Guthaben besitzt, gegen das er seine Schulden<br />
aufrechnen kann. Das hilft ihm. Krankhaftes auszuräumen und<br />
innere Ausgeglichenheit anzustreben. Sobald der Neue sich<br />
objektiver sieht, kann er seine Fehler ohne Furcht betrachten.<br />
Vor einem ganz anderen Problem steht der Sponsor bei denen, die<br />
eine Inventur für überflüssig halten. Diese Menschen sind<br />
überheblich und meinen, sie hätten nichts gutzumachen. Sie<br />
brauchen keinen Trost. Die Schwierigkeit für den Sponsor besteht<br />
darin, einen Riß in der Mauer ihres Egos zu entdecken, durch den<br />
ein Lichtstrahl der Vernunft eindringen kann. Zunächst kann man<br />
ihnen sagen, daß die meisten AA in ihrer Trinkerzeit schwer unter<br />
ihrer Selbstgerechtigkeit gelitten haben. Bei vielen von uns war sie<br />
die Quelle aller Ausreden, natürlich Ausreden für unser Trinken und<br />
unsere verrückte und schädliche Lebensweise. Wir waren Künstler
im Erfinden neuer Ausreden. Wir mußten trinken, weil die Zeiten<br />
schlecht waren oder weil es uns so gut ging. Wir mußten trinken,<br />
weit wir daheim mit Liebe überschüttet wurden oder weil wir keine<br />
Zuneigung fanden. Wir mußten trinken, weil wir im Beruf sehr<br />
erfolgreich waren oder weil wir versagten. Wir mußten trinken, weil<br />
unsere Nation einen Krieg gewonnen oder einen Frieden verloren<br />
hatte.<br />
Und so ging es weiter bis ins Unendliche.<br />
Wir glaubten, daß uns die „Umstände" zum Trinken brachten, und<br />
als wir versuchten, diese Umstände zu ändern, und es uns nicht<br />
nach unserer Vorstellung gelang, verloren wir die Kontrolle über das<br />
Trinken und wurden Alkoholiker. Wir kamen nie auf den Gedanken,<br />
daß wir uns selbst ändern mußten, um mit den Umständen fertig zu<br />
werden, so wie sie waren.<br />
Bei AA lernten wir langsam, daß gegen unsere Rachsucht, unser<br />
Selbstmitleid und unsere grundlose Einbildung etwas getan werden<br />
mußte. Wir mußten einsehen, daß immer, wenn wir uns aufspielten,<br />
sich die Menschen gegen uns stellten. Wir mußten erkennen, daß<br />
wir uns selbst mit dem Knüppel unserer eigenen Wut schlugen, mit<br />
dem wir die anderen treffen wollten, wenn wir über solche<br />
Niederlagen wütend waren und auf Rache sannen. Dabei lernten<br />
wir, daß wir uns bei starker Aufregung zuerst selbst zur Ruhe<br />
bringen mußten, ganz gleich wer oder was der Grund für die<br />
Aufregung war. Es dauerte oft sehr lange, bis wir einsahen, daß wir<br />
Opfer unserer eigenen verworrenen Gefühle waren. Bei anderen<br />
konnten wir sie schnell entdecken, doch bei uns nur sehr schwer.<br />
Zunächst mußten wir zugeben, daß wir eine Menge Charakterfehler<br />
hatten, obwohl diese Erkenntnis schmerzlich und demütigend war.<br />
Soweit es sich um andere Menschen handelte, mußten wir das Wort<br />
„Vorwurf" aus unserem Reden und Denken streichen. Um hiermit<br />
anzufangen, war große Bereitschaft notwendig. Hatten wir die<br />
ersten zwei oder drei Hürden genommen, erschien uns der weitere<br />
Weg schon leichter. Wir sahen uns in der richtigen Perspektive, mit<br />
anderen Worten: Wir wurden demütiger.<br />
Natürlich sind der Depressive und der Überhebliche extreme<br />
Persönlichkeiten, die wir bei AA wie überall in der Welt finden. Oft<br />
zeigen sich ihre Persönlichkeitsmerkmale genauso ausgeprägt wie<br />
in den beschriebenen Beispielen. Doch ebenso häufig haben einige
von uns Eigenschaften, die mehr oder weniger auf beide Typen<br />
zutreffen. Menschen sind niemals gleich. Darum muß jeder von uns<br />
bei seiner Inventur seine eigenen Charakterfehler genau<br />
herausfinden. Hat er die passenden Schuhe gefunden und<br />
angezogen, sollte er losmarschieren, darauf vertrauend, daß er<br />
endlich auf dem richtigen Wege ist.<br />
Jetzt wollen wir über eine Liste der hervorstechenden<br />
Charakterfehler nachdenken, die mehr oder weniger bei allen<br />
vorhanden sind. Bei religiösen Menschen würde eine solche Liste<br />
aus erheblichen Verstößen gegen moralische Grundsätze<br />
bestehen. Andere werden an eine Auflistung von Charakterfehlern<br />
denken. Wieder andere sehen darin ein Verzeichnis von<br />
Anpassungsschwierigkeiten. Manch einer wird sehr ärgerlich, wenn<br />
von Unmoral die Rede ist, ganz zu schweigen von Sünde. Jedoch<br />
alle, die noch einen Rest Verstand haben, werden in einem Punkt<br />
übereinstimmen: Bei uns Alkoholikern liegt sehr viel im argen, und<br />
es muß eine Menge getan werden, wenn wir Nüchternheit,<br />
Fortschritt und Lebenstüchtigkeit erreichen wollen. Um<br />
Verständigungsschwierigkeiten bei der Benennung dieser Fehler zu<br />
vermeiden, stellen wir eine allgemein anerkannte Liste<br />
schwerwiegender menschlicher Verfehlungen zusammen, nämlich<br />
die sieben Todsünden:<br />
Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Zorn, Unmäßigkeit, Neid und Trägheit.<br />
Nicht zufällig führt Stolz diese Reihenfolge an. Denn der Stolz, der<br />
zur Überheblichkeil führt und immer durch bewußte und unbewußte<br />
Ängste angestachelt wird, ist die Brutstätte für die meisten<br />
menschlichen Schwierigkeiten. Er hemmt jede Entwicklung. Stolz<br />
verführt uns dazu, Forderungen an uns und andere zu stellen, die<br />
nicht erfüllt werden können, ohne unsere von Gott gegebenen<br />
Naturtriebe zu mißbrauchen.<br />
Wenn die Befriedigung unserer Triebe nach Sex, Geborgenheit und<br />
Selbstbestätigung zu unserem einzigen Lebensziel wird, tritt der<br />
Stolz hinzu, um diese Maßlosigkeit zu rechtfertigen. Alle diese<br />
Fehlhaltungen erzeugen Angst. Und Angst ist eine Erkrankung der<br />
Seele. Angst erzeugt weitere Charakterfehler. Unbegründete Angst,<br />
daß unsere Triebe nicht befriedigt werden, treibt uns immer weiter:<br />
zum Begehren des Eigentums anderer, zu Sex- und Machtgier. Wir<br />
werden wütend, wenn unsere Forderungen unerfüllt bleiben; uns
packt der Neid, wenn die ehrgeizigen Wünsche anderer sich<br />
erfüllen, unsere dagegen nicht- Wir essen, trinken und begehren<br />
von allem mehr, als wir nötig haben, aus Angst, wir würden nicht<br />
genug bekommen. Und aus einer echten Angst vor der Arbeit<br />
faulenzen wir. Wir bummeln und schieben die Arbeit auf, oder wir<br />
erledigen sie mißmutig und mit halber Kraft.<br />
Diese Ängste sind wie Termiten. Bei allem, was wir uns im Leben<br />
aufbauen wollen, nagen sie uns ständig die Fundamente weg.<br />
Wenn die AA eine furchtlose innere Inventur empfehlen muß es<br />
jedem Neuen so vorkommen, als ob von ihm mehr verlangt würde,<br />
als er tun kann. Sowohl sein Stolz als auch seine Furcht treiben ihn<br />
jedesmal zurück, wenn er Einkehr bei sich halten will. <strong>Der</strong> Stolz<br />
sagt: ,,Du brauchst diesen Weg nicht zu gehen." Die Furcht sagt:<br />
„Du traust dich nicht." Dem steht das Zeugnis von AA-Freunden<br />
gegenüber, die tatsächlich versucht haben, eine innere Inventur zu<br />
machen. Danach sind Stolz und Furcht dieser Art nur<br />
Schreckgespenster, sonst nichts. Sobald wir die völlige Bereitschaft<br />
zeigen, Inventur zu machen, und uns dabei um Gründlichkeil<br />
bemühen, erhellt sich unser verschwommenes Denken. Wenn wir<br />
durchhalten, erfahren wir eine völlig andere Art von Selbstvertrauen.<br />
Das Gefühl der Erleichterung ist unbeschreiblich, wenn wir uns<br />
selbst erkennen. Das sind die ersten Früchte des Vierten <strong>Schritt</strong>es.<br />
Wahrscheinlich ist der Neue mittlerweile zu dem Schluß gekommen,<br />
daß seine Charakterfehler, seine fehlgeleiteten Triebe die<br />
Hauptursache für sein Trinken und sein Versagen im Leben waren.<br />
Wenn er jetzt nicht bereit ist, hart an der Beseitigung seiner<br />
schlimmsten Fehler zu arbeiten, wird er weder Nüchternheit noch<br />
inneren Frieden erlangen. Darum muß das unsichere Fundament<br />
seines Lebens beseitigt und durch ein neues, starkes ersetzt<br />
werden. Nun, da er bereit ist, seine eigenen Fehler zu suchen, fragt<br />
er: „Wie fange ich das nur an? Wie kann ich eine Inventur in<br />
meinem Innern machen?"<br />
<strong>Der</strong> Vierte <strong>Schritt</strong> ist nur der Anfang eines neuen Lebensweges.<br />
Wer sich damit befaßt, sollte zunächst mit den persönlichen<br />
Mängeln beginnen, die ihm die größten Schwierigkeiten bereiten.<br />
Auch wenn er nach bestem Wissen und Gewissen urteilt, was<br />
richtig und falsch war, kann er höchstens einen groben Überblick<br />
darüber gewinnen, wie er mit seinen Hauptproblemen, Sexualität,
Sicherheitsstreben und mitmenschlichen Beziehungen fertig wird.<br />
Bei diesem Rückblick auf sein Leben kommt er viel weiter, wenn er<br />
sich folgende Fragen stellt: Wann, wie und unter welchen<br />
Umständen hat mein Egoismus in sexuellen Beziehungen anderen<br />
Menschen und mir geschadet? Welche Menschen wurden verletzt<br />
und wie sehr? Habe ich nie eine Ehe zerstört und meinen Kindern<br />
wehgetan? Habe ich meine Stellung in der Gesellschaft gefährdet?<br />
Wie habe ich seinerzeit auf diese Situation reagiert? Verzehrte ich<br />
mich in Schuldgefühlen, die durch nichts zu beseitigen waren? Oder<br />
bildete ich mir ein, das Opfer zu sein und nicht der Schuldige, um<br />
mich damit freizusprechen? Wie habe ich auf sexuelle<br />
Enttäuschungen reagiert? Ließ ich andere dafür büßen? Wenn mir<br />
zu Hause Ablehnung und Kälte entgegenschlugen, ging ich dann<br />
fremd?<br />
Für die meisten Alkoholiker sind Fragen zu ihrem Verhalten in<br />
materieller und gefühlsmäßiger Hinsicht sehr wichtig. Auf diesem<br />
Gebiet haben Furcht, Geiz, Habgier und Stolz oft Schlimmes<br />
angerichtet. Bei einem Rückblick auf seine Leistungen als<br />
Vorgesetzter1 oder Angestellter wird sich fast jeder Alkoholiker<br />
fragen müssen: Welche Charakterfehler haben außer meinem<br />
Trinken zu meiner finanziellen Unsicherheit beigetragen? Haben<br />
Angst und Minderwertigkeitskomplexe wegen meiner beruflichen<br />
Leistungen mein Selbstvertrauen zerstört und mich in innere<br />
Konflikte gebracht? Habe ich versucht, diese Komplexe durch Bluff,<br />
Schwindel, Lügen und Drücken vor Verantwortung zu verdecken?<br />
Oder ärgerte ich mich, daß die anderen meine wirklich<br />
außergewöhnlichen Fähigkeiten nicht anerkannten? Habe ich mich<br />
überbewertet und den großen Mann gespielt? Hatte ich keine<br />
Grundsätze, da ich meine Geschäftspartner gegeneinander<br />
ausspielte? War ich verschwenderisch? Habe ich mir unbedenklich<br />
Geld geliehen, ohne mir Sorgen um die Rückzahlung zu machen?<br />
War ich ein Pfennigfuchser, der seine Familie nicht ordentlich<br />
versorgte? Habe ich unsaubere Geschäfte gemacht? Wie war das<br />
mit dem schnellen Geldverdienen durch Spekulationen und Wetten?<br />
Berufstätige Frauen in der Gemeinschaft der AA erkennen<br />
selbstverständlich, daß viele dieser Fragen auch auf sie zutreffen.<br />
Aber auch die alkoholabhängige Hausfrau kann die Familie<br />
finanziell ruinieren. Sie kann das Haushaltsbuch fälschen, mit dem<br />
Wirtschaftsgeld manipulieren, die Nachmittage mit Glücksspiel
verbringen und durch Verantwortungslosigkeit, Verschwendung<br />
oder Vergeudung ihren Mann in Schulden stürzen.<br />
Alle Alkoholiker aber, die sich durch ihre Trunksucht um Stellung,<br />
Familie und Freunde gebracht haben, müssen sich rücksichtslos ins<br />
Kreuzverhör nehmen, um festzustellen, wie ihre Charakterfehler ihr<br />
gesichertes Leben zerstört haben.<br />
Die häufigsten Symptome für Unsicherheit im Gefühlsleben sind<br />
Sorgen, Angst, Selbstmitleid und Niedergeschlagenheit. Sie<br />
entstehen aus Ursachen, die möglicherweise in uns selbst liegen.<br />
Häufig sind diese Symptome auch nicht zu begründen. Wenn wir<br />
eine Inventur machen, sollten wir sorgfältig alle persönlichen<br />
Beziehungen durchleuchten, die uns in ständige oder sich<br />
wiederholende Schwierigkeiten stürzen. Wir dürfen dabei nicht<br />
vergessen, daß diese Art der Unsicherheit in jedem Bereich unseres<br />
Gefühlslebens entstehen kann. Darum stellen wir uns folgende<br />
Fragen: Welche Situation in meinem Sexualleben hat bei mir in der<br />
Vergangenheit und Gegenwart Furcht, Verbitterung, Enttäuschung<br />
oder Depression hervorgerufen? Wenn ich jede Situation ehrlich<br />
überdenke, kann ich meine eigene Schuld erkennen? Bin ich in<br />
diese Schwierigkeiten durch Egoismus oder unvernünftige<br />
Forderungen geraten? Wenn mein Fehlverhalten offensichtlich<br />
durch andere verursacht wurde, warum war ich unfähig, die Dinge<br />
hinzunehmen, die ich nicht ändern kann? Durch derart gründliches<br />
Nachforschen kann die Ursache meiner Unruhe geklärt werden, und<br />
ich erkenne, ob ich mein eigenes Benehmen ändern und mir<br />
gelassen Selbstdisziplin aneignen kann.<br />
Angenommen, finanzielle Unsicherheit ist die Ursache für solche<br />
Unruhe, dann kann ich mich fragen, ob ich daran nicht selbst schuld<br />
bin. Wenn das Verhalten anderer dazu beigetragen hat, was kann<br />
ich dagegen tun? Falls ich nicht in der Lage bin, den jetzigen<br />
Zustand zu ändern, bin ich gewillt, Maßnahmen zu ergreifen, um<br />
mich den augenblicklichen Umständen anzupassen? Solche und<br />
ähnliche Fragen, die jedem zu seinen persönlichen Schwierigkeiten<br />
leicht einfallen, sind nützlich, um deren Ursachen aufzudecken.<br />
Viele von uns haben am meisten unter gestörten Beziehungen zu<br />
Angehörigen, Freunden und Mitmenschen gelitten. Ihnen<br />
gegenüber sind wir besonders töricht und stur gewesen. Tatsache<br />
war, daß wir unsere absolute Unfähigkeit zu einer wahren
Partnerschaft nicht erkennen konnten. Unsere Egozentrik stellte uns<br />
zwei mörderische Fallen- Entweder versuchten wir, die Menschen,<br />
die wir kennen, zu beherrschen, oder wir machten uns zu sehr von<br />
ihnen abhängig. Wenn wir uns zu stark auf andere verlassen,<br />
werden sie uns früher oder später enttäuschen, denn auch sie sind<br />
nur Menschen und können unmöglich unsere ständigen<br />
Forderungen erfüllen. Dadurch wächst und wuchert unsere<br />
Unsicherheit. Wenn es zur Gewohnheit wird, anderen unsere<br />
eigenwilligen Wünsche aufzuzwingen, revoltieren sie und<br />
widersetzen sich heftig. Bei uns entwickeln sich verletzte Gefühle.<br />
Wir fühlen uns verfolgt und sinnen auf Vergeltung. Wenn wir mit<br />
doppelter Kraft die anderen zu beherrschen versuchen und<br />
weiterhin keinen Erfolg haben, wird unser akutes Leiden chronisch.<br />
Wir haben nicht einmal versucht, nur ein Glied in der Familie zu<br />
sein, ein Freund unter Freunden, ein Mitarbeiter unter Kollegen,<br />
einfach nur ein nützliches Mitglied der Gesellschaft. Immer wollten<br />
wir uns bis zum obersten Platz empor drängen oder in der Masse<br />
verstecken. Dieses egozentrische Benehmen hat uns jede<br />
Beziehung zu den Menschen unserer Umgebung blockiert. Echtes<br />
Miteinander war uns kein Begriff.<br />
Einige werden gegen viele dieser Fragen Einwände erheben, weil<br />
nach ihrer Meinung ihre eigenen Charakterfehler nicht so sehr<br />
hervorstechen. Bei ihnen kann vermutet werden, daß eine<br />
gewissenhafte Prüfung der beanstandeten Fragen gerade diese<br />
Fehler zutage bringt. Da unser Ruf nicht der schlechteste war,<br />
waren wir umso bestürzter, als sich herausstellte, daß wir gerade<br />
diese Fehler in unserem Innern unter einer dicken Schicht von<br />
Selbstgerechtigkeit begraben hatten-<br />
Ganz gleich, welche Fehler wir haben, sie gewannen die Überhand<br />
und trieben uns schließlich in den Alkoholismus und in das Elend.<br />
Deswegen sollte Gründlichkeit das Schlüsselwort zu unserer<br />
Inventur sein. Es ist klug, Fragen und Antworten aufzuschreiben.<br />
Das hilft uns, klar zu denken und gewissenhaft zu urteilen. Jetzt<br />
haben wir den ersten greifbaren Beweis unserer völligen<br />
Bereitschaft, diesen Weg weiterzugehen.
<strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong><br />
“Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen<br />
gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.“<br />
Alle zwölf <strong>Schritt</strong>e der Anonymen Alkoholiker empfehlen uns, einen<br />
Weg zu gehen, der uns zunächst überhaupt nicht behagt. Geht es<br />
doch darum, unser überzogenes Ich abzubauen. Dabei ist kaum ein<br />
<strong>Schritt</strong> so mühsam wie der Fünfte. Und kaum ein <strong>Schritt</strong> ist für eine<br />
dauerhafte Nüchternheit und innere Ausgeglichenheit wichtiger.<br />
Die Erfahrung der AA hat uns gelehrt, daß wir nicht allein leben<br />
können mit unseren drückenden Problemen und Charakterfehlern,<br />
die Schwierigkeiten hervorrufen oder bestehende verschlimmern.<br />
Wir haben mit Hilfe des Vierten <strong>Schritt</strong>es unseren Lebenslauf<br />
vorwärts und rückwärts durchleuchtet, und die Erfahrungen, die wir<br />
am liebsten vergessen möchten, traten besonders stark hervor.<br />
Falls wir jetzt erkannt haben, wie unser falsches Denken und<br />
Handeln uns selbst und anderen geschadet hat, wird es um so<br />
dringlicher, daß wir damit aufhören, allein mit den quälenden<br />
Gespenstern von gestern zu leben. Wir müssen mit jemandem<br />
darüber sprechen.<br />
Doch unsere Furcht und unser Widerstreben, dies zu tun, sind so<br />
stark, daß viele AA sich zunächst um den Fünften <strong>Schritt</strong> drücken<br />
wollen. Wir suchen nach einem leichteren Weg, der gewöhnlich in<br />
dem ganz allgemein gehaltenen und ziemlich schmerzlosen<br />
Eingeständnis besteht, daß wir während unseres Trinkens<br />
manchmal schlecht gehandelt haben. Und zum Ausgleich geben wir<br />
zusätzlich eine dramatische Beschreibung der Seite unseres<br />
Trinkverhaltens, die unsere Freunde ohnehin schon kennen.<br />
Aber von den Dingen, die uns wirklich sehr belasten, sprechen wir<br />
nicht. Gewisse peinliche und demütigende Erinnerungen sind nach<br />
unserer Meinung nicht für andere bestimmt. Sie bleiben unser<br />
Geheimnis. Niemand soll etwas davon erfahren. Wir möchten sie<br />
mit ins Grab nehmen.<br />
Wenn die Erfahrungen der AA nützen sollen, dann ist ein solcher<br />
Entschluß nicht nur unklug, sondern geradezu gefährlich. Es gibt<br />
nur wenig in unserem verworrenen Innenleben, das uns mehr
Schwierigkeiten bereitet als die Scheu vor dem Fünften <strong>Schritt</strong>.<br />
Manche bleiben überhaupt nicht trocken, andere haben immer<br />
wieder Rückfälle, bevor sie nicht endlich einen gründlichen<br />
Hausputz gemacht haben. Selbst AA, die jahrelang nüchtern sind,<br />
müssen es oft teuer bezahlen, wenn sie diesen <strong>Schritt</strong><br />
überspringen. Sie können dir erzählen, wie sie versuchten, die Last<br />
allein zu tragen, wie sie unter Reizbarkeit, Angst, Gewissensbissen<br />
und Niedergeschlagenheit gelitten haben, und wie sie unbewußt<br />
Erleichterung suchten, indem sie ihren besten Freunden eben die<br />
Charakterfehler vorwarfen, die sie selbst zu verbergen suchten. Sie<br />
entdeckten jedesmal, daß es keine Erleichterung bringt, anderer<br />
Menschen Inventur zu machen. Jeder muß seine eigenen Fehler<br />
erkennen.<br />
Das Eingestehen der eigenen Fehler anderen gegenüber ist<br />
natürlich ein sehr alter Brauch. Er war jahrhundertelang wirksam<br />
und kennzeichnet das Leben aller wahrhaft gläubigen Menschen,<br />
die ein geistiges Fundament besitzen. Doch heutzutage ist es nicht<br />
mehr die Religion allein, die dieses heilsame Prinzip empfiehlt.<br />
Psychiater und Psychologen betonen, daß es für jeden Menschen<br />
dringend nötig ist, Einblick in seine persönlichen Fehlhaltungen zu<br />
erlangen, sie kennenzulernen und darüber mit verständnisvollen<br />
und vertrauenswürdigen Personen zu reden. Soweit es sich um<br />
Alkoholiker handelt, gehen die AA sogar noch weiter. Die meisten<br />
von uns sind davon überzeugt, daß wir ohne ein furchtloses<br />
Eingeständnis unserer Fehler einem anderen gegenüber nicht<br />
nüchtern bleiben können. Offensichtlich kann die Gnade Gottes uns<br />
nicht erreichen und unsere zerstörende Sucht von uns nehmen, ehe<br />
wir nicht bereit sind, den Fünften <strong>Schritt</strong> zu praktizieren.<br />
Was erwarten wir vom Fünften <strong>Schritt</strong>? Zunächst sollen wir von dem<br />
schrecklichen Gefühl der ständigen Isolation befreit werden.<br />
Alkoholiker leiden fast ausnahmslos unter Einsamkeit. Selbst ehe<br />
unser Trinken sich verschlimmerte und die Leute uns zu meiden<br />
begannen, litten fast alle von uns unter dem Gefühl des<br />
Ausgestoßenseins. Entweder waren wir schüchtern und wagten<br />
nicht, uns anderen anzuschließen, oder wir spielten den lauten<br />
netten Kumpel, der Aufmerksamkeit und Kameradschaft suchte,<br />
aber nie fand - wenigstens nicht so, wie wir es uns vorstellten. Da<br />
stand immer diese geheimnisvolle Schranke, die wir weder<br />
überwinden noch begreifen konnten.
Wir kamen uns wie Schauspieler auf der Bühne vor, die plötzlich<br />
feststellen, daß sie den Text ihrer Rolle vergessen haben. Das ist<br />
einer der Gründe, warum wir dem Alkohol so zugetan waren. Er<br />
nahm uns das Lampenfieber. Aber dann half uns auch Bacchus<br />
nicht mehr weiter; schließlich wurden wir zu Boden geworfen und<br />
blieben in schrecklicher Einsamkeit zurück.<br />
Als wir in der Gemeinschaft der AA zum ersten Mal in unserem<br />
Leben unter Menschen waren, die uns zu verstehen schienen, hat<br />
uns das Gefühl des Dazugehörens tief beeindruckt. Wir glaubten,<br />
das Problem der Einsamkeit sei gelöst. Doch bald wurde uns klar,<br />
daß wir immer noch unter den früheren Qualen des Abseitsstehens<br />
litten, obwohl wir im gesellschaftlichen Sinne nicht mehr allein<br />
waren. Bevor wir nicht offen und ehrlich über unsere Konflikte<br />
gesprochen und aus dem Beispiel der anderen gelernt hatten,<br />
gehörten wir noch nicht dazu. <strong>Der</strong> Fünfte <strong>Schritt</strong> zeigte uns die<br />
Richtung. Er war der Anfang einer echten Beziehung zu den<br />
Menschen und zu Gott.<br />
Durch diesen wichtigen <strong>Schritt</strong> wurde uns langsam bewußt, daß uns<br />
vergeben würde, was wir auch gedacht oder getan hatten. Wenn wir<br />
im Fünften <strong>Schritt</strong> gemeinsam mit unserem Sponsor oder einem<br />
anderen Vertrauten arbeiteten, fühlten wir uns zum ersten Mal fähig,<br />
zu verzeihen, ganz gleich, wie tief wir verletzt worden waren. Durch<br />
unsere innere Inventur gelangten wir zu der Überzeugung, daß<br />
Vergebung nach beiden Seiten erstrebenswert ist. Doch erst, als wir<br />
tatkräftig den Fünften <strong>Schritt</strong> in Angriff nahmen, wußten wir in<br />
unserem Innern, daß wir Verzeihung erhalten und geben können.<br />
Ein anderer großer Gewinn, den wir erwarten dürfen, wenn wir<br />
einem anderen Menschen unsere Fehler eingestehen, ist Demut -<br />
ein oft mißverstandenes Wort. Denjenigen, die durch das AA-<br />
Programm schon Fortschritte gemacht haben, bedeutet Demut die<br />
klare Erkenntnis dessen, was und wer sie sind, verbunden mit dem<br />
ehrlichen Versuch, das zu werden, was sie sein könnten. Unser<br />
erster praktischer <strong>Schritt</strong> zur Demut muß darin bestehen, unsere<br />
Mängel wahrzunehmen. Wir können nur Fehler korrigieren, die wir<br />
klar erkennen, jedoch ist mehr als Einsicht erforderlich. Die<br />
objektive Selbsteinschätzung, die wir im Vierten <strong>Schritt</strong> erreicht<br />
hatten, war schließlich nur ein Einblick. Wir haben zum Beispiel alle<br />
gesehen, daß uns Aufrichtigkeit und Toleranz fehlten und wir
zeitweise Anfälle von Selbstmitleid und Wahnvorstellungen über<br />
unsere Größe hatten. Obwohl dies für uns eine demütigende<br />
Erfahrung war, bedeutete es nicht unbedingt, daß wir schon echte<br />
Demut erreicht hatten. Unsere Fehler waren, obwohl wir sie erkannt<br />
hatten, immer noch vorhanden, und bald fanden wir heraus, daß wir<br />
sie aus eigener Kraft, mit frommen Wünschen und gutem Willen<br />
nicht beseitigen konnten.<br />
Die großen Gewinne aus dem Fünften <strong>Schritt</strong> sind eine<br />
realistischere und deshalb ehrlichere Einstellung uns selbst<br />
gegenüber. Bei der Inventur ahnten wir bereits, wie viele<br />
Schwierigkeiten wir mit der Selbsttäuschung bekämen; das<br />
beunruhigte uns. Das ganze Leben lang hatten wir uns mehr oder<br />
weniger selbst betrogen. Wie konnten wir jetzt sicher sein, daß wir<br />
uns nicht noch weiter täuschten? Wie konnten wir gewiß sein, daß<br />
wir eine ehrliche Liste der Fehler gemacht hatten, die wir zugaben,<br />
sogar uns selbst gegenüber? Noch voller Furcht, Selbstmitleid und<br />
verletzter Gefühle, konnten wir uns vielleicht noch kein klares Urteil<br />
über uns selbst bilden. Zu große Schuld-<br />
und Reuegefühle konnten uns dazu verleiten, unsere Fehler zu<br />
dramatisieren und zu übertreiben. Oder Zorn und verletzter Stolz<br />
bildeten eine Wand, hinter der wir einige unserer Fehler<br />
versteckten, für die wir andere Menschen verantwortlich machten.<br />
Vielleicht lastete auch Schuld auf uns, die uns noch gar nicht<br />
bewußt geworden war. Uns wurde klar, daß es nicht genügte, uns<br />
selbst zu beurteilen und unsere Fehler einzugestehen. Wir<br />
brauchten Hilfe von außen, wenn wir die Wahrheit über uns selbst<br />
erkennen und zugeben sollten - die Hilfe Gottes und die Hilfe eines<br />
anderen Menschen. Nur wenn wir über uns selbst sprachen, nichts<br />
zurückhielten, die Empfehlung<br />
anderer akzeptierten, konnten wir den richtigen Weg betreten, der<br />
zu klarem Denken, zu Ehrlichkeit und zu echter Demut führt.<br />
Viele von uns hielten sich immer noch zurück. Wir dachten: Warum<br />
kann Gott - wie wir Ihn verstehen - uns nicht zu erkennen geben, wo<br />
wir falsch liegen? Wenn der Schöpfer uns schon das Leben<br />
gegeben hat, dann muß er in allen Einzelheiten wissen, wo wir vom<br />
Wege abgekommen sind. Warum können wir Ihm nicht unmittelbar<br />
unsere Fehler eingestehen? Warum sollen wir einen anderen<br />
Menschen einbeziehen?
Jetzt kommen zwei Dinge auf uns zu, die unser richtiges Verhältnis<br />
zu Gott erschweren. Waren wir zunächst über den Gedanken<br />
betroffen, daß Gott alles über uns weiß, so gewöhnten wir uns doch<br />
sehr schnell daran. Mit Gott allein zu sein, scheint uns weniger<br />
peinlich, als anderen Menschen gegenüberzusitzen. Solange wir<br />
uns nicht mit jemandem zusammensetzen und über das sprechen,<br />
was wir so lange verborgen hatten, bleibt unsere Bereitschaft zum<br />
gründlichen Hausputz nur Theorie. Wenn wir einem anderen<br />
Menschen gegenüber ehrlich sind, bestätigt das, daß wir uns selbst<br />
und Gott gegenüber ehrlich waren.<br />
Die zweite Schwierigkeit liegt darin, daß uns Verstand und<br />
Wunschdenken im Wege sind, wenn wir mit uns allein fertig werden<br />
wollen. Im Gespräch mit einem anderen Menschen liegt der Vorteil<br />
darin, sofort seine Meinung und sein Urteil über unsere Lage zu<br />
hören, und wir können verstehen, wie diese Empfehlung gemeint<br />
ist. Ein Alleingang in spirituellen Dingen ist gefährlich. Wie oft hörten<br />
wir, daß wohlmeinende Leute sich auf die Führung Gottes beriefen,<br />
obwohl sie sich ganz offensichtlich schrecklich täuschten. Da es<br />
ihnen an Erfahrung und Demut fehlte, hatten sie sich in Illusionen<br />
verrannt und konnten den blühendsten Unsinn rechtfertigen, als ob<br />
Gott ihnen dies eingegeben hätte. Es sollte festgehalten werden,<br />
daß es Menschen von spiritueller Reife für sehr wichtig halten, mit<br />
Freunden und Ratgebern über die Art, wie sie ihrer Meinung nach<br />
von Gott geführt werden, zu sprechen. Darum sollten Neue sich<br />
nicht der Gefahr aussetzen, auf diesem Gebiet törichte oder<br />
vielleicht sogar tragische Irrtümer zu begehen. Wenn auch<br />
Ansichten und Empfehlungen anderer nicht unbedingt richtig sein<br />
müssen, sind sie doch viel verständlicher als die eigene innere<br />
Führung, unter der wir angeblich stehen, solange wir noch keine<br />
Erfahrung darin haben, den Kontakt zu einer Macht, größer als wir<br />
selbst, herzustellen. Unser nächstes Problem ist, einen Menschen<br />
unseres Vertrauens zu finden. Hier sollten wir darauf bedacht sein,<br />
daß Vorsicht eine Tugend ist, die nicht hoch genug eingeschätzt<br />
werden kann. Möglicherweise müssen wir diesem Menschen<br />
Tatsachen über uns anvertrauen, von denen eigentlich niemand<br />
etwas wissen sollte. Wir wollen mit jemandem sprechen, der<br />
Erfahrung hat, der nicht nur trocken ist, sondern auch andere ernste<br />
Schwierigkeiten bewältigt hat. Dieser Vertraute könnte vielleicht<br />
dein Sponsor sein, muß es aber nicht. Solltest du schon größeres<br />
Vertrauen zu ihm haben und sollten sein Wesen und seine
Lebensprobleme deinen ähnlich sein, ist dies eine gute Wahl.<br />
Außerdem hat dein Sponsor den Vorteil, schon einiges über dich zu<br />
wissen.<br />
Vielleicht ist jedoch deine Beziehung zu ihm so, daß du ihm nur<br />
einen Teil deiner Lebensgeschichte anvertrauen möchtest. Tu es<br />
auf jeden Fall, denn du solltest so schnell wie möglich einen Anfang<br />
machen. Es kann sich auch ergeben, daß du deine schweren und<br />
tiefliegenden Probleme mit jemand anderem besprichst. Das<br />
braucht kein AA zu sein, vielleicht ist es dein Pfarrer oder dein Arzt.<br />
Für manchen von uns mag sich ein vollkommen Fremder als<br />
geeignet erweisen.<br />
Voraussetzung für ein Vorankommen im Fünften <strong>Schritt</strong> ist deine<br />
Bereitschaft zur Offenheit und dein Vertrauen zu den Menschen, mit<br />
denen du deine erste gründliche Selbsterforschung besprichst.<br />
Selbst wenn du diesen Menschen gefunden hast, ist manchmal<br />
noch viel Mut nötig, ihn anzusprechen. Es sollte niemand sagen,<br />
der Lebensweg der AA erfordere keine Willenskraft. Hier ist eine<br />
Gelegenheit, deine ganze Willenskraft einzusetzen. Wenn du dein<br />
Anliegen ausführlich erklärst und dein Vertrauter erkennt, wie er dir<br />
wirklich helfen kann, wird das Gespräch in Gang kommen. Es wird<br />
nicht lange dauern, und dein Zuhörer wird dir sicher die eine oder<br />
andere Geschichte aus seinem Leben erzählen. Wenn du nichts<br />
verheimlichst, wirst du merken, daß es dir von Minute zu Minute<br />
leichter wird. Jahrelang aufgestaute Emotionen<br />
brechen hervor, und wie ein Wunder verschwinden sie, sobald sie<br />
offengelegt werden. Sowie der Schmerz nachläßt, tritt eine heilende<br />
Ruhe ein.<br />
Aus der Verbindung von Demut und Gelassenheit entsteht etwas<br />
Bedeutungsvolles: Manch ein AA, der früher Agnostiker oder Atheist<br />
war, berichtet, daß er in diesem Stadium des Fünften <strong>Schritt</strong>es zum<br />
ersten Mal tatsächlich die Gegenwart Gottes verspürt hat. Und<br />
selbst diejenigen, die einen Glauben hatten, erlebten Gott so<br />
bewußt wie nie zuvor.<br />
Dieses Erlebnis, mit Gott und den Menschen eins geworden zu<br />
sein, diese Befreiung aus der Isolation durch offenes und ehrliches<br />
Bekennen unserer Schuld lassen uns zur Besinnung kommen. Jetzt
können wir uns auf die folgenden <strong>Schritt</strong>e vorbereiten, die uns<br />
weiter auf den Weg zu einer sinnvollen Nüchternheit führen.
<strong>Der</strong> sechste <strong>Schritt</strong><br />
“Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott<br />
beseitigen zu lassen.“<br />
„Dies ist der <strong>Schritt</strong>, der Erwachsene von Kindern unterscheidet",<br />
erklärte ein geschätzter Geistlicher, einer der besten Freunde der<br />
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker. Er begründete das so:<br />
Jeder Mensch, der genug Bereitschaft und Ehrlichkeit aufbringen<br />
kann, um den Sechsten <strong>Schritt</strong> immer wieder und ohne<br />
irgendwelche Vorbehalte auf alle seine Fehler anzuwenden, ist in<br />
seiner geistigen Entwicklung ein gutes Stück vorwärts gekommen.<br />
Er hat Anspruch darauf, ein Erwachsener genannt zu werden, weil<br />
er ernsthaft versucht, zum Ebenbild seines Schöpfers<br />
heranzuwachsen.<br />
Selbstverständlich wird die umstrittene Frage, ob Gott<br />
Charakterfehler beseitigen kann - und unter bestimmten Umständen<br />
auch will -, von fast allen AA prompt bestätigt. Für sie ist es keine<br />
Theorie mehr, sondern eine feststehende Tatsache, die im<br />
Allgemeinen durch Ausführungen wie die folgenden belegt wird.<br />
„Es stimmt, dass ich am Ende und völlig am Boden zerstört war.<br />
Meine eigene Willenskraft versagte gegenüber dem Alkohol. Weder<br />
Ortswechsel noch die größten Bemühungen der Familie, Freunde,<br />
Ärzte und Pfarrer konnten gegen meine Alkoholkrankheit etwas<br />
ausrichten. Ich konnte einfach mit dem Trinken nicht aufhören, und<br />
es schien, als ob niemand anders das für mich tun konnte. Doch als<br />
ich bereit war, mich mit mir auseinander zusetzen und die Höhere<br />
Macht - Gott, wie ich Ihn verstehe - bat, mir zu helfen, war ich von<br />
dem Zwang zum Trinken befreit. Ich brauchte nicht mehr zu<br />
trinken."<br />
In den AA-Meetings auf der ganzen Welt hören wir täglich<br />
ähnliches. Es ist bei nüchternen AA klar zu erkennen, dass ihnen<br />
Befreiung von dieser hartnäckigen und lebensgefährlichen Sucht<br />
zuteil wurde. So sind alle nüchternen AA im wahrsten Sinne des<br />
Wortes „völlig bereit gewesen", die Gier nach Alkohol von Gott<br />
beseitigen zu lassen. Dann hat Gott eingegriffen und genau das<br />
getan.
Nachdem der Zwang zum Trinken von uns genommen wurde,<br />
konnte es möglich sein, dass wir auf die gleiche Art von allen<br />
anderen Schwierigkeiten und Fehlern befreit wurden. Das ist ein<br />
Rätsel unseres Daseins, dessen vollständige Lösung allein bei Gott<br />
liegt. Dennoch wird uns wenigstens ein Teil der Lösung<br />
verständlich.<br />
Wenn Männer und Frauen so viel Alkohol trinken, dass sie dadurch<br />
ihr Leben zerstören, handeln sie wider die Natur. Im Gegensatz zu<br />
ihrem instinktiven Wunsch nach Selbsterhaltung stehen sie<br />
offensichtlich unter einem Zwang zur Selbstzerstörung, sie handeln<br />
gegen ihre Naturinstinkte. Wenn sie durch ihre schrecklichen<br />
Erfahrungen mit dem Alkohol in die Knie gezwungen wurden, kann<br />
Gottes Gnade sie erreichen und die Sucht von ihnen nehmen. Jetzt<br />
kann ihr starker Selbsterhaltungstrieb mit dem Wunsch des<br />
Schöpfers in Einklang gebracht werden, ihnen neues Leben zu<br />
schenken. Denn die Natur und Gott verabscheuen in gleicher Weise<br />
Selbstmord.<br />
Die meisten unserer Schwierigkeiten fallen jedoch nicht in solch<br />
eine Kategorie. Jeder normale Mensch will zum Beispiel essen,<br />
Nachkommen haben und in der Gesellschaft seiner Mitmenschen<br />
etwas darstellen. Er will auch, wenn er danach strebt, einigermaßen<br />
sicher und geschützt sein. So hat Gott ihn geschaffen. Er hat den<br />
Menschen nicht dazu ausersehen, sich durch Alkohol zu zerstören,<br />
sondern ihn mit Instinkten ausgestattet, die ihm helfen zu<br />
überleben. Nirgendwo steht geschrieben, dass unser Schöpfer,<br />
zumindest nicht im Diesseits, von uns erwartet, unsere Triebe<br />
vollkommen zu unterdrücken. Soweit wir wissen, steht es auch<br />
nirgendwo, dass Gott je einem Menschen alle seine Triebe<br />
genommen hat.<br />
Die meisten von uns haben zu viele natürliche Wünsche, und so ist<br />
es nicht verwunderlich, wenn wir damit oft weit über das Ziel<br />
hinausschießen. Wenn wir uns von ihnen blind treiben lassen oder<br />
halsstarrig erwarten, dass die Wünsche uns mehr Befriedigung und<br />
Genuss verschaffen, als uns gutgut, haben wir uns von der<br />
Vollkommenheit entfernt, die Gott für uns auf Erden vorgesehen hat.<br />
Daran werden unsere Charakterfehler oder, wenn man will, unsere<br />
Sünden gemessen.
Wenn wir Gott darum bitten, wird Er uns sicherlich unser<br />
Fehlverhalten vergeben. Aber auf keinen Fall wäscht Er uns weiß<br />
wie Schnee und belässt uns in diesem Zustand, wenn wir nicht<br />
mitarbeiten. <strong>Der</strong> gute Wille, für uns selber etwas zu tun, muss<br />
Voraussetzung sein. Gott erwartet von uns nur, dass wir versuchen,<br />
das Beste zu tun, um Fortschritte bei unserer<br />
Persönlichkeitsveränderung zu machen.<br />
So ist im Sechsten <strong>Schritt</strong>: „Wir waren völlig bereit, all diese<br />
Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen" in der Sprache der<br />
AA die bestmögliche Einstellung für den neuen Anfang eines<br />
lebenslangen Bemühens beschrieben. Das bedeutet nicht, dass alle<br />
unsere Charakterfehler in der gleichen Weise wie der Zwang zum<br />
Trinken von uns genommen werden. Einige Fehler verschwinden<br />
relativ schnell, doch bei den meisten müssen wir uns mit einer<br />
langsamen Besserung zufrieden geben. Die Schlüsselworte „völlig<br />
bereit" unterstreichen die Tatsache, dass wir das Beste anstreben,<br />
das wir erkennen oder lernen können.<br />
Wer von uns ist wirklich völlig bereit? Im Prinzip niemand. Das<br />
Beste, das wir tun können, ist, mit aller Ehrlichkeit zu versuchen,<br />
diese Bereitschaft zu erreichen. Selbst derjenige, der sich die<br />
größte Mühe gibt, wird zu seiner eigenen Beschämung immer<br />
wieder an einem Punkt stecken bleiben, an dem er sagt: "Nein, dies<br />
kann ich noch nicht aufgeben." Und es wird noch gefährlicher, wenn<br />
er mit Nachdruck betont: „Dies will ich niemals aufgeben." Wie weit<br />
wir auch vorangekommen sein mögen, wir werden immer wieder bei<br />
uns Wünsche entdecken, die sich Gottes Gnade entgegenstellen.<br />
Manche, die glauben, schon vorangekommen zu sein, werden das<br />
bestreiten. Darum wollen wir uns noch etwas näher damit befassen.<br />
Sicher möchte jeder gern die auffälligsten Fehler loswerden.<br />
Niemand möchte so eingebildet sein, dass man ihn einen Angeber<br />
nennt, oder so habgierig, dass er zum Dieb wird. Niemand möchte<br />
aus Zorn zum Mörder, aus Lust zum Triebtäter, aus Unmäßigkeit<br />
zum Zerstörer der eigenen Gesundheit werden.<br />
Niemand möchte dauernd von Neidgefühlen gepeinigt sein, und<br />
schließlich will keiner in Schlamperei verkommen. Bei den meisten<br />
Menschen nehmen diese Fehler nicht solche Ausmaße an. Wir, die<br />
wir nicht so tief gesunken sind, können uns gratulieren. Doch
können wir das wirklich? War es nicht reiner Egoismus, der uns<br />
davor bewahrte, so tief zu sinken? Große geistige Fälligkeiten sind<br />
nicht nötig, um Dinge nicht zu tun, für die man bestraft wird. Wenn<br />
wir aber noch nicht so tief gesunken waren, wo stehen wir dann?<br />
Worüber wir uns jetzt klar werden müssen, ist, dass wir an einigen<br />
dieser Fehler Spaß haben. Wir kokettieren sogar damit. Wer zum<br />
Beispiel möchte den anderen nicht ein bisschen oder gar weit<br />
überlegen sein? Stimmt es nicht, dass wir unsere Habgier hinter der<br />
Maske von Strebsamkeit verbergen? Den Gedanken, sexbesessen<br />
zu sein, weisen wir weit von uns.<br />
Viele Männer und Frauen reden von Liebe und meinen etwas ganz<br />
anderes. Ihre wahren Absichten verbergen sie. Und selbst<br />
Menschen, die sich für moralisch halten, haben sexuelle<br />
Phantasien, in die geheime Wünsche einfließen.<br />
Sogar selbstgerechten Zorn kann man genießen. In einer<br />
unnatürlichen Weise können wir dadurch Befriedigung erfahren,<br />
dass uns viele nicht mögen, denn wir empfinden dabei ein<br />
wohltuendes Überlegenheitsgefühl. Klatsch, gespickt mit<br />
moralischer Entrüstung, ist eine gängige Art des Rufmordes, der<br />
auch für uns seine Reize hat. Hier versuchen wir nicht, denen zu<br />
helfen, die wir kritisieren. Wir versuchen nur, unsere eigene<br />
Rechtschaffenheit hervorzuheben.<br />
Wenn Unmäßigkeit nicht gerade zur Zerstörung führte, sprechen wir<br />
mit einem milderen Wort gern vom gehobenen Lebensstandard. Wir<br />
leben in einer Welt voller Neid. Mehr oder weniger ist jeder davon<br />
angesteckt. Irgendwie gibt der Neid uns sogar noch eine gewisse<br />
Befriedigung. Warum würden wir sonst so viel Zeit aufwenden, uns<br />
Dinge zu wünschen, die wir nicht haben, statt dafür zu arbeiten.<br />
Warum ärgern wir uns über den Mangel an Vorzügen, die wir nie<br />
haben werden, statt die Tatsachen hinzunehmen, wie sie sind? Wie<br />
oft arbeiten wir hart aus dem einzigen Grund, später ein sicheres<br />
und sorgenfreies Leben führen zu können, und nennen das dann<br />
den wohlverdienten Ruhestand? Oder betrachten wir unser<br />
wunderbares Talent, Dinge hinauszuzögern: Das kann man kürzer<br />
auch mit Faulheit bezeichnen. Fast jeder könnte eine Liste von<br />
solchen Charakterfehlern aufstellen. Doch nur wenige würden<br />
ernsthaft daran denken, sie abzulegen, es sei denn, sie geraten<br />
dadurch in äußerste Schwierigkeiten.
Natürlich sind manche Menschen bereit, alle diese Fehler<br />
beseitigen zu lassen. Selbst wenn sie eine Liste mit leichteren<br />
Fehlern aufstellen, werden sie zugeben müssen, dass sie einige<br />
gern beibehalten würden. Offensichtlich sind nur wenige von uns<br />
bereit, schnell oder leicht geistige und moralische Vollkommenheit<br />
anzustreben. Uns genügt soviel Vollkommenheit, wie uns für unser<br />
Leben ausreichend erscheint, je nach unseren merkwürdigen<br />
Vorstellungen von dem, was wir unter ausreichend verstehen. So<br />
liegt der Unterschied zwischen dem unreifen Kind und dem reifen<br />
Erwachsenen darin, ob nach einem selbstbestimmten Ziel gestrebt<br />
wird oder nach dem vollkommenen Ziel, das bei Gott ist. Viele<br />
werden sofort fragen: „Wie können wir den Sechsten <strong>Schritt</strong> mit all<br />
seinen Auswirkungen annehmen? Warum überhaupt, das wäre ja<br />
Vollkommenheit?" Das hört sich zwar schwierig an, ist es aber in<br />
Wirklichkeit nicht. Nur den Ersten <strong>Schritt</strong>, in dem wir aus tiefster<br />
Überzeugung unsere Machtlosigkeit dem Alkohol gegenüber<br />
zugeben, vollziehen wir vollkommen und bedingungslos. Die<br />
übrigen elf <strong>Schritt</strong>e sind Idealvorstellungen. Sie sind<br />
erstrebenswerte Ziele und Maßstäbe, an denen wir unseren<br />
Fortschritt messen. So gesehen ist der Sechste <strong>Schritt</strong> zwar<br />
schwierig, aber durchführbar. Es ist dringend notwendig, einen<br />
Anfang zu machen und es immer wieder zu versuchen.<br />
Wenn wir aus diesem <strong>Schritt</strong> einen wirklichen Nutzen für die Lösung<br />
von Schwierigkeiten, die mit Alkohol nichts zu tun haben, ziehen<br />
wollen, müssen wir uns mutig zur Aufgeschlossenheit durchringen.<br />
Wir sollten Vollkommenheit anstreben und bereit sein, diesen Weg<br />
weiterzugehen. Ob wir dabei langsam vorgehen, spielt keine Rolle,<br />
wichtig ist nur: „Sind wir bereit?" Wir kommen noch einmal zurück<br />
auf die Fehler, die wir nur ungern aufgeben wollen. Das sollten wir<br />
nicht vergessen, aber wir sollten nicht so streng mit uns sein.<br />
Vielleicht müssen wir manchmal noch sagen: „Dies kann ich noch<br />
nicht aufgeben", doch sollten wir niemals sagen: „Dies will ich nie<br />
aufgeben." Was wird wohl geschehen, wenn wir uns noch eine<br />
Hintertür offen lassen? Uns wird empfohlen, Vollkommenheit<br />
anzustreben, wobei einige Verzögerungen durchaus entschuldbar<br />
sind. Das Wort Verzögerung könnte von einem durchtriebenen<br />
Alkoholiker als Ausrede für langfristigen Aufschub missbraucht<br />
werden. Er könnte sagen: „Wie leicht! Selbstverständlich will ich<br />
Vollkommenheit anstreben, doch bestimmt werde ich mich nicht
übereilen. Möglicherweise kann ich einige meiner Probleme auf die<br />
lange Bank schieben." So geht es natürlich nicht. Solch ein<br />
Selbstbetrug muss genauso aufgegeben werden wie viele andere<br />
Ausreden. Mindestens sollten wir einige unserer ärgsten Fehler in<br />
Angriff nehmen und uns um schnelle Beseitigung bemühen.<br />
In dem Augenblick, in dem wir sagen: „Nein, niemals", verschließen<br />
wir uns der Gnade Gottes. Jede Verzögerung ist gefährlich, und<br />
Auflehnung<br />
kann verhängnisvoll werden. Erst wenn wir diesen „Nein-niemals-<br />
Standpunkt" aufgeben, können wir erkennen, was Gott mit uns im<br />
Sinn hat.
<strong>Der</strong> Siebte <strong>Schritt</strong><br />
“Demütig baten wir ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.“<br />
Da dieser <strong>Schritt</strong> sich besonders mit der Demut befasst, sollten wir<br />
hier innehalten und darüber nachdenken, was Demut ist und was es<br />
bedeutet, demütig zu sein.<br />
Alle zwölf <strong>Schritt</strong>e der Anonymen Alkoholiker sind auf das Wachsen<br />
in der Demut ausgerichtet, denn ohne Demut kann kein Alkoholiker<br />
nüchtern bleiben. Die meisten AA wissen, dass die Aussichten auf<br />
zufriedene Nüchternheit gering sind, wenn sie diese positive<br />
Eigenschaft nicht weiter entwickeln, als es für die Trockenheit nötig<br />
ist. Ohne Demut können die Anonymen Alkoholiker nicht sinnvoll<br />
leben, und bei Schwierigkeiten können sie nicht den Glauben<br />
aufbringen, der sich in jeder Gefahr bewährt.<br />
Demut als Begriff und als Ideal ist in unserer Zeit nicht gefragt. Nicht<br />
nur die Bedeutung wird missverstanden, auch gegen das Wort<br />
Demut besteht eine starke Abneigung. Viele Menschen wissen nicht<br />
recht, was Demut im Leben bedeutet. Vieles von dem, was wir<br />
täglich hören und lesen, verherrlicht des Menschen Stolz über seine<br />
eigenen Errungenschaften.<br />
Mit großer Intelligenz haben die Wissenschaftler die Natur<br />
gezwungen, ihre Geheimnisse preiszugeben. Die riesigen<br />
Bodenschätze, die jetzt genutzt werden, versprechen eine solche<br />
Fülle materieller Segnungen, dass viele bereits glauben, ein von<br />
Menschen geschaffenes Jahrtausend läge vor uns. Die Armut wird<br />
verschwinden, und es wird ein derartiger Überfluss herrschen, dass<br />
jeder ein gesichertes Leben und die Erfüllung aller seiner<br />
persönlichen Wünsche finden wird. Die Theorie sieht scheinbar so<br />
aus, dass es keinen Grund mehr für Schwierigkeiten gibt, wenn die<br />
Grundbedürfnisse eines jeden Menschen befriedigt sind. Die<br />
Menschheit wird dann glücklich und frei sein, um sich auf Kultur und<br />
Ethik zu konzentrieren. Nur durch eigene Intelligenz und Arbeit<br />
werden die Menschen ihr Schicksal gestalten.<br />
Kein Alkoholiker und gewiss kein Anonymer mindert materielle<br />
Errungenschaften herab. Wir streiten uns auch nicht mit den vielen,<br />
die noch so leidenschaftlich an der Überzeugung festhalten, dass<br />
die Befriedigung der natürlichen Grundbedürfnisse der eigentliche
Zweck des Lebens ist. Aber eines wissen wir mit Sicherheit, dass<br />
keine Schicht unserer Gesellschaft, die nach diesem Prinzip zu<br />
leben versucht, ein größeres Durcheinander angerichtet hat als<br />
Alkoholiker. Leute wie wir haben seit Jahrtausenden immer mehr<br />
Sicherheit, Prestige und Verehrung gefordert, als ihnen zustand.<br />
Wenn wir scheinbar Erfolg hatten, tranken wir, damit der Traum<br />
noch großartiger wurde. Bei der geringsten Enttäuschung tranken<br />
wir, um zu vergessen. Es gab nie genug von dem, was wir nach<br />
unserer Meinung brauchten.<br />
Alle unsere manchmal sogar ernstgemeinten Bemühungen<br />
scheiterten an fehlender Demut. Wir wussten nicht, dass<br />
charakterliche und spirituelle Werte Vorrang haben müssen und<br />
dass die Befriedigung der materiellen Wünsche nicht der Sinn des<br />
Lebens ist. Es war ganz charakteristisch für uns, dass wir die Ziele<br />
mit dem Weg verwechselten. Statt die Befriedigung unserer<br />
materiellen Wünsche als Mittel zum Leben zu betrachten, haben wir<br />
darin den Hauptsinn unseres Lebens gesehen.<br />
Wir wussten wohl, dass es schön wäre, einen guten Charakter zu<br />
haben. Offenbar brauchten wir ihn aber nur zu unserer eigenen<br />
Selbstzufriedenheit. Mit der richtigen Zurschaustellung von<br />
Ehrlichkeit und Moral glaubten wir das zu erreichen, was wir haben<br />
wollten. Hatten wir aber die Wahl zwischen der Arbeit an uns selbst<br />
und unserer Bequemlichkeit, gingen wir bei der Jagd nach dem,<br />
was wir unter Glück verstanden, den bequemeren Weg. Selten<br />
strebten wir unsere Charakterbildung ohne Hintergedanken an.<br />
Niemals dachten wir daran, Ehrlichkeit, Toleranz und wirkliche Liebe<br />
zu Menschen und Gott zur täglichen Grundlage unseres Lebens zu<br />
machen.<br />
Dieses Fehlen einer echten Beziehung zu dauerhaften Werten und<br />
diese Blindheit gegenüber dem wahren Sinn unseres Lebens<br />
führten noch zu einem anderen schlechten Ergebnis: Solange wir<br />
überzeugt waren, wir könnten ausschließlich aus eigener Kraft und<br />
Intelligenz leben, so lange war uns ein wirksamer Glaube an eine<br />
Höhere Macht versperrt. Das traf auch dann noch zu, wenn wir an<br />
die Existenz Gottes glaubten. Selbst wenn wir tatsächlich eine<br />
religiöse Überzeugung hatten, blieb sie unfruchtbar, weil wir immer<br />
noch selbst Gott spielen wollten.
Solange wir die eigene Kraft an die erste Stelle setzten, war an ein<br />
echtes Vertrauen in eine Höhere Macht überhaupt nicht zu denken.<br />
Es fehlte der wichtigste Bestandteil der Demut: Gottes Willen zu<br />
erkennen und ihn auszuführen.<br />
Für uns war es unglaublich mühevoll, eine neue Richtung zu<br />
erkennen. Nur durch wiederholte Demütigungen wurden wir<br />
gezwungen, etwas über Demut zu lernen. Erst am Ende eines<br />
langen Weges, markiert mit vielen Niederlagen und Demütigungen,<br />
und nach der Zerstörung unserer eigenen Überheblichkeit ahnten<br />
wir, dass Demut etwas anders ist als ein Zustand kriecherischer<br />
Verzweiflung. Jedem Neuen wird bei den Anonymen Alkoholikern<br />
gesagt - und er stellt es bald fest -, dass sein demütiges<br />
Eingeständnis der Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol der erste<br />
<strong>Schritt</strong> zur Befreiung aus dem würgenden Griff ist.<br />
So sehen wir zum ersten Mal die Demut als eine Notwendigkeit.<br />
Aber das ist nur der Anfang. Viele brauchen lange, bis sie ihren<br />
Widerstand gegen die Demut völlig aufgeben, bis sie in der Demut<br />
den wahren Weg zur Freiheit des menschlichen Geistes sehen und<br />
bis sie merken, dass Demut erstrebenswert ist. Ein ganzes Leben,<br />
das nur auf Egozentrik ausgerichtet war, kann nicht mit einem Griff<br />
umgestellt werden. Anfangs tun wir uns mit jedem <strong>Schritt</strong> schwer.<br />
Wenn wir schließlich ohne Einschränkungen zugegeben haben,<br />
dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind, atmen wir befreit<br />
auf und sagen: „Gott sei Dank, das ist vorbei. Das brauche ich nicht<br />
wieder durchzumachen." Zu unserer Bestürzung lernen wir dann,<br />
dass dies nur der erste Meilenstein auf unserem neuen Wege ist.<br />
Notgedrungen und widerstrebend gehen wir daran, die schlimmsten<br />
Charakterfehler, die mit Ursache für unser Trinken waren, zu<br />
beseitigen. Sie müssen überwunden werden, damit wir nicht in den<br />
Alkoholismus zurückfallen.<br />
Einige dieser Fehler möchten wir loswerden, doch manchmal<br />
scheuen wir uns vor dieser Arbeit. Und an andere Fehler, die<br />
genauso unser inneres Gleichgewicht bedrohen, klammern wir uns<br />
hartnäckig, weil wir sie noch zu sehr genießen. Wie können wir<br />
unter diesen Umständen bereit und willig werden, solchen<br />
übermächtigen Versuchungen zu widerstehen?<br />
Und wieder werden wir angespornt durch die unwiderlegbaren<br />
Erfahrungen der AA, dass wir es wirklich mit ganzer Willenskraft
versuchen müssen, wenn wir nicht auf halbem Wege stehen bleiben<br />
wollen. In diesem Stadium unserer Entwicklung stehen wir unter<br />
starkem Druck und Zwang, das Richtige zu tun. Wir müssen wählen<br />
zwischen mühsamen Anstrengungen und den unausbleiblichen<br />
Folgen, wenn wir nichts tun. Diesen ersten <strong>Schritt</strong> auf dem neuen<br />
Wege gehen wir wider willig, doch wir gehen ihn.<br />
Wir mögen zwar immer noch keine hohe Meinung von der Demut<br />
als erstrebenswerter Tugend haben, doch wir haben eingesehen,<br />
dass Demut für uns zum Überleben notwendig ist.<br />
Haben wir einige unserer Charakterfehler ehrlich betrachtet, sie mit<br />
einem anderen besprochen, und wurden wir bereit, sie beseitigen<br />
zu lassen, dann wird unser Verständnis für die Demut umfassender.<br />
Jetzt haben wir höchstwahrscheinlich schon eine fühlbare Befreiung<br />
von den drückendsten Fehlern erlangt. Es gibt bereits Augenblicke,<br />
in denen wir wirklich inneren Frieden empfinden. Für diejenigen von<br />
uns, die bisher nur Aufregung, Depression oder Angst gekannt<br />
haben - mit anderen Worten für alle von uns -, bedeutet dieser<br />
neugefundene innere Friede ein unschätzbares Geschenk. Ganz<br />
sicher ist etwas Neues in unser Leben getreten. Während wir uns<br />
früher unter Demut nur ein Zu-Kreuze-Kriechen vorstellten, bedeutet<br />
sie uns jetzt eine Kraftquelle für unsere Gelassenheit.<br />
Mit diesem besseren Verständnis für die Demut wird eine<br />
umwälzende Veränderung unserer Lebensauffassung eingeleitet.<br />
Wir bekommen einen neuen Blick für die unendlichen Werte, die<br />
aus dem schmerzhaften Eingriff in unser Ego erwachsen. Bis jetzt<br />
war unser Leben meist nur eine Flucht vor Menschen und<br />
Schwierigkeiten. Wir flohen vor ihnen wie vor der Pest. Mit Leiden<br />
wollten wir nichts zu tun haben. <strong>Der</strong> Fluchtweg über die Flasche war<br />
immer unsere Lösung. Charakterformung durch Leiden mochte<br />
etwas für Heilige sein, doch gewiss nichts für uns.<br />
Dann haben wir uns bei den AA umgeschaut und zugehört. Um uns<br />
herum sahen wir, wie durch Demut Fehlhaltungen und Elend in<br />
unschätzbares Vermögen umgewandelt wurden. Aus zahllosen<br />
Geschichten erfuhren wir, wie durch Demut Schwäche zu Kraft<br />
wurde. In jedem Fall war Leid der Eintrittspreis in das neue Leben.<br />
Aber mit diesem Eintrittspreis konnten wir mehr erwerben, als zu<br />
erwarten war. Er brachte uns das Maß an Demut, das wir zu
unserer Genesung brauchten. Wir fürchteten die Mühe immer<br />
weniger und wünschten, demütiger zu werden.<br />
<strong>Der</strong> wertvollste Gewinn aus diesem Lernprozess über die Demut<br />
war unsere veränderte Einstellung zu Gott. Und sie veränderte sich<br />
wirklich, ob wir gläubig oder ungläubig waren. Wir lösten uns von<br />
dem Gedanken, die Höhere Macht sei eine Art Ersatzmann, den<br />
man nur im Notfall ins Spiel nimmt. Die Ansicht, wir könnten unser<br />
Leben aus eigener Kraft meistern, wenn Gott uns ab und zu helfen<br />
würde, verschwand allmählich. Viele, die sich für religiös hielten,<br />
erkannten, wie unvollkommen diese Einstellung war. Da wir Gott<br />
nicht an die erste Stelle setzen wollten, blieb uns Seine Hilfe<br />
versagt. Jetzt konnten wir das Bibelwort „Aus mir selbst bin ich<br />
nichts, der Vater ist es, der die Werke tut" als Versprechen und<br />
Zusage verstehen.<br />
Wir sahen ein, dass es nicht immer notwendig ist, in die Demut<br />
geprügelt zu werden. Wir konnten sie ebenso durch freiwilliges<br />
Suchen wie durch ständiges Leiden erlangen. Es war ein<br />
Wendepunkt in unserem Leben, als wir die Demut suchten, weil wir<br />
sie begehrten, und nicht, weil wir sie unbedingt haben mussten.<br />
Jetzt endlich verstanden wir die volle Bedeutung des Siebten<br />
<strong>Schritt</strong>es: „Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu<br />
nehmen."<br />
Wenn wir nun anfangen, den Siebten <strong>Schritt</strong> wirklich zu praktizieren,<br />
mag es für uns AA angebracht sein, unsere eigentlichen Ziele noch<br />
einmal zu erforschen. Jeder von uns möchte in Frieden mit sich und<br />
seinen Mitmenschen leben. Wir möchten sicher sein, dass Gottes<br />
Gnade für uns das tut, was wir selbst nicht können. Wir haben<br />
erkannt, dass Charakterfehler, die aus kurzsichtigen und<br />
unbescheidenen Wünschen erwachsen, Hindernisse auf dem Wege<br />
zu jenen Zielen sind. Wir sehen jetzt ganz klar, dass wir unbillige<br />
Forderungen an uns, an andere und an Gott gestellt haben. Die<br />
Haupttriebkraft unserer Charakterfehler war egoistische Furcht,<br />
Furcht, etwas zu verlieren, was wir bereits besaßen, oder etwas<br />
nicht zu bekommen, was wir uns wünschten. Wir lebten mit<br />
unerfüllbaren Forderungen. Wir waren in einem Zustand ständiger<br />
Verwirrung und Enttäuschung. Darum konnten wir keinen Frieden<br />
finden, ehe wir nicht den Weg entdeckt hatten, diese Forderungen
abzubauen. <strong>Der</strong> Unterschied zwischen einer Forderung und einem<br />
einfachen Wunsch ist jedem klar.<br />
Mit dem Siebten <strong>Schritt</strong> ändern wir unsere Einstellung. Mit Hilfe der<br />
Demut treten wir aus der Enge unseres Ichs hin zu den anderen<br />
und hin zu Gott. Die Betonung des Siebten <strong>Schritt</strong>es liegt auf<br />
Demut. Es wird uns klar gesagt, dass wir bei der Überwindung<br />
unserer anderen Fehler mit derselben inneren Bereitschaft die<br />
Demut erproben, mit der wir damals zugaben, dass wir dem Alkohol<br />
gegenüber machtlos waren und zu dem Glauben gelangten, dass<br />
nur eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige<br />
Gesundheit wiedergeben kann. Wenn wir durch dieses Maß der<br />
Demut die Gnade fanden, unsere tödliche Sucht zum Stillstand zu<br />
bringen, dann muss es auch Hoffnung geben, durch die Demut alle<br />
anderen möglichen Schwierigkeiten zu überwinden.
<strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong><br />
“Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden<br />
zugefügt hatten, und wurden willig, ihn bei allen wieder gut zu<br />
machen.“<br />
Beim Achten und beim Neunten <strong>Schritt</strong> geht es um mitmenschliche<br />
Beziehungen. Zuerst schauen wir zurück und versuchen<br />
festzustellen, wo wir Fehler gemacht haben. Als nächstes bemühen<br />
wir uns, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Und<br />
drittens überlegen wir, nachdem wir den Scherbenhaufen der<br />
Vergangenheit beseitigt haben, wie wir mit der neugewonnenen<br />
Erkenntnis über uns selbst am besten mit unseren Mitmenschen<br />
zurechtkommen können.<br />
Das ist ein sehr großes Vorhaben, bei dessen Durchführung wir<br />
immer geübter werden. Aber fertig werden wir damit nie. Es ist ein<br />
aufregendes und spannendes Abenteuer zu lernen, wie man mit<br />
allen Menschen in Frieden, Partnerschaft und Brüderlichkeit leben<br />
kann. Jeder Anonyme Alkoholiker hat erfahren, dass er wenig<br />
vorankommt, bevor er nicht Rückschau hält und eine genaue und<br />
schonungslose Übersicht über sein menschliches Versagen<br />
gewinnt.<br />
Bis zu einem gewissen Grad hat er das schon bei seiner inneren<br />
Inventur gemacht, doch jetzt ist es an der Zeit, seine Anstrengungen<br />
zu verdoppeln, um herauszufinden, in welchem Umfang und auf<br />
welche Weise er anderen Menschen geschadet hat. Dieses<br />
Wiederaufreißen seelischer Wunden, von denen manche alt,<br />
manche vergessen sind, andere noch schmerzen, erscheint auf den<br />
ersten Blick wie eine sinn- und zwecklose Operation. Wenn der<br />
Anfang aber gemacht ist, werden sich die großen Vorzüge dieses<br />
<strong>Schritt</strong>es bald zeigen.<br />
<strong>Der</strong> Schmerz lässt nach, wenn ein Hindernis nach dem anderen<br />
beiseite geräumt wird.<br />
Diese Hindernisse sind tatsächlich vorhanden. Das erste und<br />
eigentlich das schwierigste hat mit Vergebung zu tun. Wenn wir<br />
über eine gestörte oder zerbrochene Beziehung zu einem anderen<br />
Menschen nachdenken, gehen unsere Gefühle in Abwehr. Wir<br />
vermeiden den Rückblick auf das, was wir einem anderen angetan
haben: stattdessen stellen wir übelnehmerisch sein Fehlverhalten<br />
uns gegenüber in den Vordergrund. Das geschieht vor allem dann,<br />
wenn der andere sich uns gegenüber wirklich schlecht benommen<br />
hat.<br />
Triumphierend messen wir uns an seinem schlechten Benehmen<br />
und haben eine perfekte Entschuldigung, um unser eigenes<br />
Verhalten zu verniedlichen oder zu vergessen.<br />
An diesem Punkt müssen wir uns schwer zusammenreißen. Es<br />
bringt nichts, wenn ein Esel den anderen Langohr nennt. Wir dürfen<br />
nicht vergessen, dass Alkoholiker nicht die einzigen Menschen mit<br />
einem gestörten Innenleben sind. Darüber hinaus ist es eine<br />
Tatsache, dass durch unser Trinken die Fehler anderer schlimmer<br />
geworden sind. Wir haben wiederholt die Geduld unserer Freunde<br />
auf eine Zerreißprobe gestellt und haben sogar Leute provoziert,<br />
denen wir im Grunde genommen gleichgültig waren. In manchen<br />
Fällen hatten wir es wirklich mit kranken Menschen zu tun, deren<br />
Leid wir noch verschlimmerten. Wenn wir jetzt bereit sind, für uns<br />
um Vergebung zu bitten, warum sollten wir nicht damit beginnen,<br />
anderen zu verzeihen?<br />
Wenn wir die Namen der Menschen aufschreiben, die wir gekränkt<br />
haben, baut sich ein anderes großes Hindernis vor uns auf. Wir<br />
bekamen einen ziemlichen Schock bei dem Gedanken, vor<br />
Menschen, die wir gekränkt hatten, unser Fehlverhalten<br />
eingestehen zu müssen. Es war schon peinlich genug, als wir Gott,<br />
uns selbst und einem anderen Menschen unverhüllt diese Dinge<br />
eingestanden. <strong>Der</strong> Gedanke aber, dass wir die betroffenen<br />
Menschen auch selbst besuchen oder ihnen sogar schreiben<br />
sollten, machte uns schwer zu schaffen, besonders wenn wir daran<br />
dachten, wie schlecht die meisten auf uns zu sprechen waren. Es<br />
gab auch Fälle, wo wir andere geschädigt hatten, die<br />
glücklicherweise noch nichts davon wussten. Warum sollten wir die<br />
Vergangenheit nicht ruhen lassen? Warum sollten wir überhaupt an<br />
diese Menschen denken? Auf diese Weise hinderte uns Furcht,<br />
vermischt mit Stolz, alle Menschen auf die Liste zu setzen, denen<br />
wir Schaden zugefügt hatten.<br />
Einige sind aber noch über ein anderes Hindernis gestolpert. Wir<br />
klammerten uns daran, dass unser Trinken nur uns selbst<br />
geschadet hat. Unsere Familien hatten nicht zu leiden, weil wir
immer die Rechnungen bezahlten und selten daheim tranken.<br />
Unsere Chefs und Arbeitskollegen sind nicht benachteiligt worden,<br />
denn wir waren meistens da. Unser Ruf hatte nach unserer Ansicht<br />
nicht gelitten, weil wir überzeugt waren, dass nur wenige von<br />
unserem Trinken wussten. Und die über uns Bescheid wussten,<br />
sagten: Wer niemals einen Rausch gehabt, das ist kein rechter<br />
Mann. Was hatten wir denn schon angerichtet?<br />
Nicht viel mehr, als wir mit einigen gelegentlichen Entschuldigungen<br />
leicht wiedergutmachen konnten.<br />
Diese Haltung ist natürlich das Endergebnis eines vorsätzlichen<br />
Vergessens. Sie ändert sich erst, wenn wir unsere Motive und<br />
Handlungen gründlich und ehrlich untersuchen.<br />
Obwohl in manchen Fällen Wiedergutmachung unmöglich ist und in<br />
anderen Fällen aufgeschoben werden muss, sollten wir trotzdem<br />
einen genauen und wirklich erschöpfenden Rückblick über unsere<br />
Vergangenheit gewinnen, soweit wir anderen Menschen Schaden<br />
zugefügt haben. Dabei werden wir manchmal feststellen, dass der<br />
Schaden, den wir anderen zugefügt haben, nicht so groß war wie<br />
der seelische Schaden, den wir uns selbst antaten. In unserem<br />
Unterbewusstsein wirken sehr tief, manchmal längst vergessen,<br />
schwerwiegende seelische Konflikte weiter. Diese Vorkommnisse<br />
haben in unserem Gefühlsleben möglicherweise eine gewaltsame<br />
Störung hervorgerufen, so dass unsere Persönlichkeit entstellt<br />
wurde und sich unser Leben zum Schlechten gewendet hat.<br />
Wenn es auch unser Ziel bleiben muss, bei anderen Menschen<br />
wieder gut zu machen, so ist es ebenso notwendig, aus einer<br />
gründlichen Erforschung unserer persönlichen Beziehungen so<br />
viele Erkenntnisse wie möglich über uns selbst und unsere größten<br />
Schwierigkeiten zu gewinnen. Da gestörte mitmenschliche<br />
Beziehungen fast immer die Ursache unseres Elends einschließlich<br />
unserer Alkoholkrankheit waren, kann die Erforschung keines<br />
Gebietes uns wichtigere und wertvollere Aufschlüsse bringen als<br />
dieses. Ruhiges und besinnliches Überdenken unserer persönlichen<br />
Beziehungen kann unsere Einsicht vertiefen.<br />
Wir können dann viel tiefer in das eindringen, was bei uns nicht in<br />
Ordnung ist. Wir können die Schwächen im Fundament unseres<br />
Charakters ausfindig machen, die oft den ganzen Ablauf unseres
Lebens bestimmt haben. So viel wissen wir schon: Gründlichkeit<br />
zahlt sich aus - und das nicht schlecht.<br />
Vielleicht fragen wir uns als nächstes: Was meinen wir, wenn wir<br />
sagen, wir hätten anderen Menschen Schaden zugefügt? Wie<br />
schädigen sich Menschen eigentlich gegenseitig? Um den Begriff<br />
„einander Schaden zufügen" konkret zu definieren, wollen wir ihn<br />
als das Ergebnis eines gestörten Gefühlslebens betrachten, das<br />
beim Menschen körperliches, spirituelles und seelisches<br />
Fehlverhalten hervorruft. Wenn wir ständig schlecht gelaunt sind,<br />
verärgern wir andere. Wenn wir lügen oder betrügen, nehmen wir<br />
anderen nicht nur materielle Dinge ab, sondern bringen sie<br />
ebenfalls um ihre innere Sicherheit und seelische Ausgeglichenheit.<br />
Wir fordern sie geradezu heraus, geringschätzig von uns zu denken<br />
und sich an uns zu rächen. Wenn unser sexuelles Verhalten<br />
egoistisch ist, kann das Eifersucht, Kummer und den starken<br />
Wunsch nach Vergeltung erwecken.<br />
Diese Aufzählung groben Fehlverhaltens ist keineswegs eine<br />
vollständige Liste der Schäden, die wir angerichtet haben. Wir<br />
wollen einmal an die kleineren Verfehlungen denken, die manchmal<br />
genau so viel Schaden verursachen können. Angenommen, wir sind<br />
unserer Familie gegenüber geizig, verantwortungslos oder<br />
gefühlskalt. Angenommen, wir sind launisch, nörglerisch,<br />
ungeduldig und humorlos. Angenommen, wir verwöhnen ein<br />
Mitglied der Familie ganz besonders und vernachlässigen dabei die<br />
anderen. Was geschieht, wenn wir versuchen, die gesamte Familie<br />
zu tyrannisieren entweder durch ein eisernes Regiment oder durch<br />
ständiges Erteilen von Anweisungen, was unsere Angehörigen zu<br />
jeder Stunde zu tun haben? Was geschieht, wenn wir uns in<br />
Depressionen wälzen und uns das Selbstmitleid aus allen Poren<br />
trieft, so dass alle Menschen unserer Umgebung darunter leiden?<br />
Eine derartige Aufzählung von Unrecht, das wir anderen angetan<br />
haben und das ihnen das tägliche Zusammenleben mit einem<br />
trinkenden Alkoholiker so schwer und unerträglich gemacht hat,<br />
könnte beliebig erweitert werden. Nehmen wir diese Fehlhaltungen<br />
mit in unser berufliches oder gesellschaftliches Leben, so können<br />
sie dort fast ebensoviel Schaden anrichten wie zu Hause.<br />
Nachdem wir sorgfältig unsere mitmenschlichen Beziehungen<br />
erforscht und genau die Charaktereigenschaften bei uns festgestellt
haben, durch die wir andere kränkten und schädigten, können wir<br />
jetzt in unserem Gedächtnis nach Menschen stöbern, die wir<br />
verletzt haben. Es dürfte nicht schwer sein, den Finger auf ganz<br />
frische und ganz tiefe Wunden zu legen. Dann können wir Jahr um<br />
Jahr, soweit die Erinnerung reicht, in unserem Leben zurückgehen<br />
und werden ganz sicher eine lange Liste derer<br />
zusammenbekommen, die wir mehr oder weniger geschädigt<br />
haben. Natürlich sollten wir jedes Vorkommnis sorgfältig<br />
überdenken und abwägen. Wir sollten versuchen, uns dabei an die<br />
Regel zu halten, dass wir das, was wir anderen angetan haben,<br />
zugeben, dass wir aber gleichzeitig alles Unrecht, das wir wirklich<br />
oder vermeintlich erlitten haben, vergeben. Wir sollten mit uns<br />
selbst und anderen nicht zu streng ins Gericht gehen. Wir dürfen<br />
weder unsere noch ihre Fehler übertrieben sehen. Unser ständiges<br />
Bemühen sollte dabei eine ruhige und objektive Betrachtung sein.<br />
Und sollte unsere Hand beim Schreiben zittern, können wir aus dem<br />
Gedanken neue Kraft schöpfen, was andere Anonyme Alkoholiker<br />
aus diesem <strong>Schritt</strong> erfahren haben. <strong>Der</strong> Achte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang<br />
vom Ende unserer Isolation von unseren Mitmenschen und von<br />
Gott.
<strong>Der</strong> neunte <strong>Schritt</strong><br />
"Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut, wo immer<br />
es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder<br />
andere verletzt."<br />
Gutes Beurteilungsvermögen, das Gefühl für den richtigen<br />
Zeitpunkt, Mut und Klugheit sind die Eigenschaften, die wir für den<br />
Neunten <strong>Schritt</strong> brauchen. Nachdem wir eine Liste der Personen,<br />
denen wir Schaden zugefügt hatten, aufgestellt und jedes<br />
Vorkommnis sorgfältig abgewogen haben, versuchen wir, zu der<br />
richtigen Einstellung für unsere weiteres Vorgehen zu kommen.<br />
Dann werden wir sehen, dass wir bei der Wiedergutmachung<br />
Unterschiede machen müssen. Da sind zunächst diejenigen, an die<br />
wir uns sofort wenden sollten, sobald wir einigermaßen sicher sind,<br />
dass wir unsere Nüchternheit behalten.<br />
Dann gibt es diejenigen, bei denen wir nur einiges<br />
wiedergutmachen können, weil eine vollkommene Offenheit ihnen<br />
oder anderen mehr schaden als gut tun würde. In anderen Fällen<br />
sollten wir den <strong>Schritt</strong> auf später verschieben. Bei anderen wieder<br />
werden wir durch die besondere Art der Umstände niemals zu einer<br />
persönlichen Kontaktaufnahme kommen.<br />
Die meisten beginnen bereits mit einer gewissen Art von<br />
Wiedergutmachung am ersten Tag, an dem sie Anonymen<br />
Alkoholikern begegnet sind. Das fängt damit an, dass wir mit<br />
unseren Angehörigen über unseren ernsthaften Versuch mit dem<br />
AA-Programm sprechen. In diesem Kreis spielen Vorsicht oder der<br />
richtige Zeitpunkt kaum eine Rolle. Am liebsten würden wir die gute<br />
Nachricht laut verkünden. nach unserem ersten AA-Meeting oder<br />
nachdem wir das Buch "Anonyme Alkoholiker" gelesen haben,<br />
möchten wir uns am liebsten mit jemandem aus unserer Familie<br />
zusammensetzen und ihm bereitwillig den Schaden eingestehen,<br />
den wir durch unsere Trinken angerichtet haben. Fast immer<br />
möchten wir noch weitergehen und andere Fehler zugeben, die das<br />
Zusammenleben mit uns so schwierig gemacht haben. Solche<br />
Gespräche stehen in scharfem Gegensatz zu unserem früheren<br />
Verhalten, wenn wir morgens in Katerstimmung entweder uns selbst<br />
beschimpft oder der Familie und allen anderen Vorwürfe wegen<br />
unserer Schwierigkeiten gemacht haben. Bei diesem ersten ruhigen<br />
Gespräch sollten wir unsere Fehler nur allgemein eingestehen. Es
kann unklug sein, schon zu diesem Zeitpunkt bestimmte<br />
schreckliche Episoden auszugraben. Wenn wir gut abwägen,<br />
werden wir feststellen, dass wir uns Zeit lassen müssen. Selbst<br />
wenn wir wirklich bereit sind, sogar das Schlimmste einzugestehen,<br />
müssen wir unbedingt daran denken, dass wir unsere innere Ruhe<br />
nicht auf Kosten anderer erkaufen können.<br />
Ähnlich werden wir auch an unserem Arbeitsplatz vorgehen. Da<br />
werden uns sofort einige Menschen einfallen, die über unser<br />
Trinken Bescheid wissen und die darunter am meisten zu leiden<br />
hatten. Aber selbst bei ihnen sollten wir zurückhaltender als in der<br />
Familie sein. Es ist vielleicht angebracht, in den ersten Wochen<br />
oder Monaten gar nichts zu sagen. Wir möchten zuerst<br />
einigermaßen sicher sein, dass wir bei AA auf dem richtigen Weg<br />
sind. Wenn wir so weit sind, können wir auf diese Menschen<br />
zugehen, ihnen von der Gemeinschaft der AA und von unseren<br />
Absichten erzählen. Auf dieser Basis können wir freimütig den<br />
angerichteten Schaden eingestehen und um Entschuldigung bitten.<br />
Bei finanziellen oder anderen Verpflichtungen können wir unsere<br />
Schulden bezahlen oder Wiedergutmachung versprechen. Die<br />
großzügige Reaktion der meisten Menschen über unsere ruhige<br />
Aufrichtigkeit wird uns oft erstaunen. Selbst unsere schärfsten<br />
Kritiker, die im Recht waren, werden uns häufig mehr als auf<br />
halbem Weg entgegenkommen.<br />
Weil wir Geschmack daran finden, könnte diese Atmosphäre von<br />
Zustimmung und Lob uns leicht in eine solche Begeisterung<br />
versetzen, dass wir aus dem Gleichgewicht geraten. Oder unsere<br />
Gefühle schlagen ins Gegenteil um, wenn wir kühl und<br />
zurückhaltend empfangen werden, was zwar selten vorkommt. Das<br />
kann uns dazu verleiten, andere mit unserer beharrlichen<br />
Diskussionsfreudigkeit zu nerven oder in Mutlosigkeit und<br />
Pessimismus zu verfallen. Wenn wir uns aber gut vorbereitet haben,<br />
werden uns solche Reaktionen nicht von unserem festen und<br />
geraden Weg abhalten.<br />
Nach diesen ersten Versuchen, uns zu entschuldigen, überkommt<br />
uns vielleicht ein so großes Gefühl der Erleichterung, dass wir<br />
meinen, unser Ziel sei erreicht. Wir würden uns gern auf unseren<br />
Lorbeeren ausruhen. Die Versuchung ist groß, den noch<br />
bevorstehenden Aussprachen, die demütigender und
unangenehmer sind, einfach auszuweichen. Wir leben uns oft<br />
plausible Ausreden zurecht, um uns vor dem Unangenehmen zu<br />
drücken. Oder wir schieben unangenehme Dinge einfach auf und<br />
reden uns ein, die Zeit sei noch nicht reif, während wir in<br />
Wirklichkeit schon viele günstige Gelegenheiten verpasst haben,<br />
schweres Unrecht wiederzuzumachen. Wir können nicht von<br />
Vorsicht sprechen, wenn wir in Wirklichkeit ausweichen.<br />
Sobald wir uns auf unserem neuen Lebensweg sicherer fühlen und<br />
durch unsere Verhalten und Beispiel unsere Umgebung davon<br />
überzeugt haben, dass wir uns zum Besseren ändern, ist es an der<br />
Zeit, ganz offen mit denen zu sprechen, denen wir ernsthaften<br />
Schaden zugefügt hatten. Unter ihnen mögen sogar einige sein, die<br />
nur kaum oder überhaupt nicht gemerkt haben, was wir ihnen<br />
angetan hatten. Ausnahmen machen wir nur dann, wenn unser<br />
Eingeständnis Schaden anrichtet. Wir können Gespräche dieser Art<br />
ganz beiläufig und natürlich beginnen. Wenn sich dazu keine<br />
Gelegenheit bietet, sollten wir irgendwann unseren ganzen Mut<br />
zusammennehmen und direkt auf den Menschen zugehen, mit dem<br />
wir sprechen wollen, und unsere Karten auf den Tisch legen.<br />
Wir müssen nicht unbedingt den reumütigen Sünder bei denen<br />
hervorkehren, die wir geschädigt haben. Doch unsere<br />
Wiedergutmachung sollte aufrichtig und großherzig sein.<br />
Bei dem Wunsch, den von uns angerichteten Schaden in aller<br />
Ehrlichkeit offen zuzugeben, ist eine Überlegung wichtig. Es kann<br />
gelegentlich vorkommen, dass wir durch unsere vollständige<br />
Enthüllung gerade dem Menschen ernsthaft wehtun, bei dem wir<br />
wiedergutmachen sollen. Durch unangebrachte Offenheit können<br />
wir selbst Dritten Schaden zufügen. Wir dürfen zum Beispiel nicht<br />
eine ausführliche Schilderung unserer außerehelichen Abenteuer<br />
auf die Schultern unseres ahnungslosen Ehepartners laden. Selbst<br />
wenn wir über diese Dinge sprechen müssen, wollen wir doch<br />
vermeiden, Dritte zu verletzen, ganz gleich, um wen es sich dabei<br />
handelt. Unsere eigene Last wird nicht dadurch leichter, dass wir<br />
rücksichtslos bei anderen abladen.<br />
Manch heikle Frage kann sich auch aus einem anderen<br />
Lebensbereich ergeben, wo wir es genauso machen sollten.<br />
Angenommen, wir haben Firmengeld versoffen; entweder haben wir<br />
es uns "entliehen", oder wir haben bei unseren Spesenrechnungen
gemogelt. Vielleicht würde nichts herauskommen, wenn wir<br />
schweigen. Sollten wir sofort der Firma gegenüber unsere<br />
Unregelmäßigkeiten zugeben, wenn die sichere Aussicht besteht,<br />
dass wir entlassen und arbeitslos werden? Sollen wir bei unseren<br />
Wiedergutmachungen so peinlich genau vorgehen, dass es uns<br />
gleich ist, was aus unserer Familie und unserem Heim wird? Oder<br />
sollten wir uns nicht zuerst mit denen beraten, die die Folgen am<br />
schwersten zu spüren bekommen? Sollten wir die Sache nicht am<br />
besten mit unserem Sponsor oder einem anderen Vertrauten<br />
besprechen, und sollten wir nicht in erster Linie Gott ernsthaft um<br />
Hilfe und Führung bitten und inzwischen unseren Entschluss<br />
festigen, das Richtige dann zu tun, wenn wir klarer sehen -<br />
ungeachtet der Folgen. Es gibt natürlich keine Patentlösung auf<br />
diese heiklen Fragen. Aber alle verlangen die völlige Bereitschaft,<br />
so schnell und so gründlich wie nur möglich wieder gut zu machen,<br />
sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.<br />
Darüber hinaus sollten wir völlig sicher sein, dass wir nichts aus<br />
Angst hinausschieben. Die Bereitschaft, zu unserer Vergangenheit<br />
zu stehen, die Konsequenzen zu ziehen und dabei das Wohl der<br />
anderen nicht aus den Augen zu verlieren: das ist der wahre Grund<br />
des Neunten <strong>Schritt</strong>es.
<strong>Der</strong> zehnte <strong>Schritt</strong><br />
„Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht<br />
hatten, gaben wir es sofort zu.“<br />
In den ersten neun <strong>Schritt</strong>en bereiten wir uns auf das Abenteuer<br />
eines neuen Lebens vor. <strong>Der</strong> Zehnte <strong>Schritt</strong> ist der Anfang, unseren<br />
Lebensweg mit den Anonymen Alkoholikern in die Praxis<br />
umzusetzen, und zwar Tag für Tag, ob es regnet oder ob die Sonne<br />
scheint. Dann kommt der Bewährungstest: Können wir nüchtern<br />
bleiben? Können wir unser inneres Gleichgewicht behalten? Bleiben<br />
wir in allen Situationen unserem gesteckten Ziel treu?<br />
Die ständige Betrachtung unserer Soll- und Habenseite und der<br />
ehrliche Wunsch, daraus zu lernen und daran zu wachsen, sind<br />
lebensnotwendig für uns. Wir Alkoholiker mussten durch die harte<br />
Schule gehen. Menschen mit größerer Erfahrung haben schon<br />
immer und überall schonungslos Selbstkritik geübt. Weise<br />
Menschen haben schon immer gewusst, dass niemand ohne<br />
ständige Selbstkontrolle etwas aus seinem Leben machen kann,<br />
bevor er das, was er findet, nicht zulässt und annimmt, und solange<br />
er nicht geduldig immer wieder versucht, seine Fehler zu<br />
korrigieren.<br />
Wen ein Trinker einen scheußlichen Kater hat, weil er gestern<br />
schwer getrunken hat, fühlt er sich heute elend. Es gibt noch eine<br />
andere Art Kater, den wir alle kennen, ob wir trinken oder nicht. Das<br />
ist der seelische Kater, eine direkte Folge unserer negativen<br />
Gefühlsausbrüche von gestern, manchmal auch von heute. Dazu<br />
zählen wir Wut, Furcht, Eifersucht. Wenn wir heute und morgen<br />
ausgeglichen sein wollen, müssen wir solche Katerstimmungen<br />
überwinden. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in unserer<br />
Vergangenheit herumzuwühlen brauchen. Wichtig ist, jetzt unsere<br />
Fehler einzugestehen und sie zu korrigieren. Durch unsere Inventur<br />
werden wir mit unserer Vergangenheit fertig. Wir können sie getrost<br />
hinter uns lassen. Wenn wir unsere Inventur sorgfältig gemacht<br />
haben und im Frieden mit uns leben, sind wir sicher, dass wir uns<br />
den Problemen von morgen stellen können, so wie sie auf uns<br />
zukommen werden.
Grundsätzlich sind alle Inventuren gleich, nur der Zeitpunkt ist<br />
verschieden. Da gibt es zum Beispiel die Sofort-Inventur, die wir zu<br />
jeder Tageszeit machen können, wenn wir uns in einem inneren<br />
Zwiespalt befinden. Eine andere machen wir am Ende des Tages,<br />
wenn wir einen Rückblick halten auf die vergangenen Stunden. Wir<br />
erstellen unseren Tagesauszug. Auf die Guthabenseite schreiben<br />
wir, was wir richtig gemacht haben, auf die Sollseite unsere Fehler.<br />
Schließlich gibt es noch die Inventuren, die wir von Zeit zu Zeit<br />
allein, mit unserem Sponsor oder einem anderen Vertrauten<br />
machen und bei denen wir sorgfältig die Fortschritte überdenken,<br />
die wir seit der letzten Inventur gemacht haben. Viele Anonyme<br />
Alkoholiker machen jährlich oder halbjährlich einen gründlichen<br />
Hausputz. Viele von uns ziehen sich gern einen oder mehrere Tage<br />
in die Stille zurück, um ungestört die Ruhe für eine<br />
Selbsterforschung und Selbstbesinnung zu finden.<br />
Sind solche Übungen nicht Freudetöter und Zeitverschwender?<br />
Müssen Anonyme Alkoholiker die meiste Zeit des Tages damit<br />
verbringen, trübselig nach Versäumnissen oder Fehlern zu suchen?<br />
Wohl kaum. <strong>Der</strong> auf die Inventur gelegte Nachdruck erscheint uns<br />
nur darum so schwer, weil sehr viele von uns sich niemals an eine<br />
gründliche Selbsterforschung gewöhnt haben. Ist sie einmal zum<br />
festen Bestandteil geworden, finden wir sie so interessant und<br />
vorteilhaft, dass uns die dafür aufgewandte Zeit nicht leid tut. Denn<br />
durch diese Minuten, manchmal auch Stunden der<br />
Selbsterforschung werden alle anderen Stunden des Tages besser<br />
und schöner. Auf die Dauer gesehen wird unsere Inventur fester<br />
Bestandteil des täglichen Lebens und ist nichts Außergewöhnliches<br />
oder Besonderes mehr.<br />
Bevor wir fragen, was der Begriff "Sofort-Inventur" bedeutet, wollen<br />
wir zeigen, wann sie angebracht ist.<br />
Es ist eine Tatsache, dass immer dann, wenn wir eine innere<br />
Unruhe verspüren, mit uns etwas nicht in Ordnung ist. Wenn uns<br />
jemand verletzt und wir uns dadurch gekränkt fühlen, sind auch wir<br />
im Unrecht. Gibt es denn keine Ausnahme von dieser Regel? Gibt<br />
es nicht einen "berechtigten" Zorn? Wenn uns jemand betrügt,<br />
dürfen wir dann nicht verärgert sein? Können wir uns nicht einmal<br />
über selbstgerechte Menschen aufregen? Für uns Anonyme<br />
Alkoholiker wären das gefährliche Ausnahmen. Wir haben erfahren,
dass wir berechtigten Zorn den Leuten überlassen sollten, die<br />
besser damit umgehen können.<br />
Keiner leidet mehr unter Stimmungen als gerade wir Alkoholiker.<br />
Dabei spielt es keine Rolle, ob unsere Gereiztheit berechtigt ist oder<br />
nicht. Ein Wutausbruch kann uns den ganzen Tag verderben. Ein<br />
Groll, den wir noch schüren, lähmt unsere Aktivitäten. Wir haben nie<br />
gelernt, zwischen berechtigtem und unberechtigtem Zorn zu<br />
unterscheiden. Nach unserer Ansicht waren wir immer im Recht. Ein<br />
Wutausbruch, den sich ausgeglichene Menschen als gelegentlichen<br />
Luxus leisten können, würde bei uns einen seelischen Knacks<br />
bewirken. Dieser Trockenrausch kann sehr schnell wieder zur<br />
Flasche führen. Das gleiche kann bei anderen seelischen<br />
Störungen wie Eifersucht, Neid, Selbsthilfe und verletztem Stolz<br />
passieren.<br />
Wenn wir mitten in solch einem Gefühltem eine Sofort-Inventur<br />
machen, spüren wir, wie unser innerer Aufruhr abklingt. Eine Sofort<br />
kann in jeder Situation des täglichen Lebens gemacht werden.<br />
Länger andauerndem Schwierigkeiten sollten wir besser<br />
zurückstellen, bis wir eine ruhige Stunde der Besinnung haben, um<br />
uns damit zu beschäftigen. Die Sofort-Inventur ist für das tägliche<br />
Auf und Ab unserer Stimmungen geeignet, besonders Dann, wenn<br />
Menschen oder besondere Ereignisse uns aus dem Gleichgewicht<br />
werfen und zu Fehlern verleiten.<br />
In all diesen Situationen brauchen wir Selbstbeherrschung und<br />
klaren Überblick, die Bereitschaft zuzugeben, wenn die Schuld bei<br />
uns liegt, und die gleiche Bereitschaft zu vergeben, wenn die<br />
Schuld bei anderen liegt. Wir brauchen nicht entmutigt zu sein,<br />
wenn wir wieder in alte Fehler zurückfallen, denn diese Tugenden<br />
sind nicht leicht. Wir sollen uns um Fortschritt, nicht um Perfektion<br />
bemühen.<br />
Unser erstes Ziel ist, Selbstbeherrschung zu erlernen. Das sollte an<br />
oberster Stelle stehen. Wenn wir hastig oder unüberlegt reden oder<br />
handeln, verlieren wir Übersicht und Toleranz. Eine unfreundliche<br />
Bemerkung oder ein eigensinniges schnippisches Urteil können<br />
unsere Beziehung zu einem anderen Menschen einen ganzen Tag,<br />
vielleicht sogar ein ganzes Jahr lang trüben. Nichts zahlt sich so aus<br />
wie die Beherrschung von Zunge und Feder. Wir müssen
aufbrausende Kritik und wütende Schimpfkanonaden vermeiden.<br />
Das gleiche gilt für trotziges Gekränktsein und für schweigende<br />
Verachtung. Das sind heimtückische Fallen für unser Gefühlsleben.<br />
Die Köder sind Stolz und Rachsucht. Als erstes sollten wir<br />
versuchen, diese Fallen zu umgehen. Wir sollten uns so weit in den<br />
Griff bekommen, dass wir anhalten und nachdenken können, sobald<br />
uns der Köder lockt. Denn wir können nicht positiv denken oder<br />
handeln, bevor wir nicht automatisch unsere Selbstbeherrschung<br />
einsetzen.<br />
Nicht allein unangenehme oder unerwartete Schwierigkeiten sind<br />
es, die von uns Selbstbeherrschung fordern. Wir brauchen sie<br />
ebenso nötig, wenn wir auf dem Weg zu Anerkennung und<br />
materiellem Erfolg sind. Niemand hat persönliche Triumphe mehr<br />
genossen als wir. Wie Wein haben wir den Erfolg getrunken, der<br />
uns einen Glücksrausch brachte. Hatten wir vorübergehend einmal<br />
Glück, dann schwelgten wir in unseren Phantasien von noch<br />
größerer Macht über Menschen und Dinge. Durch hochmütige<br />
Überschätzung geblendet spielten wir den großen Mann. Die<br />
anderen wandten sich natürlich von uns ab, gelangweilt oder<br />
verletzt.<br />
Obwohl wir jetzt zu der AA-Gemeinschaft gehören und nüchtern<br />
sind und die Achtung unserer Freunde und Mitarbeiter<br />
zurückgewinnen, müssen wir immer noch besonders wachsam sein.<br />
Die beste Versicherung gegen Grosstuerei ist eine Selbstprüfung,<br />
bei der wir uns erinnern, dass wir heute nur durch die Gnade Gottes<br />
nüchtern sind und dass gelegentlicher Erfolg weit mehr Sein als<br />
unser Verdienst ist.<br />
Schließlich kommen wir zu der Erkenntnis, dass alle Menschen,<br />
auch wir selbst, irgendwie seelisch gestört und oft im Irrtum sind.<br />
Das bringt uns wahrer Toleranz näher, und wir erkennen echte<br />
Liebe zu unseren Mitmenschen. Je weiter wir in unserer<br />
persönlichen Entwicklung vorwärtskommen, desto klarer wird uns,<br />
wie sinnlos es ist, sich zu ärgern oder sich verletzten zu lassen<br />
durch Menschen, die genau wie wir unter den Schmerzen des<br />
Erwachsenwerdens leiden.<br />
Solch ein radikaler Wandel in unserer Einstellung braucht Zeit,<br />
vielleicht lange Zeit. Kaum jemand kann von sich behaupten, dass
er jeden liebt. Die meisten von uns müssen zugeben, dass sie nur<br />
wenige Menschen je wirklich geliebt haben. Die meisten waren uns<br />
ziemlich gleichgültig, solange sie uns in Ruhe ließen. Und der Rest<br />
war uns unsympathisch oder verhasst. Wenn solch eine Einstellung<br />
auch allgemein verbreitet ist, so brauchen wir AA andere Maßstäbe,<br />
um unser Gleichgewicht zu halten. Wir verlieren die Balance, wenn<br />
wir tief hassen. Wir sollten wenigstens schrittweise mit dem Irrtum<br />
aufräumen, wir könnten wenige besitzergreifend lieben, die übrigen<br />
ignorieren oder überhaupt jemanden fürchten oder hassen.<br />
Wir wollen versuchen, keine unvernünftigen Forderungen mehr an<br />
die Menschen zu stellen, die wir lieben. Wir können versuchen,<br />
freundlich zu sein, wo wir bisher unfreundlich waren. Wir können<br />
damit anfangen, höflich und gerecht denen gegenüber zu sein, die<br />
wir nicht mögen, indem wir uns besonders bemühen, sie zu<br />
verstehen oder ihnen zu helfen.<br />
Wenn wir uns diesen Menschen gegenüber falsch verhalten,<br />
können wir es sofort zugeben - uns selbst gegenüber immer, den<br />
Betroffenen gegenüber auch, wenn dieses Eingeständnis nicht<br />
schadet. Höflichkeit, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und Liebe sind<br />
Voraussetzungen für ein harmonisches Verhältnis mit allen<br />
Menschen. Sind wir im Zweifel, sollten wir einen Moment innehalten<br />
und sagen: "Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe!" Und wir<br />
können uns auch fragen: "Verhalte ich mich heute anderen<br />
gegenüber so, wie ich es von ihnen mir gegenüber erwarte?"<br />
Am Abend, vielleicht vor dem Einschlafen, ziehen viele von uns eine<br />
Tagesbilanz. Das ist eine Gelegenheit, sich zu erinnern, dass eine<br />
Bilanz nicht nur rote Zahlen aufweisen muss. Das wäre in der Tat<br />
ein armer Tag, an dem wir nicht wenigstens etwas Positives<br />
zustande gebracht hätten. In Wirklichkeit sind alle wachen Stunden<br />
mit konstruktiven Dingen ausgefüllt. Gute Vorsätze, gute Gedanken<br />
und gute Taten werden uns nun bewusst. Selbst wenn wir uns viel<br />
vorgenommen und doch nicht alles geschafft haben, können wir uns<br />
ein Plus aufschreiben. So kann Negatives in Gewinn umgewandelt<br />
werden. Das gibt uns Kraft für unseren weiteren Weg. Jemand, der<br />
genau wusste, was er sagte, bemerkte einmal, dass Schmerz der<br />
Prüfstein allen spirituellen Fortschritts ist. Wir AA können ihm aus<br />
ganzem Herzen beipflichten, denn wir wissen, dass wir erst den<br />
Leidensweg des Alkoholikers gehen mussten, ehe wir die
Nüchternheit erlangten, dass wir zuerst die seelische Zerrissenheit<br />
durchmachen mussten, ehe wir Gelassenheit fanden.<br />
Wenn wir auf die Minusseite unserer Tagesbilanz schauen, wollten<br />
wir sorgfältig unsere Beweggründe für falsche Gedankengänge<br />
oder Handlungen untersuchen. In den meisten Fällen ist es nicht<br />
schwer die Beweggründe zu erkennen und zu verstehen. Waren wir<br />
stolz, wütend, eifersüchtig, ängstlich, furchtsam, dann handelten wir<br />
entsprechend. Das sind die Tatsachen. Hier brauchen wir nur<br />
festzuhalten, dass wir schlecht gehandelt oder gedacht haben. Wir<br />
versuchen, uns vorzustellen, wie wir es hätten besser machen<br />
können. Wir beschließen, mit Gottes Hilfe die Lehren, die wir daraus<br />
gezogen haben, morgen anzuwenden und wieder gut zu machen,<br />
was noch offen steht.<br />
In anderen Fällen müssen wir tief forschen, um unsere wahren<br />
Beweggründe herauszufinden. Das sind die Fälle, in denen sich<br />
unsere alte Gewohnheit, das Erfinden von Ausreden, wider<br />
einschlich und unser wirklich falsches Verhalten rechtfertigte. Immer<br />
waren wir versucht, unserem Handeln gute Beweggründe<br />
unterzuschieben. Hier lag der Irrtum.<br />
Wir bildeten uns ein, wir hätten jemanden "konstruktiv kritisiert", der<br />
es nötig hatte. Unser wirkliches Motiv war jedoch, einen schwachen<br />
Standpunkt zu überspielen. Ein anderer Fall: Es wird über einen<br />
Menschen gesprochen, der nicht anwesend ist. Wir geben vor,<br />
anderen seine Art verständlich zu machen. In Wirklichkeit geht es<br />
uns darum, dem Abwesenden überlegen zu sein, indem wir ihn<br />
abwerten. Manchmal verletzen wir die, die wir lieben, weil wir "es<br />
ihnen mal zeigen wollen". Unser wirkliches Motiv jedoch ist, sie zu<br />
bestrafen. Wir waren deprimiert und klagten, dass es uns schlecht<br />
gehe. In Wirklichkeit suchten wir hauptsächlich Sympathie und<br />
Beachtung. Diese sonderbare Art unseres Verstandes und unseres<br />
Gefühls, dieser merkwürdige Wunsch, ein schlechtes Motiv hinter<br />
einem guten zu verstecken, zieht sich durch alle Bereiche des<br />
menschlichen Lebens. Diese kaum wahrnehmbare und<br />
unerklärliche Art der Selbstgerechtigkeit kann hinter dem<br />
nebensächlichsten Denken und Tun versteckt sein. Das Wichtigste<br />
für die Persönlichkeitsbildung und für ein sinnvolles Leben ist,<br />
täglich Fehler zu entdecken, zuzugeben und zu verbessern.<br />
Aufrichtiges Bedauern über den Schaden, den wir angerichtet
haben, und die Bereitschaft, es morgen besser zu machen - das<br />
sind die dauerhaften Werte, die wir anstreben.<br />
Haben wir so unseren Tag betrachtet und nicht versäumt, unsere<br />
guten Taten zu zählen, und haben wir furchtlos in unserem Inneren<br />
geforscht, dann können wir Gott aufrichtig für die Segnungen des<br />
heutigen Tages danken und mit gutem Gewissen schlafen
<strong>Der</strong> Elfte <strong>Schritt</strong><br />
“Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste<br />
Verbindung zu Gott - wie wir ihn verstanden - zu vertiefen. Wir<br />
baten Ihn nur, uns seinen Willen erkennbar werden zu lassen<br />
und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.“<br />
Für eine bewusste Verbindung zu Gott sind Gebet und Besinnung<br />
das Wichtigste.<br />
Wir Anonymen Alkoholiker sind aktive Leute. Wir erfreuen uns,<br />
vielleicht zum ersten Mal in unserem Leben, an alltäglichen Dingen,<br />
und darum bemühen wir uns auch, dem Hilfe suchenden Alkoholiker<br />
mit unserer ganzen Kraft beizustehen. Kein Wunder, dass wir oft<br />
dazu neigen, ernste Besinnung und Gebete zu vernachlässigen.<br />
Gewiss, wir spüren, dass wir dadurch in Notlagen Hilfe finden, doch<br />
zunächst sehen wir Gebet und Besinnung als eine etwas<br />
geheimnisvolle Fertigkeit der Geistlichen an, von der wir uns<br />
höchstens einen Nutzen aus zweiter Hand versprechen. Oder<br />
vielleicht glauben wir überhaupt nicht an diese Dinge.<br />
Einigen neuen Freunden und einstigen Agnostikern, die sich noch<br />
an die AA-Gruppe als ihre Höhere Macht klammern, erscheint die<br />
Kraft des Gebetes trotz aller Logik und Erfahrung immer noch wenig<br />
überzeugend oder sogar zweifelhaft. Wer von uns früher ebenso<br />
dachte, hat sicher dafür Verständnis und Sympathie. Wir erinnern<br />
uns noch gut daran, wie etwas tief in uns bei dem Gedanken<br />
rebellierte, uns vor irgendeinem Gott zu beugen. Viele konnten mit<br />
starken logischen Argumenten "beweisen", dass es überhaupt<br />
keinen Gott gab. Wie ist es mit all den Unfällen, Krankheiten,<br />
Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten in der Welt? Wie ist es mit all<br />
diesen bedauernswerten Menschen, die als Behinderte geboren<br />
oder durch unglückliche Umstände dazu wurden? Sicher kann es in<br />
der Ordnung dieser Dinge keine Gerechtigkeit und darum auch<br />
keinen Gott geben.<br />
Manchmal gingen unsere Gedanken auch andere Wege. Freilich,<br />
sagten wir uns, war wahrscheinlich zuerst die Henne und dann das<br />
Ei da. Zweifellos hat das Universum eine Art Ursprung, vielleicht<br />
den "Gott des Atoms", mal heiß, mal kalt, mit Eiszeiten und<br />
Hitzeperioden. Es gab keinen Beweis für die Existenz eines Gottes,<br />
der etwas von den Menschen wusste oder sich um ihre Belange
kümmerte. Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker fanden wir<br />
gut und waren sofort bereit, zuzugeben, dass durch sie Wunder<br />
geschehen. Doch vor Gebet und Besinnung schreckten wir genau<br />
so hartnäckig zurück wie der Wissenschaftler, der sich weigert, ein<br />
Experiment durchzuführen aus Furcht, seine Lieblings-Theorie<br />
könnte sich als falsch erweisen. Schließlich wagten wir uns doch an<br />
das Experiment. Zeigten sich unerwartete Erfolge, änderte sich<br />
unsere Einstellung, jetzt wussten wir tatsächlich, dass alles anders<br />
war. So fanden wir den Weg zu Gebet und Besinnung. Das kann<br />
jedem anderen Menschen genau so ergehen, wenn er es nur<br />
versucht. Es steckt viel Wahrheit in dem Satz: Wer über das Gebet<br />
spottet, hat es noch nie richtig ausprobiert.<br />
Wer sich an regelmäßiges Beten gewöhnt hat, kann darauf ebenso<br />
wenig wie auf Luft, Nahrung und Sonne verzichten, und zwar aus<br />
dem gleichen Grund. Unser Körper leidet, wenn wir ihm Licht, Luft<br />
und Nahrung vorenthalten. Und ebenso entziehen wir unserer<br />
Seele, unserem Gefühl und unserem Geist lebensnotwendige Kraft,<br />
wenn wir uns von Gebet und Besinnung abwenden. Die Seele<br />
erkrankt genauso aus Mangel an Nahrung wie der Körper. Wir alle<br />
brauchen das Licht göttlicher Existenz, Seinen Kraftquell und den<br />
Einfluss Seiner Gnade. Diese zeitlose ewige Wahrheit wird durch<br />
erstaunliche Tatsachen aus dem Leben Anonymer Alkoholiker<br />
bestätigt.<br />
Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Selbsterforschung,<br />
Besinnung und Gebet. Selbst wenn wir sie getrennt praktizieren,<br />
können sie große Erleichterung bringen und von Nutzen sein.<br />
Stellen wir diese Übungen in logischen Bezug und verflechten sie<br />
miteinander, dann werden sie zur unerschütterlichen Grundlage des<br />
Lebens. Hin und wieder wird uns vielleicht ein Blick in die<br />
unendliche Wirklichkeit geschenkt, in das Reich Gottes. Und wir<br />
werden erleichtert sein und die Gewissheit haben, dass unser<br />
eigenes Schicksal dort so lange sicher aufgehoben ist, wie wir uns<br />
trotz aller Unsicherheiten ernsthaft bemühen, den Willen unseres<br />
Schöpfers zu erkennen und ihn auszuführen.<br />
Wie wir bereits wissen, ist Selbsterforschung das Mittel, durch das<br />
wir neuen Einblick, Tatkraft und Gnade erlangen, um die dunkle und<br />
negative Seite unserer Persönlichkeit annehmen zu können. Die<br />
Selbsterforschung ist ein <strong>Schritt</strong>, die Demut zu entfalten, die uns für
Gottes Hilfe aufnahmebereit macht. Noch ist das nur ein <strong>Schritt</strong>,<br />
aber wir wollen weitergehen. Wir möchten, dass das Gute, das in<br />
uns allen steckt, selbst im Schlechtesten, wächst und blüht. Ganz<br />
gewiss brauchen wir dazu eine gesunde Luft und eine Menge<br />
Nahrung. Vor allem brauchen wir die Sonne, denn im Dunkeln<br />
gedeiht nicht viel. Die Meditation führt uns in die Sonne. Doch wie<br />
können wir meditieren?<br />
Im Laufe der Jahrhunderte wurden natürlich reiche Erfahrungen auf<br />
dem Gebiet von Meditation und Gebet gesammelt. Die Bibliotheken<br />
der Welt und die Stätten der Gottesverehrung sind Schatzkammern<br />
für alle Suchenden. Es ist zu hoffen, dass sich jeder AA, der einer<br />
Religion angehört, die sich auf Meditation stützt, dieser Verbindung<br />
wieder zuwendet und sie besser praktiziert als zuvor. Doch wie<br />
steht es mit uns anderen, die nicht in dieser glücklichen Lage sind<br />
und nicht einmal wissen, wie und wo sie anfangen sollen?<br />
Nun, vielleicht beginnen wir so. Zuerst suchen wir ein wirklich gutes<br />
Gebet. Wir brauchen nicht lange zu suchen: Die großen Männer<br />
und Frauen aller Religionen haben uns davon ein wundervolles<br />
Angebot hinterlassen. Nehmen wir ein klassisches Beispiel. Sein<br />
Verfasser war ein Mann, der seit Jahrhunderten als Heiliger gilt.<br />
Diese Tatsache sollte uns nicht voreingenommen machen und<br />
abschrecken. Auch wenn er kein Alkoholiker war, durchlitt er genau<br />
wie wir seelische Qualen. Nach all seinen schmerzhaften<br />
Erfahrungen wurde dieses Gebet der Ausdruck dessen, was er<br />
dann erkennen und fühlen konnte, und wie er werden wollte.<br />
"HERR, mach mich zum Werkzeug Deines Friedens!<br />
Wo Hass herrscht, lass mich Liebe bringen,<br />
Wo Kränkung - Vergebung,<br />
Wo Zwietracht - Versöhnung,<br />
Wo Irrtum - Wahrheit,<br />
Wo Zweifel - den Glauben,<br />
Wo Verzweiflung - die Hoffnung,<br />
Wo Finsternis - Licht,<br />
Wo Traurigkeit - Freude!<br />
O, Herr, lass mich immer mehr danach verlangen,<br />
Andere zu trösten, als selbst getröstet zu werden,<br />
Andere zu verstehen, als selbst verstanden zu werden,<br />
Denn: Nur im Geben liegt wahrer Gewinn.
Im Selbstvergessen der Friede,<br />
Im Verzeihen Vergebung,<br />
Und nur im Sterben erwachen wir<br />
Zum Ewigen Leben.<br />
Amen."<br />
(Franz v. Assisi)<br />
Da wir noch keine Erfahrung mit der Meditation haben, sollten wir<br />
nun dieses Gebet mehrere Male ganz langsam lesen, jedes Wort in<br />
uns aufnehmen und versuchen, die tiefe Bedeutung jedes Satzes<br />
und jedes Gedankens zu erfassen. Es wird uns helfen, wenn wir<br />
uns nicht innerlich gegen das, was unser Freund sagt, sträuben. In<br />
der Meditation hat die Debatte keinen Platz. Wir verweilen ruhig bei<br />
den Gedanken dieses weisen Mannes, damit wir Erfahrung<br />
sammeln und daraus lernen können.<br />
Wir wollen uns so entspannen, als ob wir am Strand in der Sonne<br />
lägen; wir wollen die spirituelle Atmosphäre, die aus diesem Gebet<br />
strömt, tief in uns aufnehmen. Bereitwillig wollen wir an der<br />
spirituellen Kraft, Schönheit und Liebe dieser herrlichen Worte<br />
teilhaben und uns daran stärken und aufrichten. Nun wollen wir das<br />
Meer betrachten und über sein Geheimnis nachdenken. Dann<br />
richten wir unseren Blick auf den fernen Horizont mit all seinen<br />
unsichtbaren Wundern, die wir suchen.<br />
"So ein Unsinn", wirft jemand ein, "das ist doch nicht realistisch".<br />
Wenn solche Gedanken aufkommen, sollten wir ein wenig reumütig<br />
daran zurückdenken, welche Phantasie wir aufbrachten, um uns mit<br />
Hilfe der Flasche eine Wirklichkeit vorzutäuschen. Das war doch<br />
unsere Art zu denken, nicht wahr? Und fallen wir heute nicht immer<br />
wieder, obwohl wir nüchtern sind, in die alte Denkweise zurück?<br />
Vielleicht lag unsere Schwierigkeit darin, dass wir unsere Phantasie<br />
nicht benutzten. Vielleicht war unsere wirkliche Schwierigkeit aber<br />
die totale Unfähigkeit, unsere Phantasie auf die richtigen Ziele zu<br />
lenken. Gegen produktive Phantasie ist nichts einzuwenden. Darauf<br />
beruht schließlich jeder gesunde Fortschritt. Niemand kann ein<br />
Haus bauen, ohne dass er sich vorher eine Vorstellung davon<br />
gemacht hat. Ähnlich ist es mit der Meditation. Durch sie bekommen<br />
wir eine innere Vorstellung von unseren spirituellen Zielen, bevor wir<br />
uns darum bemühen.
Jetzt wollen wir noch einmal zurückkehren zu dem Sonnenstrand -<br />
zu den Ebenen oder zu den Bergen, wenn dir das lieber ist.<br />
Nachdem wir uns mit diesen einfachen Hilfsmitteln eingestimmt<br />
haben, und uns so ungestört auf unsere konstruktiven<br />
Vorstellungen konzentrieren, können wir Folgendes tun: Wir lesen<br />
unser Gebet noch einmal und versuchen, seine wahre Bedeutung<br />
zu erkennen. Dann denken wir über den Mann nach, der es zuerst<br />
gebetet hat. Vor allem wollte er ein Werkzeug Gottes werden. Dann<br />
bat er um die Gnade, jedem Menschen Liebe, Vergebung,<br />
Harmonie, Wahrheit, Glauben, Hoffnung, Licht und Freude zu<br />
bringen, soweit ihm das möglich war. Dann brachte er seine<br />
Sehnsucht und seine Hoffnung für sich selbst zum Ausdruck. Er<br />
hoffte, mit Gottes Willen auch einige dieser Segnungen zu finden.<br />
Er wollte es durch Selbst-Vergessen versuchen. Was meinte er mit<br />
Selbst-Vergessen, und wie konnte man dies seiner Ansicht nach<br />
erreichen?<br />
Er meinte, es sei besser, Trost zu spenden als zu empfangen, es<br />
sei besser, zu verstehen als verstanden zu werden, es sei besser,<br />
zu vergeben als Vergebung zu finden. Das könnte ein kleiner Teil<br />
der Meditation sein, vielleicht unser erster Versuche in einer<br />
besonderen Stimmung, ein Einblick in spirituelle Bereiche. Darauf<br />
sollte ein fester Blick auf unseren Standpunkt folgen, ein weiterer<br />
auf das, was in unserem Leben geschehen könnte, wenn wir uns<br />
dem Ideal nähern, von dem wir jetzt eine winzige Vorstellung haben.<br />
Die Meditation kann immer weiter ausgebaut werden. Ihr sind in<br />
keiner Richtung Grenzen gesetzt. Angeregt durch Erfahrung und<br />
Beispiel anderer bleibt die Meditation dennoch ein persönliches<br />
Erlebnis, etwas, was jeder auf seine eigene Weise verarbeitet. Das<br />
Ziel ist jedoch immer das gleiche: Unsere bewusste Verbindung zu<br />
Gott, zu Seiner Gnade, Weisheit und Liebe zu vertiefen. Wir wollen<br />
immer daran denken, dass die Meditation tatsächlich sehr lohnend<br />
ist.<br />
Als erstes wird sich innere Ausgeglichenheit einstellen. Dadurch<br />
können wir die Verbindung zwischen uns und Gott, wie wir Ihn<br />
verstehen, erweitern und vertiefen. Was ist über das Gebet zu<br />
sagen? Im Gebet wenden wir Herz und Seele Gott zu, und so<br />
gesehen ist die Meditation mit eingeschlossen. Wie sollen wir das<br />
machen? Und wie vereinbart es sich mit der Meditation? Unter
Beten versteht man im allgemeinen, Gott um etwas zu bitten. Erst<br />
stellen wir die Verbindung zu Gott her, so gut wir können. Dann<br />
versuchen wir, um die rechten Dinge zu bitten, die wir und andere<br />
am dringendsten brauchen. Wir sind der Meinung, dass alle unsere<br />
Bedürfnisse in dem Teil des Elften <strong>Schritt</strong>es erklärt sind, der lautet:<br />
"...Wir baten ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen<br />
und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen".<br />
Am Morgen denken wir an die vor uns liegenden Stunden. Vielleicht<br />
denken wir an unsere tägliche Arbeit und an die Möglichkeiten,<br />
nützlich und hilfreich zu sein, oder wir denken an eine besondere<br />
Schwierigkeit, die sich im Laufe des Tages ergeben kann.<br />
Möglicherweise erleben wir heute die Fortsetzung eines ernsten und<br />
noch ungelösten Problems von gestern. Sofort überkommt uns die<br />
Versuchung, um bestimmte Lösungen für bestimmte Probleme zu<br />
bitten und um die Fähigkeit, anderen Menschen so helfen zu<br />
können, wie wir es uns bereits vorgestellt hatten. In diesem Fall<br />
bitten wir Gott, unseren Willen auszuführen. Deshalb sollten wir jede<br />
Bitte sorgfältig auf ihren wahren Inhalt hin prüfen. Selbst wenn wir<br />
besondere Anliegen haben, sollten wir jeder Bitte diese<br />
Einschränkung hinzufügen: "...wenn es Dein Wille ist". Wir bitten<br />
ganz einfach darum, dass wir während des ganzen Tages<br />
verstehen mögen, was Gottes Wille ist und dass wir die Gnade<br />
erhalten, Seinen Willen auszuführen.<br />
Wenn wir im Laufe des Tages vor Situationen gestellt werden, in<br />
denen wir Entscheidungen treffen müssen, sollten wir uns einen<br />
Moment besinnen und einfach die Bitte wiederholen: "Dein Wille<br />
geschehe, nicht meiner!" Ist in kritischen Situationen unsere innere<br />
Erregung besonders groß, stellen wir unser seelisches<br />
Gleichgewicht wieder her, wenn wir uns ein bestimmtes Gebet oder<br />
einen bestimmten Satz aus unserer Literatur oder aus der<br />
Meditation ins Gedächtnis zurückrufen. Ständiges Wiederholen wird<br />
uns oft den Weg öffnen, der durch Ärger und Angst, durch<br />
Aufregungen und Missverständnisse versperrt war. Das führt uns<br />
dorthin zurück, wo wir am sichersten Hilfe finden: In schwierigen<br />
Situationen zu versuchen, den Willen Gottes zu erkennen, nicht<br />
unseren. Wenn wir uns in kritischen Augenblicken daran erinnern,<br />
dass "es besser ist zu trösten als getröstet zu werden, zu lieben als<br />
geliebt zu werden", dann handeln wir im Sinne des elften <strong>Schritt</strong>es.
Natürlich ist die häufige Frage vernünftig und verständlich: "Warum<br />
können wir nicht ein bestimmtes und uns besonders<br />
beunruhigendes Problem Gott direkt vortragen und im Gebet eine<br />
sichere und definitive Antwort auf unser Bitten erhoffen?"<br />
Das kann man tun, doch ist es ein Risiko. Es gibt Anonyme<br />
Alkoholiker, die mit großem Ernst und Glauben Gott um ganz<br />
besondere Führung in vielerlei Dingen gebeten haben, ob es sich<br />
dabei um zerrüttete häusliche oder finanzielle Verhältnisse oder um<br />
die Beseitigung eines kleineren persönlichen Fehlverhaltens, wie<br />
Unentschlossenheit, handelte. Sehr oft sind jedoch Gedanken, die<br />
von Gott zu kommen scheinen, überhaupt keine Antworten. Sie sind<br />
unsere bewussten Ausreden, wenngleich wir die besten Absichten<br />
haben. Anonyme Alkoholiker oder andere, die mit dieser Art Gebet<br />
ihr Leben zu meistern versuchen, indem sie von Gott Antworten auf<br />
egoistische Forderungen erwarten, sind auf dem Holzweg. Jeder<br />
Frage oder Kritik anderer halten sie sofort entgegen, dass sie sich in<br />
allen kleinen und großen Dingen des Lebens auf das Gebet um die<br />
richtige Führung verlassen. Vielleicht denken sie gar nicht daran,<br />
dass eigenes Wunschdenken und die menschliche Neigung, sich<br />
herauszureden, ihre sogenannte Führung verzerren. In bester<br />
Absicht versuchen sie, ihren eigenen Willen in allen Situationen und<br />
bei allen Schwierigkeiten durchzusetzen mit der bequemen<br />
Behauptung, sie handelten im Sinne Gottes. Mit dieser irrigen<br />
Auffassung können sie Verwirrung stiften, ohne es im geringsten zu<br />
beabsichtigen.<br />
Wir können noch einer anderen, ähnlichen Versuchung erliegen.<br />
Wir machen uns unsere eigene Vorstellung, wie Gottes Absicht für<br />
andere Menschen aussehen könnte. Wir sagen: "Dieser Mensch<br />
müsste von seiner schlimmen Krankheit geheilt, der andere sollte<br />
von seinem Gemütsleiden befreit werden..." - und wir beten für<br />
diese speziellen Dinge. Solche Gebete sind im Grunde etwas<br />
Gutes, doch oft beruhen sie auf der Annahme, dass wir Gottes<br />
Absicht für die Menschen kennen, für die wir beten. Das bedeutet,<br />
dass selbst in einem ernsthaften Gebet ein gewisses Maß von<br />
Selbstgefälligkeit und Anmaßung nicht völlig ausgeschlossen<br />
werden kann. Anonyme Alkoholiker haben gelernt, in solchen Fällen<br />
ganz besonders darum zu bitten, dass Gottes Wille - wie er auch<br />
sein mag - für andere wie auch für uns geschehe.
Wir AA wissen aus Erfahrung, dass es über die guten Ergebnisse<br />
des Gebetes keine Zweifel gibt. Durch beharrliches Beten fanden<br />
wir mehr Kraft als wir selbst aufbringen konnten. Wir fanden<br />
Weisheit, die unsere eigenen spirituellen Fähigkeiten übertraf. Wir<br />
fanden zunehmend inneren Frieden, der uns auch unter<br />
schwierigen Umständen einen sicheren Halt gibt. Wir entdecken,<br />
dass unser Leben von dem Zeitpunkt an von Gott gelenkt wird, an<br />
dem wir aufhören, Ihm Forderungen und Bedingungen zu stellen.<br />
Fast jeder erfahrene AA kann von sich berichten, wie für ihn die<br />
Dinge eine merkliche und unerwartete Wendung zum Besseren<br />
genommen haben, nachdem er versucht hatte, die bewusste<br />
Verbindung zu Gott zu vertiefen. Aus jedem seelischen Tief, wenn<br />
Gott nach seiner Ansicht hart oder gar ungerecht mit ihm verfahren<br />
war, konnte er neue Wahrheiten über sich entdecken. Er fand<br />
neuen Mut und kam schließlich unausweichlich zu der<br />
Überzeugung, dass Gott "tatsächlich auf unerforschliche Weise<br />
Seine Wunder an uns vollbringt".<br />
Das alles sollte doch diejenigen ermutigen, die vor dem Gebet<br />
zurückschrecken, weil sie nicht daran glauben oder weil sie sich von<br />
Gottes Hilfe und Seiner Führung abgeschnitten fühlen. Wir alle<br />
machen ohne Ausnahme Zeiten durch, in denen wir nur mit größter<br />
Willensanstrengung beten können. Manchmal geht selbst das nicht.<br />
Wir sind so krank vor innerer Auflehnung, dass wir einfach nicht<br />
beten wollen. Wenn das der Fall ist, sollten wir nicht zu negativ über<br />
uns denken. Sobald wir können, sollten wir wieder zu beten<br />
versuchen und das tun, was nach unserer Erfahrung gut für uns ist.<br />
Vielleicht ist der größte Gewinn, den wir aus Gebet und Meditation<br />
ziehen, das Gefühl des Dazugehörens. Wir leben nun nicht mehr in<br />
einer völlig feindseligen Welt. Wir sind nicht mehr verloren,<br />
verängstigt, ziellos. Von dem Augenblick an, wo wir Gottes Absicht<br />
verspüren, wo wir Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe als die<br />
wirklichen und ewigen Dinge im Dasein erkannt haben, sind wir<br />
nicht mehr so tief erschüttert über das scheinbare Gegenteil, von<br />
dem wir im normalen Leben umgeben sind. Wir wissen, dass Gottes<br />
Liebe wohl über uns wacht. Wir wissen, dass mit uns im Diesseits<br />
und im Jenseits alles gut gehen wird, wenn wir uns Ihm zuwenden.
<strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong><br />
„Nachdem wir durch diese <strong>Schritt</strong>e ein spirituelles Erwachen<br />
erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker<br />
weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen<br />
Grundsätzen auszurichten.“<br />
Lebensfreude ist das Thema des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es der Anonymen<br />
Alkoholiker, und das Schlüsselwort heißt Handeln. Jetzt wenden wir<br />
uns den Menschen zu, die noch unter der Alkoholkrankheit leiden.<br />
Hier erleben wir, dass Geben seliger ist als Nehmen. Von jetzt ab<br />
beginnen wir, alle zwölf <strong>Schritt</strong>e des Programms in unserem<br />
täglichen Leben anzuwenden, sodass wir und die Menschen in<br />
unserer Umgebung innere Zufriedenheit finden. <strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong><br />
in seiner vollen Bedeutung behandelt das, was unter selbstloser<br />
Liebe zu verstehen ist.<br />
<strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong> <strong>Schritt</strong> spricht auch davon, dass wir durch die<br />
Anwendung aller vorhergehenden <strong>Schritt</strong>e etwas gefunden haben,<br />
das wir als spirituelles Erwachen bezeichnen. Neuen scheint dies<br />
oft ein recht zweifelhafter und unwahrscheinlicher Vorgang zu sein.<br />
"Was versteht ihr unter spirituellem Erwachen?" fragen sie.<br />
Vielleicht gibt es ebenso viele Definitionen über spirituelles<br />
Erwachen wie es Menschen gibt, die es erfahren haben. Aber sicher<br />
hat jedes echte Erlebnis dieser Art etwas mit allen anderen<br />
gemeinsam. Und das, was sie alle gemeinsam haben, ist nicht so<br />
schwer zu verstehen. Wenn ein Mann oder eine Frau ein spirituelles<br />
Erwachen erlebt hat, bedeutet das in erster Linie, dass sie fühlen<br />
oder glauben können, was vorher ohne Hilfe und aus eigener Kraft<br />
nicht möglich war. Ihnen wurde das Geschenk eines neuen<br />
Bewusstseins und Lebens zuteil. Sie befinden sich jetzt auf einem<br />
Weg, von dem sie wissen, dass er zu einem Ziel führt; ihr Leben<br />
endet nicht mehr in einer Sackgasse, es ist auch nicht etwas das<br />
man erdulden oder sich erkämpfen muss. Sie sind im wahrsten<br />
Sinne des Wortes umgewandelt, denn sie haben eine Kraftquelle<br />
gefunden, der sie bis jetzt aus dem Weg gegangen waren. Sie<br />
besitzen jetzt mehr Ehrlichkeit, Toleranz, Selbstlosigkeit, innere<br />
Ausgeglichenheit und Liebe, als sie sich je erträumt hatten. Was sie<br />
erhalten haben ist ein kostenloses Geschenk. Um es annehmen zu<br />
können, haben sie sich bis zu einem bestimmten Grad darauf
vorbereiten müssen.<br />
Die Vorbereitung auf dieses Geschenk heißt für uns Anonyme<br />
Alkoholiker, die Zwölf <strong>Schritt</strong>e unseres Programms täglich zu leben.<br />
Darum wollen wir noch einmal kurz zusammenfassen wie weit wir<br />
bis jetzt gekommen sind.<br />
<strong>Der</strong> Erste <strong>Schritt</strong> machte uns mit einem erstaunlichen Widersinn<br />
bekannt: Wir stellten fest, dass wir total unfähig waren, von der<br />
Alkoholbesessenheit loszukommen, bevor wir nicht zugegeben<br />
hatten, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos waren. Im<br />
Zweiten <strong>Schritt</strong> erkannten wir, dass wir allein unsere geistige<br />
Gesundheit nicht wiederherstellen konnten. Um zu überleben,<br />
brauchten wir eine Höhere Macht. Darum haben wir im Dritten<br />
<strong>Schritt</strong> unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes, wie wir<br />
Ihn Verstanden, anvertraut. Zu dem Zeitpunkt entdeckten Atheisten<br />
oder Agnostiker, dass unsere eigene Gruppe oder die<br />
Gemeinschaft der AA als Ganzes als Höhere Macht ausreichen<br />
würden. Beim Vierten <strong>Schritt</strong> angelangt, begann die Suche in<br />
unserem Inneren nach den Gründen für unseren körperlichen,<br />
moralischen und seelischen Bankrott. Wir machten gründlich und<br />
furchtlos Inventur in unserem Innern. Als wir uns mit dem Fünften<br />
<strong>Schritt</strong> befassten, wurde uns klar, dass die allein gemachte Inventur<br />
nicht ausreicht. Wir mussten dem gefährlichen Zustand, mit unseren<br />
Konflikten allein zu leben, ein Ende machen, indem wir sie aufrichtig<br />
Gott und einem anderen Menschen anvertrauten.<br />
Vor dem Sechsten <strong>Schritt</strong> sind viele von uns zurückgeschreckt aus<br />
dem einfachen Grunde, weil wir nicht alle Charakterfehler loswerden<br />
wollten. An einigen hingen wir noch viel zu sehr. Und doch wussten<br />
wir, dass wir mit den Grundgedanken des Sechsten <strong>Schritt</strong>es<br />
irgendwie zurechtkommen mussten. Obwohl wir einige<br />
Charaktermängel noch nicht abstellen konnten, beschlossen wir<br />
jetzt, nicht mehr so stur und widerspenstig daran festzuhalten. Wir<br />
sagten uns: "Vielleicht kann ich es heute noch nicht, aber ich höre<br />
auf 'nein, niemals' zu sagen." Im Siebten <strong>Schritt</strong> baten wir Gott<br />
demütig, unsere Mängel von uns zu nehmen, wobei Er den<br />
Zeitpunkt dafür bestimmen sollte. Im Achten <strong>Schritt</strong> setzten wir<br />
unseren Hausputz fort, denn wir erkannten, dass wir nicht nur mit<br />
uns selbst in Konflikt lebten, sondern auch mit anderen<br />
Menschen und überhaupt mit unserer Umwelt. Wir mussten
anfangen, Frieden mit uns selbst zu schließen. Wir machten eine<br />
Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und<br />
wurden willig, die Dinge in Ordnung zu bringen. Das setzte sich im<br />
Neunten <strong>Schritt</strong> fort. Wir machten bei diesen Menschen alles wider<br />
gut, wo immer es möglich war, es sei denn, wir hätten dadurch sie<br />
oder andere verletzt. Mittlerweile, beim Zehnten <strong>Schritt</strong> angelangt,<br />
hatten wir schon eine Grundlage für unser tägliches Leben<br />
gefunden. Wir erkannten die Notwendigkeit, die Inventur bei uns<br />
fortzusetzen, und wenn wir Unrecht hatten, es sofort zuzugeben.<br />
Wenn eine Höhere Macht uns unsere geistige Gesundheit<br />
wiedergegeben hat und wir durch sie eine gewisse innere<br />
Ausgeglichenheit erlangt hatten, um in dieser unruhigen Welt leben<br />
zu können, dann lernten wir durch den Elften <strong>Schritt</strong>, dass es sich<br />
lohnte, durch einen möglichst engen Kontakt eine tiefere Erkenntnis<br />
von dieser Höheren Macht zu erlangen. Durch beharrliches Beten<br />
und durch Meditation festigte sich die Verbindung zu Gott. Wo<br />
früher ein Bach floss, strömt jetzt ein Fluss, der uns Kraft und<br />
schützende Führung von Gott bringt, den wir immer besser<br />
verstehen.<br />
Nachdem wir diese Zwölf <strong>Schritt</strong>e auf unser tägliches Leben<br />
angewandt hatten, erlebten wir ein spürbares Erwachen, über das<br />
es letztlich keine Zweifel mehr gibt. Wir können bei denen, die am<br />
Anfang des Weges stehen oder noch an sich selbst zweifeln, bereits<br />
eine Veränderung erkennen. Wir können aus unserer Erfahrung<br />
vorhersagen, dass auch der Zweifler, der behauptet, er verstehe die<br />
geistige Seite nicht, und der immer noch seine AA-Gruppe als die<br />
Höhere Macht ansieht, mit der Zeit Gott lieben und Ihn bei Seinem<br />
Namen nennen wird. Wie steht es nun mit dem Rest des <strong>Zwölfte</strong>n<br />
<strong>Schritt</strong>es? <strong>Der</strong> wundervolle Kraftquell dieses <strong>Schritt</strong>es und die<br />
tatkräftige Weitergabe der Botschaft an noch leidende Alkoholiker,<br />
die Stärke, mit der schließlich alle zwölf <strong>Schritt</strong>e in all unseren<br />
Lebenslagen angewandt werden, sind der wahre Lohn und die<br />
großartige Wirklichkeit des AA-Programms.<br />
Selbst jemand, der ganz neu in der Gemeinschaft ist, sieht sich<br />
unerwartet dadurch belohnt, dass er bereits einem anderen<br />
Alkoholiker helfen kann, dem es noch schlechter geht als ihm. Dies<br />
ist wirklich ein Geben, ohne Gegenleistung zu erwarten. Er erwartet<br />
von dem Hilfesuchenden keine Bezahlung, nicht einmal, dass er ihn<br />
gern hat. Und dann entdeckt er, dass er durch diese selbstlose Art
zu geben bereits belohnt wurde, gleichgültig ob der andere Hilfe<br />
gefunden hat oder nicht. Er selbst mag noch ernsthafte<br />
Charaktermängel haben, doch irgendwie erkennt er, dass Gott ihm<br />
hilft, einen guten Anfang zu machen, und er spürt, dass er vor<br />
neuen Geheimnissen, Freuden und Erfahrungen steht, die er sich<br />
niemals hätte träumen lassen.<br />
Jeder AA berichtet, dass es wirklich keine tiefere Freude geben<br />
kann, als im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es zu helfen. Wir betrachten<br />
die Augen von Männern<br />
und Frauen, die sich mit Staunen öffnen, wenn sie aus der<br />
Dunkelheit ins Licht treten. Wir sehen, wie ihr Leben schnell einen<br />
neuen Sinn und neue Ziele bekommt. Wir erleben, wie sich ganze<br />
Familien wieder vereinen. Wir sehen, wie ein ausgestoßener<br />
Alkoholiker wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wird.<br />
Darüber hinaus erkennen wir, wie diese Menschen die Gegenwart<br />
eines liebenden Gottes in ihrem Leben wahrnehmen. Diese<br />
Erlebnisse sind die Gegenwerte, die wir empfangen, wenn wir die<br />
Botschaft der AA an andere Alkoholiker weitergeben.<br />
Das ist aber nicht alles, was wir im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tun können. Wir<br />
sitzen in AA-Meetings und hören zu, nicht nur um für uns selbst<br />
etwas zu empfangen, sondern auch um durch unsere Anwesenheit<br />
Beispiel und Unterstützung zu sein. Wenn wir in einem Meeting<br />
sprechen, versuchen wir ebenfalls, die AA-Botschaft weiterzugeben.<br />
Ob uns nur einer zuhört oder viele, es ist immer Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n<br />
<strong>Schritt</strong>. Es gibt viele Gelegenheiten, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu sein,<br />
selbst für die, die zu schüchtern sind, im Meeting zu sprechen, und<br />
auch für die, die sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht<br />
um einzelne Alkoholiker kümmern können. Sie könnten die<br />
nebensächlichen und doch wichtigen Dinge übernehmen, die zum<br />
Gelingen des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es beitragen, vielleicht für Getränke<br />
und Atmosphäre sorgen. Schon manch skeptischer und zweifelnder<br />
Neuer hat in gelockerter Unterhaltung Vertrauen gefunden und<br />
begonnen, sich in unserem Kreis wohl zu fühlen. Dies ist im besten<br />
Sinn des Wortes Mitarbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>. "Umsonst habt ihr es<br />
empfangen, umsonst sollt ihr geben..." Das ist der Kern dieses Teils<br />
des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es.<br />
Es kann vorkommen, dass wir durch den <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> Dinge<br />
erleben, die uns scheinbar zeitweise aus dem Gleichgewicht
ingen. Wenn wir darin auch zunächst schwere Rückschläge<br />
sehen, so werden sie sich später als Startpunkt zu besseren Dingen<br />
erweisen. Wir versuchen zum Beispiel mit ganzem Herzen, einer<br />
bestimmten Person zur Nüchternheit zu verhelfen. Nachdem wir<br />
monatelang unser Bestes getan haben, erleben wir ihren Rückfall.<br />
Vielleicht geschieht dies sogar mehrmals hintereinander, und wir<br />
verlieren den Mut und trauen uns nicht mehr zu, die AA-Botschaft<br />
weiterzutragen. Oder die umgekehrte Situation tritt ein: Wir geraten<br />
in Hochstimmung, weil wir offensichtlich erfolgreich waren. Wir sind<br />
versucht, den Neuen zu beherrschen. Vielleicht wollen wir ihm in<br />
seinen Angelegenheiten Ratschläge<br />
geben, für die wir nicht kompetent sind. Wir sind verletzt und<br />
beleidigt, wenn unsere Ratschläge zurückgewiesen werden,<br />
ebenso, wenn sie befolgt werden und noch größeres Durcheinander<br />
anrichten. Mit glühendem Eifer stürzen wir uns auf die Aufgaben es<br />
<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es und bringen die Botschaft so vielen Alkoholikern,<br />
dass man uns auf ein Podest stellt. -Angenommen, sie machen uns<br />
zum Gruppensprecher. Hier geraten wir wieder in Versuchung, alles<br />
zu übertreiben, und oft kommt es dann zu Rückschlägen und<br />
Folgen, die schwer zu ertragen sind. Auf lange Sicht erkennen wir<br />
aber klar, dass die eben genannten Beispiele nur<br />
Wachstumsschmerzen sind. Wir können daraus nur Nutzen ziehen,<br />
wenn wir die Antworten in allen zwölf <strong>Schritt</strong>en suchen.<br />
Nun kommt die größte Frage. Wie können wir unsere tägliches<br />
Leben nach diesen Grundsätzen ausrichten? Sind wir von unserer<br />
neuen Lebensgestaltung genauso begeistert wie in den Zeiten, in<br />
denen wir versuchten, anderen Alkoholikern zur Nüchternheit zu<br />
verhelfen? Können wir die gleiche Liebe und Toleranz, die wir für<br />
die AA-Gruppe empfinden, unseren verzweifelten Familien<br />
entgegenbringen? Können wir die gleiche Art von Vertrauen und<br />
Glauben, die wir zu unserem Sponsor haben, auch den Menschen<br />
schenken, die durch unsere Krankheit gelitten haben und schwer<br />
geschädigt wurden? Können wir den Geist des AA-Programms auf<br />
unser tägliches Leben übertragen? Können wir die Verantwortung<br />
unserer Umwelt gegenüber, die uns jetzt bewusst geworden ist,<br />
übernehmen? Haben wir zu der Religion, der wir angehören, nun<br />
eine neue Beziehung? Können wir neue Lebensfreude dadurch<br />
finden, dass wir versuchen, auf allen Gebieten unsere Bestes zu<br />
tun?
Wie kommen wir außerdem mit scheinbarem Versagen oder Erfolg<br />
zurecht? Können wir jetzt beides hinnehmen und uns hineinfügen<br />
ohne Verzweiflung oder Überheblichkeit? Können wir Armut,<br />
Krankheit, Einsamkeit und schmerzliche Verluste mit Mut und<br />
Gelassenheit hinnehmen? Können wir uns mit bescheidenen, doch<br />
manchmal dauerhafteren Ergebnissen zufrieden heben, wenn uns<br />
glanzvolle Erfolge versagt bleiben?<br />
Unsere Antwort auf die Lebensfrage heißt: "Ja, das alles ist<br />
möglich." Wir haben bei denen, die versucht haben, die Zwölf<br />
<strong>Schritt</strong>e der AA zu praktizieren, gesehen, wie sich Einsamkeit,<br />
Schmerzen und sogar Unglück zum Guten gewandt haben. Wenn<br />
das Tatsachen aus dem Leben vieler durch die AA genesener<br />
Alkoholiker sind, dann können andere Menschen diese Tatsachen<br />
ebenfalls erfahren.<br />
Natürlich haben wir alle AA, auch nicht die besten, einen stets<br />
gleichbleibenden Erfolg. Auch ohne ein erstes Glas getrunken zu<br />
haben, kommen wir oft ins Schleudern. Mit der Gleichgültigkeit<br />
beginnen oft unsere Schwierigkeiten. Wir sind nüchtern und<br />
zufrieden im Kreis der AA-Gemeinschaft. Zu Hause und im Beruf ist<br />
alles in Ordnung. Wir beglückwünschen uns zu etwas, was sich<br />
später als eine viel zu leichtfertige und oberflächliche<br />
Betrachtungsweise herausstellt. Zeitweise tritt bei uns ein Stillstand<br />
ein, denn wir fühlen uns zufrieden und glauben, dass wir für uns<br />
nicht alle zwölf <strong>Schritt</strong>e brauchen. Wenige <strong>Schritt</strong>e genügen uns zu<br />
einem guten Leben. Möglicherweise reichen uns zwei <strong>Schritt</strong>e, der<br />
Erste und der Teil des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es, in dem wir die Botschaft<br />
weitergeben. Im AA-Sprachgebraucht nennt man diesen<br />
euphorischen Zustand: Two-Stepping. Das kann Jahre dauern.<br />
Selbst Anonyme Alkoholiker mit besten Absichten können der<br />
"Zwei-<strong>Schritt</strong>e-Illusion" erliegen. Früher oder später segeln die<br />
rosaroten Wolken davon, und die Dinge entwickeln sich<br />
enttäuschend trübselig. <strong>Der</strong> Gedanke kommt auf, dass die<br />
Gemeinschaft der AA auch nicht das richtige ist. Wir geraten<br />
durcheinander und werden entmutigt.<br />
Wie es nun manchmal im Leben ist, bekommen wir plötzlich einen<br />
dicken Brocken vorgesetzt, den wir kaum schlucken, geschweige<br />
dann verdauen können. Vielleicht werden wir nicht befördert, oder
verlieren die gute Arbeitsstelle. Vielleicht haben wir in der Familie<br />
oder in einer privaten Beziehung ernste Schwierigkeiten. Vielleicht<br />
wird der Sohn, den wir unter Gottes besonderem Schutz glaubten,<br />
Opfer eines Unfalls. Was dann? Besitzen wir Alkoholiker die<br />
Kraftquelle oder können wir sie in der Gemeinschaft der AA finden,<br />
die wir zu Bewältigung dieser großen Schwierigkeiten brauchen, mit<br />
denen viele von uns zu kämpfen haben? Mit solchen<br />
Schicksalsschlägen konnten wir früher nicht fertig werden. Können<br />
wir jetzt mit ihnen mit der Hilfe Gottes, wie wir Ihn verstehen, so gut<br />
und tapfer fertig werden wie unsere Freunde, die keine Alkoholiker<br />
sind? Können wir diese Schwierigkeiten in Gewinn umwandeln, in<br />
Wachstum und in Trost für uns und unsere Angehörigen? Gewiss<br />
haben wir eine Chance, wenn wir nicht nur zwei <strong>Schritt</strong>e<br />
praktizieren, sondern uns mit allen zwölf <strong>Schritt</strong>en befassen, und<br />
wenn wir bereit sind, die Gnade Gottes zu empfangen, die uns bei<br />
jeder Katastrophe stützen und stärken kann.<br />
Im Grunde genommen haben wir alle die gleichen Probleme, doch<br />
bei ehrlichem Bemühen, "diese Prinzipien in allen unseren täglichen<br />
Angelegenheiten anzuwenden", haben überzeugte AA offensichtlich<br />
die Fähigkeit mit Gottes Gnade diese Schwierigkeiten zu bewältigen<br />
und sie so in ein Zeugnis ihres Glaubens umzuwandeln. Wir haben<br />
Anonyme Alkoholiker erlebt, die langwierige Leiden und schlimme<br />
Krankheit fast ohne Klage und oft mit guter Laune ertragen haben.<br />
Manchmal erlebten wir Familien, die durch Missverständnisse,<br />
Spannungen oder tatsächliche Untreue zerbrochen waren und die<br />
durch das Leben im AA-Programm wieder zueinander fanden.<br />
Wenn auch die meisten Anonymen Alkoholiker im Geldverdienen<br />
ziemlich erfolgreich sind, gibt es einige die finanziell nicht auf die<br />
Beine kommen, und andere, die in materieller Hinsicht starke<br />
Rückschläge erleben. Im Allgemeinen werde diese Situationen mit<br />
Stärke und Glauben ertragen.<br />
Wie die meisten Menschen schlucken wir die dicken Brocken, wie<br />
sie kommen. Aber genau wie die anderen tun wir uns schwerer mit<br />
den vielen kleinen und immer wiederkehrenden Scherereien im<br />
Leben. Unsere Antwort darauf heißt, spirituell noch weiter zu<br />
wachsen. Nur so können wir unsere Aussichten auf ein wirklich<br />
zufriedenes und sinnvolles Leben verbessern. Bei unserem<br />
spirituellem Wachstum wird uns klar, dass unsere alte Einstellung
zu unserem Gefühlsleben gründlich überprüft werden muss. Unser<br />
Verlangen nach seelischer Geborgenheit, nach Wohlstand,<br />
persönlichem Ansehen und Macht, nach Glück und einem<br />
zufriedenen Familienleben, all das muss wohlabgewogen und in<br />
eine andere Richtung gelenkt werde. Wir haben gelernt, dass die<br />
Befriedigung unserer natürlichen Triebe nicht allein Sinn und Zweck<br />
unseres Lebens sein kann. Wenn wir unsere natürlichen Triebe an<br />
die erste Stelle setzen, haben wir den Karren vor das Pferd<br />
gespannt; wir erleben die alten Enttäuschungen. Wenn wir jedoch<br />
bereit sind, das geistige Wachstum an die erste Stelle zu setzen,<br />
dann und nur dann haben wir eine reelle Chance.<br />
Nachdem wir uns der Gemeinschaft der AA angeschlossen haben<br />
und wenn wir dort gewachsen sind, ändern sich unsere Einstellung<br />
und Handlungsweise in unserem Streben nach Sicherheit<br />
grundlegend, und zuwar sowohl nach innerer als auch nach<br />
materieller Sicherheit. Unser ichbezogener Drang nach<br />
Geborgenheit führte zu gestörten Beziehungen zu allen anderen<br />
Menschen. Obwohl uns das manchmal gar nicht bewusst war, kam<br />
es am Ende immer auf dasselbe hinaus. Entweder hatten wir<br />
versucht, Gott zu spielen und über unsere Mitmenschen zu<br />
herrschen, oder wir hatten uns im Übermaß von ihnen abhängig<br />
gemacht. Dort wo wir zeitweise einen solchen Einfluss auf das<br />
Leben anderer Menschen hatten, als wären sie noch Kinder, fühlten<br />
wir uns sicher und zufrieden. Wenn sie sich aber schließlich<br />
widersetzten oder wegliefen, waren wir sehr verletzt und bitter<br />
enttäuscht. Wir machten ihnen Vorwürfe und konnten gar nicht<br />
begreifen, dass unsere unvernünftigen Forderungen der Grund<br />
waren.<br />
Wenn wir den entgegengesetzten Weg gingen und darauf<br />
bestanden, dass andere uns beschützen und für uns sorgen sollten,<br />
als wären wir selbst noch Kinder oder als ob die Welt uns unseren<br />
Lebensunterhalt schulde, war das Ergebnis ebenso<br />
niederschmetternd. Durch unsere Verhalten wurden wir von den<br />
Menschen, die wir am meisten liebten, beiseite geschoben und im<br />
Stich gelassen. Unsere Enttäuschung war kaum zu ertragen. Wir<br />
konnten nicht verstehen, wie Menschen so mit uns umgehen<br />
konnten, Wir konnten nicht erkennen, dass wir, obwohl erwachsen<br />
an Jahren, uns immer noch kindisch benahmen und versuchten,<br />
jeden - Freund, Ehefrau, Ehemann, ja die ganze Umwelt - zu
unserem Beschützer zu machen. Wir weigerten uns, die schwierige<br />
Lektion zu lernen, dass zu große Abhängigkeit von anderen<br />
Menschen zu nichts führt. weil alle Menschen Fehler machen und<br />
selbst die besten von uns manchmal enttäuschen, besonders wenn<br />
unsere Forderungen nach Aufmerksamkeit unvernünftig werden.<br />
Nachdem wir in unserem spirituellen Wachstum Fortschritte<br />
gemacht hatten, durchschauten wir solche Torheiten. Wir sahen ein,<br />
dass wir unsere Leben auf Geben und Nehmen einrichten mussten,<br />
wenn wir uns unter Erwachsenen innerlich sicher fühlen wollten. Wir<br />
mussten den Sinn für Partnerschaft oder Brüderlichkeit mit unseren<br />
Mitmenschen entwickeln. Wir erkannten, das wir stets etwas geben<br />
mussten, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Als wir uns<br />
das zur Angewohnheit gemacht hatten, merkten wir, dass wir<br />
unseren Mitmenschen sympathischer waren als vorher. Selbst wenn<br />
sie uns enttäuschten, hatten wir Verständnis und waren nicht all zu<br />
sehr verletzt. Mit fortschreitender Nüchternheit spürten wir, dass<br />
Gott selbst die beste Kraftquelle für unsere innere Festigkeit war.<br />
Wir erfuhren, dass es uns gut tat, uns auf Seine vollkommene<br />
Gerechtigkeit, Vergebung und Liebe zu verlassen. Hier fanden wir<br />
Hilfe, wo nichts anderes half. Wenn wir uns vollkommen auf Gott<br />
verließen, konnten wir schwerlich unseren Mitmenschen gegenüber<br />
Gott spielen, und es drängte uns auch nicht mehr, uns alleine auf<br />
den Schutz anderer Menschen zu verlassen. Diese neue<br />
Einstellung ab uns innere Kraft und Seelenfrieden, die weder durch<br />
Fehler anderer noch durch unverschuldetes Unglück erschüttert<br />
werden konnten.<br />
Diese neue Haltung, das lernten wir bald, war besonders für uns<br />
Alkoholiker dringend notwendig. <strong>Der</strong> Alkoholismus brachte uns<br />
Einsamkeit, auch wenn wir von Menschen umgeben waren, die uns<br />
liebten. Wenn wir durch unsere Eigenwilligkeit alle aus unserer<br />
Umgebung vertrieben hatten und unsere Isolation vollkommen war,<br />
mussten wir in billigen Kneipen den großen Mann spielen, um<br />
anschließend alleine durch die Strassen zu wanken und auf das<br />
Mitgefühl der Passanten zu rechnen. Wir suchten immer noch<br />
seelische Geborgenheit dadurch, dass wir andere beherrschten<br />
oder uns von ihnen abhängig machten. Selbst als wir noch Geld<br />
hatten, standen wir allein in der Welt und suchten vergeblich<br />
Sicherheit, indem wir andere beherrschen wollten oder uns ihnen<br />
unterwarfen. Für alle, die das durchgemacht haben, bekam die
Gemeinschaft der AA eine ganz besondere Bedeutung, und hier<br />
bekamen wir echte Beziehungen zu Menschen, die uns verstanden;<br />
wir brauchten nicht mehr allein zu sein.<br />
Die meisten Verheirateten unter uns führen ein glückliches<br />
Familienleben. Es ist erstaunlich, wie viel Schaden aus der<br />
Trinkerzeit wieder repariert wurde. Wie andere Menschen auch,<br />
haben wir sexuelle und eheliche Probleme, und oftmals sind sie<br />
sehr ernst. Jedoch sind Ehescheidungen und Trennungen bei<br />
Anonymen Alkoholikern gar nicht so häufig. Unsere größte<br />
Schwierigkeit besteht nicht darin, die Ehe aufrechtzuerhalten,<br />
sondern in ihr glücklicher zu werden, indem wir schwere<br />
Gefühlsstörungen abbauen, deren Ursache in unserer Krankheit<br />
liegt.<br />
Fast jeder Mensch verspürt irgendwann in seinem Leben den<br />
starken Wunsch, einen Partner des anderen Geschlechts zu finden,<br />
mit dem er so harmonisch wie möglich in spiritueller, seelischer,<br />
gefühlsmäßiger und körperlicher Gemeinschaft leben kann. Dieser<br />
mächtige Drang ist die Wurzel des menschlichen Daseins, eine<br />
schöpferische Energiequelle, die einen großen Einfluss auf unser<br />
Leben hat. Gott hat uns so geschaffen. Unsere Frage sollte deshalb<br />
lauten: Missbrauchen wir dieses Gottesgeschenk, indem wir uns<br />
selbst zerstören, sei es durch Unwissenheit, Triebhaftigkeit und<br />
Selbstsucht? Wir Anonymen Alkoholiker können uns nicht<br />
anmaßen, klare Antworten auf diese uralten Menschheitsprobleme<br />
zu geben, doch einiges wissen wir aus eigener Erfahrung zu<br />
berichten.<br />
Bei einem trinkenden Alkoholiker entstehen Verhältnisse, die sich<br />
zum Nachteil einer ehelichen Gemeinschaft und eines erträglichen<br />
Zusammenlebens auswirken. Trinkt der Ehemann, wird die Frau<br />
zum Familienoberhaupt und muss häufig auch den Unterhalt<br />
verdienen. Je mehr sich die Dinge verschlechtern, um so mehr wird<br />
der Mann wie ein krankes, unmündiges Kind gehütet, das man<br />
ständig aus Klemmen und Sackgassen herausholen muss. Ganz<br />
allmählich und meist unbewusst wird die Frau in die Rolle der Mutter<br />
eines ungezogenen Jungen gepresst. Ist bei ihr der Mutterinstinkt<br />
von Natur aus stark ausgeprägt, wird die Sache noch schlimmer.<br />
Die meisten Partnerschaften halten das nicht aus. Die Ehefrau<br />
meint immer noch, alles richtig zu machen, doch der Alkoholiker
eginnt, die mütterliche Fürsorge wechselweise zu<br />
lieben und zu hassen. Hier wird ein Verhaltensmuster entwickelt,<br />
das später nur mit großer Mühe abgebaut werden kann. Trotz allem<br />
werden unter dem Einfluss der Zwölf <strong>Schritt</strong>e solche Verhältnisse oft<br />
wieder in Ordnung gebracht.<br />
Ist die Partnerschaft stark gestört, dann ist eine lange Zeit<br />
geduldigen Bemühens erforderlich. Nachdem der Ehemann sich<br />
den Anonymen Alkoholikern angeschlossen hat, wird die Frau<br />
vielleicht unzufrieden, ja, sie nimmt den Anonymen Alkoholikern<br />
sogar übel, dass sie fertig bringen, was ihre Liebe und Hingabe in<br />
vielen Jahren nicht geschafft hat. Ihr Ehepartner betätigt sich<br />
vielleicht bei AA und wird bei seinen neuen Freunden so aktiv, dass<br />
er rücksichtslos von zu Hause fortbleibt, weit mehr als in seiner<br />
Trinkerzeit. Wenn er sieht, wie unglücklich sie ist, empfiehlt er ihr<br />
die Zwölf <strong>Schritt</strong>e der AA und versucht, ihr beizubringen, wie sie zu<br />
leben hat. Sie weiß natürlich, dass sie jahrelang das Leben besser<br />
gemeistert hat als er. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe und<br />
fragen sich, ob ihre Ehe jemals wieder glücklich wird. Vielleicht<br />
zweifeln sie daran, ob sie es überhaupt jemals war.<br />
Die partnerschaftlichen Beziehungen können schon so schwer<br />
geschädigt sein, dass eine Trennung notwendig wird. Das sind<br />
jedoch Ausnahmen. Wenn der Alkoholiker erkennt, was seine Frau<br />
durchlitten hat und wie viel Leid er ihr und seinen Kindern zugefügt<br />
hat, übernimmt er gern wieder seine familiäre Verantwortung. Er<br />
versucht, gutzumachen, was ihm möglich ist und hinzunehmen, was<br />
nicht zu ändern ist. Er versucht, auch zu Hause nach den Zwölf<br />
<strong>Schritt</strong>en zu leben, was allen zugute kommt. Er beginnt,<br />
entschlossen und doch behutsam, sich wie ein Partner und nicht<br />
wie ein ungezogener Junge zu benehmen. Schließlich ist er<br />
überzeugt, dass unbekümmerte und romantische Schwärmereien<br />
für ihn nicht die richtige Lebensart sind.<br />
Bei den Anonymen Alkoholikern sind viele Alleinstehende, die gern<br />
heiraten möchten und die dazu auch in der Lage wären. Mancher<br />
findet einen Ehepartner innerhalb der Gemeinschaft. Was wird aus<br />
solchen Ehen? Im allgemeinen werden sie gut. Gemeinsames<br />
Leiden als Trinker, gemeinsames Interesse an der Gemeinschaft<br />
der AA und an spirituellen Dingen vertiefen solche Partnerschaften.<br />
Schwierigkeiten können dann entstehen, wenn sich bei einem AA-
Treffen Mann und Frau auf den ersten Blick verlieben. Wenn zwei<br />
Anonyme Alkoholiker heiraten wollen, sollte ihre Nüchternheit eine<br />
solide Grundlage haben. Sie sollten sich lange genug kennen, um<br />
zu wissen, dass ihre Übereinstimmung auf spiritueller und<br />
emotioneller Ebene eine Tatsache und kein Wunschdenken ist. Sie<br />
müssen ganz sicher sein, dass weder bei dem einen<br />
noch bei dem anderen tiefliegende Gefühlsstörungen vorhanden<br />
sind, die sich bei späterer Belastung möglicherweise auswachsen<br />
und die Partnerschaft zerstören können. Diese Überlegungen gelten<br />
genau so für die Anonymen Alkoholiker, die einen Partner<br />
außerhalb unserer Gemeinschaft heiraten wollen. Klare Überlegung<br />
und reife Einstellung sind in jedem Fall die Grundlage einer<br />
glücklichen Ehe.<br />
Wie steht es nun mit den Anonymen Alkoholikern, die aus den<br />
verschiedensten Gründen keine Familie haben? Zunächst fühlen<br />
sich viele von ihnen einsam und es tut ihnen weh, wenn sie um sich<br />
herum glückliche Familien sehen. Wenn ihnen dieses Glück nicht<br />
vergönnt ist, kann ihnen die Gemeinschaft ein zufriedenes Leben<br />
von ähnlichem Wert und ähnlicher Dauer bieten?<br />
Selbstverständlich, aber sie müssen sich selbst große Mühe geben,<br />
es zu suchen. Diese Einzelgänger berichten, dass sie sich inmitten<br />
so vieler Freunde der Gemeinschaft nicht mehr allein fühlen.<br />
Zusammen mit anderen Männern und Frauen haben sie die<br />
Möglichkeit, sich unzähligen geistigen Interessen, anderen<br />
Menschen und konstruktiven Plänen zu widmen. Frei von familiären<br />
Verpflichtungen können sie sich an vielen Unternehmungen<br />
beteiligen, die Familienvätern und -müttern vorenthalten sind. Wir<br />
erleben täglich, was sie alles bei den AA leisten und wie viel Freude<br />
sie dadurch empfangen.<br />
In Geldsachen und anderen materiellen Dingen hat sich unsere<br />
Einstellung grundlegend gewandelt. Mit wenigen Ausnahmen waren<br />
wir früher alle Verschwender. Wir warfen unser Geld mit vollen<br />
Händen hinaus, um uns zu bestätigen und andere zu beeindrucken.<br />
Als wir noch tranken, benahmen wir uns so, als sei unsere<br />
Geldquelle unerschöpflich, doch in Katerstimmung verfielen wir oft<br />
auch ins andere Extrem und wurden meistens geizig. Unbewusst<br />
sparten wir bereits für die nächste Zechtour. Geld war für uns nur<br />
Mittel für Vergnügen und zur Selbstbestätigung. Als unser Trinken<br />
immer schlimmer wurde, war Geld eine dringende Notwendigkeit,
weil wir uns damit<br />
das nächste Glas und zeitweiliges Vergessen kaufen konnten.<br />
In der Gemeinschaft nüchtern geworden, ändert sich diese Haltung<br />
- oft viel zu krass - ins Gegenteil. Die Erinnerung an unsere<br />
jahrelange Verschwendung versetzte uns in Panik. Wir glaubten, wir<br />
hätten einfach nicht mehr genug Zeit, unsere Verluste<br />
auszugleichen. Wie würden wir je aus diesen drückenden Schulden<br />
herauskommen? Wie sollten wir es fertig bringen, uns ein<br />
angenehmes Zuhause zu schaffen, die Kinder auszubilden und<br />
außerdem noch etwas für das Alter zurücklegen? Es ging uns nicht<br />
mehr darum, mit Geld anzugeben, jetzt war materielle Sicherheit<br />
unser Ziel.<br />
Existenzielle Sorgen peinigten uns auch noch, als wir beruflich<br />
wieder gesichert waren. Wir wurden Geizhälse und Pfennigfuchser.<br />
Wir mussten finanziell voll abgesichert sein, sonst... Wir vergaßen,<br />
dass die meisten nüchternen Anonymen Alkoholiker<br />
Verdienstmöglichkeiten haben, die über dem Durchschnitt liegen.<br />
Wir vergasen die Unterstützung unserer Freunde, die uns bessere<br />
Arbeitsplätze anboten, wenn sie uns für fähig hielten. Wir dachten<br />
überhaupt nicht an die tatsächliche oder mögliche finanzielle<br />
Unsicherheit, mit der jeder Mensch leben muss. Das schlimmste<br />
aber war, dass wir Gott vergaßen. In Geldangelegenheiten setzten<br />
wir nur Vertrauen in uns selbst, und davon hatten wir nicht all zu<br />
viel.<br />
Das alles zeigte uns natürlich, dass wir noch lange nicht im<br />
Gleichgewicht waren. Wenn wir in unserem Beruf nur ein Mittel zum<br />
Geldverdienen und nicht das Mittel zum Dienen sahen, wenn uns<br />
das Geld für finanzielle Unabhängigkeit wichtiger war als die richtig<br />
verstandene Abhängigkeit von Gott, waren wir immer noch Opfer<br />
unbegründeter Furcht. Und diese Furcht machte ein zufriedenes<br />
und nützliches Dasein, ganz gleich auf welcher finanziellen Ebene,<br />
unmöglich.<br />
Aber im Laufe der Zeit konnten wir mit Hilfe der Zwölf <strong>Schritt</strong>e der<br />
AA diese Angst überwinden, unabhängig von unseren materiellen<br />
Aussichten. Wir konnten fröhlich einfache Arbeiten verrichten ohne<br />
Angst vor morgen. Als sich unsere Verhältnisse besserten, verloren<br />
wir die Angst vor Krisen, denn wir hatten gelernt, dass alle
Schwierigkeiten sich in wertvolle Erfahrung umwandeln können.<br />
Unsere materielle Lage spielte keine Rolle, wichtig war unsere<br />
geistige Verfassung. Allmählich wurde das Geld Mittel zum Zweck;<br />
es beherrschte uns nicht mehr. Wir konnten damit Freude bereiten<br />
und Hilfe geben. Wenn wir so mit Gottes Hilfe gelassen unser<br />
Schicksal hinnahmen, konnten wir in Frieden mit uns leben und<br />
anderen, die noch unter den gleichen Ängsten litten, zeigen, dass<br />
auch sie damit fertig würden. Wir fanden heraus, dass Freisein von<br />
Angst viel wichtiger ist als Freisein von Not.<br />
Noch ein Wort zu unserer gewandelten Einstellung zu persönlicher<br />
Geltung, Einfluss, Ehrgeiz und Führungsanspruch. Dies waren die<br />
Klippen, an denen manche während ihrer Trinkerzeit Schiffbruch<br />
erlitten haben.<br />
Fast jeder Junge in den Vereinigten Staaten träumt davon,<br />
Präsident zu werden. Er möchte der erste Mann seines Landes<br />
sein. Wenn er älter wird und einsieht, dass das unmöglich ist, kann<br />
er nur noch milde über seinen Kindheitstraum lächeln. Er erkennt in<br />
seinem späteren Leben, dass wahres Glück nicht darin liegt, der<br />
erste Mann zu sein oder der Sieger in dem gnadenlosen Kampf um<br />
Geld, Liebe und Selbstbestätigung. Er lernt, dass er zufrieden sein<br />
kann, solange er die Karten richtig ausspielt, die ihm das Leben<br />
zuteilt. Er ist immer noch strebsam, aber nicht übertrieben ehrgeizig,<br />
weil er die Realität erkennen und akzeptieren kann. Er ist bereit,<br />
sich anzupassen.<br />
Alkoholiker sind anders. Als die Gemeinschaft der Anonymen<br />
Alkoholiker noch jung war, machten bedeutende Psychologen und<br />
Ärzte eine umfangreiche Studie an einer großen Gruppe<br />
sogenannter Problemtrinker. Die Wissenschaftler wollten nicht<br />
herausfinden, wie verschieden wir voneinander waren, sie wollten<br />
vielmehr die charakteristischen Persönlichkeitsmerkmale, falls<br />
überhaupt vorhanden, ausfindig machen, die allen Alkoholikern<br />
gemeinsam waren. Sie kamen zu einer Schlussfolgerung, die die<br />
Anonymen Alkoholiker jener Zeit schockierte. Diese studierten<br />
Leute hatten den Nerv zu behaupten, die meisten Alkoholiker seien<br />
noch kindlich, gefühlsmäßig überempfindlich und großspurig.<br />
Wir Alkoholiker regten uns fürchterlich darüber auf. Wir wollten nicht<br />
wahrhaben, dass unsere Erwachsenenträume oft wirklich kindlich
waren. Und wenn wir uns vorstellten, wie hart das Leben uns<br />
mitgespielt hatte, war es doch ganz natürlich, dass wir empfindlich<br />
waren. Von Großsprecherei konnte keine Rede sein, meinten wir,<br />
denn wir hätten nur den berechtigten Ehrgeiz, den Lebenskampf zu<br />
bestehen. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Inzwischen sind die<br />
meisten von uns mit den Wissenschaftlern einer Meinung. Wir<br />
haben uns selbst und die Menschen unserer Umgebung kritischer<br />
betrachtet. Wir haben erkannt, dass unbegründete Ängste uns dazu<br />
bringen, das Leben als ein Geschäft anzusehen, aus dem man<br />
Ruhm, Geld und das, was wir für Machtpositionen hielten,<br />
herausholen kann. So wurde falscher Stolz die Rückseite des<br />
Falschgeldes der Marke Furcht. Wir mussten einfach eine<br />
Hauptrolle spielen, um unsere tiefliegenden Komplexe zu<br />
überdecken. Bei Zufallserfolgen prahlten wir von zukünftigen noch<br />
größeren Taten, bei Rückschlägen wurden wir verbittert. Erreichten<br />
wir nichts Außergewöhnliches, wurden wir deprimiert und feige.<br />
Dann wurden wir natürlich als miese Typen bezeichnet. Aber jetzt<br />
wissen wir, dass wir alle aus einem Holz geschnitzt sind. Im Grunde<br />
genommen waren wir alle krankhaft ängstlich. Es spielte keine<br />
Rolle, ob wir am Rande des Lebens gesessen und uns ins<br />
Vergessen hineingetrunken hatten, oder ob wir uns tollkühn und<br />
kopflos hineinstürzten, ohne unser Maß zu kennen. Das Ergebnis<br />
war immer gleich - fast alle wären wir beinahe in den Fluten des<br />
Alkohols ertrunken.<br />
Diese gestörten Lebenstriebe sind heute bei nüchternen Anonymen<br />
Alkoholikern wieder in die normale Richtung geleitet worden, damit<br />
sie ihren wahren Zweck erfüllen. Wir geben uns keine Mühe mehr,<br />
andere zu beherrschen, um uns Geltung zu verschaffen. Wir<br />
streben nicht mehr nach Ruhm und Ehre, um gelobt zu werden.<br />
Wenn wir unsere Verpflichtungen gegenüber der Familie, den<br />
Freunden, unserer Arbeit und der Gesellschaft erfüllen und dadurch<br />
Zuneigung gewinnen und wenn uns mehr Verantwortung und<br />
Vertrauen geschenkt wird, dann wollen wir in Demut dafür dankbar<br />
sein und unsere Aufgaben nach den Grundsätzen der Liebe und<br />
des Dienens ausrichten. Denn wir wissen, dass echte Autorität<br />
darauf beruht, Vorbild zu sein und nicht auf eitler Zurschaustellung<br />
von Macht und Ruhm.<br />
Noch schöner ist das Gefühl, dass wir uns innerhalb unserer<br />
Gemeinschaft nicht besonders auszeichnen müssen, um uns
nützlich und glücklich zu fühlen. Nicht viele von uns sind<br />
Führerpersönlichkeiten. Die meisten wollen es gar nicht sein.<br />
Bereitwillig geleisteter Dienst, Erfüllung unserer Pflichten, geduldig<br />
ertragene oder mit Gottes Hilfe gelöste Schwierigkeiten, das<br />
Bewusstsein in der Familie und im täglichen Leben Partner bei<br />
einem gemeinsamen Ziel zu sein, die Erkenntnis, dass in Gottes<br />
Augen jeder einzelne Mensch wichtig ist, der Beweis, dass<br />
selbstlose Liebe sich voll auszahlt, die Gewissheit, dass wir nicht<br />
länger isoliert sind in selbstgebauten Gefängnissen, das sichere<br />
Gefühl, nach Gottes Absicht auf den rechten Platz gestellt worden<br />
zu sein - das alles verstehen wir unter dauerhafter Zufriedenheit<br />
eines richtigen Lebens. Kein Glanz und vergängliches Glück, keine<br />
riesigen finanziellen Besitztümer können uns das auch nur<br />
annähernd ersetzen. Wahrer Ehrgeiz - nicht das, was wir früher<br />
darunter verstanden - ist der ehrliche Wunsch, in Demut mit Gottes<br />
Gnade ein zweckerfülltes Leben zu führen.<br />
Soweit unsere Betrachtungen zu den Zwölf <strong>Schritt</strong>en der Anonymen<br />
Alkoholiker. Wir haben so viele Probleme angeschnitten, dass es<br />
den Anschein erweckt, als ob das AA-Programm hauptsächlich in<br />
der Überwindung schwerwiegender Probleme besteht. Bis zu einem<br />
gewissen Grad stimmt das auch. Wir haben über Probleme<br />
gesprochen, weil wir problematische Leute sind, die einen Weg aus<br />
ihren Schwierigkeiten gefunden haben, und wir wollen unsere<br />
Erkenntnis über diesen Weg mit anderen teilen. Nur, indem wir<br />
unser Problem annehmen und zu lösen versuchen, können wir mit<br />
uns selbst und mit unserer Umwelt auskommen und mit Ihm, der<br />
über uns allen steht. Das richtige Verstehen ist der Schlüssel zu<br />
richtigen Grundsätzen und zu richtigem Verhalten, das richtige<br />
Handeln ist der Schlüssel zu einem sinnvollen Leben. <strong>Der</strong> <strong>Zwölfte</strong><br />
<strong>Schritt</strong> der Anonymen Alkoholiker spricht von der Freude an einem<br />
rechtschaffenen Leben.<br />
Wir bemühen uns, jeden Tag die tiefe Bedeutung unseres einfachen<br />
Gelassenheitsspruches mehr zu erfassen<br />
Gott, gebe mir die Gelassenheit,<br />
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,<br />
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,<br />
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Die Erste Tradition<br />
"Unser gemeinsames Wohlergehen sollte an erster Stelle<br />
stehen; die Genesung des Einzelnen beruht auf der Einigkeit<br />
der Anonymen Alkoholiker".<br />
Die Einigkeit der Anonymen Alkoholiker stellt den größten Wert<br />
unserer Gemeinschaft dar. Unser Leben und das Leben aller, die<br />
noch zu uns kommen, hängen davon ab. Entweder stehen wir als<br />
ein Ganzes zusammen, oder die Gemeinschaft geht zugrunde.<br />
Ohne Einigkeit würde das Herz der AA aufhören zu schlagen, die<br />
Adern unserer Gemeinschaft, die die ganze Welt durchziehen,<br />
könnten die Leben spendende Gnade Gottes nicht weitertragen;<br />
Seine Gabe wäre zwecklos vertan. Die Alkoholiker würden sich<br />
isolieren und uns den Vorwurf machen: "Wie großartig hätte die<br />
Gemeinschaft der AA doch sein können!"<br />
"Bedeutet das", wird manch einer ängstlich fragen, "dass bei den<br />
AA der Einzelne nicht viel zählt? Soll er von der Gruppe beherrscht<br />
werden und unbeachtet bleiben?"<br />
Diese Fragen können wir mit einem klaren Nein beantworten.<br />
Wir glauben, dass es auf der Welt keine andere Gemeinschaft gibt,<br />
die sich mehr mit den Einzelnen befasst. Sicherlich gibt es keine<br />
Gemeinschaft, die eifersüchtiger über das Recht des Einzelnen<br />
wacht, zu denken, zu reden und zu handeln, wie er will.<br />
Kein anonymer Alkoholiker kann einen anderen zu etwas zwingen;<br />
niemand kann bestraft oder ausgestoßen werden.<br />
Unsere Zwölf <strong>Schritt</strong>e zur Genesung sind Empfehlungen; die Zwölf<br />
Traditionen, die die Einigkeit der Gemeinschaft der AA<br />
gewährleisten, enthalten kein einziges Verbot. In allen Traditionen<br />
wiederholt sich "Wir sollten" ...nirgendwo steht " Ihr müsst".<br />
Das könnte zu der Ansicht führen, soviel Freiheit für den Einzelnen<br />
käme reiner Anarchie gleich. Jeder Neue, jeder Freund, der die<br />
Gemeinschaft kennen lernt, steht vor einem großen Rätsel. Sie<br />
sehen eine grenzenlose Freiheit, sie sehen aber auch, dass die
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker eine unwiderstehliche<br />
Kraft im Wollen und Handeln hat. Sie denken sich: "Was kann solch<br />
ein Verein von Anarchisten schon zustande bringen? Wie bringen<br />
sie es fertig, ihr gemeinsames Wohlergehen an die erste Stelle zu<br />
setzen? Was, in Gottes Namen, hält sie zusammen?"<br />
Wer sich näher damit befasst, findet bald den Schlüssel zu diesem<br />
seltsamen Widerspruch. Ein Anonymer Alkoholiker muss sich an<br />
die Grundsätze der Genesung halten. Sein Leben hängt wirklich<br />
von der Beachtung der geistigen Grundsätze ab. Weicht er zu weit<br />
von ihnen ab, folgt die Strafe sicher und rasch; er wird krank und<br />
stirbt. Am Anfang fügt er sich, weil er muss. Später jedoch entdeckt<br />
er für sich einen Lebensweg, den er freudig annimmt. Außerdem<br />
wird ihm klar, dass er dieses kostbare Geschenk nicht behalten<br />
kann, wenn er es nicht weitergibt. Weder er noch sonst jemand<br />
kann überleben, wenn er die Botschaft der AA nicht an andere<br />
weitergibt.<br />
Ohne Gruppe ist Genesung für den Einzelnen kaum möglich. Die<br />
Wirklichkeit zeigt, dass der Einzelne nur ein kleines Rädchen im<br />
großen Getriebe ist und dass für die Erhaltung der Gemeinschaft<br />
kein persönliches Opfer zu groß ist. Er lernt, dass er seine inneren<br />
drängenden Wünsche und seinen Ehrgeiz zu unterdrücken hat,<br />
wenn sie der Gruppe schädlich werden könnten. Klar ist, dass die<br />
Gruppe überleben muss, sonst geht der Einzelne zugrunde.<br />
So steht am Anfang die Grundfrage: Wie können Alkoholiker als<br />
Gruppe am besten zusammenleben und zusammenwirken?<br />
Wir habe n es erlebt, wie einzelne ganze Völker vernichteten.<br />
Kampf um Reichtum, Macht und Prestige riss die Menschheit<br />
auseinander wie nie zuvor. Wenn schon große Persönlichkeiten bei<br />
ihrer Suche nach Frieden und Harmonie gescheitert sind, was sollte<br />
dann erst aus diesem zusammengewürfelten Haufen von<br />
Alkoholikern werden? So wie einst jeder um seine Genesung<br />
gerungen und gebetet hat, so befassten wir uns jetzt ernsthaft mit<br />
den Grundsätzen, nach denen die Gemeinschaft der AA als Ganzes
am Leben bleibt. Das Gerüst unserer Gemeinschaft ist auf dem<br />
Amboss der Erfahrung gehämmert worden.<br />
Schon oft haben wir die Geschichte von Eddie Rickenbacker und<br />
seinen mutigen Kameraden erzählt: Ihr Flugzeug war über dem<br />
Pazifischen Ozean abgestürzt. Auch sie waren zunächst dem Tod<br />
entronnen, doch noch trieben sie dem gefährlichen Meer. Sie<br />
erkannten ihrem Glück, dass ihr gemeinsames Wohl an erster Stelle<br />
zu stehen hatte. Keiner verlangte mehr Trinkwasser oder Brot, als<br />
ihm zustand. Jeder musste auf die Anderen Rücksicht nehmen und<br />
alle wussten, dass sie ihre Kraft im unerschütterlichen Glauben<br />
finden mussten. Und sie bekamen die Kraft, mit der sie alle Mängel<br />
ihres zerbrechlichen Bootes, alle Phasen der Mutlosigkeit und<br />
Verzweiflung, alle Schmerzen und Ängste, ja sogar den Tod eines<br />
ihrer Kameraden überwinden konnten.<br />
Dieses Beispiel können wir auch auf unsere Gemeinschaft<br />
übertragen. In unserem Glauben und in unseren Taten konnten wir<br />
uns auf eine unglaubliche Erfahrung stützen. Diese Erfahrungen<br />
leben bis heute fort in den Zwölf Traditionen der Anonymen<br />
Alkoholiker, die, so Gott will, in Einigkeit zusammenhalten.
Die Zweite Tradition<br />
"Für den Sinn und Zweck unserer Gruppe gibt es nur eine<br />
höchste Autorität -einen liebenden Gott, wie Er sich in dem<br />
Gewissen unserer Gruppe zu erkennen gibt. Unsere<br />
Vertrauensleute sind nur betraute Diener; sie herrschen nicht".<br />
Wer erteilt den Anonymen Alkoholikern Weisungen? Wer leitet die<br />
Gemeinschaft? Auch dies sind Rätsel für jeden, besonders für den<br />
Neuen. man ihnen sagt, dass unsere Gemeinschaft keinen<br />
Präsidenten mit irgendwelchen Vollmachten hat, keinen<br />
Schatzmeister, der Mitgliedsbeiträge eintreibt, keinen Vorstand, der<br />
über den Ausschluss irgendeines Mitglieds verfügen kann, dass<br />
überhaupt kein AA einem anderen eine Weisung erteilen oder<br />
Unterordnung erzwingen kann, rufen unsere Freunde überrascht<br />
aus: "Das ist doch einfach unmöglich. Irgendwo muss da ein Haken<br />
sein."<br />
Diese Realisten brauchen nur unsere Zweite Tradition zu lesen, um<br />
zu erkennen, dass es in der Gemeinschaft der nur eine höchste<br />
Autorität gibt, einen liebenden Gott, wie Er sich in dem Gewissen<br />
unserer Gruppe zu erkennen gibt. Zweifelnd fragen sie einen<br />
erfahrenen AA, ob das tatsächlich funktioniert. <strong>Der</strong> Angesprochene,<br />
der einen ganz vernünftigen Eindruck macht, antwortet prompt: "Ja,<br />
das funktioniert wirklich". Trotzdem erscheint den Freunden das<br />
noch reichlich unklar, verschwommen und naiv. Sie fangen an, uns<br />
kritisch zu beobachten, hören ein Stück aus der Geschichte<br />
unserer Gemeinschaft und bald verfügen sie über unwiderlegbare<br />
Tatsachen.<br />
Welche Tatsachen in der Entstehungsgeschichte der Anonymen<br />
Alkoholiker führten dazu, dass dieser anscheinend undurchführbare<br />
Grundsatz aufgestellt wurde?<br />
Angenommen, John D., ein guter AA, zieht nach Middletown. Dort<br />
ist er nun allein. Er überlegt sich, dass er nicht nüchtern bleiben,<br />
nicht einmal überleben kann, wenn er nicht an andere Alkoholiker<br />
weitergibt, was ihm großzügig geschenkt wurde. Er spürt einen
geistigen und sittlichen Auftrag, weil es vielleicht Hunderte von<br />
leidenden Alkoholikern in seiner Nähe gibt, denen er helfen könnte.<br />
Außerdem fehlt ihm seine Heimatgruppe. Er braucht andere<br />
Alkoholiker ebenso sehr wie sie ihn brauchen. Er nimmt Kontakt auf<br />
zu Geistlichen, Ärzten, Redakteuren, Polizisten, Kellnern ... mit dem<br />
Ergebnis, dass Middletown jetzt eine Gruppe hat - und er ist ihr<br />
Gründer.<br />
Da er der Gründer ist, ist er zunächst auch der Chef. Wer sollte es<br />
sonst sein? Sehr bald jedoch teilt er die Aufgaben, die er zunächst<br />
allein übernommen hat, mit den ersten Alkoholikern, denen er<br />
helfen konnte. Von diesem Zeitpunkt an wird aus dem fürsorglichen<br />
"Diktator" der Sprecher einer Gruppe, die aus seinen Freunden<br />
besteht. So wächst die Gruppenhierarchie der Vertrauensleute.<br />
Natürlich haben sie sich selbst gewählt, weil dies anders nicht<br />
möglich war. Schon nach einigen Monaten hat die Gemeinschaft<br />
der AA in dieser Stadt einen prächtigen Aufschwung genommen.<br />
<strong>Der</strong> Gründer der Gruppe und seine Freunde tragen die Botschaft<br />
weiter. Sie mieten Räume, nehmen Verbindungen zu<br />
Krankenhäusern auf. Sie bitten ihre Frauen, für den Kaffee zu<br />
sorgen. Es ist nur allzu menschlich, dass der Gründer und seine<br />
Freunde zunächst den Erfolg ein bisschen genießen. "Vielleicht<br />
wäre es ganz richtig sagen sie", dass wir die Gemeinschaft der AA<br />
in unserer Stadt fest in der Hand behalten. Letzten Endes sind wir<br />
doch erfahren. Außerdem wisst ihr, wie viel Gutes wir für die Trinker<br />
getan haben. Sie sollten dankbar sein. Ganz bestimmt sind<br />
manchmal Gruppengründer und ihre Freunde weiser und demütiger<br />
als diese hier. Doch größtenteils sind sie in diesem<br />
Entwicklungsstadium noch nicht so weit.<br />
Die Gruppe leidet unter Wachstumsschmerzen. Die Lauten drängen<br />
sich vor, die Leisen ziehen sich zurück. Die Gruppe wird<br />
lawinenartig mit Problemen überrollt. Was noch wichtig ist, die<br />
Missfallensäußerungen über die Gruppenhierarchie werden immer<br />
lauter und eines Tages ist es nicht mehr zu überhören: "Glauben<br />
denn diese Alten, sie könnten die Gruppe ewig regieren? Wir wollen
wählen!" Nun sind der Gründer und seine Freunde verletzt und<br />
niedergeschlagen. Sie stürzen von einer Krise in die andere, sie<br />
verteidigen sich, aber es ist zwecklos: Die Revolte ist im Gange.<br />
Das Gruppengewissen ist dabei, die Sache in die Hand zu nehmen.<br />
So kommt es zur Wahl. Wenn der Gründer und seine Freunde gute<br />
Arbeit geleistet haben, werden sie vielleicht zu ihrer eigenen<br />
Überraschung für eine gewisse Zeit wiedergewählt. Wenn sie sich<br />
aber ständig undemokratisch verhalten haben, werden sie alle<br />
abgewählt. In jedem Fall wählt die Gruppe nun einen Ausschuss<br />
betrauter Diener, die sich in ihren Funktionen abwechseln. Die<br />
Befugnisse dieses Ausschusses sind scharf abgegrenzt. Die<br />
Mitglieder können die Gruppe weder regieren noch ihr Vorschriften<br />
machen. Sie sind betraute Diener. Sie haben manchmal die<br />
undankbare Aufgabe, die nebensächlichsten Arbeiten in der Gruppe<br />
zu verrichten. Sie haben einen Gruppensprecher. Sie halten die<br />
Verbindung zur Öffentlichkeit und setzen die Meetings an. Ihr<br />
verantwortlicher Kassierer nimmt das Geld aus der Hutsammlung,<br />
verwaltet es, bezahlt die Miete und andere Rechnungen und legt<br />
regelmäßig einen Finanzbericht bei den Arbeitsmeetings vor. <strong>Der</strong><br />
Gruppensekretär sorgt für Literatur, für die Beantwortung der<br />
Telefonanrufe, beantwortet die Post und verschickt Einladungen zu<br />
den Meetings. Durch diese einfachen Dienste kann die Gruppe<br />
funktionieren.<br />
Dieser Arbeitsausschuss hat keine spirituellen Aufgaben, fällt kein<br />
persönliches Urteil und erteilt keine Weisungen. Wenn das einer<br />
versucht, kann er bei der nächsten Wahl wieder abgewählt werden.<br />
Dann wird ihm klar, dass alle wirklich nur betraute Diener und keine<br />
Herrscher sind. Das sind allgemeine Erfahrungen. So schreibt<br />
innerhalb unserer Gemeinschaft das Gruppengewissen die<br />
Bestimmungenvor, an die sich die gewählten Diener zu halten<br />
haben. Damit stehen wir vor der Frage: "Hat die Gemeinschaft der<br />
AA tatsächlich eine Führung? Diese Frage kann ausdrücklich mit Ja<br />
beantwortet werden, wenn es auch so scheint, als gäbe es keine.
Wenden wir uns noch einmal dem abgewählten Gruppengründer<br />
und seinen Freunden zu. Was wird aus ihnen? Wenn sie sich<br />
wieder beruhigt haben, ändert sich allmählich bei ihnen einiges.<br />
Entweder zählen sie zur Gruppe "Oldtimer", der gestandenen AA,<br />
oder zu denen, die sich nur schwer von ihrem Amt trennen können<br />
und die man in Amerika "blutende Diakone" nennt.<br />
<strong>Der</strong> Oldtimer ist einer, der die Weisheit der Gruppenentscheidung<br />
respektiert, der nicht darüber gekränkt ist, dass man ihn abgewählt<br />
hat. Er hat ein gesundes Urteilsvermögen, das auf beträchtlicher<br />
Erfahrung basiert -und er ist bereit, still in einem Meeting zu sitzen<br />
und die weitere Entwicklung abzuwarten.<br />
<strong>Der</strong> blutende Diakon ist fest davon überzeugt, dass die Gruppe<br />
ohne ihn nicht existieren kann. Deshalb kämpft er dauernd darum,<br />
wiedergewählt zu werden -und er verzehrt sich in Selbstmitleid.<br />
Einige bluten so aus; dass bei ihnen der Geist und die Prinzipien<br />
der AA versiegen -und sie trinken wieder. Zeitweise scheint die AA-<br />
Landschaft mit solch blutenden Herzen übersät zu sein. Fast jeder<br />
ältere AA hat diesen Zustand in einer gewissen Weise erlebt.<br />
Glücklicherweise kommen die meisten darüber hinweg und werden<br />
vernünftig denkende Oldtimer. Sie werden zum wahren und<br />
beständigen Rückgrat der Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker.<br />
Ihre ruhig vorgetragene Meinung, ihre fundierten Kenntnisse und ihr<br />
demütiges Beispiel helfen Schwierigkeiten zu lösen . Wenn die<br />
Gruppe in einer verworrenen Situation steckt, wird sie sich mit<br />
Sicherheit ihres Rates bedienen. Sie werden die Stimme des<br />
Gruppengewissens; sie sind die eigentliche Stimme der Anonymen<br />
Alkoholiker. Sie führen nicht, weil sie einen Auftrag dazu haben,<br />
sondern sie führen durch ihr Vorbild. Diese Erfahrung hat uns zu der<br />
Überzeugung gebracht, dass unser Gruppengewissen, fest gestützt<br />
auf den Rat unserer Älteren, auf lange Sicht weiser sein wird als<br />
irgendein einzelner Führer.<br />
Als die Gemeinschaft der AA erst drei Jahre bestand, ereignete sich<br />
etwas, das alles dies bestätigt. Einer der ersten Anonymen<br />
Alkoholiker wurde gegen seinen Willen gezwungen, sich der
Gruppenmeinung unterzuordnen. Hier sind seine eigen en Worte:<br />
"Eines Tages besuchte ich ein Krankenhaus in New York, weil ich<br />
die Botschaft im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es weitergeben wollte.<br />
<strong>Der</strong> Chef der Klinik, Charlie, bat mich in sein Büro. Er sagte: 'Bill, ich<br />
meine, es ist ein Jammer, dass es dir finanziell so schlecht geht.<br />
Allen Säufern in deiner Umgebung geht es gut und sie verdienen<br />
Geld, aber du hilfst ihnen Tag und Nacht und bist selbst pleite. Das<br />
finde ich nicht richtig.'<br />
Charlie suchte in seinem Schreibtisch und zog einen alten<br />
Finanzbericht des Krankenhauses hervor. Er reichte ihn mir und<br />
fuhr fort: ' Hier siehst du, wie viel das Krankenhaus in den<br />
zwanziger Jahren verdient hat. Tausende von Dollar in einem Jahr.<br />
Es könnte jetzt eben so gut dastehen, wenn du uns helfen würdest.<br />
Warum kannst du deine Arbeit nicht nach hier verlegen? Ich werde<br />
dir ein Büro einrichten, ein laufendes Konto eröffnen und dir einen<br />
angemessenen Teil unseres Verdienstes<br />
überweisen. Als vor drei Jahren unser Chefarzt, Dr. Silkworth, mir<br />
erzählte, dass man Trinkern durch seelische und spirituelle Hilfe<br />
beistehen könnte, hielt ich ihn für verrückt. Doch jetzt bin ich<br />
anderer Meinung. Eines Tages wird diese Gruppe ehemaliger<br />
Trinker Madison Square Garden füllen und ich sehe nicht ein,<br />
warum du inzwischen hungern sollst. <strong>Der</strong> Vorschlag ist sauber und<br />
einwandfrei. Du kannst hier als Laientherapeut arbeiten und wirst<br />
dabei erfolgreicher sein als sonst irgendeiner in diesem Geschäft.'<br />
Ich war verwirrt. Ich hatte zwar Gewissensbisse, doch dann sah ich<br />
ein, dass Charlies Angebot wirklich einwandfrei war. Es lag doch<br />
nichts Unrechtes darin, Laientherapeut zu werden. Ich dachte an<br />
Lois, wie sie jeden Tag erschöpft von ihrer Arbeit in einem<br />
Warenhaus zurückkehrte, um dann noch das Abendessen für ein<br />
Haus voller Trinker zu kochen, die nicht einmal Kostgeld zahlten.<br />
Ich dachte an die große Summe, die ich immer noch meinen<br />
Gläubigern in der Wall Street schuldete. Ich dachte an einige meiner<br />
Freunde unter den Alkoholikern, die genau so viel verdienten wie<br />
vorher. Warum sollte es mir nicht genau so gut gehen wie ihnen?
Ich bat Charlie um Bedenkzeit, doch ich hatte mich bereits schon<br />
dafür entschieden. Während ich mit der U-Bahn nach Brooklyn<br />
zurück fuhr, sah ich im Geist etwas wie eine göttliche Fügung. Sie<br />
bestand nur in einem einzigen Satz. Er war sehr überzeugend. Er<br />
stammte sogar aus der Bibel. Eine innere Stimme sagte mir ständig<br />
'Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert'. Als ich heimkam, fand ich Lois<br />
wie üblich in der Küche beim Kochen. Drei Alkoholiker sahen ihr<br />
hungrig durch die Küchentür zu. Ich nahm meine Frau beiseite und<br />
erzählte ihr die großartige Neuigkeit. Sie hörte interessiert zu, aber<br />
sie war nicht so begeistert, wie ich gehofft hatte.<br />
Am Abend hatten wir ein Meeting. Keiner der Alkoholiker, die wir<br />
aufgenommen hatten, schien nüchtern zu werden. Doch es gab<br />
nüchterne Alkoholiker. Sie kamen mit ihren Frauen und unser<br />
Wohnzimmer im Erdgeschoss war überfüllt. Sofort platzte ich mit<br />
der Geschichte meines wunderbaren Angebotes heraus. Niemals<br />
werde ich ihre teilnahmslosen Gesichter und ihre forschenden<br />
Blicke vergessen. Mein Enthusiasmus schwand immer mehr, bis ich<br />
mit meiner Geschichte am Ende war. Eine lange Stille trat ein.<br />
Fast schüchtern begann einer meiner Freunde zu sprechen: 'Bill, wir<br />
wissen, wie schlecht es dir geht. Das bedrückt uns sehr, Wir haben<br />
uns oft gefragt, was wir dagegen tun könnten. Aber ich nehme an,<br />
dass ich hier für jeden spreche, wenn ich sage, dass dein Vorschlag<br />
uns noch viel mehr bedrückt.'<br />
Die Stimme des Sprechers wurde überzeugter. 'Siehst du denn<br />
nicht ein ', fuhr er fort, 'dass du niemals ein Professioneller werden<br />
kannst? So entgegenkommend Charlie uns gegenüber gewesen ist,<br />
verstehst du denn nicht, dass wir unsere Sache niemals von diesem<br />
oder irgendeinem anderen Krankenhaus abhängig machen<br />
können? Du sagst uns, Charlies Angebot sei sauber und<br />
einwandfrei. Das ist es sicherlich. Was wir bereits haben, beruht<br />
aber nicht nur auf sauberen und einwandfreien Grundsätzen, es<br />
muss schon mehr sein. Sicherlich ist Charlies Idee gut, doch sie ist<br />
nicht gut genug. Hier geht es um Leben oder Tod, Bill -und nur das<br />
Beste kann uns gut genug sein.' Meine Freunde blickten mich
herausfordernd an, als ihr Sprecher fortfuhr: 'Bill, hast du nicht oft<br />
hier in diesem Meeting gesagt, dass das Bessere oft der Feind des<br />
Guten ist? Hier haben wir einen solchen Fall. Das kannst du uns<br />
nicht antun!'<br />
Das Gruppengewissen hatte also gesprochen. Die Gruppe hatte<br />
recht -und ich hatte unrecht. Die Stimme in der U-Bahn war nicht die<br />
Stimme Gottes. Hier hörte ich die wahre Stimme -und sie strömte<br />
aus meinen Freunden zu mir herüber. Ich hörte zu -und Gott sei<br />
Dank gehorchte ich ihr."
Die Dritte Tradition<br />
"Die einzige Voraussetzung für die AA-Zugehörigkeit ist der<br />
Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören"<br />
Diese Tradition hat ein besonderes Gewicht. Denn die Anonymen<br />
Alkoholiker sagen jedem, der ein schwerwiegendes Alkoholproblem<br />
hat: "Du gehörst zu den AA, wenn du dich dafür entscheidest. Über<br />
deine Aufnahme in die Gemeinschaft bestimmst du allein; niemand<br />
kann sie dir verwehren. Ganz gleich, wer du bist, wie tief du<br />
gesunken bist, wie schwierig deine seelische Verfassung ist, selbst<br />
wenn du Straftaten begangen hast, wir Anonymen Alkoholiker<br />
können dich auch dann nicht zurückweisen. Wir wollen dich nicht<br />
ausschließen. Wir haben überhaupt keine Angst, dass du uns<br />
schaden kannst, wie verdreht oder aggressiv du auch sein magst.<br />
Wir wollen nur sicher sein, dass du dieselbe große Chance zur<br />
Nüchternheit bekommst, die wir hatten. Darum gehörst du von dem<br />
Augenblick an zu den AA, in dem du dich zu ihnen bekennst."<br />
Dieser Grundsatz für die Zugehörigkeit ist das Ergebnis jahrelanger<br />
qualvoller Erfahrungen. In den Anfangsjahren schien nichts so<br />
empfindlich und zerbrechlich zu sein wie eine AA-Gruppe. Kaum ein<br />
Alkoholiker, dem wir uns zuwandten, schenkte uns Beachtung. Die<br />
meisten, die dann doch zu uns kamen, waren wie flackernde Kerzen<br />
im Wind. Immer wieder verlöschte flackerndes Licht und konnte<br />
nicht wieder angezündet werden. Obwohl wir alle nicht darüber<br />
sprachen, dachten wir ständig: Wer von uns wird wohl der Nächste<br />
sein?<br />
Ein älterer Anonymer Alkoholiker gibt uns einen lebendigen Einblick<br />
in jene Tage. "Damals", berichtet er, "hatte jede AA-Gruppe viele<br />
Regeln für die Aufnahme von Alkoholikern. Alle hatten große Sorge,<br />
dass irgendjemand oder irgendetwas unser Rettungsboot zum<br />
Kentern und uns wieder zum Trinken bringen würde. Unsere erste<br />
Dienststelle verlangte von jeder Gruppe eine Liste ihrer<br />
'Schutzbestimmungen'. Die gesamte Liste war länger als eine Meile.<br />
Wären alle dies e Bestimmungen überall durchgesetzt worden,<br />
hätte wahrscheinlich niemand der Gemeinschaft der AA beitreten
können, so groß waren unsere Befürchtungen und Ängste. Wir<br />
hatten beschlossen, in unsere Gemeinschaft niemand anders als<br />
die nach unserer Vorstellung reinen Alkoholiker aufzunehmen.<br />
Außer ihrem Trinken und seinen schlimmen Folgen durften sie<br />
keine anderen Schwierigkeiten haben.<br />
Bettler, Landstreicher, Patienten aus Nervenkliniken,<br />
Strafgefangene, Homosexuelle, Verrückte und gefallene Mädchen<br />
waren völlig ausgeschlossen. Ja, Herrschaften, unsere<br />
Gemeinschaft wollte sich nur um den reinen und ehrenwerten<br />
Alkoholiker kümmern. Alle anderen würden sicherlich dazu<br />
beitragen, dass sich die Gemeinschaft wieder auflöst. Außerdem:<br />
Wenn wir dieses Gesindel aufnehmen würden, was würden<br />
anständige Leute über uns sagen? Wir bauten einen feinmaschigen<br />
Zaun um unsere Gemeinschaft.<br />
Vielleicht klingt dies heute komisch. Vielleicht meint ihr, wir Alten<br />
wären doch sehr unduldsam gewesen. Aber ich kann euch sagen,<br />
damals fanden wir nichts Lustiges an der Sache. Wir waren<br />
verbittert, weil wir wussten, dass unser Leben und unsere Familien<br />
in Gefahr waren -und das war wirklich kein Spaß. 'Unduldsam',<br />
werdet ihr sagen, wenn schon; wir hatten Angst. Natürlich handelten<br />
wir wie fast alle Menschen, die Angst haben. Ist nicht Angst letzten<br />
Endes die Wurzel der Unduldsamkeit? Ja, wir waren intolerant. Wie<br />
konnten wir damals auch nur vermuten, dass alle diese<br />
Befürchtungen sich als grundlos herausstellen würden? Wie<br />
konnten wir wissen, dass Tausende dieser manchmal grässlichen<br />
Menschen eine erstaunliche Genesung durchmachen und sich zu<br />
unseren besten Mitarbeitern und intimsten Freunden entwickeln<br />
würden? Konnte man glauben,<br />
dass bei Anonymen Alkoholikern die Zahl der Ehescheidungen weit<br />
unter dem Durchschnitt liegen würde? Konnten wir damals<br />
voraussehen, dass derart schwierige Leute unsere besten Lehrer in<br />
Geduld und Toleranz werden würden? Konnte man sich damals<br />
eine Gesellschaft vorstellen, in der sich Menschen aller möglichen<br />
Charaktere zusammenfinden und mit Leichtigkeit alle Schranken
von Rasse, Religion, Politik und Sprachen einreißen würden?<br />
Warum hat die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker schließlich<br />
alle Statuten über Mitgliedschaft aufgehoben? Warum überließen<br />
wir es jedem Neuen, selbst zu entscheiden ob er Alkoholiker ist und<br />
ob er zu uns gehören wollte? Warum wagten wir zu sagen, ganz im<br />
Gegensatz zu den Erfahrungen von Staat und Gesellschaft, dass<br />
wir niemanden bestrafen oder aus der Gemeinschaft ausschließen<br />
würden, dass wir niemanden zwingen dürfen, etwas zu bezahlen,<br />
etwas zu glauben oder unserer Meinung zu sein.<br />
Die Entwicklung, die wir jetzt in der Dritten Tradition erkennen, war<br />
einfach. Schließlich haben wir die Erfahrung gemacht: Für einen<br />
Alkoholiker kann es endloses Leid oder den Tod bedeuten, wenn<br />
man ihm diese Chance verwehrt. Wer wollte es auf sich nehmen,<br />
Geschworener, Richter und Henker seines eigenen kranken<br />
Bruders zu sein? Als dann eine Gruppe nach der anderen diese<br />
Problematik erkannte, gaben schließlich alle ihre Vorschriften über<br />
die Mitgliedschaft auf. Ein dramatisches Ereignis nach dem anderen<br />
bestärkte uns in diesem Beschluss, der schließlich zu unserer<br />
allgemein gültigen Tradition wurde.<br />
Hier bringen wir zwei Beispiele:<br />
Die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker bestand seit zwei<br />
Jahren. Damals gab es nur zwei namenlose, um ihre Existenz<br />
ringende Gruppen von Alkoholikern, die nicht aufgaben.<br />
Ein Neuer erschien bei ein er dieser Gruppen, klopfte an und bat<br />
um Einlass. Er sprach ganz offen mit dem, der am längsten zur<br />
Gruppe gehörte. Es stellte sich bald heraus, dass der Neue in einer<br />
verzweifelten Lage war, dass er aber vor allem gesund werden<br />
wollte. Er fragte: "Wollt ihr mich in eurer Gruppe aufnehmen? Da ich<br />
noch ein anderes Laster habe, das einen noch schlimmeren Ruf als<br />
Alkoholismus hat, wollt ihr mich vielleicht gar nicht in eurer Gruppe<br />
haben. Oder darf ich hier bleiben?"<br />
Wir gerieten in einen Zwiespalt. Wie sollte sich die Gruppe<br />
entscheiden? <strong>Der</strong> Gruppenälteste zog zwei andere zu Rate und
unterbreitete ihnen im Vertrauen diesen kritischen Fall. Er fragte:<br />
"Wie sollen wir uns entscheiden? Wenn wir diesen Mann abweisen,<br />
wird er bald zugrunde gehen. Nehmen wir ihn auf, dann weiß Gott<br />
allein, in welche Schwierigkeiten uns dieser Mann noch bringen<br />
wird. Wie lautet eure Antwort: ja oder nein?"<br />
Zunächst fanden sie nur Gründe, die gegen eine Aufnahme in die<br />
Gruppe sprachen. Sie sagten: "Wir befassen uns mit Alkoholikern.<br />
Sollten wir nicht diesen einen im Interesse aller anderen fallen<br />
lassen"? So ging die Diskussion hin und her, während das<br />
Schicksal des Neu en in der Schwebe hing.<br />
Dann sprach einer der drei plötzlich in einem ganz anderen Ton.<br />
"Was wir wirklich befürchten", sagte er, "ist nur der Verlust unseres<br />
guten Rufs. Wir haben mehr Angst vor dem, was andere Leute über<br />
uns sagen könnten, als vor den Schwierigkeiten, die dieser neue<br />
Alkoholiker uns machen könnte. Im Laufe dieses ganzen<br />
Gespräches kamen mir immer wieder vier Worte in den Sinn und<br />
etwas in mir wiederholte ständig diese Worte: 'Was würde ER tun?'"<br />
Kein weiteres Wort wurde mehr gesprochen. Was hätte auch noch<br />
mehr gesagt werden können?<br />
Überglücklich machte sich der Neue daran, die Botschaft im Sinne<br />
des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es weiterzugeben. Unermüdlich berichtete er<br />
vielen Menschen von unserer Gemeinschaft. Und da dies wirklich<br />
eine der allerersten Gruppen war, hat sein Weitergeben unserer<br />
Botschaft im Laufe der Jahre viele Tausende erreicht. Unser Freund<br />
belästigte niemals jemanden mit seinem anderen Problem. Das war<br />
damals der erste <strong>Schritt</strong> zur Festlegung der Dritten Tradition.<br />
Nicht lange, nachdem der doppelt belastete Mann um Aufnahme<br />
gebeten hatte, schloss sich ein Vertreter, den wir Ed nennen wollen,<br />
einer anderen AA-Gruppe an. Er war voller Energie, aufdringlich<br />
und redegewandt, wie Vertreter sein können. In jeder Minute hatte<br />
er mindestens eine neue Idee, wie man die Gemeinschaft der<br />
Anonymen Alkoholiker verbessern könnte. Diese Ideen verkaufte er<br />
AA mit derselben glühenden Begeisterung, mit der er seine<br />
Autopolitur an den Mann brachte. Aber eine Idee hatte er, die sich
nicht so leicht verkaufte. Ed war Atheist. Seine Lieblingstheorie war,<br />
dass AA ohne den "Gott-Unsinn" viel besser zurechtkommen würde.<br />
Er schüchterte jeden ein und alle rechneten mit seinem baldigen<br />
Rückfall, denn damals war die Gemeinschaft der AA sehr fromm.<br />
Man dachte, auf Gotteslästerung stehe eine schwere Strafe. Zu<br />
unserem Ärger blieb Ed nüchtern.<br />
Nach einiger Zeit sollte er in einem Meeting sprechen. Wir<br />
schauderten, denn wir wussten, was kommen würde. Ed hielt<br />
Lobrede auf die Gemeinschaft; er berichtete, dass seine Familie<br />
wieder vereint war, er pries die Tugend der Ehrlichkeit und er<br />
erinnerte an die Freude, mit der er im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig war.<br />
Damit endeten auch seine Lobgesänge. Er platzte schließlich<br />
heraus: .Diesen Kram mit Gott kann ich nicht ausstehen! Dieser<br />
Blödsinn ist etwas für Schwächlinge. Diese Gruppe braucht das<br />
nicht -und ich will nichts mehr damit zu tun haben. Zum Teufel<br />
damit!"<br />
Eine Woge von Zorn und Empörung schlug über den Anwesenden<br />
zusammen und sie kamen zu einem einstimmigen Beschluss: .Jetzt<br />
muss er raus!"<br />
Die Älteren nahmen Ed beiseite. Mit Nachdruck sagten sie: "Hier<br />
kannst du so nicht reden. Entweder du hörst damit auf oder du<br />
gehst!"<br />
Höhnisch erwiderte Ed: "Ist das wirklich euer Ernst?" Aus dem<br />
Bücherregal nahm er einige Schriften. Obenauf lag das Vorwort zu<br />
dem Buch "Anonyme Alkoholiker", das in Vorbereitung war. Er las<br />
laut vor: "Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der<br />
Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören." Unerbittlich fuhr Ed fort: "Als<br />
ihr damals diesen Satz geschrieben habt, war es euch Burschen<br />
ernst damit oder nicht?"<br />
Bestürzt schauten sich die Älteren an, denn sie wussten, Ed hatte<br />
sie geschlagen. Ed blieb. Er blieb nicht nur in der Gruppe, er blieb<br />
auch nüchtern, einen Monat nach dem anderen. Je länger er<br />
nüchtern blieb, umso lauter redete er gegen Gott. Die Gruppe war
so zerrissen, dass es keine echte Freundschaft mehr gab. Alle<br />
stöhnten: " Wann wird dieser Mensch endlich saufen"!<br />
Einige Zeit später übernahm Ed eine Stellung außerhalb unserer<br />
Stadt. Schon nach wenigen Tagen hörten wir die ersten<br />
Nachrichten über ihn. Er hatte telegrafisch um Geld gebeten -und<br />
jeder wusste, was das bedeutete. Dann rief er selbst an.<br />
Wir gingen damals noch überall hin, wenn wir um Hilfe gerufen<br />
wurden, selbst wenn es aussichtslos erschien. Doch in diesem Fall<br />
rührte sich niemand. "Lasst ihn in Ruhe. Lasst ihn selbst damit fertig<br />
werden. Vielleicht wird er etwas daraus lernen."<br />
Ungefähr zwei Wochen später schlich sich Ed nachts in das Haus<br />
eines Anonymen Alkoholikers und legte sich ohne Wissen der<br />
Familie ins Bett. Als der Hauseigentümer am nächsten Morgen mit<br />
einem Freund beim Frühstück saß, hörten sie Geräusche auf der<br />
Treppe.<br />
Zu ihrer Überraschung erschien Ed. Grinsend sagte er: "Na,<br />
Jungens, seid ihr gerade mit eurer Morgenmeditation fertig?"<br />
Schnell wurde ihnen klar, dass es ihm ernst war. In Bruchstücken<br />
kam seine Geschichte heraus. In einem benachbarten Staat war Ed<br />
in einem billigen Hotel abgestiegen. Nachdem alle seine Hilferufe<br />
ohne Echo blieben, tönten in seinem fiebrigen Kopf die Worte: "Sie<br />
haben mich verlassen; meine eigenen Freunde haben mich<br />
verlassen. Das ist das Ende. Jetzt ist es aus."<br />
Ais er ins Bett sank, streifte seine Hand über den Nachttisch. Sie<br />
berührte ein Buch. Er öffnete es und las darin. Es war eine Bibel. Ed<br />
hat nie jemandem gesagt, was in dem Hotelzimmer in ihm<br />
vorgegangen ist. Das war im Jahre 1938. Er hat seitdem keinen<br />
Schluck Alkohol mehr getrunken.<br />
Wenn heute ältere AA, die Ed noch kannten, über ihn sprechen,<br />
sagen sie: "Was wäre geschehen, wenn wir Ed damals wegen<br />
seiner Gotteslästerung hinausgeworfen hätten? Was wäre dann aus<br />
ihm geworden und den vielen, denen er später geholfen hat?"
So gab uns die Vorsehung schon sehr früh ein Zeichen, dass jeder<br />
Alkoholiker zu unserer Gemeinschaft gehört, der sich selbst dazu<br />
bekennt.
Die Vierte Tradition<br />
"Jede Gruppe sollte selbstständig außer in Dingen, die andere<br />
Gruppen oder die Gemeinschaft der AA als Ganzes angehen".<br />
Selbstständigkeit ist ein wertvoller Begriff. Auf uns bezogen<br />
bedeutet er ganz einfach, dass jede Gruppe ihre Angelegenheiten<br />
genau so regeln kann, wie sie es für richtig hält, es sei denn, der<br />
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker als Ganzes würde<br />
Schaden drohen. Nun taucht die gleiche Frage wie in der Ersten<br />
Tradition wieder auf: Verleitet uns so viel Freiheit nicht zu unklugem<br />
und gefährlichem Handeln?<br />
Im Laufe der Jahre ist jede erdenkliche Abweichung von den Zwölf<br />
Traditionen ausprobiert worden. Das konnte gar nicht anders sein,<br />
weil sich unsere Gemeinschaft aus ichbezogenen Einzelwesen<br />
zusammensetzt. Wir, Kinder des Chaos, haben keck mit jeder Art<br />
von Feuer gespielt. Wir sind jedoch mit heiler Haut davon<br />
gekommen und -wie wir glauben klüger geworden. Gerade diese<br />
Abweichungen von den <strong>Schritt</strong>en und Traditionen waren ein langer<br />
Weg von Versuch und Irrtum, der uns durch die Gnade Gottes dahin<br />
führte, wo wir heute stehen.<br />
Als die Traditionen der Anonymen Alkoholiker 1945 zum erste n Mal<br />
veröffentlicht wurden, waren wir überzeugt, dass eine AA-Gruppe<br />
den meisten Belastungen standhält. Nach unserer Ansicht musste<br />
sich die Gruppe genau wie jeder Einzelne den erprobten<br />
Grundsätzen anpassen, die das Überleben garantieren. Es ist uns<br />
klar geworden, dass die vollkommene Sicherheit im dauernden<br />
Lernen aus Fehlern liegt.<br />
Wir vertrauten dieser Erkenntnis so sehr, dass die ursprüngliche<br />
Fassung der AA-Traditionen diesen bedeutungsvollen Satz<br />
enthalten konnte: "Wenn zwei oder drei Alkoholiker<br />
zusammenkommen, um nüchtern zu werden und zu bleiben,<br />
können sie sich als AA-Gruppe bezeichnen, vorausgesetzt, dass sie<br />
keine anderen Bindungen eingehen."
Das zeigte, dass wir den Mut hatten, jede AA-Gruppe als<br />
eigenständig zu sehen, deren Handeln allein durch das<br />
Gruppengewissen bestimmt wird.<br />
Bei dem hohen Maß an Freiheit, das den Gruppen zugestanden<br />
wurde, hielten wir es doch für notwendig, zwei Warnsignale zu<br />
setzen: Eine Gruppe sollte niemals etwas tun, was der<br />
Gemeinschaft der AA als Ganzes großen Schaden zufügen könnte.<br />
Sie sollte niemals eine Verbindung mit Außenstehenden eingehen.<br />
Es wäre wirklich sehr gefährlich, wenn wir anfangen würden, die<br />
Gruppen "nass oder trocken, republikanisch oder kommunistisch,<br />
katholisch oder protestantisch" zu nennen. Die AA-Gruppe muss auf<br />
ihrem Kurs bleiben, andernfalls ist sie hoffnungslos verloren.<br />
Nüchternheit ist ihr einziges Ziel. Im Übrigen hat sie völlige Willensund<br />
Handlungsfreiheit. Jede Gruppe hat das Recht, Fehler zu<br />
machen.<br />
In den Anfangsjahren wurden Gruppen mit großer Begeisterung<br />
gegründet. In einer Stadt, sagen wir Middletown, machte sich ein<br />
Teufelskerl an die Arbeit. Die Einwohner waren hellauf begeistert.<br />
Sie schwärmten von umwälzenden Neuerungen. Sie waren der<br />
Meinung, die Stadt brauche ein großes Zentrum für Alkoholiker,<br />
eine Art Modell, das andere AA-Gruppen kopieren könnten. Im<br />
Erdgeschoss wollten sie einen Club einrichten. In der ersten Etage<br />
sollten die Alkoholiker ausgenüchtert werden. Dort würde man ihnen<br />
auch Geld geben, um ihre Schulden zu bezahlen.<br />
Für die nächste Etage war ein Schulungszentrum vorgesehen.<br />
Natürlich gab es nie Einwände. In ihrer Phantasie bauten sie noch<br />
weitere Stockwerke, doch für den Anfang würden wohl drei Etagen<br />
genügen. Das 'würde eine Menge Geld kosten -das Geld anderer<br />
Leute.<br />
So unglaublich es klingt, reiche Bürger begeisterten sich für diese<br />
Sache. Einige Konservative unter den Alkoholikern dachten jedoch<br />
anders. Sie schrieben an das Gemeinsame Dienstbüro der AA in<br />
New York und wollten etwas über diese Strömung erfahren. Sie<br />
fürchteten, dass jene Schwärmer ihr Anliegen durch eine offizielle
Genehmigung des Dienstbüros untermauern wollten. Die<br />
Konservativen waren verstört und skeptisch.<br />
Natürlich hatte dieses Unternehmen einen Antreiber, sogar einen<br />
Superantreiber. Durch seine Beredsamkeit räumte er alle<br />
Befürchtungen aus, obgleich das Gemeinsame Dienstbüro der AA<br />
es abgelehnt hatte, die gewünschte Genehmigung zu erteilen. Die<br />
Ablehnung erfolgte mit der Begründung, dass alle Vorhaben, bei<br />
denen sich eine AA-Gruppe in Fragen der medizinischen<br />
Behandlung und Aufklärung über Alkoholismus einmischt, überall<br />
gescheitert sind.<br />
Um ganz sicherzugehen, gründete der Antreiber drei<br />
Gesellschaften, deren Vorsitz er übernahm. Frisch gestrichen<br />
strahlte das neue Zentrum. Die ganze Stadt war davon angetan. Im<br />
Innern herrschte geschäftiges Treiben. Um einen sicheren und<br />
geordneten Ablauf zu gewährleisten, wurden 61 Vorschriften und<br />
Bestimmungen erlassen.<br />
Es dauerte nicht lange, da fiel schon ein Schatten auf dieses<br />
hoffnungsvolle Werk. Statt Gelassenheit machte sich Verwirrung<br />
breit. Es stellte sich heraus, dass einige Trinker etwas für die<br />
Aufklärung über Alkoholismus tun wollten, jedoch daran zweifelten,<br />
selbst Alkoholiker zu sein. Andere dachten, sie könnten ihre<br />
Charakterfehler durch Darlehen beseitigen. Manche gingen gern in<br />
den Club. Sie suchten jedoch nur etwas für ihr einsames Herz.<br />
Einige bewarben sich sogar gleich für alle drei Etagen. Manche<br />
fingen im oberen Stockwerk an und nahmen unterwegs alles mit, bis<br />
sie dann im Erdgeschoss Clubmitglieder wurden. Andere fingen im<br />
Club an, betranken sich dort, wurden in die Krankenabteilung<br />
gebracht und landeten schließlich im Schulungszentrum im dritten<br />
Stock,<br />
Es ging wie in einem Bienenstock zu. Doch im Gegensatz zu einem<br />
Bienenstock gab es nur wirres Durcheinander.<br />
Eine AA-Gruppe konnte einfach ein derartiges Vorhaben nicht<br />
durchführen, Viel zu spät kam man zu dieser Erkenntnis. Es kam zu
der unvermeidlichen Explosion so etwa wie damals, als in der<br />
Fassdaubenfabrik Wombley der Dampfkessel explodierte, Über die<br />
Gruppe legte sich ein kalter Schwaden von Angst und<br />
Enttäuschung.<br />
Als sich dieser zerstreute, geschah etwas Wunderbares. <strong>Der</strong><br />
Anstifter dieses Vorhabens schrieb an das Dienstbüro. Er wünschte,<br />
er hätte der Erfahrung der AA mehr Beachtung geschenkt. Dann tat<br />
er noch etwas, das in die Geschichte unserer Gemeinschaft einging.<br />
Alles war auf einer kleinen Karte gedruckt, die nicht größer als ein<br />
Golfloch war. Auf der Außenseite stand: "Middletown Gruppe Nr. 1<br />
Vorschrift Nr. 62", Wenn man die Karte herumdrehte, einem nur ein<br />
Satz in die Augen: "Nimm dich doch nicht so verdammt wichtig!"<br />
Damit hatte nach unserer Vierten Tradition eine AA-Gruppe ihr<br />
Recht ausgeübt, auch einmal etwas Falsches zu tun. Außerdem<br />
hatte sie den Anonymen Alkoholikern einen großen Dienst<br />
erwiesen, da sie demütig bereit war, die Lehre, die sie daraus<br />
gezogen hatte, anzuwenden. Es wurde mit einem Lachen abgetan<br />
und dann ging man zu besseren Dingen über. Selbst der<br />
Chefarchitekt, der in den Trümmern seines Traumhauses stand,<br />
konnte über sich selbst lachen und das ist wirklich der Gipfel der<br />
Demut.
Die Fünfte Tradition<br />
"Die Hauptaufgabe jeder Gruppe ist, unsere AA-Botschaft zu<br />
Alkoholikern zu bringen, die noch leiden".<br />
"Schuster, bleib bei deinem Leisten" ... besser, eine Sache<br />
wohlgetan, als viele Dinge schlecht. Das ist das Hauptthema dieser<br />
Tradition. Auch in unserer Gesellschaft herrschte Einigkeit, wenn<br />
sich jeder dieser These bediente. Die Lebensfähigkeit unserer<br />
Gemeinschaft steht und fällt mit diesem Prinzip.<br />
Die Anonymen Alkoholiker können mit einer Ärztegruppe verglichen<br />
werden, die in der Krebsforschung tätig ist und von deren<br />
Gemeinschaftsarbeit es abhängt, dass den Krebskranken geholfen<br />
werden kann. Sicher ist jeder dieser Ärzte ein Fachmann und<br />
möchte manchmal lieber auf seinem Gebiet arbeiten als in der<br />
Gemeinschaft. Gesetzt den Fall. diese Ärzte hätten eine<br />
erfolgreiche Therapie gefunden, die sie auch nur gemeinsam<br />
anwenden könnten, dann würden sich doch alle verpflichtet fühlen,<br />
gemeinsam in der Krebsbekämpfung weiterzuarbeiten. Von dieser<br />
wunderbaren Entdeckung beeindruckt würde jeder Arzt seinen<br />
persönlichen Ehrgeiz zurückstellen, ganz gleich, was und wie viel er<br />
dafür aufgeben müsste.<br />
Genauso aufeinander angewiesen sind die Anonymen Alkoholiker.<br />
Sie haben gezeigt, dass sie Alkoholikern besser helfen können als<br />
irgendjemand anderer. Die besondere Fähigkeit eines jeden<br />
Anonymen Alkoholikers, sich mit einem Neuen zu identifizieren und<br />
ihm zur Genesung zu verhelfen hängt nicht von seiner Bildung,<br />
seiner Beredsamkeit oder von irgendeiner anderen Begabung ab.<br />
Das Einzige, was zählt, ist die Tatsache, dass er ein Alkoholiker ist,<br />
der den Schlüssel zur Nüchternheit gefunden hat. Diese Erfahrung<br />
von Krankheit und Genesung kann unter Alkoholikern leicht von<br />
einem zum anderen weitergegeben werden. Das ist unser<br />
Geschenk Gottes. Es an Alkoholkranke weiterzugeben, ist heute<br />
das einzige Ziel aller Anonymen Alkoholiker in der ganzen Welt.<br />
Es gibt noch einen anderen Grund, weshalb wir ausschließlich
dieses Ziel verfolgen. Es ist eigentlich ein Widerspruch, dass wir<br />
Anonymen Alkoholiker dieses kostbare Geschenk der Nüchternheit<br />
uns kaum selbst erhalten können, wenn wir es nicht an andere<br />
weitergeben. Ein Ärzteteam, das eine Krebstherapie entwickelt hat,<br />
würde in Gewissenskonflikte geraten, wenn es aus egoistischen<br />
Gründen dieses Wissen nicht weitergäbe. Eine solche Unterlassung<br />
hätte aber keinen Einfluss auf das persönliche Wohlergehen des<br />
einzelnen Arztes. Wenn wir uns aber nicht um diejenigen kümmern,<br />
die noch krank sind, besteht eine ständige Gefahr für unser eigenes<br />
Leben und unsere geistige Gesundheit. Diese Mischung aus<br />
Selbsterhaltungstrieb, Pflichtgefühl und Nächstenliebe macht es<br />
nicht verwunderlich, dass unsere Gemeinschaft zu dem Schluss<br />
kam: Wir haben nur einen Hauptzweck -die Botschaft der AA denen<br />
zu überbringen, die noch nicht wissen, dass es einen Weg aus dem<br />
Elend gibt.<br />
Die nachfolgende Geschichte eines Anonymen Alkoholikers<br />
beleuchtet, wie weise es ist, nur einen Hauptzweck zu haben:<br />
"Eines Tages war ich sehr unruhig und ich dachte, ich sollte mich im<br />
<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> betätigen. Vielleicht wollte ich mich dadurch gegen<br />
einen Rückfall schützen. Doch zunächst musste ich einen Trinker<br />
finden, mit dem ich sprechen konnte.<br />
Ich setzte mich in die U-Bahn und fuhr zum Stadtkrankenhaus. Ich<br />
fragte Dr. Silkworth, ob er einen Patienten habe, mit dem ich<br />
sprechen könne. 'Nichts Vielversprechendes', sagte der kleine<br />
Doktor, 'da liegt ein Mann im dritten Stock, mit dem man vielleicht<br />
reden könnte. Er ist aber ein schrecklich zäher Ire. Ich habe noch<br />
nie einen so widerspenstigen Kerl gesehen. Er tönt überall herum,<br />
wenn seine Geschäftspartner ihn besser behandeln und seine Frau<br />
ihn in Ruhe lassen würde, hätte er sein Alkoholproblem schon<br />
längst gelöst. Er hat gerade ein schlimmes Delirium hinter sich und<br />
ist noch ziemlich benommen. Er misstraut jedem. Das klingt wohl<br />
nicht sehr ermutigend, nicht wahr? Doch wenn du mit ihm sprechen<br />
willst, würdest du etwas für dich tun. Warum gehst du nicht einfach<br />
hin?'
Bald saß ich neben einem ungehobelten Kerl. Er starrte mich<br />
unfreundlich mit zusammengekniffenen Augen aus einem roten,<br />
geschwollenen Gesicht an. Ich musste dem Arzt recht geben; er sah<br />
wirklich nicht gut aus. Ich erzählte ihm zunächst meine Geschichte.<br />
Ich setzte ihm auseinander, wie wunderbar unsere Gemeinschaft<br />
sei lind wie gut wir einander verstünden. Mit besonderem<br />
Nachdruck schilderte ich ihm die hoffnungslose Lage eines Trinkers.<br />
Ich hob hervor, dass nur wenige Trinker es aus eigener Kraft<br />
schaffen konnten, dass wir in unseren Gruppen jedoch das fertig<br />
bringen, was ein Einzelner allein nicht schafft.<br />
Höhnisch unterbrach er mich und meinte, er würde seine Frau,<br />
seinen Partner und seinen Alkoholismus schon allein in den Griff<br />
bekommen.<br />
Sarkastisch fragte er: 'Wie teuer ist denn eure Behandlung?' Ich war<br />
dankbar, dass ich ihm sagen konnte: 'Das kostet überhaupt nichts.'<br />
Seine nächste Frage war: 'Und was kriegst du dafür?'<br />
Natürlich war meine Antwort: 'Nur meine eigene Nüchternheit und<br />
ein sehr, sehr glückliches Leben.' Immer noch zweifelnd, fragte er<br />
weiter: 'Willst du damit sagen. dass du nur hier bist, um mir und dir<br />
selbst zu helfen?'<br />
Ja', sagte ich, 'das ist wirklich alles, sonst steckt nichts dahinter'.<br />
Dann sprach ich zögernd von der spirituellen Seite unseres<br />
Programms. Eisige Verachtung schlug mir entgegen. Kaum hatte<br />
ich das Wort spirituell ausgesprochen, brach es aus ihm heraus:<br />
'Oh', sagte er, 'jetzt weiß ich, was los ist. Du willst mich wohl für<br />
irgendeine religiöse Sekte gewinnen? Wie kannst du behaupten, es<br />
steckt nichts dahinter? Ich gehöre einer großen Kirche an, die alles<br />
für mich bedeutet. Und du hast den Nerv und willst mir etwas von<br />
Religion erzählen!'<br />
Gott sei Dank fiel mir darauf die richtige Antwort ein. Ich brauchte<br />
nur über den Hauptzweck unserer Gemeinschaft zu reden.
Ich sagte: 'Sicher hast du einen Glauben, vielleicht sogar einen<br />
tieferen als ich. Zweifellos kennst du dich in religiösen Dingen<br />
besser aus als ich. Darum kann ich dir über Religion gar nichts<br />
sagen. Ich will es auch nicht einmal versuchen. Ich möchte wetten,<br />
dass du mir eine haargenaue Erklärung von Demut geben könntest.<br />
Aber aus dem, was du mir über dich und deine Probleme erzählt<br />
hast und wie du sie in den Griff bekommen willst, glaube ich zu<br />
wissen, wo du dich irrst.'<br />
'Okay', sagte er, 'nun leg mal los!'<br />
'Also', begann ich, 'du bist ein fanatischer Ire, der glaubt, er könne<br />
alles allein machen.'<br />
Das versetzte ihm einen Schlag.<br />
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, begann er mir zuzuhören.<br />
Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass Demut der Hauptschlüsse!<br />
zur Nüchternheit sei. Schließlich sah er ein, dass ich gar nicht<br />
versuchte, seine religiösen Ansichten zu ändern. Nach meiner<br />
Meinung sollte er in seiner Religion die Gnade finden, die ihn zur<br />
Genesung verhelfen würde. Von diesem Moment an verstanden wir<br />
uns."<br />
Zum Abschluss sagte der Oldtimer: "Nun stellt euch mal vor, ich<br />
hätte dem Mann von unserer Gemeinschaft sagen müssen, wir<br />
wären religiös gebunden, wir brauchten viel Geld, wir kümmerten<br />
uns um Alkoholismus-Aufklärung und um den Betrieb von<br />
Krankenhäusern und Entziehungsstätten.<br />
Oder ich hätte mich bereit erklärt, seine familiären oder<br />
geschäftlichen Angelegenheiten zu regeln. Was wäre wohl dabei<br />
herausgekommen? Es wäre sicher ein Fehlschlag gewesen!"<br />
Jahre später erzählte dieser hartgesottene Ire manchmal: "Mein<br />
Sponsor konnte mir nur Nüchternheit verkaufen und zu der Zeit<br />
hätte ich ihm auch nicht mehr abnehmen können."
Die Sechste Tradition<br />
"Eine AA-Gruppe sollte niemals irgendein außenstehendes<br />
Unternehmen unterstützen, finanzieren oder mit dem<br />
AA-Namen decken, damit uns nicht Geld-, Besitz-und<br />
Prestigeprobleme von unserem eigentlichen Zweck ablenken".<br />
In dem Augenblick, als wir erkannten, dass wir eine Antwort auf<br />
Alkoholismus hatten, war es nur folgerichtig (seinerzeit erschien es<br />
uns jedenfalls so), dass wir auch die Antwort auf viele andere<br />
Fragen hätten.<br />
Viele dachten, die Gruppen der Anonymen Alkoholiker könnten sich<br />
geschäftlich betätigen und Unternehmungen auf dem großen Gebiet<br />
des Alkoholismus finanzieren. Wir fühlten uns tatsächlich<br />
verpflichtet, jeder guten Sache den wirkungsvollen Namen der AA<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Es folgen einige Beispiele unserer Wunschvorstellungen:<br />
Alkoholiker waren in Krankenhäusern unbeliebt. Darum trugen wir<br />
uns mit dem Gedanken, eine eigene Krankenhauskette zu errichten.<br />
Die Leute mussten über Alkoholismus aufgeklärt werden. Wir<br />
wollten die Aufklärung der Öffentlichkeit übernehmen und sogar<br />
Lehrbücher für Schulen und Medizin neu schreiben. Wir wollten die<br />
Heruntergekommenen aus der Gosse auflesen, diejenigen<br />
aussondern, die vielleicht allein zurechtkommen konnten und die<br />
übrigen in einem geschlossenen Heim unterbringen, wo sie auch<br />
ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Vielleicht würden solche<br />
Häuser noch Profit bringen, mit dem wir andere gute Werke<br />
finanzieren könnten.<br />
Wir dachten ernsthaft daran, die Gesetze unseres Landes zu<br />
ändern. Es sollte fest gelegt werden, dass Alkoholiker kranke<br />
Menschen sind. Kein Alkoholiker sollte mehr ins Gefängnis<br />
kommen. Die Richter sollten sie uns auf Bewährung übergeben. Wir<br />
wollten die Gemeinschaft der AA auch auf die Rauschgiftszene und<br />
die Kriminalität ausdehnen. Wir wollten Gruppen für Depressive und<br />
Paranoide bilden -und je schlimmer die Neurose, um so lieber
waren uns die Kranken. Es hörte sich ganz vernünftig an: Wenn<br />
man mit dem Alkoholismus fertig werden könnte, dann auch mit<br />
anderen Problemen.<br />
Wir dachten daran, in Fabriken zu gehen um zu predigen, dass<br />
Arbeiter und Kapitalisten einander lieben sollten. Unsere<br />
kompromisslose Ehrlichkeit würde auch die Politik säubern. Einen<br />
Arm auf der Schulter der Religion, den anderen auf der Schulter der<br />
Medizin, würden wir deren Differenzen beilegen. Da wir gelernt<br />
hatten, glücklich zu leben, wollten wir auch anderen zeigen, wie<br />
man das macht. Warum konnte unsere Gemeinschaft der<br />
Anonymen Alkoholiker nicht der Vorläufer einer neuen geistigen<br />
Bewegung sein! Wir könnten die Welt verändern!<br />
Ja, wir AA hatten wirklich solche Träume. Das war doch ganz<br />
natürlich. Sind nicht die meisten Alkoholiker bankrotte Idealisten?<br />
Fast jeder von uns hatte gewünscht, etwas außergewöhnlich Gutes<br />
zu tun, große Taten zu vollbringen und Ideale zu verkörpern. Wir<br />
alle streben nach Perfektionismus. Weil wir versagten, verfielen wir<br />
in das andere Extrem, nahmen die Flasche und rannten vor der<br />
Wirklichkeit davon. Die Vorsehung brachte uns mit Hilfe der AA<br />
wieder in den Bereich unserer früheren höchsten Erwartungen<br />
zurück. Warum sollten wir also nicht unsere Art zu leben jedem<br />
anderen zugänglich machen?<br />
Daraufhin versuchten wir es mit AA-Krankenhäusern. Das wurden<br />
Fehlschläge, denn man kann eine AA-Gruppe keine Geschäfte<br />
machen lassen. Viele Köche verderben den Brei. AA-Gruppen<br />
stürzten sich in die Aufklärungsarbeit –und als sie anfingen, in der<br />
Öffentlichkeit die Vorzüge dieser oder jener Methode anzupreisen,<br />
waren die Leute verwirrt. Wollten die Anonymen Alkoholiker<br />
Trinkern helfen oder wollten sie die Welt verbessern? Waren sie<br />
eine geistige oder eine medizinische Bewegung? Wollten sie<br />
reformieren? Beunruhigt stellten wir fest, dass wir mit allen<br />
möglichen guten oder weniger guten Unternehmungen verheiratet<br />
waren. Als wir sahen, dass Alkoholiker so mir nichts dir nichts in<br />
Gefängnisse oder Irrenanstalten gesteckt wurden, riefen wir laut:
"Da muss ein neues Gesetz her!" Anonyme Alkoholiker pochten<br />
beim Gesetzgeber auf Reformen. Das brachte Schlagzeilen, sonst<br />
aber nichts. Wir sahen uns in den Sumpf der Politik hinein gezogen.<br />
Selbst in unserer Gemeinschaft setzte sich die Ansicht durch, dass<br />
der Name AA von Clubhäusern und Heimen, die Alkoholiker<br />
aufnahmen, zu entfernen sei.<br />
Diese Abenteuer überzeugten uns nachhaltig, dass wir unter keinen<br />
Umständen unseren Namen irgendeinem auf dem Gebiet des<br />
Alkoholismus tätigen Unternehmen geben dürften, ganz gleich, wie<br />
gut es war. Wir Anonymen Alkoholiker konnten nicht allen<br />
Menschen gerecht werden und sollten es gar nicht versuchen.<br />
Vor Jahren wurde das Prinzip, dass wir andere nicht unterstützen,<br />
auf eine harte Probe gestellt. Einige große Spirituosenhersteller<br />
wollten sich auf dem Gebiet der Aufklärung über Alkohol betätigen.<br />
Sie meinten, dass es für den Schnapshandel gut sei, der<br />
Öffentlichkeit gegenüber einen Sinn für Verantwortung zu zeigen.<br />
Sie wollten sagen, Alkohol solle genossen, aber nicht missbraucht<br />
werden; starke Trinker sollten sich mäßigen -und Problemtrinker,<br />
also Alkoholiker, sollten überhaupt nicht trinken.<br />
Bei einem dieser großen Konzerne tauchte die Frage auf, wie dieser<br />
Werbefeldzug zu organisieren sei. Sie würden sich natürlich der<br />
öffentlichen Medien Rundfunk, Presse und Film bedienen. Doch wer<br />
sollte eine solche Sache leiten? Sofort dachten sie an die<br />
Anonymen Alkoholiker. Wenn sie in unseren Reihen einen<br />
ausgezeichneten Werbefachmann finden würden, wäre das doch<br />
ideal. Er würde natürlich das Problem kennen, seine Verbindung zu<br />
den AA wäre wertvoll, weil die Gemeinschaft in der Öffentlichkeit<br />
einen angesehenen Namen besaß und kaum Feinde hatte.<br />
Bald hatten sie auch ihren Mann entdeckt, einen AA mit der<br />
notwendigen Erfahrung. Dieser fuhr sofort zum Dienstbüro der AA<br />
nach New York und fragte: "Steht in unserer Tradition etwas<br />
darüber, dass ich eine solche Stelle nicht annehmen darf? Mir<br />
erscheint diese Art von Aufklärung gut, denn sie wird kaum<br />
Widerspruch herausfordern. Seht ihr von der Dienststelle einen
Haken dabei? " Auf den ersten Blick sah die Sache wirklich gut aus.<br />
Dann kamen Zweifel auf. Dieser Konzern wollte den vollen Namen<br />
des AA-Freundes in allen Anzeigen verwenden; er sollte gleichzeitig<br />
als Werbeleiter und als Anonymer Alkoholiker vorgestellt werden.<br />
Natürlich war nicht das Geringste dagegen einzuwenden, dass ein<br />
Konzern einen Anonymen Alkoholiker nur deswegen einstellte, weil<br />
er ein guter Werbefachmann war und sich auf dem Gebiet des<br />
Alkoholismus auskannte. Das war aber nicht die ganze Geschichte.<br />
In diesem Fall sollte ein AA nicht nur in der Öffentlichkeit seine<br />
Anonymität aufgeben; er sollte auch in den Köpfen von Millionen<br />
den Namen der Anonymen Alkoholiker mit diesem speziellen<br />
Aufklärungsprojekt verbinden. Es musste zwangsläufig so<br />
aussehen, als würde die Gemeinschaft der AA eine Aufklärung<br />
unterstützen –im Sinne der Spirituosenindustrie.<br />
Als wir diese Gefahr in ihrem vollen Ausmaß erkannten, fragten wir<br />
den betreffenden Werbefachmann, wie er jetzt darüber denke. "Das<br />
sind schwere Geschütze!" sagte er. Natürlich kann ich die Stelle<br />
nicht annehmen. Die Druckerschwärze auf der ersten Anzeige wäre<br />
noch nicht trocken. käme schon ein Sturm der Entrüstung aus dem<br />
Lager der Abstinenzler. Sie würden sich mit Laternen auf die Suche<br />
nach einem ehrlichen AA machen, den sie für ihre Art von<br />
Aufklärung einspannen könnten. Die Anonymen Alkoholiker würden<br />
genau in der Mitte einer Auseinandersetzung zwischen Gegnern<br />
und Befürwortern des Alkoholverbots landen. Die eine Hälfte der<br />
Menschen in diesem Lande würde glauben, dass wir für -und die<br />
andere, dass wir gegen ein Alkoholverbot wären. Welch ein Durch'.<br />
einander! " sagten wir."<br />
Dennoch steht dir das Recht zu, die Stelle anzunehmen." "Ich weiß<br />
es", sagte er, "aber hier geht es nicht um meine Rechte. Die<br />
Anonymen Alkoholiker haben mir das Leben gerettet -und für mich<br />
stehen sie an erster Stelle. Ich will wirklich nicht der sein, der die<br />
Gemeinschaft in große Schwierigkeiten bringt. Und die würden<br />
sicher kommen."
Damit hatte unser Freund alles zum Thema Einmischung und<br />
Unterstützung gesagt. Wie nie zuvor sahen wir jetzt deutlich, dass<br />
wir den Namen AA zu keinem anderen Zweck als zu unserem<br />
eigenen hergeben dürfen.
Die Siebte Tradition<br />
"Jede AA-Gruppe sollte sich selbst erhalten und von außen<br />
kommende Unterstützungen ablehnen".<br />
Alkoholiker erhalten sich selbst? Wer hat je so etwas gehört? Nach<br />
unserer Meinung muss das aber so sein. Dieser Grundsatz zeigt<br />
von der tiefen Veränderung, die wir durch die Anonymen Alkoholiker<br />
erfahren haben. Jeder weiß, dass trinkende Alkoholiker jammern,<br />
ihre Schwierigkeiten könnten nur mit Geld überwunden werden.<br />
Ständig hatten wir die Hand ausgestreckt. Viel länger, als unsere<br />
Erinnerung reicht, waren wir von irgendjemand abhängig,<br />
gewöhnlich in finanzieller Hinsicht. Wenn eine Gemeinschaft, die<br />
nur aus Alkoholikern besteht, sagt, dass sie ihre Rechnungen selbst<br />
bezahlen will, dann klingt das wirklich ganz neu.<br />
Wahrscheinlich hat keine Tradition der AA uns so viele<br />
Schwierigkeiten bereitet wie gerade diese. Früher waren wir ständig<br />
pleite. Zu dieser Tatsache kommt noch die allgemeine Auffassung,<br />
dass man Alkoholikern Geld geben sollte, damit sie nüchtern<br />
bleiben. Nur so ist es zu verstehen, dass uns nach unserer Meinung<br />
eine Menge Geld zustand. Welche großartigen Dinge könnten die<br />
Anonymen Alkoholiker damit tun! Doch merkwürdigerweise dachten<br />
Leute, die Geld hatten, ganz anders. Es wäre höchste Zeit, meinten<br />
sie, dass wir als nüchterne Menschen unsere Rechnungen selbst<br />
bezahlten. Darum ist unsere Gemeinschaft arm geblieben, weil es<br />
so sein musste.<br />
Es gab noch einen zweiten Grund für unsere Armut. Es wurde bald<br />
klar, dass Alkoholiker freigebig waren, wenn es darum ging,<br />
anderen zur Nüchternheit zu verhelfen. Sie hatten jedoch eine<br />
große Abneigung dagegen, Geld für Gruppenzwecke in den Hut zu<br />
werfen. Zu unserer Verblüffung stellten wir fest, dass die Münze so<br />
fest in unserer Tasche klebte wie die Rinde am Baum. So hat die<br />
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker mit leeren Kassen<br />
begonnen -und daran hat sich nichts geändert, während es dem<br />
einzelnen AA finanziell immer besser ging.
Alkoholiker sind Alles-oder-Nichts-Menschen. Das zeigt sich auch in<br />
Geldfragen. Im Laufe der Entwicklung unserer Gemeinschaft von<br />
den Anfängen bis zur Reife veränderte sich unsere Auffassung vom<br />
Geld ins Gegenteil. Zuerst benötigten wir große Summen,<br />
schließlich waren wir davon überzeugt, dass wir überhaupt kein<br />
Geld brauchten. Alle sprachen davon, dass man die AA-<br />
Gemeinschaft und Geld auseinanderhalten sollte. Wir sollten<br />
Spirituelles und Materielles voneinander trennen. Wir schlugen<br />
diesen neuen harten Weg ein, weil hier und da Anonyme<br />
Alkoholiker versucht hatten, aus ihren Beziehungen zu der<br />
Gemeinschaft Geld zu schlagen. Wir befürchteten ausgenutzt zu<br />
werden. Gelegentlich wurden Clubhäuser von dankbaren<br />
Wohltätern finanziert.<br />
Dabei kam es gelegentlich auch zu Einmischungen in unsere<br />
internen Angelegenheiten. Man hatte uns ein Krankenhaus<br />
geschenkt und gleich darauf wurde der Sohn des Stifters unser<br />
wichtigster Patient und sollte auch noch Direktor werden. Eine AA-<br />
Gruppe hatte fünftausend Dollar erhalten und konnte darüber frei<br />
verfügen. <strong>Der</strong> Streit um diesen Batzen Geld hatte jahrelang<br />
verheerende Auswirkungen. Erschrocken über diese<br />
Komplikationen wollten viele Gruppen überhaupt kein Geld mehr in<br />
der Kasse haben.<br />
Trotz dieser Missstände mussten wir einsehen, dass die<br />
Gemeinschaft zu funktionieren hatte. Meetingsräume kosten Geld.<br />
Um die Arbeit in größeren Gebieten zu gewährleisten, wurden<br />
kleine Büros eingerichtet, die ein Telefon und einen hauptamtlichen<br />
Mitarbeiter hatten. Trotz vieler Proteste wurden diese Einrichtungen<br />
geschaffen. Wir erkannten, dass wir ohne diese Stellen<br />
Ratsuchenden nicht helfen konnten. Diese kleinen Dienste kosteten<br />
nicht viel und wir konnten und wollten das Geld dafür aufbringen.<br />
Schließlich pendelte sich alles ein und wurde zur Grundlage der<br />
Siebten Tradition, wie sie heute noch Gültigkeit hat.<br />
In diesem Zusammenhang erzählt Bill gern die folgende treffende<br />
Geschichte. Er schildert, wie 1941 Jack Alexanders Artikel in der
"Saturday Evening Post" erschien und der Briefkasten unserer<br />
Dienststelle in New York mit Tausenden von erschütternden<br />
Hilferufen verzweifelter Alkoholiker und ihrer Familien überlief.<br />
"Unser Büropersonal bestand damals aus zwei Personen", sagt Bill,<br />
"einer guten Sekretärin und mir. Wie konnten wir mit dieser Lawine<br />
von Hilferufen fertig werden? Wir brauchten unbedingt mehr<br />
Personal. Darum baten wir die AA-Gruppen um freiwillige Spenden.<br />
Ob sie uns wohl für jeden einen Betrag von einem Dollar pro Jahr<br />
schicken würden? Andernfalls mussten diese Hilferufe<br />
unbeantwortet bleiben.<br />
Zu meiner Überraschung antworteten die Gruppen nur zögernd.<br />
Das machte mich sehr traurig. Als ich eines Morgens einen Berg<br />
von Briefen im Büro sah, lief ich auf und ab und schimpfte darüber,<br />
wie unverantwortlich und geizig meine Freunde waren. In diesem<br />
Augenblick steckte ein alter Freund seinen zerzausten und<br />
schmerzenden Kopf durch die Tür. Es war unser Dauerrückfälliger.<br />
Ich merkte dass er einen fürchterlichen Kater hatte. Ich sah mein<br />
Spiegelbild und war voller Anteilnahme. Ich zog ihn in das<br />
Hinterzimmer und gab ihm einen Fünfdollarschein. Da mein<br />
Einkommen damals dreißig Dollar in der Woche betrug, war das ein<br />
großes Geschenk. Meine Frau Lois brauchte das Geld dringend für<br />
Lebensmittel, aber das konnte mich nicht hindern. Die sichtbare<br />
Erleichterung meines Freundes machte mich froh. Ich fühlte mich<br />
besonders tugendhaft, wenn ich an all die Extrinker dachte, die<br />
nicht einmal bereit waren, einen Dollar pro Nase an die Dienststelle<br />
zu schicken. Und hier war ich, der mit Freuden bereit war, einem<br />
Alkoholiker mit fünf Dollar über seinen Katzenjammer<br />
hinwegzuhelfen.<br />
Am gleichen Abend war ein Meeting im alten Clubhaus in der 24.<br />
Straße in New York. Während der Pause machte der Kassenwart<br />
einen schüchternen Versuch, über die miese finanzielle Lage des<br />
Clubs zu sprechen. (Und das zu einer Zeit, in der es hieß, wir<br />
sollten AA und Geld auseinanderhalten!) Am Schluss kam er mit der<br />
Wahrheit heraus: Wir würden hier hinausfliegen, wenn wir keine
Miete bezahlten. 'Nun Leute', sagte er, 'heute Abend werft ihr mal<br />
etwas mehr in den Hut, nicht wahr?'<br />
Ich hörte alles ganz deutlich, während ich fromm einen Neuen, der<br />
neben mir saß, zu bekehren versuchte. <strong>Der</strong> Hut kam auch zu mir<br />
und ich griff in meine Tasche. Immer noch mit dem Neuen<br />
beschäftigt, fischte ich ein 50-CentStück heraus. Irgendwie kam es<br />
mir zu groß vor. Ich steckte es schnell wieder ein und zog ein<br />
10 Cent-Stück aus der Tasche, das recht dünn klang, als ich es in<br />
den Hut warf.<br />
Damals warf niemand Papiergeld in den Hut. Dann kam ich zur<br />
Besinnung. Heute Morgen war ich noch stolz auf meine<br />
Freigebigkeit. Jetzt war ich in meiner eigenen Gruppe geiziger als<br />
die Alkoholiker im Lande, die vergessen hatten, der Dienststelle<br />
ihren Dollar zu schicken.<br />
Es wurde mir klar, dass meine Fünf-Dollar-Spende an den Trinker<br />
nur mein Ego aufblähte. Schlimm für ihn und schlimm für mich.<br />
Einen Platz gab es in der Gemeinschaft, wo das Geistige und das<br />
Geld sich miteinander vertrugen -und das war der Hut! "<br />
Es gibt noch eine andere Geschichte über Geld. An einem Abend<br />
im Jahr 1948 hatten die Vertrauensleute der AA ihr vierteljährliches<br />
Treffen. Auf der Tagesordnung stand eine sehr wichtige Sache.<br />
Eine Frau war verstorben. Sie hatte in ihrem letzten Willen den<br />
Anonymen Alkoholikern eine Summe von 10.000 Dollar vermacht<br />
und bestimmt, dass die Dienststelle über das Geld verfügen sollte.<br />
Es erhob sich die Frage, ob die Gemeinschaft der AA dieses<br />
Vermächtnis annehmen sollte.<br />
Was gab es für Debatten! Gerade zu der Zeit war die Gemeinschaft<br />
in großen Geldschwierigkeiten; die Gruppen sandten nicht genug<br />
Geld, um die Dienststelle zu unterhalten. Wir verbrauchten alle<br />
Überschüsse aus dem Literaturverkauf -und nicht einmal das<br />
reichte. Unsere Reserve schmolz wie der Schnee im Frühling. Wir<br />
brauchten diese 10.000 Dollar. "Vielleicht", meinten einige, "werden<br />
die Gruppen die Kosten des Büros nie tragen. Wir können es aber
auch nicht schließen, es ist zu lebenswichtig. Ja, wir sollten das<br />
Geld annehmen, denn wir werden es brauchen."<br />
Dann kam die Opposition. Sie wies darauf hin, dass die<br />
Vertrauensleute bereits jetzt wussten, dass in Testamenten von<br />
Leuten, die noch lebten, eine halbe Million Dollar für die<br />
Gemeinschaft der AA bestimmt war. Gott allein wusste, wie viel<br />
noch für uns vorgesehen war, von dem wir bis jetzt noch nichts<br />
ahnten. Wenn derartige Spenden von außen nicht abgelehnt<br />
wurden -und zwar bedingungslos –würde die Gemeinschaft eines<br />
Tages sehr reich sein. Außerdem brauchten unsere Vertrauensleute<br />
in der Öffentlichkeit nur die leiseste Andeutung zu machen, dass wir<br />
Geld benötigten -und es würden uns große Geldbeträge zufließen.<br />
Verglichen mit diesen Aussichten waren die 10.000 Dollar nicht der<br />
Rede wert.<br />
Würden wir sie aber annehmen, so würde bei uns, ähnlich wie bei<br />
dem Alkoholiker, der das erste Glas trinkt, eine verhängnisvolle<br />
Kettenreaktion einsetzen. Wohin würde uns das bringen?<br />
Wer die Musik bezahlt, bestimmt, was gespielt wird. Und wenn die<br />
Gemeinschaft der AA Geld von außen annehmen würde, könnten<br />
die Vertrauensleute in Versuchung geraten, Entscheidungen zu<br />
treffen, die dem Wohle unserer Gemeinschaft entgegenstehen. Frei<br />
von jeder Verantwortung würde der einzelne Alkoholiker mit der<br />
Achsel zucken und sagen: "Die Gemeinschaft ist ja reich, warum<br />
soll ich mir noch Gedanken machen?" Unter dem Gewicht eines<br />
großen Vermögens würden die Vertrauensleute in Versuchung<br />
kommen, mit einer Vielzahl von Vorhaben Gutes zu tun und so den<br />
Hauptzweck der Anonymen Alkoholiker vergessen. Und wenn das<br />
passierte, wäre unser Vertrauen in die Gemeinschaft erschüttert.<br />
Die Vertrauensleute würden sich isolieren und heftiger Kritik sowohl<br />
von Seiten der Anonymen Alkoholiker als auch der Öffentlichkeit<br />
ausgesetzt sein. So prallten die Meinungen aufeinander.<br />
Damals haben unsere Vertrauensleute eine bedeutungsvolle Seite<br />
in der Geschichte der Anonymen Alkoholiker geschrieben. Sie<br />
erklärten zum Grundsatz, dass die Gemeinschaft der AA immer arm
leiben muss. In Zukunft sollten die Finanzen so verwendet werden:<br />
Deckung der laufenden Ausgaben zuzüglich einer vernünftigen<br />
Reserve.<br />
So schwer es ihnen auch fiel, sie lehnten die 10.000 Dollar offiziell<br />
ab, fassten einen formellen, nach allen Seiten abgesicherten<br />
Entschluss, solche Schenkungen auch in Zukunft in gleicher Weise<br />
abzulehnen. Von diesem Zeitpunkt an, glauben wir, war der<br />
Grundsatz der gemeinsamen Besitzlosigkeit fest und endgültig in<br />
der AA-Tradition verankert.<br />
Das Echo auf die Veröffentlichung dieses Beschlusses war lebhaft.<br />
Für Menschen, die sich an endlose Sammelaktionen für karitative<br />
Zwecke gewöhnt hatten, war die Gemeinschaft der AA etwas ganz<br />
Neues und Erfrischendes. Anerkennende Zeitungsartikel weit und<br />
breit lösten eine Welle von Vertrauen in die Rechtschaffenheit der<br />
Anonymen Alkoholiker aus. Sie hoben hervor, dass<br />
Verantwortungslose zu Verantwortlichen wurden und dass die<br />
Anonymen Alkoholiker durch ihre Tradition der finanziellen<br />
Unabhängigkeit wieder ein Ideal wachgerufen hätten, das in<br />
unserem Zeitalter fast vergessen war.
Die Achte Tradition<br />
"Die Tätigkeit bei den Anonymen Alkoholikern sollte immer<br />
ehrenamtlich bleiben, jedoch dürfen unsere zentralen<br />
Dienststellen Angestellte beschäftigen".<br />
"Anonym er Alkoholiker" wird niemals ein Beruf sein. Wir haben<br />
mittlerweile begriffen, was die Worte bedeuten, "umsonst habt ihr<br />
empfangen, umsonst sollt ihr geben".<br />
Uns ist klar geworden, dass sich die spirituelle und die finanzielle<br />
Seite nicht miteinander vereinbaren lassen, wenn wir unsere<br />
Tätigkeit innerhalb der Gemeinschaft als Beruf ansehe n. Selbst<br />
Koryphäen auf medizinischem und religiösem Gebiet haben in der<br />
ganzen Welt bis heute kaum Erfolg bei der Heilung vom<br />
Alkoholismus gehabt. Mit dieser Feststellung möchten wir<br />
keineswegs die Tätigkeit dieser Berufe auf anderen Gebieten<br />
herabsetzen, aber wir müssen die nüchterne Tatsache hin nehmen,<br />
dass ihre Tätigkeit in unserem Bereich nicht hilft. Jedes Mal, wenn<br />
wir versuchten, die Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zum Beruf zu machen,<br />
war das Ergebnis dasselbe: Wir verloren unser Hauptziel aus den<br />
Augen.<br />
Alkoholiker hören einfach nicht auf einen Menschen, der für seine<br />
Arbeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> bezahlt wird. Wir kamen schnell dahinter,<br />
dass persönlicher Kontakt zum Alkoholiker, der noch trinkt, nur<br />
durch den Wunsch zustande kommt, ihm zu helfen und dadurch<br />
selbst Hilfe zu finden.<br />
Wenn ein Anonymer Alkoholiker gegen Bezahlung als Sprecher in<br />
einem Meeting auftritt oder sich um einen Einzelnen kümmert, kann<br />
das für ihn selbst sehr schädlich werden. Seine finanziellen<br />
Beweggründe stellen ihn bloß und alles, was er sagt und tut,<br />
geschieht in Erwartung seines eigenen Vorteils.<br />
Das war schon immer so klar, dass nur wenige Anonyme<br />
Alkoholiker sich ihre Tätigkeit im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> bezahlen lassen.<br />
Dennoch sind wenige Dinge innerhalb unserer Gemeinschaft
so umstritten wie bezahlte Tätigkeiten. Hausmeister, welche die<br />
Böden reinigen, Köche, die unsere Hamburger braten, Sekretäre in<br />
den Büros, Autoren, die Bücher schreiben -sie alle werden immer<br />
wieder scharf angegriffen, weil sie, wie ihnen ihre Kritiker ärgerlich<br />
vorwerfen, durch die Gemeinschaft der AA Geld verdienen. Ohne<br />
daran zu denken, dass diese Tätigkeiten überhaupt nichts mit dem<br />
<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zu tun haben, greifen die Kritiker die Angestellten<br />
der AA an, die oft und undankbare Aufgaben nur erledigen, weil<br />
kein anderer sie tun kann oder will.<br />
Noch größerer Ärger entstand, wenn Anonyme Alkoholiker<br />
Entziehungs-oder Erholungsheime leiteten, wenn sie in<br />
Personalbüros großer Firmen angestellt wurden, um sich um<br />
alkoholkranke Mitarbeiter in der Industrie zu kümmern, wenn sie<br />
Pfleger in psychiatrischen Krankenhäusern wurden oder wenn sie<br />
sich auf dem Gebiet der Aufklärung über Alkoholismus betätigten. In<br />
diesen und vielen anderen Fällen wurde behauptet: hier verkaufen<br />
Anonyme Alkoholiker Erkenntnis und Erfahrung der Gemeinschaft<br />
gegen Geld, also nutzen sie ihre Krankheit beruflich.<br />
Schließlich konnte man jedoch eine klare Linie zwischen Beruf und<br />
Ehrenamt ziehen. Als wir uns darüber klar wurden, dass die Arbeit<br />
im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> nicht gegen Bezahlung getan werden konnte,<br />
waren wir klüger geworden. Seinerzeit, als wir festgelegt hatten,<br />
unsere Gemeinschaft dürfe keine bezahlten Angestellten haben und<br />
Anonyme Alkoholiker dürften die bei uns gewonnenen Erkenntnisse<br />
nicht auf andere Gebiete übertragen, war Furcht unser Ratgeber<br />
gewesen. Heute ist diese Furcht durch die inzwischen gemachten<br />
Erfahrungen weithin behoben.<br />
Nehmen wir einmal das Beispiel einer größeren Kontaktstelle und<br />
der dort Tätigen. Wenn die KontaktsteIle funktionieren soll, muss sie<br />
gemütlich und sauber sein. Wir versuchten es mit Freiwilligen, aber<br />
nach kurzer Zeit waren sie es leid, sieben Tage in der Woche<br />
sauberzumachen und Kaffee zu kochen. Sie blieben einfach weg.<br />
Und was noch wichtiger ist: in einer unbesetzten Kontaktsteile<br />
konnten keine Telefongespräche angenommen werden. Es war
geradezu eine Einladung für einen Rückfälligen, der zufällig noch<br />
einen Haustürschlüssel besaß, sich dort häuslich niederzulassen Es<br />
musste einfach jemand hauptberuflich die Kontaktsteile betreuen.<br />
Und wenn wir dafür einen Alkoholiker einstellten, würde dieser die<br />
gleiche Bezahlung erhalten, die auch ein Nichtalkoholiker für die<br />
gleiche Arbeit bekommen würde. Es war nicht seine Aufgabe, selbst<br />
im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> tätig zu werden, sondern durch seine Arbeit den<br />
<strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> möglich zu machen. Er hatte eine Dienstleistung zu<br />
vollbringen, nichts weiter.<br />
Ohne hauptberufliche Angestellte konnte die Gemeinschaft der AA<br />
nicht funktionieren. Im Gemeinsamen Dienstbüro und in den<br />
Intergruppenbüros konnten wir keine Nichtalkoholiker als Mitarbeiter<br />
beschäftigen. Wir brauchten Menschen, die auf den Ton der AA<br />
eingestimmt waren. In dem Moment, als wir AA-Freunde einstellten,<br />
schrien die Erzkonservativen und Ängstlichen: "Jetzt machen sie mit<br />
ihrer Krankheit Geld!" Es hat eine Zeit gegeben, in der die Situation<br />
dieser treuen An gestellten unerträglich wurde. In den Meetings ließ<br />
man sie nicht mehr sprechen, da sie ja "durch die Gemeinschaft<br />
Geld verdienten". Manchmal wurden sie sogar von anderen aus der<br />
Gruppe geradezu beleidigt. Und selbst die Toleranten nahmen sie<br />
als notwendiges Übel hin. Die für die Anstellung Verantwortlichen<br />
machten sich das zunutze und drückten die Gehälter. Nach deren<br />
Auffassung konnten die hauptamtlichen Angestellten ihre Tugend<br />
zurückgewinnen. indem sie für die AA billig arbeiteten. So ging es<br />
jahrelang.<br />
Schließlich mussten wir aber doch einsehen, dass man eine schwer<br />
arbeitende Sekretärin nicht als professionelle AA bezeichnen<br />
konnte, wenn sie Dutzende von Telefonanrufen beantwortete,<br />
täglich mindestens zwanzig jammernde Frauen anhörte, zehn<br />
Plätze in Krankenhäusern besorgte, jedem den nötigen Sponsor<br />
vermittelte und dann noch einem Angetrunkenen gegenüber<br />
vernünftig und diplomatisch sein musste, der sich über ihre Arbeit<br />
beschwerte und ihr vorwarf, sie sei überbezahlt.
Sie machte aus dem <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> keinen Beruf. Durch ihre Arbeit<br />
wurde er erst möglich. Sie sorgte dafür, dass jeder die Hilfe bekam,<br />
die er dringend brauchte. Dazu waren freiwillige Helfer willkommen,<br />
aber es konnte nicht von ihnen erwartet werden, diese schwere Last<br />
tagein, tagaus auf sich zu nehmen.<br />
Beim amerikanischen Dienstbüro, dem GSO (General Service<br />
Office), war es nicht anders. Acht Tonnen Bücher und Literatur im<br />
Monat verpacken sich nicht von selbst und finden auch nicht allein<br />
ihren Weg in die ganze Welt. Säcke voller Briefe mit allen nur<br />
denkbaren AA-Problemen, angefangen von dem einsamen Eskimo,<br />
der Hilfe braucht, bis zu den Wachstumsschwierigkeiten Tausender<br />
Gruppen, müssen von Menschen beantwortet werden, die wissen,<br />
um was es geht. Die Kontakte mit aller Welt müssen in richtiger<br />
Form aufrechterhalten werden. Jederzeit muss Hilfe geleistet<br />
werden können. Darum stellen wir Mitarbeiter ein.<br />
Wir bezahlen sie gut. Sie bekommen, was ihnen zusteht. Sie üben<br />
ihren Beruf aus, aber sie sind sicher keine berufsmäßigen<br />
Anonymen Alkoholiker. Vielleicht wird immer im Innern eines jeden<br />
AA die Furcht lauern, dass unser Name eines Tages von irgend<br />
jemand für Geldgeschäfte missbraucht werden könnte. Wenn<br />
einmal nur die leiseste Möglichkeit dazu auftaucht, bricht ein wahrer<br />
Proteststurm aus. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass solche<br />
Stürme unberechenbar sind und mit derselben Heftigkeit Gerechte<br />
und Ungerechte treffen.<br />
Niemand wurde mehr angegriffen als die Anonymen Alkoholiker, die<br />
kühn genug waren, eine Anstellung bei außenstehenden<br />
Institutionen anzunehmen, die sich mit dem Alkoholismus befassen.<br />
Eine Universität suchte einen Anonymen Alkoholiker, der die<br />
Öffentlichkeit über Alkoholismus aufklären sollte. Eine größere<br />
Firma wollte einen Mitarbeiter für das Personalbüro, der mit der<br />
Sache vertraut war. Ein staatliches Alkoholismus-Zentrum suchte<br />
einen Sachbearbeiter, der mit Trinkern umgehen konnte. Eine<br />
Stadtverwaltung brauchte einen erfahrenen Sozialarbeiter, der<br />
wusste, welches Elend der Alkoholismus in Familien anrichtete.
Eine vom Staat eingesetzte Arbeitsgruppe suchte einen bezahlten<br />
Angestellten für ihre Forschungen. Das sind nur einige der Stellen,<br />
die einzelnen AA angeboten wurden. Hin und wieder kauften<br />
Anonyme Alkoholiker Entzugs-und Kurheime, in denen<br />
heruntergekommene Süchtige die notwendige Betreuung fanden.<br />
Die Frage war -sie ist es manchmal heute noch: ist eine derartige<br />
Betätigung als geschäftsmäßige Ausnutzung der AA im Sinne<br />
dieser Tradition zu verurteilen?<br />
Die Antwort ist: "Nein. Anonyme Alkoholiker, die einen Beruf auf<br />
diesem Gebiet wählen, werden nicht dafür bezahlt, dass sie sich im<br />
Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong>es unseres Programms betätigen." <strong>Der</strong><br />
Weg zu dieser Erkenntnis war lang und steinig. Am Anfang konnten<br />
wir nicht sehen, worum es wirklich ging. Wenn sich damals ein AA<br />
in solchen Unternehmungen betätigte, lag die Versuchung nahe,<br />
den Namen "Anonyme Alkoholiker" für Werbung und Einnahmequellen<br />
zu nutzen. Kliniken für Alkoholiker, Beratungsstellen,<br />
staatliche Dienststellen und sonstige Verbände gaben öffentlich<br />
bekannt, dass Anonyme Alkoholiker bei ihnen beschäftigt waren.<br />
Ohne sich etwas dabei zu denken, haben AA in solchen Positionen<br />
ihre Anonymität gebrochen, um die Werbetrommel für ihren<br />
Arbeitgeber zu rühren. Aus diesem Grund wurden einige sehr gute<br />
Sachen und alles, was damit zusammenhing, ungerechtfertigt von<br />
AA-Gruppen kritisiert. Häufig wurden die Angegriffenen auch AA-<br />
Profis genannt: "Da ist jemand, der aus seiner AA-Zugehörigkeit<br />
Geld schlägt." Doch nicht ein Einziger von ihnen war dazu angestellt<br />
worden, im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> zu arbeiten. Die Verletzung der AA-<br />
Grundsätze lag nicht im Professionalismus, sondern im Bruch der<br />
Anonymität. <strong>Der</strong> Name Anonyme Alkoholiker war missbraucht,<br />
unser Hauptzweck verfehlt.<br />
Es ist bemerkenswert, dass diese Befürchtungen heutzutage fast<br />
aus geräumt sind, denn es bricht kaum noch ein AA seine<br />
Anonymität in der Öffentlichkeit. Wir haben weder das Recht noch<br />
die Pflicht, Anonyme Alkoholiker zu entmutigen, wenn sie auf einem<br />
dieser sozialen Gebiete arbeiten wollen. Es wäre unsozial, wenn wir<br />
es ihnen verbieten wollten. Wir können unsere Gemeinschaft nicht
zu einem Geheimbund machen und unsere Kenntnisse und<br />
Erfahrungen für uns behalten.<br />
Wenn ein Anonymer Alkoholiker die Möglichkeit der freien<br />
Berufswahl hat und ein besserer Forscher, Erzieher oder<br />
Personalchef werden kann, warum nicht? Jeder profitiert davon -<br />
und uns entsteht kein Schaden. Zugegeben, manche Projekte, an<br />
denen Anonyme Alkoholiker mitarbeiteten, waren falsch<br />
aufgezogen, aber davon wird der Grundsatz, um den es sich hier<br />
handelt, nicht im Geringsten berührt.<br />
Bis schließlich die Tradition, dass unser Wirken innerhalb unserer<br />
Gemeinschaft ehrenamtlich bleiben soll, feststand, hatte es schon<br />
einige Aufregung gegeben. Für die Tätigkeit im Sinne des <strong>Zwölfte</strong>n<br />
<strong>Schritt</strong>es wird niemals etwas bezahlt, wer aber in unseren Diensten<br />
beschäftigt ist, soll angemessen entlohnt werden .
Die Neunte Tradition<br />
"Anonyme Alkoholiker sollten niemals organisiert werden.<br />
Jedoch dürfen wir Dienstausschüsse und -komitees bilden, die<br />
denjenigen verantwortlich sind, welchen sie dienen".<br />
Die erste Fassung der Neunten Tradition lautete: "Die Gemeinschaft<br />
der Anonymen Alkoholiker sollte so wenig wie möglich organisiert<br />
sein". Im Laufe der Zeit hat sich aber unsere Ansicht etwas<br />
geändert. Heute sind wir fest davon überzeugt, dass die Anonymen<br />
Alkoholiker -die Gemeinschaft als Ganzes überhaupt nicht<br />
organisiert sein sollten. Im Widerspruch dazu steht scheinbar, dass<br />
besondere Dienstausschüsse und -komitees gebildet werden, die in<br />
sich selbst organisiert sind. Wie ist es möglich, dass wir eine<br />
unorganisierte Gemeinschaft sein wollen, die dennoch organisierte<br />
Dienststellen für sich arbeiten lässt? Die Leute stehen vor einem<br />
Rätsel. "Was versteht ihr darunter, nicht organisiert zu sein?"<br />
Wir wollen das näher betrachten. Hat man je von einem Staat, einer<br />
Kirche, einer politischen Partei oder einem Wohltätigkeitsverein<br />
gehört, in denen es keine Statuten für die Mitglieder gibt? Hat man<br />
je von einer Gesellschaft gehört, die nicht durch einzuhaltende<br />
Vorschriften und Anordnungen für Disziplin unter den Mitgliedern<br />
sorgte? Gibt es nicht in jeder Gesellschaftsordnung auf der Welt<br />
einige Menschen mit Führungspositionen, die den übrigen<br />
Gehorsam abverlangen können und die die Macht haben,<br />
diejenigen, die sich nicht an die Vorschriften halten, zu bestrafen<br />
oder sie auszustoßen? Darum braucht jeder Staat, ja sogar jede Art<br />
von Gemeinschaft eine Führung, die von Menschen ausgeübt wird.<br />
Die Macht zu lenken und zu regieren ist das Wesen einer jeden<br />
Organisation überall in der Welt.<br />
Die Gemeinschaft der AA macht jedoch eine Ausnahme. Sie passt<br />
nicht in dieses Schema. Weder die Gemeinsame Dienstkonferenz,<br />
das Gemeinsame Dienstbüro noch der kleinste Ausschuss können<br />
einem AA Anweisungen geben, die er zu befolgen hat, geschweige<br />
denn, ihn bestrafen. Versucht wurde es schon öfter, doch es ging<br />
immer schief. Gruppen haben versucht, AA auszuschließen, doch
die gleichen Leute setzten sich wieder ins Meeting und sagten: "Das<br />
ist für uns lebensnotwendig, ihr könnt uns hier nicht hinauswerfen".<br />
Manchen AA wurde durch irgendein Komitee nahegelegt, nicht<br />
ständig hinter chronisch Rückfälligen herzulaufen. Doch die Antwort<br />
war: "Wie ich im <strong>Zwölfte</strong>n <strong>Schritt</strong> arbeite, ist meine eigene<br />
Angelegenheit. Wer seid ihr denn, dass ihr Urteile fällt"?<br />
Das bedeutet nicht, dass ein Anonymer Alkoholiker keinen Rat oder<br />
Vorschlag von Leuten mit mehr Erfahrung annimmt. Ganz sicher<br />
aber nimmt er keinen Befehl an. Wer ist wohl unbeliebter als ein<br />
weiser Oldtimer, der in eine andere Gegend zieht und dort der<br />
Gruppe beibringen will, wie es richtig gemacht wird? Er und alle, die<br />
gleich ihm "mit Sorge das Beste für die AA im Auge haben", stoßen<br />
auf hartnäckigen Widerstand oder, was noch schlimmer ist, sie<br />
werden ausgelacht.<br />
Mancher könnte mein en, dass das AA-Dienstbüro in New York eine<br />
Ausnahme bildet. Natürlich hätten die Leute dort gern eine gewisse<br />
Autorität. Doch seit langem schon haben die Vertrauensleute und<br />
die Mitarbeiter gemeinsam festgelegt, dass sie nur vorsichtig<br />
Anregungen geben können.<br />
Sie haben einige Standardsätze formuliert, die in fast jedem Brief<br />
erscheinen. "Natürlich steht es euch völlig frei, über diese<br />
Angelegenheit selbst zu entscheiden. Die meisten Gruppen der AA<br />
haben jedoch in solchen Fällen die Erfahrung gemacht, dass ..." Da<br />
es so gehandhabt wird, kann wohl kaum von einem Diktat einer<br />
zentralen Stelle gesprochen werden. Wir wissen, dass man keinem<br />
Alkoholiker Vorschriften machen kann -weder einem einzelnen noch<br />
der Gesamtheit.<br />
Wenn das ein Theologe hört, wird er bestimmt sagen: "Diese Leute<br />
machen aus Ungehorsam eine Tugend." Die gleiche Meinung wird<br />
ein Psychiater vertreten: "Trotzige Kinder' Sie wollen nie erwachsen<br />
und nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden." <strong>Der</strong> Mann auf<br />
der Straße sagt: "Das verstehe ich nicht, die müssen verrückt sein."
Doch alle diese Kritiker haben etwas Einzigartiges übersehen, das<br />
es nur bei den Anonymen Alkoholikern gibt. Wenn ein AA sich nicht<br />
mit aller Kraft bemüht, nach den von uns empfohlenen Zwölf<br />
<strong>Schritt</strong>en zu leben, ist ihm sein Todesurteil fast sicher. Ein neuer<br />
Rückfall mit allen Konsequenzen ist keine Strafe, die ihm von<br />
Autoritätspersonen auferlegt wurde, sondern das Ergebnis der<br />
Nichtbeachtung der geistigen Grundsätze.<br />
Auch die Gruppe ist der gleichen Gefahr ausgesetzt. Wenn sie sich<br />
nicht nach den Zwölf Traditionen der AA richtet, zerfallt sie und löst<br />
sich auf. Darum beachten wir Anonymen Alkoholiker die spirituellen<br />
Grundsätze, weil es für uns lebensnotwendig ist und weil wir die Art<br />
zu leben lieben, die nur durch Annehmen des Programms möglich<br />
ist. Großes Leid und große Liebe sind unsere Lehrmeister, andere<br />
brauchen wir nicht.<br />
Jetzt ist klar, warum wir keine Vorstände brauchen, die uns<br />
regieren. Aber es ist ebenso klar, dass wir mit Autorität<br />
ausgestattete Angestellte brauchen, die uns dienen. Hier<br />
unterscheidet sich der Geist festgefügter Autorität vom Geist des<br />
Dienens, zwei Auffassungen, die einander manchmal polar<br />
entgegenstehen. Dieser Geist des Dienens bestimmt in den<br />
Gruppen die Wahl der mit zeitlich begrenzten Aufgaben betrauten<br />
Vertrauensleute, der Verantwortlichen auf regionaler Ebene und der<br />
Delegierten für die Gemeinsame Dienstkonferenz. So wie<br />
persönliche Nüchternheit das Ziel jedes einzelnen AA-Mitgliedes ist,<br />
so ist es das Ziel des Dienstes innerhalb unserer Gemeinschaft,<br />
Nüchternheit überall dorthin zu bringen, wo sie gewünscht wird.<br />
Wenn keiner die Kleinarbeit in den Gruppen erledigt, wenn niemand<br />
die Kontakttelefone bedient , wenn niemand die Post beantwortet,<br />
dann würde die AA-Gemeinschaft nicht mehr wachsen. Unsere<br />
Verbindung zu denen, die Hilfe brauchen, wäre unterbrochen.<br />
Die Gemeinschaft der AA muss funktionieren, aber sie muss<br />
gleichzeitig auch jene Gefahren vermeiden, welche andere<br />
Gesellschaften notwendigerweise bedrohen: großen Reichtum und<br />
eine auf Macht begründete Autorität. Obwohl sich die Neunte
Tradition auf den ersten Blick nur mit einer rein praktischen Sache<br />
zu befassen scheint, so offenbart sie jedoch in ihrer tatsächlichen<br />
Auswirkung eine Gesellschaft, die ohne feste Organisation nur<br />
durch den Geist des Dienens belebt wird -eine wahre Gemeinschaft.
Die Zehnte Tradition<br />
"Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu Fragen<br />
außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der AA-<br />
Name niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt werden".<br />
Noch nie ist es innerhalb unserer Gemeinschaft wegen<br />
unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zu einer Spaltung<br />
gekommen. Auch hat unsere Gemeinschaft noch niemals öffentlich<br />
für eine Sache in dieser zerstrittenen Welt Partei ergriffen. Wir<br />
sollten uns das aber nicht als Verdienst anrechnen. Man könnte<br />
eher sagen, dass uns diese Tugend angeboren ist. Wir stimmen<br />
dem Oldtimer völlig zu, der einmal gesagt hat: "Praktisch habe ich<br />
noch nie einen Streit über religiöse oder politische Fragen unter AA-<br />
Zugehörigen miterlebt. Solange wir uns über diese Dinge nicht<br />
untereinander streiten, ist es klar, dass wir es nicht öffentlich tun ."<br />
Von Anfang an haben wir Anonymen Alkoholiker instinktiv gewusst,<br />
dass wir niemals in irgendeiner Streitfrage öffentlich Partei ergreifen<br />
dürften, selbst wenn wir noch so sehr herausgefordert werden oder<br />
wenn es sich um wichtige Grundsatzfragen handelt. Die<br />
Weltgeschichte wimmelt von Beispielen von kämpfenden Nationen<br />
oder Gruppen, die meist völlig auseinandergerissen wurden, weil sie<br />
ihrer Anlage oder ihrem Hang zum Streit erlegen sind. Andere<br />
scheiterten und gingen unter, weil sie aus reiner Selbstherrlichkeit<br />
ihren Mitmenschen ein Paradies auf Erden nach eigenem Muster<br />
aufzwingen wollten. Wir selbst haben es erlebt und erleben es noch,<br />
dass Millionen Menschen durch Kriege sterben, die aus politischen,<br />
wirtschaftlichen, religiösen oder rassischen Gründen geführt<br />
werden. Wir leben mit der drohenden Möglichkeit neuer<br />
Massenmorde, die entscheiden werden, von welchem System wir<br />
regiert werden und wie die Produkte der Natur und der<br />
menschlichen Arbeit unter den Völkern zu verteilen sind. In diesem<br />
geistigen Klima ist die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker<br />
entstanden und lebt und wirkt trotzdem durch die Gnade Gottes.<br />
Wir möchten nochmals betonen, dass wir es nicht als eine<br />
besondere Tugend betrachten, wenn wir Streit innerhalb und
außerhalb unserer Gemeinschaft aus dem Wege gehen -und wir<br />
fühlen uns deswegen nicht anderen Menschen überlegen. Das soll<br />
aber nicht heißen, dass Anonyme Alkoholiker, die wieder wie<br />
normale Bürger leben , sich vor ihrer persönlichen Verantwortung<br />
drücken dürfen; sie sollen bei strittigen Fragen im täglichen Leben<br />
so handeln, wie sie es für richtig halten . Wenn es sich aber um die<br />
Gemeinschaft der AA als Ganzes handelt, liegen die Dinge anders.<br />
Als Anonyme Alkoholiker beteiligen wir uns niemals an öffentlichen<br />
Kontroversen, weil wir wissen, dass unsere Gemeinschaft sonst<br />
zugrunde gehen würde. Das Weiterleben und Wachsen der AA ist<br />
viel wichtiger als die Bedeutung, die eine Sache gegebenenfalls<br />
durch unsere Stellungnahme bekommen könnte. Da die Genesung<br />
vom Alkoholismus für uns Leben bedeutet, haben wir die<br />
Verpflichtung, unsere Mittel und Wege zum Überleben zu erhalten.<br />
Vielleicht klingt das so, als ob Anonyme Alkoholiker plötzlich<br />
friedfertig und eine große glückliche Familie geworden wären. So ist<br />
das natürlich nicht. Wir sind alle Menschen und streiten gelegentlich<br />
auch untereinander. Ehe wir eine gemeinsame Linie hatten, sah es<br />
zumindest an der Oberfläche so aus, als ob unsere Gemeinschaft<br />
nur aus Streithähnen bestand.<br />
Es konnte passieren, dass ein Direktor, der am selben Tage noch in<br />
seiner Firma eine Ausgabe von hunderttausend Dollar befürwortet<br />
hatte, zu einem Arbeitsmeeting der AA erschien und sich hier<br />
fürchterlich über fünfundzwanzig Dollar für Papier aufregte. Andere<br />
spielten sich als Führer auf; daraufhin kam die Hälfte nicht mehr und<br />
gründete eine neue AA-Gruppe. Sogenannte Oldtimer entwickelten<br />
sich manchmal zu Pharisäern und zogen sich schmollend zurück.<br />
Leute, bei denen man vermutete, dass sie sich aus noch anderen<br />
Gründen einer Gruppe anschlossen, wurden scharf angegriffen.<br />
Dennoch haben alle diese mehr oder weniger ernsthaften<br />
Streitereien unserer Gemeinschaft nicht im Geringsten geschadet.<br />
Sie waren notwendig, damit wir lernen konnten, miteinander zu<br />
leben. Zu guter Letzt ist festzuhalten, dass es fast immer darum<br />
ging, Wege zu finden, die Gemeinschaft der AA noch wirksamer zu
machen, um möglichst viel Gutes für möglichst viele Alkoholiker zu<br />
tun.<br />
Die "Washington-Gesellschaft", eine Bewegung, die vor hundert<br />
Jahren in Baltimore gegründet wurde, hätte beinahe die Lösung des<br />
Alkoholproblems entdeckt. Anfangs setzte sich diese Vereinigung<br />
nur aus Alkoholikern zusammen, die einander zu helfen versuchten.<br />
Die ersten Mitglieder waren weitsichtig genug, sich nur ein großes<br />
Ziel zu setzen.<br />
Die damalige Washington-Gesellschaft und unsere heutige<br />
Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker hatten vieles gemeinsam.<br />
Sie hatten über hunderttausend Mitglieder. Wären sie ohne<br />
Einmischung von außen ihrem einzigen Ziel treu geblieben, dann<br />
hätten sie gewiss noch den Rest der Lösung des Alkoholproblems<br />
gefunden. Doch es kam anders. Die Washington-Gesellschaft ließ<br />
sich von Politikern. Reformern, Alkoholikern und Nichtalkoholikern<br />
jeweils vor deren Karren spannen. Damals war zum Beispiel die<br />
Abschaffung der Sklaverei eine große politische Streitfrage.<br />
Sprecher der Washington-Gesellschaft nahmen öffentlich und in<br />
sehr scharfer Form zu diesem Problem Steilung. Vielleicht hätte die<br />
Gesellschaft den Kampf um die Abschaffung der Sklaverei noch<br />
überleben können, aber bei ihrem Versuch, die Trinksitten in<br />
Amerika zu reformieren, hatte sie keine Chance mehr. Von dem<br />
Augenblick an, da die Washington-Gesellschaft ihren Kreuzzug für<br />
Abstinenz startete, verlor sie in wenigen Jahren alle Möglichkeiten,<br />
Alkoholikern zu helfen.<br />
Die Anonymen Alkoholiker haben aus den Erfahrungen der<br />
Washington-Gesellschaft gelernt. Sie sahen sich genau an, was von<br />
dieser Bewegung noch übrig geblieben war und beschlossen dann,<br />
unsere Gemeinschaft aus öffentlichen Auseinandersetzungen<br />
vollkommen herauszuhalten. So wurde der Grundstein der Zehnten<br />
Tradition gelegt: Anonyme Alkoholiker nehmen niemals Stellung zu<br />
Fragen außerhalb ihrer Gemeinschaft; deshalb sollte auch der<br />
Name AA niemals in öffentliche Streitfragen verwickelt werden.
Die Elfte Tradition<br />
"Unsere Beziehungen zur Öffentlichkeit stützen sich mehr auf<br />
Anziehung als auf Werbung. Deshalb sollten wir auch<br />
gegenüber Presse, Rundfunk, Film und Fernsehen stets unsere<br />
persönliche Anonymität wahren".<br />
Ohne ihre unzähligen guten Freunde hätte die Gemeinschaft der<br />
Anonymen Alkoholiker nicht so schnell wachsen können. Weil die<br />
öffentlichen Medien in der ganzen Welt die AA ausführlich und<br />
positiv dargestellt haben, kamen viele Alkoholiker zu uns. In Dienstund<br />
Kontaktstellen der AA wie auch in Privatwohnungen läutete<br />
ständig das Telefon. Einer sagt: "Ich hab e einen Artikel in der<br />
Zeitung gelesen .,", ein anderer : "Wir hörten eine Sendung im<br />
Radio ...ein dritter: "Wir haben einen Film über Alkoholismus<br />
gesehen ...oder: "Ich habe im Fernsehen eine Sendung über AA<br />
gesehen ...Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, dass die<br />
Hälfte der Anonymen Alkoholiker durch solche Kanäle uns<br />
zugeleitet worden sind.<br />
Es rufen nicht nur Alkoholiker oder deren Angehörige an. Ärzte<br />
haben in eine m medizinischen Fachblatt etwas über die<br />
Gemeinschaft der AA gelesen und bitten um weitere Informationen.<br />
Wenn in irgendeinem Kirchenblatt ein Artikel über Alkoholismus<br />
erscheint, rufen Geistliche bei uns an. Arbeitgebern ist bekannt,<br />
dass große Konzerne Vertrauen zu uns haben -und sie wollen<br />
herausfinden, was sie in ihren eigenen Firmen gegen Alkoholismus<br />
tun können.<br />
Wir hatten deshalb eine große Verantwortung, als wir uns mit den<br />
Empfehlungen für unsere Öffentlichkeitsarbeit befassten. Nachdem<br />
wir manch schmerzliche Erfahrung machen mussten, glauben wir<br />
nun, die richtige Einstellung gefunden zu haben. Meist tun wir<br />
genau das Gegenteil von dem, was in der Werbung üblich ist. Wir<br />
haben heraus gefunden, dass wir uns mehr auf Anziehungskraft als<br />
auf Werbung stützen sollten.
Wir wollen jetzt die beiden gegensätzlichen Ideen –Anziehung und<br />
Werbung -näher betrachten. Wenn eine politische Partei eine Wahl<br />
gewinnen will, macht sie Reklame für die klugen Köpfe der<br />
Parteiführung, um Stimmen zu gewinnen. Wenn eine renommierte<br />
Hilfsorganisation um Spenden bittet, werden im Briefkopf die<br />
Namen aller Persönlichkeiten genannt, die man für diese Sache<br />
gewinnen konnte. Es hängt sehr viel im politischen, religiösen und<br />
wirtschaftlichen Leben in der Welt davon ab, wie die leitenden<br />
Persönlichkeiten werbewirksam dargestellt werden. Es besteht ein<br />
tiefes menschliches Bedürfnis nach Symbolgestalten für eine große<br />
Sache oder eine große Idee.<br />
Wir Anonymen Alkoholiker bezweifeln das nicht. Aber wir müssen<br />
nüchtern die Tatsache betrachten, dass es gefährlich ist, besonders<br />
für uns, wenn wir im Blickpunkt stehen. Je nach Temperament ist<br />
fast jeder von uns schon einmal die Triebfeder für irgendeine Sache<br />
gewesen -und deshalb könnte uns schon allein der Gedanke an<br />
eine Gemeinschaft von Werbetrommlern erschrecken. Im Hinblick<br />
auf diesen Zündstoff mussten wir einfach Zurückhaltung üben.<br />
Wir waren selbst überrascht, wie sich diese Zurückhaltung bezahlt<br />
gemacht hat. Es zeigte sich, dass die Öffentlichkeit von sich aus<br />
eine bessere Werbung für die Anonymen Alkoholiker machte, als<br />
uns dies mit Hilfe der ideenreichsten Pressefachleute möglich<br />
gewesen wäre. Natürlich musste unsere Gemeinschaft irgendwie<br />
der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden -und wir dachten, dass<br />
es für uns viel besser wäre, wenn unsere Freunde diese Aufgabe<br />
übernähmen.<br />
Unsere Annahme traf in einem beinahe unglaublichen Ausmaß zu.<br />
Ausgefuchste Presseleute, von Natur aus skeptisch, haben ihr<br />
Bestes getan, um die Botschaft der weiterzugeben. In ihren Augen<br />
haben wir mehr zu bieten als nur ein paar interessante Geschichten.<br />
Im gesamten Zeitungswesen haben Pressemänner und -frauen sich<br />
uns als Freunde angeschlossen. Zuerst konnte die Presse nicht<br />
verstehen, warum wir gegen Namensnennung von einzelnen AA<br />
waren. Sie war wirklich enttäuscht, dass wir so hartnäckig auf
Wahrung der Anonymität bestanden. Doch schließlich begriffen die<br />
Journalisten: Hier handelt es sich um etwas ganz Seltenes, um eine<br />
Gemeinschaft, die nur die Veröffentlichung ihrer Grundsätze und<br />
Taten wünscht, nicht aber die Nennung der Namen und ihrer<br />
Mitglieder. Die Presse war von dieser Einstellung begeistert -und<br />
von da an berichteten unsere Freunde so enthusiastisch über die<br />
AA, wie es selbst die am meisten Begeisterten von uns nicht besser<br />
machen konnten.<br />
Es gab sogar eine Zeit, in der in Amerika selbst die Presse die<br />
Anonymität für uns viel höher bewertete als manche unserer<br />
eigenen Leute. Eines Tages gaben etwa hundert Anonyme<br />
Alkoholiker ihre Anonymität in der Öffentlichkeit auf. Mit der besten<br />
Absicht erklärten sie, das Prinzip der Anonymität sei veraltet und<br />
stamme noch aus der Pionierzeit der AA, als man noch mit Pferd<br />
und Kutsche fuhr. Sie waren davon überzeugt, wir würden mit<br />
moderner Werbung viel schneller und besser vorwärtskommen. Sie<br />
wiesen darauf hin, dass viele Persönlichkeiten mit berühmten<br />
Namen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene der<br />
Gemeinschaft der AA angehörten, Wenn diese damit einverstanden<br />
wären -und viele waren dazu bereit -, dann könnte man doch der<br />
Öffentlichkeit mitteilen, dass sie zu den Anonymen Alkoholikern<br />
gehörten -und dadurch würden andere ermutigt, sich uns<br />
anzuschließen. Das waren ganz plausible Gründe, aber<br />
glücklicherweise waren unsere Freunde, die Journalisten, damit<br />
nicht einverstanden.<br />
Damals schrieb das Dienstbüro in New York an fast jede<br />
Nachrichtenagentur in Nordamerika. In den Briefen wurde erklärt.<br />
warum wir mehr durch Anziehung als durch Werbung wirken und<br />
warum die persönliche Anonymität der größte Schutz der<br />
Gemeinschaft der AA ist. Seit der Zeit haben Redakteure und<br />
Lektoren wiederholt Namen und Fotos aus AA-Berichten entfernt -<br />
und häufig waren sie diejenigen, die eitle Anonyme Alkoholiker über<br />
die Grundsätze der Anonymität aufklärten. Ihre tatkräftige Mitarbeit<br />
war gewiss eine große Hilfe für unsere Gemeinschaft. Es gibt nur
sehr wenige Anonyme Alkoholiker, die ihre Anonymität in der<br />
Öffentlichkeit gebrochen haben.<br />
Dies ist eine kurze Zusammenfassung über den Aufbau der Elften<br />
Tradition. Für uns bedeutet sie viel mehr als nur eine Empfehlung<br />
für den Umgang mit der Öffentlichkeit. Diese Tradition ist eine<br />
ständige Mahnung, dass persönlicher Ehrgeiz innerhalb der<br />
Gemeinschaft der AA auszuschalten ist. Durch diese Tradition wird<br />
jeder Anonyme Alkoholiker zu einem aktiven Hüter unserer<br />
Gemeinschaft.
Die <strong>Zwölfte</strong> Tradition<br />
"Anonymität ist die spirituelle Grundlage aller unserer<br />
Traditionen, die uns immer daran erinnern soll, Prinzipien über<br />
Personen zu stellen".<br />
Anonymität bedeutet Opfer. Weil wir in den Zwölf Traditionen der<br />
Anonymen Alkoholiker immer wieder aufgefordert werden, unsere<br />
persönlichen Wünsche dem gemeinsamen Wohlergehen<br />
unterzuordnen, erkennen wir, dass der Opfergeist, symbolisiert<br />
durch die Anonymität, die Grundlage aller Traditionen ist. Anonyme<br />
Alkoholiker haben bewiesen, dass sie bereit sind, Opfer zu bringen<br />
– und darum haben auch andere großes Vertrauen in unsere<br />
Zukunft.<br />
In der Anfangszeit entsprang die Anonymität nicht einem Vertrauen,<br />
sondern war ein Kind unserer frühen Ängste. Unsere ersten<br />
namenlosen AA-Gruppen waren Geheimbünde. Neue, die sich uns<br />
anschließen wollten, konnten uns nur durch wenige vertraute<br />
Freunde finden. Schon der Gedanke, an die Öffentlichkeit zu treten,<br />
selbst wenn es nur um unsere Arbeit ging, schockte uns. Obwohl<br />
wir nicht mehr tranken, dachten wir immer noch, wir müssten uns<br />
vor dem Misstrauen und der Verachtung der Öffentlichkeit<br />
verbergen.<br />
Als das Big Book 1939 erschien, nannten wir es "Anonyme<br />
Alkoholiker". Sehr aufschlussreich war in dem Vorwort zu lesen: .Es<br />
ist wichtig, dass wir anonym bleiben, denn wir sind noch zu wenige,<br />
um die vielleicht überwältigende Zahl von Hilferufen beantworten zu<br />
können, die nach der Veröffentlichung dieses Buches auf uns<br />
zukommen werden. Da die meisten von uns selbstständig oder<br />
angestellt sind, würde ihre berufliche Tätigkeit darunter leiden."<br />
Zwischen den Zeilen liest man, dass wir Angst vor den vielen Neuen<br />
hatten, weil wir damit den häufigen Bruch unserer Anonymität<br />
fürchteten.<br />
So wie sich die Zahl der AA-Gruppen vervielfachte, so wuchsen<br />
auch die Schwierigkeiten mit der Anonymität. Manchmal waren wir
so begeistert von dem wunderbaren Weg. der einen anderen<br />
Alkoholiker zur Nüchternheit führte, dass wir intime und<br />
erschütternde Ereignisse aus dessen Leben, die nur für seinen<br />
Sponsor bestimmt waren, miteinander besprachen. Das verärgerte<br />
Opfer solcher Indiskretion erklärte dann mit vollem Recht, dass wir<br />
sein Vertrauen missbraucht hätten. Als solche Geschichten auch<br />
außerhalb der Gemeinschaft der AA bekannt wurden, war unser<br />
Anonymitätsversprechen unglaubwürdig geworden. Manche hielten<br />
sich deshalb von uns fern. Eines war doch klar, der Name jedes<br />
einzelnen AA und auch seine Geschichte mussten vertraulich<br />
bleiben, falls er das wünschte. Das war unsere erste Lektion in der<br />
praktischen Anwendung der Anonymität.<br />
Ungehemmt, wie es für viele von uns so charakteristisch ist,<br />
missachteten Neue die Vertraulichkeit. Sie wollten die AA-Botschaft<br />
von den Dächern herab verkünden. Sie taten es auch. Alkoholiker,<br />
die kaum trocken waren, liefen mit leuchtenden Augen herum und<br />
hielten jeden fest, um ihre Geschichte zu erzählen. Andere stellten<br />
sich sehr schnell vor Mikrofone und Kameras. Oft betranken sie sich<br />
anschließend fürchterlich und brachten ihrer Gruppe einen bösen<br />
Rückschlag. Sie hatten sich von Anonymen Alkoholikern in mehr<br />
oder weniger anonyme Angeber verwandelt.<br />
Mit diesem widersprüchlichen Phänomen mussten wir uns<br />
auseinandersetzen. Es ging hier eindeutig um die Frage: "Wie<br />
anonym sollte ein AA sein?" Aus unserem Wachstum wurde uns<br />
klar, dass wir nicht länger ein Geheimbund bleiben konnten, aber<br />
genauso klar war es, dass wir kein Wanderzirkus waren. Es<br />
brauchte eine lange Zeit, bis wir einen sicheren Weg zwischen<br />
diesen beiden Extremen abstecken konnten.<br />
Gewöhnlich wollte jeder Neue seine Familie über seinen Versuch<br />
informieren. Er wollte auch mit anderen darüber sprechen, die bis<br />
jetzt versucht hatten, ihm zu helfen –seinem Arzt, seinem Pastor<br />
und seinen engsten Freunden. Je mehr Selbstvertrauen er bekam,<br />
um so mehr lag ihm daran, mit seinem Arbeitgeber oder seinen<br />
Geschäftsfreunden über seinen neuen Lebensweg zu reden. Hatte
er Gelegenheit, anderen zu helfen, fiel es ihm schon leicht, über AA<br />
zu sprechen. Diese ruhigen Gespräche erleichterten es ihm, seine<br />
Furcht vor dem Stigma Alkoholismus zu verlieren und die Nachricht<br />
von der Existenz unserer Gemeinschaft zu verbreiten.<br />
Durch solche Gespräche sind viele Männer und Frauen zu den AA<br />
gekommen. Unterhaltungen dieser Art waren vielleicht nicht immer<br />
nach den Buchstaben des Anonymitätsgebots, wohl aber nach<br />
dessen Sinn.<br />
Doch es zeigte sich, dass wir nur einen bestimmten Personenkreis<br />
erreichten, wenn wir die Botschaft durch eigene Erzählungen<br />
mündlich weitergaben. Unser Werk musste einer breiteren<br />
Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. AA-Gruppen sollten so<br />
schnell wie möglich viele verzweifelte Alkoholiker erreichen.<br />
Infolgedessen begannen einige Gruppen, Meetings abzuhalten, die<br />
für interessierte Freunde und die Öffentlichkeit offen waren, so dass<br />
jeder Bürger sich von der Gemeinschaft der AA ein Bild machen<br />
konnte. Die Reaktion auf diese Meetings war freundlich und<br />
zustimmend. Bald erhielten AA-Gruppen Anfragen nach Rednern<br />
aus den Reihen der AA, die vor privaten Organisationen, kirchlichen<br />
Gruppen und medizinischen Gesellschaften sprechen sollten.<br />
Wenn bei diesen Vorträgen die Anonymität gewahrt werden konnte<br />
und die anwesenden Reporter gebeten wurden, keine Namen und<br />
Fotos zu veröffentlichen, dann waren die Ergebnisse<br />
ausgezeichnet.<br />
Dann kam en unsere ersten Ausflüge in die breitere Öffentlichkeit<br />
und wir gerieten außer Atem. Durch Artikel über uns die in der<br />
Cleveland-Zeitung Plain Dealer erschienen, kamen über Nacht<br />
einige hundert Neue zu uns. Die Reportagen über das Essen, das<br />
Mr. RockefeIler zu Ehren der AA gab, bewirkten eine Verdoppelung<br />
unserer Mitgliederzahl innerhalb eines Jahres. <strong>Der</strong> berühmte<br />
Leitartikel von Jack Alexander in der Saturday Evening Post<br />
machte die Gemeinschaft der Anonymen Alkoholiker zu einer<br />
nationalen Institution. Anerkennungen wie diese führten zu<br />
weiteren günstige n Gelegenheiten, noch mehr Aufmerksamkeit
geschenkt zu bekommen. Weitere Zeitungen und Illustrierten<br />
wollten Geschichten von Anonymen Alkoholikern,<br />
Filmgesellschaften wollten uns filmen, Radio und Fernsehen<br />
überhäuften uns mit Auftrittsangeboten. Was sollten wir tun?<br />
Als diese Woge öffentlicher Anerkennung über uns hereinbrach,<br />
wurde uns klar, dass sie uns entweder etwas unvorstellbar Gutes<br />
oder schweren Schaden bringen würde. Alles hing davon ab, in<br />
welche Kanäle sie geleitet wurde. Wir konnten nicht das Risiko<br />
eingehen, die Gemeinschaft der AA vor der Öffentlichkeit durch<br />
Leute präsentieren zu lassen, die sich als Messias fühlten. Dieser<br />
Missionarstrieb hätte uns den Untergang bringen können. Wenn nur<br />
einer von diesen Leuten sich in der Öffentlichkeit betrank oder sich<br />
dazu verleiten ließ, den Namen AA für eigene Interessen zu<br />
missbrauchen, würde der Schaden nicht wieder gutzumachen sein.<br />
Auf dieser Ebene von Presse, Radio, Film und Fernsehen war<br />
Anonymität -und zwar hundertprozentige Anonymität -die einzig<br />
mögliche Antwort. Wir mussten ohne Ausnahme Prinzipien über<br />
Personen stellen. Aus diesen Erfahrungen haben wir gelernt, dass<br />
Anonymität aktive Demut ist. Anonymität ist eine alles<br />
durchdringende spirituelle Grundhaltung, die heute überall das<br />
Leben in unserer Gemeinschaft bestimmt. In diesem Geist der<br />
Anonymität versuchen wir, unsere natürlichen Wünsche nach<br />
persönlicher Anerkennung als AA aufzugeben und zwar sowohl vor<br />
den anderen Zugehörigen unserer Gruppe als auch vor der<br />
Öffentlichkeit. Wenn wir diesen allzu menschlichen Drang nach<br />
persönlicher Geltung überwinden, tun wir es in dem Glauben, dass<br />
jeder von uns an dem schützenden Mantel webt, der unsere ganze<br />
Gemeinschaft umhüllt und unter dem wir in Einigkeit wachsen und<br />
wirken.<br />
Wir sind sicher, dass Demut, die sich in der Anonymität ausdrückt,<br />
der mächtigste Schutz ist, den Anonyme Alkoholiker je haben<br />
können.